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Mixed Übermensch

„Der Dandy ist geübt darin den Ast abzusägen, auf dem er sitzt.“

Interview mit Hans-Christian Dany über die Aktualität der Figur des Dandy

Seine Eleganz erscheint mühelos, zugleich können seine spielerische Irritationen in den Zeiten des Übergangs helfen. Begleitend zur Ausstellung „No Dandy, No Fun“ in der Kunsthalle Bern haben Hans-Christian Dany und Valérie Knoll ein Buch über eine noch immer moderne Erscheinung geschrieben.

Jörg Auf dem Hövel

Frage:
„Mode-Geck mit fünf Buchstaben“, fragt das Kreuzwort-Rätsel. Welchem Irrtum sitzt man auf? Warum ist der Dandy so eingeflossen in das allgemeine Bewusstsein?

Hans-Christian Dany:
Es gibt eine allgemeine Vorstellung von einem Mode-Geck, also von jemandem, der Übertriebenen, dabei gar nicht unbedingt modisch, eher konservativ gekleideten Herren, der elegant ist, Einstecktuch trägt. Das sind Adaptionen von der Urfigur des Beau Brummel. Interessanter schien uns die Denkfigur, die dahinter verborgen ist und durch die im 19. Jahrhundert im Zuge der Aufklärung die Figur des Stoikers weitergedacht wurde. Also eine Figur, die sich eher in Askese übt, die sich nicht mehr farbig angezogen, sondern schwarz-weiß.

War das so?

Der Adel des ausklingenden 18. Jahrhunderts hat sich ja noch sehr farbenprächtig gekleidet. Und da taucht dann Brummel um die Jahrhundertwende auf. Er hat als sozialer Aufsteiger auch gar nicht die Möglichkeiten sich wieder Adel zu kleiden und muss eine andere Art von Eleganz erfinden.

Warum war die Zeit reif für so eine Gestalt?

Die französische Revolution löste eine große Verunsicherung aus, auch in den Ländern, die noch weiter feudalistisch waren. Und diese Verunsicherung macht er zu seiner Bühne. Im Bürgertum verankert gibt er sich aber eben nicht damit zufrieden, der Bürger in der zweiten Reihe zu sein. Und er sieht nicht ein, dass er sich fleißig hoch arbeiten soll. Er findet in der Verunsicherung des Hofes und des Adels seine Dramaturgie.

Zugleich schien sein Auftritt für sich selbst nur gelungen, wenn er nicht zu sehr auffiel. Er wollte nicht den Paradiesvogel spielen. Aber was wollte er zeigen mit seinem Äußeren?

Seine Ziele sind nicht offengelegt, er ist eine Spieler- oder auch taktische Figur,, eine Figur in einer Zeit des Übergangs, was ihn heute wieder so interessant macht. Also eine Gesellschaft transformiert sich und keiner weiß wirklich, wo es hingeht. In Frankreich war es zu dem Zeitpunkt nicht klar, wohin die Revolution führen würde. Und deswegen ist die Figuar des Dandy jetzt so interessant. In einer Zeit des Umbruchs, die kaum größere Ziele kennt, aus dem Erhalt des Status quo.

Schriftlich hat er gar nichts hinterlassen?

Es gibt ein paar Gedichte. Aber es gibt kein Manifest. Er ist ein moderner Mensch, der weiter geht, aber anders als die Avantgarden nicht mit einem erklärten Ziel.

Und der Unterschied zum Snob?

Der Snob sagt ja zu den existierenden Statussymbolen. Also er übertreibt es mit denen, es kann nur der beste Champagner sein. Der Dandy spuckt diesen aus und sagt, der schmeckt wie Pisse. Der Snob versucht mitzuhalten – und das tun Dandys gerade nicht.

War die Kurtisane ein Vorbild für den Dandy?

Das ist eine Überlegung. Es gibt diese Figur der Kurtisane als einer sozialen Aufsteigerin, die in diesen feudalen Gesellschaften lebt, als Geliebte oder auch als potenzielle Geliebte. Sie entwirft neue Moden und zeichnet sich durch ein freches Mundwerk aus. In einer an Macht gewöhnten Gesellschaft ermächtigt sie sich dazu, diese zu beleidigen. Und da ist natürlich das Nichtstun, sie haben viel gewartet, gingen keiner Arbeit nach. Das unterscheidet sie und die Dandys von den Aufsteigern, die sich hocharbeiten müssen. Der Dandy wird männlich wahrgenommen, dabei gab es weibliche Vorbilder.

