Selbst Amöbenschleim geht planvoll vor. Nicht nur der Mensch verfügt über Intelligenz, auch Tiere, Pflanzen und Bakterien treffen eigene Entscheidungen und entwickeln neue Handlungsmuster. Jeremy Narby, ein Anthropologe, der in der Schweiz, den USA und Kanada lebt, entdeckt intelligentes Verhalten überall in der Natur und präsentiert dazu überwältigendes Beweismaterial. Der „Teufelszwirn“ beispielsweise, ein Windengewächs, umschlingt andere Pflanze, taxiert deren Nährwert und entschließt sich innerhalb einer Stunde, ob er die Pflanze anzapfen oder weiterkriechen soll.
Zwischen den Vorstellungen der indigenen Heiler über die Intelligenz in der Natur und jenen der fortschrittlichen Naturwissenschaftler zeigen sich fundamentale Unterschiede, aber auch erstaunliche Parallelen. Jeremy Narby führt die außergewöhnlichen Ergebnisse aus zwei Forschungswelten zusammen und versucht die Wege zu ergründen, auf denen die Natur ihr Wissen erlangt.
Die vielen so lebhaft beschriebenen Beispiele reichen Narby aus, um von intelligentem Verhalten in der Natur auszugehen. Allerdings ist für jeden, der mit offenen Augen durch den Wald geht, die grundsätzliche Einsicht so neu nicht: Wer hat nicht schon staunend vor einem Ameisenhaufen gestanden? Schön wäre daher gewesen, wenn er einen Schritt weiter gegangen wäre und näher erklärt hätte, warum das so offensichtliche kluge Vorgehen von Tieren und Pflanzen einen solchen Schock für die westliche Wissenschaft bedeutet. Es ist unter Anthropologen und anderen Rechercheuren der subjektiven Erfahrung en voque sich jeder grundlegenden These zu entledigen und die Erzählung fließen zu lassen. Vielleicht wäre es in diesem Fall aber intelligenter (sic!) gewesen, das Buchprojekt mit einer Definition von Intelligenz zu beginnen. Gerade diese Definition ist nämlich das Kernproblem, jede Suche nach Intelligenz in Natur, Kultur, Technik oder dem Menschen steht und fällt mit ihr. Dann hätten die vielen guten Fragen in dem Buch zum Teil einer Antwort überführt werden können. Erst zum Ende führt Narby den japanischen Begriff des „chi-sei“ ein, was soviel wie „Wissensfähigkeit, Erkenntnisfähigkeit“ bedeutet. In einer für Naturliebhaber typischen Ablehnung (elektro-) technischer Entwicklungen versäumt Narby auch die Quellen der Forschung rund um die „Künstliche Intelligenz“ anzuzapfen, die jenseits transhumanistischer Phantasien viel zur Klärung des Aufbaus von Intelligenz in der Natur beiträgt (s. z.B. Pfeifer/Scheier: Understanding Intelligence).
So bleibt das Buch ein wunderbarer Parforceritt durch die Wälder Amazoniens, die Labors Japans (ein sehr guter Teil des Buches) und die Schweizer Alpen und ein immer flüssig zu lesendes Beispiel dafür, welche wirklichen Wunder diese Welt abseits von Religion und Glauben bereit hält. Und: Das Werk verortet dabei die aktuelle Forschungsergebnisse nicht nur, sondern zeigt auch auf, vor welchem kulturellen Hintergrund diese erworben wurden und welche Menschen dahinter stehen.
Jeremy Narby: Intelligenz in der Natur
Eine Spurensuche an den Grenzen des Wissens
Gebundene Ausgabe, 272 Seiten
Baden und München 2006
AT Verlag
ISBN: 3038002577
EUR 21,90