Trotz neuer Richtlinien: Schiffsabgase belasten die Umwelt stark
Jörg Auf dem Hövel
Container- und Kreuzfahrtschiffe blasen enorme Schadstoffmengen in die Luft. In den Hafenstädten regt sich Widerstand.
Jahre lang war es relativ ruhig um die stinkende Pötte in den Häfen der Republik. Diese stoßen enorme Mengen an Abgasen aus, da ihre Motoren oder Hilfsmotoren immer laufen, um die Stromversorgung aufrecht zu erhalten. Man war gleichwohl glücklich: Glücklich darüber, dass der Warenumschlag Arbeitsplätze sichert, glücklich darüber, dass sich aus den Kreuzfahrtschiffen Touristenströme in die Innenstädte ergießen. Dabei war das Problem längst bekannt, denn die laufenden Schiffsdieselmotoren emittieren nicht nur den bekannten Feinstaub, sondern unangenehm viel Schwefel.
Wissenschaftler der Universität Leiden in den Niederlanden haben Cannabiskraut aus zehn zufällig ausgewählten Coffee-Shops mit zwei Sorten verglichen, die in Apotheken auf Rezept zu erwerben sind.
Zusätzlich wurde eine Sorte einer nicht-offiziellen Initiative für medizinischen Cannabis untersucht. Bei allen elf „halblegalen“ Proben lag der THC-Gehalt in einer Spanne zwischen 11,7 und 19,1 % (Prozentgehalt des Trockengewichtes des Pflanzenmaterials). Der THC-Gehalt der Apotheken-Sorten fiel ebenfalls in diesen Bereich: die Sorte Bedrocan (16,5 % THC) fand sich im mittleren Bereich, während die Sorte Bedrobinol (12,2 % THC) am unteren Ende der Spanne lag.
Neben THC und THCA wurden während der Analyse der Cannabinoid-Zusammensetzung der Proben auch andere Cannabinoide berücksichtigt. Allerdings wurden keine größeren Unterschiede zwischen den Coffee-Shop-Proben beobachtet. Der Autor der Studie, Arno Hazekamp, vermutet, dass dies das Ergebnis von Jahrzehnten der Kreuzung und Selektion von viel THC produzierenden Cannabissorten ist. Hazekamp: „Dieser Prozess hat die Variabilität zwischen den Cannabissorten verringert, mit einer geringfügigen Ausnahme für ihren THC-Gehalt.“
Ein zweites wichtiges Ergebnis der Studie: Alle (sic!) Proben aus den Coffee-Shops enthielten Kontaminationskonzentrationen für Bakterien oder Schimmelpilze oberhalb der Grenzwerte, die im Europäischen Arzneibuches für Präparate zur Inhalation vorgegeben sind. Einige der gefundenen Mikroben können Gifte bilden, die beim Rauchen von Cannabis nicht vollständig zerstört werden. Vor allem Personen mit einem bereits beeinträchtigten Immunsystem, beispielsweise AIDS- oder Krebs-Patienten, können solche Mikroben und Gifte gefährlich werden. Das Vorkommen potenziell gefährlicher Pilze auf nicht legal gezüchteten Cannabis ist wiederholt beschrieben worden, einige diese Pilze gelten als Quelle für neurologische Toxizität oder Infektionen. Die zwei Apothekenprodukte wiesen eine konsistente Stärke auf, potenziell gesundheitsschädliche Verunreinigungen fehlten.
In den Zeiten des Data-Minings braucht es keine Psychologie.
Die Bewegungsprofile der Web- und Spielenutzer erzeugen ungeheure Datenmengen, deren Analyse zum Spielfeld für Spezialisten geworden ist. Beim sogenannten Data-Mining werden in solchen Datenbeständen Muster erkannt, die Aufschluss über das Verhalten der Benutzer geben. Täglich spielen Millionen von Menschen Online-Spiele. Zynga beispielsweise, Hersteller der populären Browserspiele Farmville und Cityville, sammelt dabei täglich 60 Milliarden Datenpunkte.
Auffällig ist nun, dass zunehmend Kontext, Motivation und das Verhalten der Benutzer nicht mehr mit Begriffen der Psychologie, sondern als statistische Relationen ausgedrückt werden. Es spielt für die Analyse keine Rolle mehr, wie sich der Einzelne in der Situation fühlt, sie beurteilt und auf sie reagiert. Die pure Datenmenge führt zu einer Psychologie ohne psychologische Begriffe.
Was sind die Folgen? Einerseits könnte man froh sein, dass die oft verschwurbelten Begrifflichkeiten zur Beschreibung mentaler Zustände offenbar nicht benötigt werden, um menschlichen Verhalten vorherzusagen. Was der Betroffene dabei fühlt und denkt, stand schon immer auf einem anderen Blatt. Die Kritik am Behaviorismus ist bekannt. Andererseits ist die Tendenz zur Reduzierung des Menschen zum – vor allem ökonomisch verwertbaren – Datenpunkt unverkennbar. In der Praxis erhält zukünftig jeder seine, auf ihn persönlich und seine Surf- und Browserhistorie zugeschnittene Website präsentiert. Noch interessanter wird es, wenn den Computernetzwerken Mitspracherecht bei den vielen Entscheidungen gegeben wird, die unentscheidbar sind. Der Schwangerschaftsabbruch sei genannt. Und von diesen „prinzipiell unentscheidbare Fragen“ (Heinz von Foerster) gibt es erstaunlich viele.
Bewusstseinsveränderung mal anders: In einer Schwitzhütte kann man sich gehen lassen
„Schwitz Dir die Seele aus dem Leib“, raunt mir Manitou zu. Folgsam presst mein Körper noch ein paar Tropfen Körpergifte mehr aus den Poren. Mein Hirn nähert sich der Ohnmacht, wobei das wörtlich zu nehmen ist. Die Hitze ist so stark, dass die ansonsten ewig laufende Maschine im Oberstübchen ihre Arbeit aufgeben will. Hier funktioniert nur noch das Rückenmark – und das reicht, um den Atemvorgang aufrecht zu erhalten. Wo bin ich? Mit Freunden durchlebe ich ein uraltes Ritual: Wir sitzen in einer sogenannten Schwitzhütte in der Lüneburger Heide.
So eine Hütte ist ein witziger Anblick. Als wir im Freibad in Egestorf ankommen steht ein igluförmiges, etwa einsfünfzig Meter niedriges Weidengeflecht auf einem kleinen Hügel im Wald, daneben stapeln sich die Felle toter Kühe. Schon jetzt müsste sich der Esoterik-Freak natürlich fragen, ob das hier alles mit rechten Dingen zugeht. Zunächst schmeissen wir mit dem Bademeister -der uns recht unkompliziert in das Schwitzhüttenritual einführt- die Felle aufs Geflecht. Er erklärt, dass während des Schwitzens nicht geredet wird, es sei denn, man hat das dringende Gefühl die Hütte zu verlassen. Dann sagt man das Zauberwort: „Alle meine Freunde.“ Soweit, so gut.
Neben der Hütte knistert bereits ein Feuer, in welchem Steine erhitzt werden. Um uns neurotische Stadtbewohner schon mal ein wenig auf den Boden der natürlichen Tatsachen zurückzuholen, lässt uns der Bademeister kleine Säckchen mit Kräutern füllen und an ein Band knüpfen. Diese hängen während der Session über unseren Köpfen. „In jedes Päckchen knüpfst Du einen guten Gedanken ein“, sagt der Bademeister. Ich habe bereits nach dem ersten Säckchen vergessen, was ich mit gewünscht habe, aber seit drei Tagen steht ein Ferrari bei mir vor der Tür. Scherz beiseite, wir dürfen nun mit eingezogenen Kopf in die Hütte krauchen und es uns gemütlich machen. Die Damen schüchtern mit Ganzkörperhandtuch, auch die Herren bedecken ihren Schambereich. Reichlich unnötig, denn in der Kate ist es dunkel wie im Arsch eines Grizzlys. Unser Kerkermeister hat die Folterkammer hermetisch abgedichtet. Mit einer Mistforke bugsiert sein schweigsamer Gehilfe (Spitzname: Häuptling Bleierne Zunge) die erste Ladung Steine herein. Dann wird es dunkel.