Eine Mehrzahl von Dandys waren biologische Männer, die Frauen sein wollten.

Brummel war schwul, er selber stellte sich aber als asexuell dar. Das war eine Fassade, zu der er genötigt war, um nicht diskriminiert zu werden. Der Dandy nutzt als weiblich identifizierte Techniken, um mit den Betrachter zu spielen.

Anders herum konstruieren weibliche Dandys sich männlich?

Oder sie entwerfen als eine Art Nicht-Geschlecht. Die Künstlerin Hanne Darboven ist so ein Beispiel. Sie modellierte sich im Laufe ihres Lebens zu einer Figur zwischen Mann und Frau. Zudem spielt sie mit einer Form von Arbeit mit einem ungeheuren Fleiß, der aber ins repetetiv-groteske verzerrt wird. Sie übersetzt die Arbeit der hanseatischen Pfeffersäcke zu einer vorkommen leeren, in sich perpetuierenden Kunsttätigkeit. Wir haben uns ja hauptsächlich beschäftigt mit einer bestimmten Generation von Konzeptkünstlerinnen. Jemand wie Lutz Bacher zum Beispiel, die durch ihr Pseudonym in einer fiktiven Männeridentität gelebt hat und sehr damit gearbeitet hat, dass ihr Werk immer wieder diejenigen, die glaubten es zu kennen, verblüfft hat.

Das Nichtstun der Dandys ist als eher eine bewusste Nicht-Berührung der Welt um nicht noch mehr Müll zu hinterlassen?

Jemand wie Marcel Duchamp hat es als Künstler vermieden viel zu tun und ist zu einer der sichtbarsten Personen überhaupt geworden, mit sehr wenig hergestellter Materie. Dandys wie er haben Umgangsformen mit der Welt erfunden, die angesichts der ökologischen Probleme unserer Gegenwart aktuell sehr angemessen wirken. Also nicht mehr die Zukunft zu planen, nicht mehr immer weiter etwas hinzustellen, sondern Dinge, die schon da sind, wieder aufzugreifen und zu remodellieren und vielleicht für eine kommende Zeit in angemessener Form wieder herzustellen. Darum scheint uns der oder die Dandy eine faszinierende Figur der Moderne, die ganz viele Eigenschaften und Taktiken hat, die angesichts der heute klar erkennbaren Grenzen oder gar der Furchtbarkeit der menschlicher Planung, wieder Relevanz hat.

Durch Faulheit das Leben in die Hand nehmen, das klingt nach Punk.

Diese No-Future Episode, die sehr Dandy war, ist ja vielleicht auch eine der stärksten Unterbrechungen gewesen im letzten halben Jahrhundert. Um zu sagen, Halt, nachdem die Endlichkeit der industriellen Moderne kurz zuvor prognostiziert wurde. Wenn wir so weitergehen, dann gehen wir in den Untergang.

Friedrich Merz würde jetzt natürlich die Frage nach dem Sozialschmarrotzertum stellen. Der Dandy, auf wessen Kosten hat gelebt?

Wohl so wie moderne Staaten auf Pump. Er lebt so wie Friedrich Merz lebt. Brummel hat auf Pump bis zum Bankrott und später von fast gar nichts gelebt. Es geht schon darum mit sehr wenig, sehr viel zu machen, da ist bei Friedrich Merz noch viel Luft nach Oben. Während beim Dandy eine Negation der Werte da ist. Und dieses Ablehnen der Werte unserer Zeit ist ja vielleicht auch sehr angebracht. Es ist ja richtiger nach Bad Gastein zu fahren als nach Bali zu fliegen. Oder gar nicht weg zu fahren. Der Dandy hat keine Problem damit Erbschaften durchzubringen. Wir haben heute doch die fatale Entwicklung, dass sich eine Klassengesellschaft über Erbschaften erhält. Der Dandy ist geübt darin den Ast abzusägen, auf dem er sitzt.

Pflegt der Dandy im Bedarfsfall seine Mutter?