In unserer Mitte schimmern glühende Steine, auf denen plötzlich Funken knispern. Ich kann nur ahnen, dass unser Meister Kräuter auf die Steine streut. Rauch steigt mir in die Nase und bestätigt meinen Verdacht. Es riecht urwüchsig, brennt aber auch in den heftig Augen. Augen zu und durch. Wasser verdampft hörbar und eine erste Wellte von dampfender Wärme streift über meine Haut. „Das soll alles sein?“, denke ich. Bei weitem nicht, wie sich kurz darauf herausstellt. Das laute Blöcken des Meisters reisst mich aus meinen Gedanken: „Firemaker, open the door please!“, ruft er und Häuptling Bleierne Zunge fummelt am Kuhfell rum. Die alten Steine raus, neue rein. Der Reigen beginnt erneut. Wohlig wird mir, als Saunist trotze ich (noch) der aufsteigenden Hitze. Aber so langsam versagt mein Deo, eine Schweisswelle spült den ALDI-Roller aus den Achseln. Ich streife den lästigen Feudel von Handtuch von mir. Kelle um Kelle Wasser zerbrutzelt auf den Steinen, wird zu Dampf der uns langsam durchweicht. Neben mir schnauft ein Leidensgenosse.
„Firemaker, open the door please!“. Leichte Angst steigt in mir hoch: „Scheisse, noch eine Runde, dass kann der Typ nicht ernst meinen.“ Stöhngeräusche aus der anderen Ecke der Fellhütte sagen mir, dass ich nicht der einzige bin, dessen Körper die weisse Fahne schwingt. Im Schein der glühenden Kräuter sehe ich, dass mir ein Schleimfaden aus der Nase bis vor die Brust hängt. Egal. Ich wische den glibberigen Buhmann ab, er vermischt sich mit dem Schweiss und dem Rasen. Ich kann nicht mehr sitzen. Völlig ergeben lasse ich mich nach hinten sinken, auch, um eine wenig kühlere Luft vom Boden zu schnappen. Ich suhle mich wie ein Bison im Gras, welches sich wunderbar anfühlt. Es herrscht Redeverbot, aber ich möchte schreien. „O.K. Du hast gewonnen!“, will ich Manitou zurufen, „ich ergebe mich!“. Völlige Ergebenheit an Mutter Erde. Wie hiess noch mal das Zauberwort? Obwohl hart zu ertragen, ist das gute Gefühl der erdigen Verbundenheit stärker.
„Firemaker, open the door please!“, klingt es undeutlich in meinem Ohr. Der Bademeister spricht: „Wer will, kann jetzt raus, wer will, kann noch einen weiteren Aufguss mitmachen.“ Ein paar von uns verlassen die Hütte. Ich bin zu schwach überhaupt aufzustehen und denken bei mir, dass jetzt sowieso alles egal ist. Die alten Steine raus, neue rein. Neuer Dampf. Eine mühsame Positionsveränderung im Liegen gibt mir die Möglichkeit an einer Mini-Lücke im Kuhfell Luft zu schnappen. Die Erlebnisse der gesamten Woche rinnen langsam ins Gras Ausdünstungen der Seele fliessen in den Schoss der Grossen Mutter Erde. Sie, die alles verzeiht und uns neu-gebärt.
Draussen ist Urlaub. Kaltes Wasser spült die interessante Mischung aus Schweiss, Rotz und Gras von meiner Haut. Wir sind uns einig: Eine gute Erfahrung war das. Es fällt das Wort „Neugeboren“. Und das nächste Mal, so scherzen wir, soll er rufen: „Firemaker, roll in the Hash please!“ Und dann wird die Hütte mal richtig unter Dampf gesetzt.
Jörg Auf dem Hövel
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Die Indianer Nordamerikas nutzen die Schwitzhütte als Reinigungsritual. Jeder Stamm hat dabei seine eigene Form des Rituals überliefert. Aber auch in Europa wurde schon früh unter Fellen geschwitzt. In Deutschland gehen manche Anbieter von Schwitzhüttenritualen puritanisch nach indianischem Muster vor, andere sehen das eher locker. Punks bauen ihre Hütten beispielsweise nicht mit Kuhfellen, sondern alten Teppichen. Hier entscheidet die persönliche Vorliebe. Eine Schwitzhütte ist nicht schwer zu bauen, gut beschrieben findet sich das im Internet unter http://www.welcomehome.org/rob/sweat/sweat.html.
Der Medizin-Ethiker Roland Kipke über die Veränderung und Verbesserung mentaler Eigenschaften durch Selbstformung und pharmakologische Mittel
Frage: Nach anfänglicher Scheu hat sich zur Beschreibung des Neuro-Enhancement in den Medien der Begriff des Hirn-Doping durchgesetzt. Ist das eine hilfreiche Analogie?
Roland Kipke: Im Gegensatz zu dem in der Fachdebatte benutzten Begriff „Neuro-Enhancement“ ist „Hirn-Doping“ weniger sperrig und leichter verständlich. Das Problem ist, dass mit dem Begriff des Dopings von vornherein eine negative ethische Bewertung nahegelegt wird. Denn im Sport, von wo der Begriff entlehnt ist, gilt Doping weithin als unanständig. Ich kann damit leben, von mir aus kann man auch „Hirn-Doping“ sagen, aber ich bevorzuge den Begriff „Neuro-Enhancement“.
Um zu einer ethischen Einordnung zu gelangen, vergleichen Sie Neuro-Enhancement mit dem Konzept der Selbstformung. Was beinhaltet Selbstformung?
Roland Kipke: Selbstformung ist die absichtliche und nicht-therapeutische Veränderung mentaler Eigenschaften durch mentale Arbeit an sich selbst. Diese mentalen Eigenschaften reichen von einzelnen Gewohnheiten über kognitive Fähigkeiten bis hin zu tief verankerten Charakterzügen. Selbstformung kann zum Beispiel in einem einfachen Konzentrationstraining bestehen, in einer Meditationspraxis oder in dem Versuch, sein soziales Verhalten zu ändern. Welche Form und welches Ziel Selbstformung auch hat, stets ist sie eine mentale Aktivität. Sie geht stets mit erhöhter Selbstaufmerksamkeit und Selbststeuerung einher und besteht immer in mehr oder weniger langfristiger Übung.
Ist der Besuch eines Coaches, um am Arbeitsplatz besser agieren zu können, noch Selbstformung oder schon Therapie? Oder spielt diese Grauzone für ihren Vergleich mit dem Enhancement keine Rolle?
Roland Kipke: Was Selbstformung und Neuro-Enhancement auf der einen Seite ist und eine therapeutische Maßnahme auf der anderen Seite hängt davon ab, was krank bzw. was gesund ist. Der Krankheitsbegriff wird nun zwar vielfach kritisiert. Doch wir kommen weder lebensweltlich noch wissenschaftlich ohne ihn aus. Und ein hinreichend komplexer Krankheitsbegriff ist trotz mancher Grauzone durchaus in der Lage, eine praktikable Unterscheidung zwischen Therapie und „verbessernden“ Maßnahmen zu ziehen.
Zu Ihrer konkreten Frage: Wenn Sie nicht in der Lage sind, die Anforderungen Ihres Arbeitsplatzes zu erfüllen, weil Sie krank sind, weil Sie über gewisse normale menschliche Funktionen nicht verfügen und dafür eine Hilfe suchen, ist diese Hilfe als Therapie einzustufen. Wenn Sie hingegen einen Coach aufsuchen, um „noch besser“ zu werden, handelt es sich um Selbstformung – vorausgesetzt natürlich, dass Sie selbst die Veränderung herbeiführen und sie nicht bloß passiv über sich ergehen lassen.
Unter welchen Aspekten haben Sie technisches beziehungsweise pharmakologisches Enhancement auf der einen Seite und Selbstformung auf der anderen Seite miteinander verglichen?
Roland Kipke: Ich habe sie in Bezug auf zwölf Aspekte personalen Lebens miteinander verglichen, die sich unter den vier Stichworten Identität, Freiheit, Moral und Glück versammeln. Dazu gehören unter anderem Authentizität, Selbsterkenntnis, Selbststeuerung, moralische Verantwortung, Selbstverwirklichung und die Orientierung an einem Lebensplan. Die Frage ist jeweils: In welchem Verhältnis stehen Selbstformung und Neuro-Enhancement zu diesen Fähigkeiten, Erfahrungsweisen und Selbstverhältnissen? Welche Folgen sind für sie aufgrund der spezifischen Handlungsstrukturen von Selbstformung und Neuro-Enhancement absehbar? Diese Frage ist von erheblichem ethischen Interesse, weil diese Fähigkeiten, Erfahrungsweisen und Selbstverhältnisse allesamt für uns Aspekte eines gelingendes Lebens sind.
Aber ist ein gelingendes Leben nicht hochindividuell?
Roland Kipke: Ja, was unter einem gelingenden Leben verstanden wird, ist je nach Individuum und Kultur teilweise sehr unterschiedlich. Das ist eine zentrale Einsicht der modernen Ethik, und deshalb sollte man mit Aussagen zum gelingenden Leben, die einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit verfolgen, sehr vorsichtig sein. Allerdings schlägt diese Vorsicht oft in eine totale Urteilsenthaltsamkeit um. Die ist ebenso unberechtigt wie das andere Extrem eines glückstheoretischen Paternalismus, der die andere bevormundet, auch wenn es ihm – vermeintlich – um deren Wohl geht.
Wir teilen grundlegende Überzeugungen, was ein gelingendes Leben ausmacht.
Roland Kipke: Richtig, und diese Überzeugungen betreffen nicht Einzelheiten, nicht die Frage, ob man gerne Sport treibt oder lieber gemütlich im Café sitzt oder ob man Baguette oder Schwarzbrot bevorzugt, sondern um grundlegende Dinge, wie dass wir alle Selbstverwirklichung schätzen, das heißt die Verwirklichung zentraler Wünsche, oder dass wir eine gewisse Kohärenz unseres Lebens anstreben. Der Standardeinwand lautet hier: Auch diese Überzeugungen und Werte werden nicht von allen Menschen geteilt. Das mag sein, sie werden aber von nahezu allen Menschen in unserer Gesellschaft oder in unserem „Kulturkreis“ geschätzt. Das mag für eine allgemeine Ethik in ihrer Suche nach universell gültigen Aussagen unbefriedigend sein, für eine angewandte Ethik, der es um konkrete Fragen für konkrete Menschen geht, nämlich für uns, reicht es hingegen aus.
Selbststeuerung und Selbsterkenntnis werden durch Neuro-Enhancement nicht gestärkt
Betrachtet man nun beispielsweise den Aspekt der Selbststeuerung. Wie schneiden hier Neuro-Enhancement und Selbstformung ab?
Roland Kipke: Selbststeuerung ist die Fähigkeit, den eigenen Willen gegen innere Widerstände durchzusetzen. Komplizierter ausgedrückt ist es die Fähigkeit, dem eigenen Willen zuwiderlaufende Handlungsimpulse wie Affekte oder Gewohnheiten an ihrer Handlungswirksamkeit zu hindern und die Handlungsimpulse durchzusetzen, deren Handlungswirksamkeit man wünscht. Ein erhöhtes Maß dieser Selbststeuerung ist in jeder Selbstformung gefragt, denn es geht ja gerade darum, vorhandene Verhaltensweisen umzuformen, und das können auch rein mentale Verhaltensweisen wie die Konzentration sein.
Selbststeuerung ist also einerseits eine Voraussetzung von Selbstformung, andererseits wird sie in jeder Selbstformung geübt und somit gestärkt. Auch wenn jede menschliche Person diese Selbststeuerungsfähigkeit hat, ist das Maß, in dem wir über sie verfügen, doch sehr unterschiedlich. Selbstformung tendiert dazu, dieses Maß zu erhöhen. Und ein hohes Maß an Selbststeuerung schätzen wir. Sie macht das Maß unserer Willensfreiheit aus. Diesen positiven Effekt bietet Neuro-Enhancement nicht. Denn es funktioniert ja gerade ohne diese Aktivität der Selbststeuerung. Selbststeuerung ist nicht gefordert und wird dadurch auch nicht gefördert.
Und wie ist das bei der Selbsterkenntnis?
Roland Kipke: Auch hier wirken sich die unterschiedlichen Handlungsstrukturen von Selbstformung und Neuro-Enhancement aus. Denn Selbstformung funktioniert nur mit einem erhöhten Maß an Selbstaufmerksamkeit. Ich muss mir meine Eigenschaften bewusst machen, ich muss sie mit Aufmerksamkeit verfolgen, um sie verändern zu können. Selbstaufmerksamkeit ist zwar keine hinreichende, aber eine notwendige Bedingung für Selbsterkenntnis. Sicherlich wäre es falsch zu sagen, Selbstformung führt zwingend zu einem Mehr an Selbsterkenntnis. Aber sie hat auf jeden Fall eine Tendenz, Selbsterkenntnis zu befördern. Diese Tendenz hat Neuro-Enhancement nicht. Denn ich kann zwar die Wirkungen, die Neuro-Enhancer bei mir bewirken, mit erhöhter Aufmerksamkeit verfolgen, aber diese Selbstaufmerksamkeit ist nicht notwendig. Die erwünschte Veränderung kommt auch so zustande.
Was ist vor dem Hintergrund ihrer Erkenntnisse von diesem Satz zu halten: „Der Erleuchtung ist es egal wie du sie erlangst.“
Roland Kipke: Der Erleuchtung ist es vielleicht egal, aber uns kann es nicht egal sein, weil wir an einem gelingenden Leben interessiert sind. Und das besteht nicht allein in einzelnen Bewusstseinsinhalten, sondern in der Art, wie wir sind, erleben und uns zu uns selbst verhalten.
Vom Neuro-Enhancement kommt man schwer wieder los
Würden Sie denn dem Neuro-Enhancement zumindest den Status einer „Anschubfinanzierung“ mentaler Weiterentwicklung zubilligen wollen?
Roland Kipke: Wenn jemandem die mentalen Voraussetzungen fehlen, um sich selbst formen zu können, wem also zum Beispiel das nötige Mindestmaß an Selbststeuerung fehlt, dem könnte vielleicht mithilfe medizinischer Mittel geholfen werden, um das nötige „Startlevel“ zu gelangen. Nur würden wir so jemanden als krank ansehen und die Hilfe wäre Therapie und kein Neuro-Enhancement. Das wäre ohne Zweifel legitim. Ob darüber hinaus auch Neuro-Enhancement als Anschubfinanzierung in Frage kommt? Ich schließe das nicht völlig aus.
Sie sind also nicht strikt gegen Neuro-Enhancement?
Roland Kipke: Nein, aber meine Sorge ist, dass man, wenn man einmal damit anfängt und die Erfahrung macht, dass es funktioniert, schwer davon loskommt. Nicht im Sinne einer Sucht, sondern im Sinne einer Gewöhnung an einen einfachen Weg. Gegen eine Vereinfachung ist zwar an sich nichts zu sagen, wir schätzen ja die Vereinfachung durch Technik, aber die Vereinfachung mittels Neuro-Enhancement hat den gravierenden Nachteil, dass sie bestimmte wertvolle Erfahrungen und Selbstverhältnisse nicht ermöglicht oder nicht zu ihrer Stärkung beiträgt. Dass Selbstformung hingegen das Potenzial dazu hat, ist nicht so leicht zu erkennen, weil diese Erfahrungen und Selbstverhältnisse gerade durch das entstehen, was auf den ersten Blick als Nachteil von Selbstformung aussieht: die nötige mentale Aktivität, die Langsamkeit, die Anstrengung. Deshalb sehe ich eine „Anschubfinanzierung“ durch Neuro-Enhancement eher kritisch. Aus ihr droht eine Dauerfinanzierung zu werden.
Hat sich das sinnstiftende Element des „Besserwerden“ in der heutigen Zeit vielleicht überlebt, weil es in erster Linie der Zementierung ökonomischer Verhältnisse dient? Enhancement wird doch zur Zeit in erster Linie in militärischen und leistungsbezogenen Zusammenhängen diskutiert.
Roland Kipke: Sicherlich liegt dem Streben nach Selbstverbesserung zum Teil die Motivation zugrunde, in bestimmten ökonomischen Verhältnissen zurechtzukommen. Diese Tatsache entwertet aber dieses Streben nicht zwingend. Die Pointe meines Buches ist ja gerade: Egal welche Motivation dem Streben nach Selbstverbesserung zugrunde liegt und welche Eigenschaft man anstrebt – die selbstformerische Art, sich selbst zu verbessern, hat das größere Potenzial, einen Beitrag zu einem gelingenden Leben zu leisten.