Charles Baudelaire, der große Theoretiker des Dandytums, pflegte auf jeden Fall jahrelang seine kranke Frau. Eltern sind hingegen eher etwas, womit der Dandy es nicht so hat, da er das Zweifelhafte der Herkunft und ihrer Erbfolge in Frage stellt. Woher man stammt, wird undurchsichtig gehalten oder die Spur davon, das Erbe verprasst, damit es weg ist. Trotzdem gibt es fürsorgliche Dandys und auch die Sorge um sich, zielt bei dieser Haltung nie allein auf sich selbst, sondern immer vor allem darauf, wie dieses Selbst Teil an der Gemeinschaft wird.

Aber der Dandy will doch gar kein Teil der Gemeinschaft sein.

Doch, er will in Kontakt treten. Das sind andere Formen als die, der auf Verständnis und Konsens bauenden Gesellschaften der Gegenwart, in denen fast jeder Dissens zu Rückzug und Abgrenzung führt. Dandys gehen nicht davon aus, nur wenn wir zur Übereinstimmung kommen, sind wir in Kontakt. Eher treten wir in dem Moment, in dem ich nicht mit dir übereinstimme und ich dich vor den Kopf stoße, in einen Austausch mit den anderen. Und in dem Moment wo ich eigentlich auch verschwinde in unserem Austausch, können wir überhaupt erst in Kontakt treten. Dandys sind permanent mit Zügelung und Zurücknahme ihres Ichs und ihrer Subjektivität beschäftigt, bis hin zur Auslöschung. Immer wenn ihnen etwas im Gespräch zum Konsens erstarren droht, werfen sie ihre Position über den Haufen, um dem in der Übereinstimmung müde gewordenen Austausch wieder neues Leben einhauchen. Das Gegenüber wird gerade im Widerspruch anerkannt.

Das herrschende Bild des Dandys ist doch eher der Egozentriker, der nur um sich selbst kreist.

Die Sorge um den eigenen Auftritt ist aber immer eine Reaktion auf das Gegenüber. Ein Dandy entwickelt meinetwegen einen bestimmten Stil oder eine bestimmte Art seine Art seine Krawatte zu binden und die anderen adaptieren das. Und dann ist der Begriff der Gemeinschaft nicht, wir tragen jetzt alle die Krawatte gleich, sondern trage sie gleich wieder anders und trete dadurch wieder ich in Dialog den Dialog mit euch. Es geht nicht darum, sein Ich zu verfeinern, sondern die Herstellung von Gemeinschaft im Unterschied und der Unterbrechung des Konsens. Es ist ja ein Scheindialog, wenn wir alle uns zum Beispiel auf die gleichen Statussymbole einigen. Dann wird abgeglichen mit der Folge zu sagen: Meine Statussymbole sind noch etwas besser als deine.

Gibt es Parallelen zur spirituell-esoterischen Ich-Auflösung als heilsamem Weg des Mensch-Seins?

Der Dandy ist es ist durchaus eine spirituelle Figur. Das hat häufig damit zu tun, das Nichts und die Leere zum Strahlen zu bringen.

Feingeistigkeit, Wissen, der Willen zur Irritation. Fühlt man sich als Gegenüber vom Dandy schnell profan?

Dandys begreifen das Gespräch als ein gemeinsames Lernen, indem auch gesagt gesagt werden, nein, deine Antwort ist unzureichend und langweilig, da sie vorhersehbar war. Da kann ich auch mit ChatGBT reden. Ein Gespräch unter Dandys heißt schon eine andauernde Forderung gegeneinander. Aber wenn wir eine Gemeinschaft bilden wollen, dann müssen wir schon etwas von uns selbst und unserem Gegenüber verlangen.

Hans-Christian Dany, Valérie Knoll
No Dandy, No Fun
Looking Good as Things Fall Apart
Gutaussehend in den Untergang
2023
11.5 x 18cm, English 232 pages and German 240 pages, 30 b/w ill., softcover
ISBN English 978-3-95679-561-9
ISBN Deutsch 978-1-915609-16-8
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Übermensch

Nur die Hälfte der Geschichte

Erschienen in der Telepolis
Von Jörg Auf dem HövelEin 88-Jähriger lebt gut – ohne die Verbindung seiner Gehirnhälften

Das Fachblatt „Neurocase“ hat den Fall eines 88-Jährigen US-Amerikaners vorgestellt , der seit seiner Geburt ohne die übliche Verbindung der beiden Großhirnhälften lebt. Normalerweise verbindet ein starkes Nervenbündel, der sogenannte Balken (lat. Corpus callosum), die rechte und linke Großhirnhälfte beim Menschen. Der Balken ist die zentrale Instanz in der Koordination dieser beiden Hemisphären.