Will der Mensch tatsächlich immer besser werden? Oder sind ihm andere Faktoren wie Anerkennung oder Liebe ebenso wichtig?
Roland Kipke: Ich glaube schon, dass wir allesamt besser werden wollen. Auch wenn wir versuchen, gerade nicht immer besser werden zu wollen, streben wir damit eine Eigenschaft an, die in unseren Augen besser ist. Aber die Annahme, dass alle Menschen besser werden wollen, ist für meinen Ansatz überhaupt nicht notwendig. Ich sage nur: Wenn jemand besser werden will, dann hat der Weg dieses Besserwerdens erhebliche Bedeutung für ihn. Und selbstverständlich: Besserwerden und Besser-Werden-Wollen ist bei weitem nicht alles, was es für ein gelingendes Leben braucht.
Überforderung durch die Angebote und Aufforderungen zur Selbstverbesserung?
Das klingt so, als ob Neuro-Enhancement wie Selbstformung weitere Techniken sind, die gewachsene Autonomie des Menschen noch weiter auszudehnen. Diese Autonomie, hier verstanden als der Zwang, seine Fähigkeiten ständig für seine persönliche Entwicklung einsetzen zu müssen, lässt uns doch aber schon heute reichlich unbehaglich im Raum stehen.
Roland Kipke: Was soll eine Autonomie sein, die in Zwang besteht? Autonomie ist gerade das Gegenteil von Zwang. Meinen Sie, dass wir uns zur Veränderung unserer Eigenschaften um unseres beruflichen Vorankommens willen gedrängt sehen? Ja, sicherlich gibt es das. Doch auch dann kann ich freiwillig versuchen, mich selbst zu verändern. Und auch wenn es eine im strengen Sinne unfreiwillige Selbstveränderung gibt, diskreditiert das nicht den großen Bereich freiwilliger Selbstveränderung.
Interessanterweise gibt es auch hinsichtlich des Autonomiegrades einen Unterschied zwischen Selbstformung und Neuro-Enhancement. Erstens ist bei Neuro-Enhancement ein echter Zwang oder die Umgehung des eigenen Willens sehr viel einfacher möglich. Zweitens: Auch wenn man freiwillig handelt, kann man feststellen, dass man nicht den langfristigen Wünschen und eigenen Wertvorstellungen entsprechend gehandelt hat. Das kennen wir: Wir wollen etwas und hinterher stellen wir fest, dass wir es eigentlich doch nicht wollten. Diese Erfahrung ist bei Neuro-Enhancement viel wahrscheinlicher, eben weil es so leicht und schnell zu machen ist. Selbstformung hingegen dauert lang und ist mühsam. Ich bin dadurch immer wieder quasi gezwungen, mich mit meinen handlungsleitenden Wünschen nach Selbstveränderung auseinanderzusetzen. Das Befolgen eines sozialen Drucks, das Mitschwimmen mit einer Mode ist daher unwahrscheinlicher. Selbstformung hat eine Tendenz zu einer starken Autonomie.
Meine Frage zielte eher auf die Unfähigkeit mancher Menschen ab, die vielen Wahlmöglichkeiten und Freiheitsspielräume für ein gelingendes Leben zu nutzen, weil sie schlicht überfordert sind. In dieser Hinsicht scheinen mir sowohl Neuro-Enhancement als auch Selbstformung weitere Techniken in der Angebotspalette einer extrem individualisierten Gesellschaft zu sein.
Roland Kipke: Zunächst ist Selbstformung ja nichts Neues. Menschen formen sich seit jeher selbst. Also kann man nicht sagen, dass nun auch noch das Angebot der Selbstformung hinzukomme. Das gilt höchstens für einzelne Methoden. Vor allem aber bewerte ich das Angebot an Möglichkeiten, sich selbst zu verändern, nicht als negativ. Im Gegenteil, ich schätze die Freiheitsspielräume. Ich sehe auch nicht, dass Menschen durch das Angebot an Selbstveränderungsmöglichkeiten überfordert sind. Wer sagt denn „Es gibt so viele Möglichkeiten der Selbstveränderung, ich weiß nicht, welche ich wählen soll?“ Ich finde es allemal schwieriger, mich mit verschiedenen Handytarifen zu beschäftigen. Was aber tatsächlich anstrengend ist oder einen gar überfordert, ist nicht zu wissen, was man will. Hier kann aber gerade Selbstformung eine Hilfe sein, weil man sich aktiv und aufmerksam mit sich selbst auseinandersetzt. Sich selbst zu formen kann das Selbstverstehen erhöhen. Selbstformung ist ein Mittel, um seine Identität zu klären. Neuro-Enhancement ist dazu aufgrund seiner spezifischen Handlungsstrukturen weniger in der Lage. Und schließlich kann Selbstformung auch darin bestehen, eine Haltung zu entwickeln, mit dem Angebot an Möglichkeiten zurecht zu kommen, eine Gelassenheit zu entwickeln, vielleicht auch eine Zufriedenheit mit der eigenen Persönlichkeit.
Ich muss noch einmal nachhaken: Sie denken also nicht, dass es ein berechtigtes Unbehagen bei vielen Menschen darüber gibt, im Gegensatz zu früher ständig neue Methoden der Selbstoptimierung ausprobieren zu müssen, um im Wettbewerb zu bestehen?
Roland Kipke: Grundsätzlich beurteile ich die Möglichkeit, sich selbst nach eigenen Vorstellungen verändern zu können, als positiv. Zweitens halte ich die Einschätzung, dass Menschen „ständig neue Methoden der Selbstoptimierung ausprobieren müssen“, für überzogen und deshalb falsch. Drittens: Wenn aber solch ein Druck vorhanden wäre, würde ich es für sehr problematisch halten. Viertens: Solch ein Druck würde vor allem durch wirksame Neuro-Enhancer entstehen, weniger durch das Angebot von Selbstformungsmethoden.
Literatur:
Roland Kipke: Besser werden. Eine ethische Untersuchung zu Selbstformung und Neuro-Enhancement, Paderborn, Mentis Verlag 2011
Erfahrungen des Bremer Afrikaforschers Gerhard Rohlfs (1831 – 1896)
Der bekannte deutsche Afrikaforscher Gerhard Rohlfs (Wikipedia) bereiste teilweise noch unbekannte Gebiete Nordafrikas und probierte selbstverständlich auch Haschisch. Hiervon berichtete er im Jahre 1866. (Der Text stammt aus Rohlfs Reisebericht: „Land und Volk in Afrika, Berichte aus den Jahren 1865-1870“, Bremen 1870)
„Mursuk in Fessan, Ende Januars 1866.
Unter Haschisch verstehen die Araber im weitern Sinne jedes Kraut, näher jedoch bezeichnen sie damit den indianischen Hanf, cannabis indica…,weil an Vorzüglichkeit jedes andere Kraut gegen dieses in den Hintergrund tritt. Von Tripolitanien an nennen die Eingeborenen diese Pflanze Tekruri, und diesen Namen führt sie auch in der Türkei, Aegypten, Syrien, Arabien und Persien vorzugsweise…
Ich füge hier hinzu, daß die Cannabis indica wohl weiter nichts ist als die verwilderte oder wilde Cannabis sativa, und eher eine Pflanze der gemäßigten Zone als der heißen ist, denn je weiter man nach Süden vordringt, je seltener und krüppelhafter gedeiht dieselbe. Während man z.B. äußerst schöne Exemplare in den gemäßigten Bergregionen des Kleinen Atlas der Algerie und Marokko`s findet, die eine Höhe von manchmal 1 1/2 Meter erreichen, gedeiht in den heißen Oasen Tafilet, Tuat und Fessan die Pflanze nur kümmerlich, obgleich die Bewohner alle Sorgfalt auf ihren Anbau anwenden, und von Norden wird dieselbe nach Süden exportiert.
Die Eingeborenen bedienen sich derselben auf verschiedene Weise: Entweder sie zerschneiden die getrockneten Blätter und Blüthen sehr kleine und rauchen sie entweder rein oder mit Taback vermischt aus kleinen Pfeifen oder Cigarretten, oder sie vermischen dieselben mit Tumbak (Taback) und rauchen so dies Kraut aus der Nargile, oder, wie in Syrien, sie bereiten wie Thee eine Art Infusion und trinken den Aufguß mit Zucker versüßt, oder endlich man pulverisiert Blätter und Blüthen, und schluckt dies Pulver rein oder mit Zuckerstaub vermischt herunter, oder auch mit Honig und Gewürzen zu einer Art Backwerk verarbeitet; so bereiten sie aus denselben kleine Kuchen, die unter dem Namen Majoun verkauft werden.