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Cognitive Enhancement Mixed Übermensch

10 Jahre Neuro-Manifest

Eine Gruppe von Wissenschaftlern hat ein Manifest für eine runderneuerte Hirnforschung veröffentlicht

Erschienen in der Telepolis v. 19.03.2014
Von Jörg Auf dem Hövel

Das Plädoyer ist eine Reaktion auf die Hegemoniebestrebungen von Teilen der Neurowissenschaft bei der Deutung menschlichen Denkens und Verhaltens. An der Diskussion lassen sich gut die Aufgabenfelder einer zukünftigen Erforschung des menschlichen Geistes umreißen.

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Elektronische Kultur Übermensch

Google will das Leben verlängern

Der Konzern gründet ein Biotech-Unternehmen, um das Altern zu verhindern

Erschienen in der Telepolis v. 09.10.2013
Von Jörg Auf dem Hövel

Es hört sich ein wenig an wie die Zusammenfassung eines klassischen Dramas: Die Geschichte vom mächtigen Herrscher, der es schafft, alle Kräfte um sich herum zu besiegen – bis als letzter Feind nur die eigene Sterblichkeit bleibt. Der Herrscher ist in diesem Fall Google. In nur 15 Jahren hat es das amerikanische Unternehmen auf den zweiten Platz der wertvollsten Marken der Welt geschafft, wie das US-Beratungsunternehmen Interbrand für seine vergangen Woche veröffentlichten Rangliste errechnet hat. Auf Platz 1 vor Google liegt laut der aktuellesten Analyse nun nur noch Apple.

Google-Chef und -Mitgründer Sergey Brin hat nun nicht weniger als die Evolution des menschlichen Daseins als sein neuestes Business-Projekt ausgeguckt. Google investiert in die in die Erforschung von Möglichkeiten, das Sterben auf später zu verschieben. Und zwar auf viel später.

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Übermensch

Echtzeit-Beobachtung

Londoner Polizei setzt „Super-Recognizer“ ein

Am vergangenen Wochenende hat die Londoner Polizei beim alljährlichen Notting Hill Karneval eigenen Angaben zu Folge zum ersten Mal 17 sogenannte „Super-Recognizer“ bei einem Großereignis eingesetzt. Diese Polizeibeamten sollen in der Lage sein, Kriminelle in großen Menschengruppen schnell zu erkennen. Ihr Einsatzort war ein Kontrollraum mit Bildschirmen und Zugang zu über 80 zoomfähigen Kameras im Einsatzgebiet.

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Cognitive Enhancement Übermensch

Kopf an Kopf beim Hirndoping

Die Methoden des cognitive enhancement müssen endlich verglichen werden

Von Jörg Auf dem Hövel

Seit einigen Jahren wird über Hirndoping diskutiert. Dahinter steht die Hoffnung auf Mittel und Wege, dem menschlichen Geist auf die Sprünge zu helfen. Zugleich steht dahinter die Angst vor einer Anpassung an die nie enden wollenden Anforderungen der Leistungs- und Beschleunigungsgesellschaft und vor einer darauf aufbauenden Gesundheitsdiktatur.

In erster Linie wird über Medikamente und Arzneimittel gesprochen. Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht irgendeine Studie zur Wirksamkeit oder Unwirksamkeit einer psychoaktiven Hirndoping-Substanz den Weg in die Medien findet. Wie schon im Falle psychotherapeutischer Interventionen ist die Fixierung auf die Pharmakologie frappant. Dort lässt sie sich teilweise noch aus der Abkehr von der psychoanalytischen Tradition erklären, hier aber verwundert sie. Denn zum einen weisen alle vernünftigen Studien darauf hin, dass Konzentrations- oder gar Lerneffekte durch Arzneimittel wie Ritalin oder Modafinil marginal sind – wenn denn überhaupt vorhanden. Zum anderen existieren diverse alternative, nicht-pharmakologische Methoden des „cognitive enhancement“, wie die Forschung zu Hirnschrittmachern genannt wird. Um diese Methoden und ihre Einordnung in den Kontext der Diskussion soll es im folgenden gehen.