Mag man nun Haschisch nehmen unter welcher Form man wolle, immer übt dasselbe einen starken Rausch aus. Europäer jedoch, welche Beobachtungen darüber anstellen wollen, können dies nur, entweder indem sie eine Infusion trinken, oder das Haschisch-Pulver essen, denn um eine Wirkung vom Rausche zu haben, muß man den Rauch so tief einziehen, was Araber, Perser und Türken zwar auch beim Taback- und Opiumrauchen thun, daß der Dampf, in die Lungen eingesogen, unmittelbar mit dem Blute in Berührung kommt. Zwei Theelöffel voll Haschisch genügen, um einen kräftigen Rausch bei einem Neuling hervorzubringen.
Eindruck, den auf mich die Cannabis machte.
In Mursuk, 25.Januar 1866, Abends 6 Uhr.
Ich trinke Thee in Gesellschaft Mohammed Besserkis, Enkel des Sultans Mohammed el Hakem von Fessan. Mein Bewußtsein ist vollkommen klar. Ich nehme zwei Theelöffel voll Haschischkraut, welches in einer Kaffeeröste etwas gedörrt, dann pulverisirt und mit Zuckerstaub gemischt worden war. Mein Puls war im Moment des Nehmens 90 (wie immer).
Nach einer viertel Stunde gar kein Erfolg. Wir essen zu Abend: Kameelfleisch mit rothen Rüben, Kameelfrikadellen, weiße gebackene Rüben, Bohnensalat; Salat aus Zwiebeln, Tomaten, Knoblauch und Radieschen bestehend; Brod, Butter und Käse.
Besserki sagt mir, daß die Wirkung nach dem Essen kommen werde, ich indeß, – es ist jetzt 7 Uhr, – merke gar nichts. Wir trinken eine Tasse schwarzen Kaffee ohne Zucker.
7 Uhr 10 Minuten. Mein Puls hat nur 70; ich friere, obgleich eine Pfanne mit Kohlen vor mir steht. Besserki sagt, er spüre stark die Wirkung und befiehlt meinem Diener, einige Datteln zu bringen, um wie er sagt, die Wirkung zu beschleunigen; auch ich esse zwei Datteln.
7 Uhr 20 Minuten. Mein Puls hat 120 oder mehr. Bin ich in einem Schiffe? Die Stube schaukelt, mein Bewußtsein ist indeß vollkommen frei, blos scheint mir Besserki sehr langsam zu sprechen und ich vergesse oft den Anfang vom Satze, da er spricht. Auch wenn ich jetzt denke, vergesse ich, womit ich angefangen.
7 Uhr 45 Minuten. Mein Herz schlägt so, daß ich jeden Schlag höre, Puls zählen unmöglich.
Besserki sagt, er will fortgehen, mein Diener geht mit; ein anderer zündet mir eine Nargile an. Ich rauche und fliege, obgleich ich mit den Händen fühle, daß ich liege.
Ich denke ungeheuer schnell und glaube, daß ich beim Schreiben dieser Zeilen Stunden zubringe.
8 Uhr. Mein Blut schlägt Wellen, und einzelne Theile fallen von meinem Körper, obgleich ich mich dumm niederschreibe, denn ich habe vollkommen freies Bewußtsein, daß ich alle Glieder besitze. (Ich dachte wahrscheinlich, daß ich dummes Zeug niederschrieb, denn zu lesen war mir unmöglich.) Ich denke, ich will ausgehen.
8 Uhr 20 Minuten. Ich träumte, ich ginge aus, die Straßen der Stadt verlängerten sich und waren mir ganz unbekannt, die Häuser sehr hoch; ich glaube, ich war in der Polizeiveranda, wo ein Mann war, um zu petitioniren und zu mir mit einem Gesuch kam; ich ging dann zurück und setzte mich vor mein Haus.
Ich bin ohne allen Willen; die Wand gegenüber meinem Hause war schön tapezirt, auch hörte ich von fern schöne Musik und jetzt schreibe ich und sehe, daß Alles erlogen ist.
Ich will mich legen, aber bin ich wirklich verrückt?
Ich liege jetzt (8 Uhr 30 Minuten), mein Wille ist ganz weg und in mir großer Sturm. Das Licht brennt seit Stunden und ich kann es nicht ausblasen, aber ich schreibe, und da ich denke, so bin ich doch wohl nicht gelähmt. Bin ich wirklich hier? Mein Hinterkopf ist sehr angefüllt. Ich bin ungemein leicht, und wenn ich nicht schriebe, würde ich in der Luft schweben.
26. Januar Morgens.
Bis so weit hatte ich gestern Vermögen gehabt, während des Rausches zu schreiben; ich verfiel dann in einen festen Schlaf, aus dem ich heute Morgen um 9 Uhr erwachte. Nachdem ich die im Rausche niedergeschriebenen Empfindungen gelesen, war meine erste Frage, ob ich wirklich nach der Polizeiveranda gegangen sei, oder dies blos geträumt habe? Es fand sich denn, daß ich wirklich dagewesen sei, ganz vernünftig gesprochen habe, überhaupt Niemand auch nur die leiseste Ahnung hatte, daß ich im Tekrurizustande mich befände.
Nachträglich kann ich nun constatiren, daß
1) man sich ungemein leicht glaubt und oft zu schweben meint.
2) Daß der Puls, im Anfange vermindert, im vollen Stadium des Rausches eine solche Geschwindigkeit erreicht, daß es für den im Rausche Befindlichen unmöglich ist, ihn zu zählen.
3) Starker Blutandrang nach dem Hinterkopfe.
4) Auffallende Lähmung der Willenskraft.
5) Das Gedächtnis verliert seine Regeln, naheliegende Dinge werden vergessen, andere aus längst vergangenen Zeiten werden aufgefrischt.
6) Alles erscheint in den schönsten Farben und in vollkommener Harmonie.
7) Manchmal lichte Augenblicke, verbunden mit schrecklicher Angst, daß dieser Zustand immer dauern möge.
8) Endlich der ganze Rausch sui generis, und eher ein Verrücktsein, als das, was wir Europäer unter Rausch verstehen, zu nennen.
Heute Morgen indeß befinde ich mich vollkommen wohl und verspüre auch nicht im Mindesten einen sogenannten Katzenjammer.“
Denn entscheidend ist, wie man aus dem Kino herausgeführt wird
Glattgebügelt in einem neuen Kino-Palast
Die Erscheinung der übergroßen Kino-Center ist ein neues Übel der Großstadt. Das sollte jedem konservativen und vorurteilsfreudigen Menschen schon klar sein, bevor er zum ersten Mal so einen Glaspalast betritt. Verirrt er sich dennoch in den medialen Tempel -meist weil Freunde ihn überredet haben- schlägt ihm die ganze Macht der arroganten Architektur des Größenwahns entgegen. Der riesige Raum mit seinen fünf bis zehn Kassenhäuschen erinnert nicht umsonst eher an eine Kirche denn an ein Schmuddelkino auf dem Kiez. Der gläubige Kunde wird in erster Linie durch das Gesamtereignis beeindruckt und geblendet, der Film an sich tritt dabei mehr und mehr in den Hintergrund. In dieser Atmosphäre soll sich keiner wohl fühlen, vielmehr durch sakrales Design zu Demut angehalten werden. Deutet man es positiv, hat der Film schon angefangen bevor man im Saal sitzt.
Ohne Karte kein Einlass. Richtig warm um´s Herz wird dem Kino-Freund, wenn er nicht mehr in intimen Kontakt mit dem Kassierer treten muss, weil eine Glasscheibe die beiden Mitmenschen trennt. Ein Lautsprecher brüllt die metallenen Preise und die Geldscheine werden durch eine antiseptische Schleuse in das Innere der Kammer gesogen. Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis endlich der ineffektive Faktor Mensch gegen vollautomatische Karten-Raus-Rotz-Geräte ersetzt wird. Per Rolltreppe schwebt man dann auf die nächste Ebene. Hier riecht es ebenso wie unten, nämlich nach rein gar nichts. Selbst die Luft aus der Fresstheke gerät nicht an die Nasenhärchen, wird sie doch von der strengen Klimaanlage zügig ins Freie geblasen. Die Taco-Chips und der Popcorn schmecken leider recht ähnlich. Da hilft selbst das Bier nicht weiter, welches hier wie das Junk-Food in den Größen „Medium“ und „Large“ angeboten wird. Eine mittelschwere Zumutung für jeden norddeutschen Geniesser. Amerika, ganz unten.
Die Krönung kulinarischer Begleitgenüsse ist allerdings die rosa Rotunde. In diesem Neon-Pavillion wartet aufgeschäumter Zucker auf seine Einnistung in Zahnlücken. Ihr Dasein verdanken diese Gummibärchen-Abkömmlinge der chemischen Industrie, die wahrscheinlich auch noch die speziellen Neon-Röhren stiftet, welche die Szenerie wie einen Gruselfilm im Cyberspace ausleuchten.
Nun ist es aber keineswegs so, dass sich das Publikum in diesem Ambiente unwohl fühlt. Wo Großeltern denken würden, sie wären in der Zukunft gelandet, gleitet das moderne Klientel butterig durch. Dies ist auch nicht schwer, denn die Metamorphosen dieser Menschen halten ständig mit den glatten Oberflächen des Interieurs Schritt: Allen gemeinsam ist ihre strikte Abneigung gegenüber Naturfasern. Nur Aramid-Gewebe und andere Techno-Fasern haften auf den Noch-Körpern dieser Mutanten des WWW. Schwarz, früher noch modische Farbe des existenziellen Widerstands (Sinnlosigkeit macht Nichts), später Ausdruck von Friedhofssymphatisanten (Nichts macht Sinn), ist zum Ausdruck des virtuellen Chimäre (Nichts ist Macht) geworden. Und gerade so, wie der vorherige Satz keinen Sinn macht, rülpst die Hollywood-Maschine mit ihren ewigen Märchen von Gut und Böse immer öfter Filme ohne Anleihen am Logos aus. Leinwandgröße suggeriert Qualität des Films, aber in den Sitzen lässt es sich wahrlich aushalten. Vorbei die Zeiten, in denen man sich nach eineinhalb Stunden Terence Hill und Bud Spencer wie nach einem Atlantikflug fühlte. Wie gut das betreibende Kino-Konsortium es mit ihrer Kundschaft meint, merkt der werte Besucher erst am Ende des Films. Dann nämlich heisst es Abschied nehmen von den demütigen Gedanken an die Glitzer-Welt des Eingangsbereich. Aus dem Prachtsaal heraus geleitet, stolpert man -noch visuell benommen- durch ein vielstufiges, unverputztes Treppenhaus, bevor man durch eine Feuerschutztür auf einem Parkplatzacker mit metertiefen Pfützen landet. Der Ausblick ist großartig, gibt er doch den Blick auf eine Hochhauskolonie frei, deren Bewohner sich zum Teil weder eine Kino-Karte noch die überteuerten Fresssalien leisten können. Welcome to the real world!
Mehr geht nicht: Wer auf der Suche nach dem perfekten Strand ist, findet auf den Seychellen sein Ziel. Und reist dafür mit zwei neuen Faibles wieder ab: Naturwunder und seltsame Insel-Geschichten.
„Tut mir Leid“, sagt Beate Sachse und streicht über die Baumrinde. Die Rangerin, die mich durch den dichten Urwald führt, entschuldigt sich bei einem Baum? Allein das ist verblüffend. Was mich aber noch mehr wundert: Es klingt ganz selbstverständlich. Denn hier auf Frégate und den anderen Seychellen-Inseln, wirkt die Natur so mystisch-lebendig, so beseelt, dass einen eher erstaunt, dass keine Antwort kommt. Von der alten Riesenschildkröte zum Beispiel, die einen müde anblinzelt und hier wahrscheinlich schon vor hundert Jahren im Schatten döste, als das Wort „Ferntourismus“ noch nicht mal existierte. Oder von den einzigartigen Granitfelsen, die wie „Herr der Ringe“-Gestalten wirken, und die von Piraten und Bacardi-Spot-Drehs erzählen könnten.
Warum Beate sich bei dem Baum entschuldigt? Sie hat seine Rinde angeritzt, um mir ein kleines Wunder zu zeigen: Denn die Bäume hier können bluten. Und vielleicht haben sie ja auch tatsächlich eine Seele? Beate, die seit einem halben Jahr auf Frégate lebt und arbeitet, gefällt der Gedanke. Sie lacht und erzählt mir, wie die seltsamen Drachenblutbäume auf die Insel kamen: „Sie wachsen eigentlich in Indien. Einwanderer haben ihr Holz nach Frégate mitgebracht, um Vanilleranken daran anzubauen. Doch die Geschäfte liefen schlecht, sie verließen die Insel wieder. Zurück blieben brachliegende Gewürzfelder, wo das Holz auf fast magische Weise neue Wurzeln schlug.“ Inmitten dichten Urwalds entstand so ein lichtes Wäldchen dieser seltsamen Pflanzen mit tiefrot durchtränktem Stamm.
Nicht das einzige Naturwunder der Insel: Im Winter finden seltene Wasserschildkröten aus fernen Gewässern den Weg hierher, um an den einsamen Stränden ihre Eier abzulegen. Und wer durch den Dschungel spaziert, trifft vielleicht auf einen furchtlos-frechen Magpie-Robin. Nur noch etwa 30 Exemplare dieses Vogels gibt es weltweit – alle leben auf Frégate.
Nach Auffassung der Geologen sind die Seychellen, die abgeschieden 1.000 km östlich von Afrika im Indischen Ozean liegen, ein versprengter Rest des Ur-Kontinents Gondwana. Oder, wenn man es poetisch ausdrücken möchte: eine Laune des lieben Gottes, der sie ins Meer streute, um schon mal für sein Meisterstück, den Garten Eden, zu üben.
Nicht nur die Natur der Seychellen bietet Wundersames – auch ihre Geschichte ist von Mythen durchzogen. Bis ins 18. Jahrhundert waren sie weitestgehend unbewohnt, boten Unterschlupf für Piraten. Ihre Raubschätze sollen noch heute vergraben liegen. Nur gefunden wird nie etwas. Offiziell zumindest. Erfolgreiche Schatzsucher müssten dem Staat 90% abgeben.
1740 wurde der Freibeuter Olivier Le Vasseur, der seine Reichtümer auf den Seychellen versteckt haben soll, hingerichtet. Vorher schleuderte er aber noch eine Karte voll undurchsichtiger Zeichen und verschlüsselter Hinweise in die Menge.
„Wir Seychellois lieben solche mystischen Geschichten“, erzählt Micheline Georges, die selbst Teil dieser Legenden ist. Die alte Dame bewirtschaftet den „Jardin Du Roi“ auf der Hauptinsel Mahé, früher eine Gewürzplantage, heute ein verträumtes Ausflugsziel für Botanikliebhaber und Romantik-Fans. Sie ist Nachfahrin des rätselhaften Monsieur Poiret, der Anfang des 19. Jahrhunderts unter mysteriösen Umständen aus Frankreich hierher kam. Noch heute hält sich das Gerücht, er sei letzter rechtmäßiger Erbe der französischen Krone gewesen. Ein schöne Geschichte, doch so recht scheint nicht mal Micheline dran zu glauben. Fest steht aber, dass sich im Besitz ihrer Familie Silber und Besteck mit französischen Königswappen befinden. Ob das wirklich als Beweis reicht? Egal: Micheline erzählt spannend, die Veranda ihres Cafés mit Blick auf Garten und Meer wirkt wie eine koloniale Puppenstube – und ihre „Daube de Banane“, Bananen in Kokosmilch, sind ein Gedicht.
Wer hier oben in dem feinen Gärtchen in den Bergen der Hauptinsel Mahé glaubt, bereits im Paradies angekommen zu sein, war noch nicht ein paar Inseln weiter auf La Digue. Eine Welt, deren Lebenstakt von den langsam am Strand auslaufenden Wellen bestimmt zu sein scheint. Dagegen wirkt Mahé mit der Hauptstadt Viktoria wie eine quirlige Metropole. Viktoria ist der einzige Flecken hier, der den Titel Stadt überhaupt verdient.