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Übermensch

Die wirklich große Blase

Kauen und das Gedächtnis

Es macht Spaß zu beobachten, mit welcher Begeisterung die Wissenschaftsgemeinde auf der Suche nach Mitteln und Methoden ist, die uns das konzentrierte Arbeiten ermöglichen sollen. Parallel zu den üblichen medikamentösen Verdächtigen werden auch ungewöhnliche Hirnschrittmacher erprobt.

So arbeiten sich einige Forscher seit Jahren am Kaugummi ab. Eine im April diesen Jahres veröffentlichte Studie hat die Wirkung von Kaugummi kauen auf die gedankliche Verarbeitungsgeschwindigkeit untersucht. Yoshiyuki Hirano und seine Kollegen kamen zu dem Schluss,

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Gesundheitssystem Übermensch

Was hilft, was nicht?

Bei der Hälfte der medizinischen Therapien könnte unklar sein, ob sie helfen

Die evidenzbasierte Medizin ist das neue Steckenpferd der Ärzteschaft. In ihr sollen nur solche Therapien zur Anwendung kommen, für die eindeutig feststeht, dass sie helfen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, könnte man denken. Diese Eindeutigkeit will die evidenzbasierte Medizin durch möglichst umfassende empirische Belege garantieren, man hofft auf die Kraft der großen Zahl.

Das Handbuch für evidenzbasierte Medizin gibt alle Jahre wieder einen Einblick in die Anwendung und den Nutzen der wichtigsten Therapien. Dafür hat man 3.000 der gängigsten Anwendungen ausgesucht. Danach ist die tatsächliche Wirksamkeit der Hälfte der Therapieformen aufgrund fehlender hochwertiger Studien unklar. Nur 11% erhielten das Siegel des uneingeschränkten Nutzens, weitere 24% sind wahrscheinlich nützlich. Auch in der frei verfügbaren Online-Kurzdarstellung weisen die Autoren darauf hin, dass aus den Ergebnissen nicht geschlossen werden kann, wie oft die eine oder andere Therapie tatsächlich angewendet wird. Auch wird davon Abstand genommen, aus den Zahlen auf die Wirksamkeit im einzelnen Patienten zu schließen. Dies deutet auf die Kritik an der evidenzbasierten Medizin hin, deren Ergebnisse zwar statistisch belastbar sind, aber nicht immer klar ist, was sie für den Einzelfall bedeuten.

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Gesundheitssystem Übermensch

Länger leben durch Vitaminzusatz?

Hilft die Einnahme von Antioxidantien?

Vom Mitentdecker der DNA, James Watson, ist der Satz überliefert, dass Antioxidantien in Nahrungsergänzungsmittel wahrscheinlich mehr Krebs verursacht als verhindert haben. Mit dieser Meinung steht Watson in einer Reihe mit den meisten wissenschaftlichen Studien, die sich mit der Wirkung von Antioxidantien bei gesunden Menschen beschäftigt haben. Warum aber gelten in der öffentlichen Meinung Wirkstoffe wie Vitamin A, Vitamin C und Beta-Karotin als gesundheitsfördernd, krankheitsvorbeugend oder gar lebensverlängernd? Neben der Studienlage ist das kulturelle Phänomen interessant. Warum haben die bunten Pillen einen so guten Ruf?

Die schnelle Antwort: Antioxidantien profitieren vom Nimbus, den der regelmäßige Verzehr von Obst und Gemüse umgibt. Denn diese verringern das Risiko, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs zu erkranken. Und da Obst und Gemüse viele Antioxidantien beinhalten, ging man lange Zeit davon aus, dass genau diese zur Gesundheit beitragen.

Um dies zu prüfen, vergab man in diversen Langzeitstudien Antioxidantien wie Beta-Karotin in Reinform als Nahrungsergänzungsmittel. Die Ergebnisse waren überraschend: Bis auf wenige Ausnahmen (Vitamin C bei Spitzensportlern, aber nicht bei Normalmenschen) gab es keine positiven Auswirkungen auf Therapie oder Krankheitsprävention. Nicht anders sieht es beim klinischen Einsatz aus. Hier war man darüber gestolpert, dass bei diversen Krankheiten der körpereigene Spiegel von Antioxidantien abfällt. Im Umkehrschluss hoffte man durch die Beigabe der Substanzen auf Besserung. Weithin Fehlanzeige. Im Gegenteil: Oft zeigten Nahrungsergänzungsmittel sogar negative Effekte.