Auf La Digue versteht man zum ersten Mal, was „Entschleunigung“ bedeuten könnte. Ochsenkarren holpern über die Wege, Autos gibt es kaum, 3.000 Menschen leben hier. Wer in eine andere Ecke der Insel möchte, mietet ein Fahrrad und ist spätestens nach 20 Minuten an jedem beliebigen Ziel. Wobei es einen als erstes fast wie ferngesteuert zum „Anse Source à Jean“ zieht. Zu spektakulär ist sein Ruf, zu unglaublich die Bilder seines von Granitfelsen gesäumten Strandes, die jeder kennt. Bilder, die immer dann auftauchen, wenn Träume verkauft werden sollen. Ein Symbol für die Sehnsucht nach dem perfekten Platz.
Nichts wie hin! Gleich am ersten Abend. Warten will keiner mehr, wenn er hier erst mal an Land gegangen ist. Verblüffenderweise ist es trotzdem still und einsam hier. Vielleicht haben wir auch nur Glück. Die Brandung plätschert auf dieser Seite der Insel zahm. Der Weg schlängelt sich durch Mini-Schluchten zu immer neuen Buchten. Irgendwann hört man auf, irgendeine davon zur schönsten erklären zu wollen. Die Steine wechseln im Abendlicht von Zartrosa zu leuchtend Violett. Von den wenigen Menschen, die einem begegnen, spricht keiner. Als sei ihnen plötzlich bewusst, dass sie endlich am Ziel sind. Dass es schwierig sein wird, Schöneres zu entdecken.
Und trotzdem: Auf den Seychellen gibt es immer noch eine Steigerung von einsam und friedlich. Auf Frégate weiter süd-östlich hat man die Ruhe zum Marketingkonzept erklärt. Oder vielleicht auch nur dem Wunsch des Besitzers der Privatinsel inklusive Luxusressort nachgegeben, dessen Haus auf einer Klippe am Meer thront. Nur alle paar Monate kommt er selbst vorbei. Sein Name wird verschwiegen. Gerüchteweise hört man, es sei ein reicher Deutscher, der sein Vermögen einsetzt, um eines der letzten, kaum berührten Paradiese zu erhalten.
Sein Luxusressort zählt gerade mal 16 Villen – 32 Gäste und die Insel ist ausgebucht. Außerdem leben und arbeiten 115 Menschen hier, die sich um das Hotel und die Plantagen kümmern. Früher gab es auch mal ein kleines, einfaches Hotel am Strand. Der Schriftsteller Ian Fleming soll dort James Bond erfunden haben. Sicher hat die Insel der Film-Figur das Faible für exotische Abenteuer-Ziele eingehaucht.
Pierce Brosnan hat sich nach seinem letzten 007-Dreh hier erholt. Paul McCartney war auf Flitterwochen da. Brad Pitt, Jennifer Aniston und Michael Douglas sollen ebenfalls zu Gast gewesen sein. Aber auch hierzu schweigt die Hotel-Crew eisern. Vielleicht haben sie ja von den Seychellois gelernt: Interessante Halbwahrheiten ergeben oft den spannendsten Gesprächsstoff.
Am Tag der Abreise treffe ich noch mal Beate. Sie strahlt, weil sie im Wald gerade Eier eines Magpie-Robin entdeckt hat – ein Stück neue Hoffnung für die vom Aussterben bedrohten Tiere. Wir strahlen gemeinsam. Ihr Enthusiasmus für die Natur steckt an – nicht nur uns.
Zweimal im Jahr muss die ganze Hotel-Crew vom Direktor bis zum Zimmermädchen Kokosnüsse einsammeln. Die haben nämlich erst die Menschen auf die Hügel der Insel gepflanzt. Sie würden heute die ganze Insel zuwuchern, wenn man sie ließe – und könnten das natürlich Gefüge, Grundlage für viele Tiere und Pflanzen, zerstören. Deshalb passiert es manchmal, dass die reichen und berühmten Gäste der Insel, die Luxuspreise zahlen, um auf der privaten Insel absteigen zu dürfen, mitschuften beim großen Kokosnuss-Sammeln. Trotz Urlaub. Weil die einzigartige Natur sie verzaubert hat.
Interview mit Svenja Flaßpöhler über Leistungsdruck und Selbstverwirklichung in der postindustriellen Arbeitsgesellschaft
Arbeit und Genuss sind für eine Vielzahl von Menschen in der westlichen Hemisphäre nah zusammengerückt. Gerade die durch die Informationsarchitekturen beschleunigte Mittelschicht der Gesellschaft neigt zu exzessivem Arbeitsverhalten, es herrscht zwanghaftes Tun. Aktivität und Leistung sind selbst in der Freizeit die bestimmenden Antriebskräfte. Der Geist des Kapitalismus, der sich aus Sicht von Max Weber noch aus der protestantischen Ethik speiste, erfährt dabei eine neue Ausformung: Heute arbeitet man nicht mehr für Gott, sondern zur Erhöhung des Selbstwerts. Die Philosophin Svenja Flaßpöhler analysiert die Ursachen und Symptome dieses Phänomen unter dem Stichwort „Genussarbeit“.
Als ich Sie per Email um das Interview bat, haben Sie erst nach knapp vier Wochen geantwortet. Genussarbeit oder falsches Zeitmanagement?
Svenja Flaßpöhler: Das war ausnahmsweise einmal richtiges Zeitmanagement. Ich hatte nämlich schlichtweg keine Zeit, aufgrund meiner neuen Arbeit als stellvertretende Chefredakteurin des Philosophie Magazins. Auf diese Arbeit wollte – und musste – ich mich konzentrieren. Genussarbeit in einem positiven Sinne heißt für mich genau das: Muße, Raum und Ruhe haben, um sich der Arbeit lustvoll zu widmen und trotzdem noch die anderen Dimensionen des Lebens zu leben. Genussarbeit in einem schlechten Sinne besteht aus exzessiver, zwanghafter, ausschließlicher Beschäftigung. Der exzessive Genussarbeiter kann nicht loslassen, nicht ablassen, nicht auslassen, nicht seinlassen. Hätte ich Ihre Mail also gestresst und womöglich nachts beantwortet, wäre genau das der Fall gewesen. Insofern schließen sich Genussarbeit und falsches Zeitmanagement übrigens nicht aus.
Ihr Genussarbeiter definiert seinen Selbstwert vor allem über die Arbeit und macht sich dadurch abhängig von der Anerkennung durch Kollegen und Vorgesetzten. Brauchen wir die Bestätigung unseres Tuns aber nicht alle? Und wie stellt man fest, ab wann die Grenze zum Krankhaften überschritten ist?
Svenja Flaßpöhler: Davon bin ich tatsächlich fest überzeugt: Niemand tut etwas einfach nur aus sich selbst heraus, sondern immer auch für einen Anderen. Das lässt sich an Kindern wunderbar beobachten. So selbstvergessen sie beispielsweise ein Bild malen: Es ist wichtig, dass Mama oder Papa das Bild würdigen. Wenn die Eltern vollkommen gleichgültig und gefühlskalt wären, würde das Kind möglicherweise überhaupt nicht malen. Dieses Angewiesensein auf die Anerkennung Anderer ist die Grundstruktur des menschlichen Schaffens, ja Existierens schlechthin. Schlimm wird es allerdings, wenn der Blick ausschließlich auf die Anderen und deren unter Umständen gnadenloses Urteil gerichtet wird. Dann stellt sich schnell das Gefühl ein, nie genügen zu können, und der individuelle Antrieb des Arbeitens geht verloren. Was zählt, ist nur noch der Erfolg, eine sinnentleerte, abstrakte Anerkennung, die schal ist. Der Kampf in Anerkennung schlägt in Sucht nach Anerkennung um.
Wir halten Passivität kaum mehr aus
Ein Problem dabei scheint zu sein, dass egal, was der Einzelne leistet, er durch viele äußere und innere Faktoren zu immer mehr angespornt wird.
Svenja Flaßpöhler: Ansporn ist zunächst einmal etwas Positives: Was wäre das Leben ohne diesen leichten Schmerz, diese Grundspannung, die uns auf Trab hält? Wem der Ansporn voll und ganz verloren geht, ist depressiv. Das Problem ist aber, dass das Angesporntsein heute absolut gesetzt wird: Das Ideal ist der ständig angespornte Mensch, der unablässig neue Ideen produziert, in seinem Beruf „aufgeht“, wie es so schön heißt und auch im Urlaub das Smartphone ganz nah am Herzen trägt. Aber Aktivität braucht Passivität als entgegengesetzten Pol. Keine Motivation ohne Langeweile, keine Inspiration ohne Phasen des Nichtstuns. Mein Eindruck ist, dass wir Passivität kaum noch aushalten.
Kann man sagen, dass das System diejenigen nach unten durchreicht, die dieses hyperaktive Spiel nicht mitmachen können – oder wollen?
Svenja Flaßpöhler: Einerseits ja. Wer sonntags prinzipiell nicht arbeitet und wochentags nach Feierabend keine Emails mehr checkt, gilt schnell als unbrauchbar. Allerdings, und insofern stimmt Ihre Annahme nur eingeschränkt, landen in der Regel ja auch die „unten“, die das Spiel mitmachen. Hyperaktivität schützt vor sozialem Abstieg keineswegs. Irrtümlicherweise glauben wir, uns durch ständige Präsenz unentbehrlich zu machen. Aber Präsenz ist keine individuelle, das heißt unaustauschbare Eigenschaft. Es gibt immer jemanden, der noch präsenter ist. Insofern sollten wir, da das Spiel nicht gewonnen werden kann und auch nicht glücklich macht, den Mut haben zu sagen: I would prefer not to.
Und wo liegt die Grenze zur Faulheit, die ohne soziale Verantwortung agiert?
Svenja Flaßpöhler: Ich würde den Spieß gern umdrehen. Ein hyperaktiver Mensch, der immer nur nach vorne, nie aber nach links und rechts, geschweige denn nach hinten schaut, weil er dafür gar keine Zeit hat, agiert ohne soziale Verantwortung. Ihn interessiert nur das Vorwärtskommen. Jede Ablenkung verursacht Stress.
Der faule Mensch, der Sonntags nachmittags auf dem Sofa liegt, schläft, ein bisschen Zeitung liest, zwischendurch auf der Gitarre klimpert, agiert hingegen sozial. Durch seine Passivität, die ja nie reine Passivität ist; die gibt es nur im Tod, wird er wieder offen für die Welt. Hyperaktivität verhärtet den Menschen. Passivität lässt ihn weich werden, empfindsam für Eindrücke, Verlockungen, Kinderfragen.
Wobei neue Eindrücke doch wiederum ständig um die Aufmerksamkeit buhlen. Heutzutage scheint mir selbst die Passivität von Disziplin begleitet sein zu müssen, um nicht Gefahr zu laufen, zwischen Gitarre, Zeitung, Kind und iPad hin und her zu pendeln. Die moderne Unterhaltungsindustrie setzt ja mittlerweile den Second Screen voraus, möchte also, dass wir die im Fernsehen laufenden Ereignisse und Nichtigkeiten parallel mit dem Smart Phone kommentieren.
Svenja Flaßpöhler: Das ist richtig. Und die Frage, die sich da aufdrängt, lautet: Wer beherrscht wen? Ich die Maschine oder die Maschine mich? Ich habe mir gerade ein Smartphone angeschafft und laufe ständig Gefahr, dem Gerät erlegen zu sein. Die Faszination, die davon ausgeht, mit dem Zeigefinger die Welt zu bewegen, ist enorm. Das Fatale ist doch, dass wir uns im Grunde gern den Maschinen unterwerfen. Lust dabei empfinden. Wir müssen heute nicht mehr Pferdekarren über Äcker schieben, sondern sitzen auf ergodynamischen Stühlen vor schicken Macs und geben uns dem Rausch der Arbeit hin. Der moderne, technisch hochgerüstete Leistungsträger genießt sein Tätigsein, fühlt sich wichtig mit dem iPhone in der Hose. Warum also soll er nach Feierabend aufhören, das Display zu liebkosen? Um der Aktivitätsfalle zu entkommen, müssen wir das Begehren identifizieren, das uns in sie hineintreibt.
Das flüssige Selbst des modernen Menschen westlicher Industrie- und Informationsgesellschaften hat enorme Probleme der Grenzziehung, ständig wird sich neu erfunden, außer dem Therapeuten sagt uns keiner mehr, wann genug ist. Wie könnten, abseits der bewussten Passivität auf individueller Ebene, Anfänge vom Ende der Beschleunigung aussehen?
Svenja Flaßpöhler: Ich bin mir sicher: Wir kommen um die Systemfrage nicht herum. Wer nur empfiehlt, ab und zu mal das iPhone auszuschalten, betreibt Symptombehandlung, und die geht bekanntermaßen nicht sehr tief. Selbstverwirklichung, für mich immer noch eine lohnenswerte Utopie, setzt die Anerkennung der eigenen Grenzen, das Wissen um die eigenen Neigungen voraus: Ohne Selbst keine Selbstverwirklichung. In Zeiten neoliberaler Flexibilisierung sind wir davon weit entfernt. Marx war der Ansicht, dass Selbstverwirklichung im Kapitalismus nicht realisiert werden kann, weil das Arbeitsprodukt nie dem Arbeiter, sondern einem Anderen gehört. Dieser Andere treibt uns an mit dem Versprechen, dass die Mühe sich lohne. Aber lohnt sie sich wirklich? Möglich, dass wir gerade dabei sind, uns auf grandiose Weise selbst zu verfehlen.
Dieses System ist nicht die beste aller möglichen Welten
Zumal auch die neuen Medien, unter der Preisgabe der Privatsphäre, die Handlungs- und Beziehungsmuster der Nutzer mittlerweile im Sinne der Logik der globalen Verwertungsmaschinerie verändern. Welche Rolle spielt die Genusskultur aus ihrer Sicht in dieser Hinsicht? Für was steht das exzessive Genießen?
Svenja Flaßpöhler: Wer exzessiv genießt, überschreitet zwanghaft Grenzen. Körpergrenzen, Schmerzgrenzen, Grenzen der Privatsphäre, moralische Grenzen. Diese Form des Genießens wird uns durch unsere heutige Kultur nachgerade aufgedrängt, indem sie die Überschreitung einerseits untersagt und gleichzeitig anpreist. Auf der einen Seite sollen wir moralisch integer, fürsorglich uns selbst und anderen gegenüber, leistungsstark, schlank und vieles anderes sein; auf der anderen Seite aber leben wir in einer Kultur der All-you-can-eat-Angebote, der Flatrates, des Internetshoppings, der ständigen Erreichbarkeit und frei verfügbarer Internetpornographie.
Unsere Konsumgesellschaft fördert zwanghaftes Genießen, weil sie einerseits auf strengstem Verzicht beruht, gleichzeitig aber durch ihre Reize die Lust an der Überschreitung provoziert. Wenn ich beim Gehen Emails checke, meinem Gesprächspartner kaum zuhöre, weil es wieder einmal piept in der Tasche, dann fühle ich durchaus – ganz subtil, als leisen Kitzel – in meinem Inneren, dass ich eine Grenze, die Grenze des Anstands, die Grenze meines Aufnahmevermögens überschreite; aber gerade in der Überschreitung liegt ja die Lust.
Das klingt so, als ob durch korrekt angewandte Passivität zugleich der systemimmanente Leistungsdruck ausgehebelt und der Konsumterror abgemildert werden könnte. Das löst noch nicht das oben aufgeworfene Problem, dass die Produkte unserer Tätigkeit selten uns selbst, sondern einem Anderen gehören.
Svenja Flaßpöhler: Der Kapitalismus funktioniert doch nur so lange, wie der oder die Einzelne mitmacht bei dem Dreischritt: Produzieren – Konsumieren – Sterben. Würde er oder sie mehr seinlassen, auslassen und weglassen, bliebe die Shoppingmall am Samstag möglicherweise leer und das Büro auch.
Ich möchte mein Plädoyer für das Lassen tatsächlich nicht nur als ein Aufruf zum Nickerchen am Sonntagnachmittag verstanden wissen, sondern durchaus auch im Sinne des Streiks: Dieses System, in dem wir vor allem damit beschäftigt sind, Geld zu verdienen und Geld auszugeben, ist nicht die beste aller möglichen Welten. Insofern ist es nicht ausgeschlossen, dass der Andere früher oder später sein Köfferchen packen muss, wenn sich die 99 Prozent zu korrekt angewandter Passivität entscheiden.