Trotz dieses Wissenstands fördert die allgegenwärtige Werbung den Mythos von der Heilkraft der Antioxidantien. Sie trifft mit ihrer Nachricht auf eine (Pillen-)Einwurfgesellschaft, in der Gesundheit einen enormen Stellenwert gewonnen und gefälligst, wie vieles anders auch, auf Knopfdruck zu funktionieren hat. Optimierte Nahrung, optimiertes Lieben, optimiertes Leben.

Damit kein Missverständnis entsteht: Viele Antioxidantien (wie bspw. Vitamin C, Vitamin E, die Polyphenole und Flavonoide) müssen durch die Nahrung aufgenommen werden. In bestimmten Konzentrationen schützen sie den Körper von oxidativen Schäden, verhindern also, dass zu viele hochreaktive Sauerstoffverbindungen gebildet werden, die andere Moleküle strukturell verändern können. Denn das nennt sich dann „oxidativer Stress“ und ist ebenfalls ein beliebtes Wortgebilde in der Werbung.

Trotz vieler Bemühungen ist es allerdings noch nicht gelungen, einen kausalen Zusammenhang zwischen diesem „Stress“, der auch im menschlichen Alterungsprozess eine Rolle spielt, und Herzinfarkten, Rheuma oder Krebs nachzuweisen. Gleichwohl ist aber davon auszugehen, dass man zuviel „oxidativen Stress“ vermeiden sollte, wenn man eher krankheitsfrei leben möchte. Wie? So wie es aussieht, reicht für die meisten Menschen dazu das, was man gemeinhin einen „ausgewogenen Lebensstil“ nennt. Regelmäßige Bewegung an frischer Luft, eher Obst und Gemüse als Burger und Zucker und gesunde soziale Beziehungen.

Erschienen in der Telepolis unter http://www.heise.de/tp/blogs/3/153602

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Cognitive Enhancement Psychopharmakologie Übermensch

Vergesst das Gehirn nicht

Das Protein PKMzeta galt als Zentralschalter für die Erinnerung, gar als Kandidat für effektives Gedächtnis-Doping. Nun kommen Zweifel auf.

In den letzten Jahrzehnten wurden verschiedene chemische Substanzen gefunden, die für das Erinnern zuständig sind. Eine zentrale Rolle wurde dabei immer PKMzeta zugeschrieben. Hinter dem Kürzel verbirgt sich ein Enzym, das Todd Sacktor bereits vor 20 Jahren entdeckt hatte. In einem seiner Versuche hemmte er im Hirn von Ratten das PKMzeta und konnte eine ansonsten stabile Erinnerung komplett löschen. In einem zweiten Versuch erhöhte er die Verfügbarkeit von PKMzeta und konnte nachweisen, dass dies bei den Nagern die Erinnerungsfähigkeit fördert.

Nicht nur Sacktor denkt, mit dem Enzym den Schlüssel zum menschlichen Gedächtnis in der Hand zu haben, sei es, um das Hirn besser lernen zu lassen, sei es, um es vergessen zu lassen. Zuletzt durfte eine Forschergruppe im anerkannten Magazin Science über die enorme Konsolidierungskraft von PKMzeta berichten.

Aber jetzt kommen Zweifel auf. Unabhängig voneinander deaktivierten zwei Forscherteams in Mausembryonen die Gene, die für die Bildung von PKMzeta verantwortlich sind. Die ausgewachsenen Mäuse besaßen das Enzym also nicht. Gleichwohl waren die Mäuse in der Lage, Erinnerungen auszubilden (Nature-Aufsätze hier und hier). Die Studien zeigen recht eindeutig, dass PKMzeta das Erinnerungsvermögen nicht als hauptverantwortliches Moment reguliert. Alternative Pfade sind möglich. Welche dies sind, muss weitere Forschung zeigen.

Wieder muss sich die Hirnforschung von der Hoffnung zu verabschieden, ein einzelnes Molekül sei in der Lage, Erinnerung (wer spricht noch von CREB?) oder Gefühle (Oxytocin) zu formen. Simple Erklärungen sind verführerisch und ökonomisch besser verwertbar. Gegenseitige Abhängigkeiten im körpereigenen Prozess, äußere Einflüsse, individuelle Eigenheiten – dies alles wird spätestens virulent, wenn es um die pharmakologische Umsetzung der Forschungsergebnisse geht.

Erschienen in der Telepolis unter http://www.heise.de/tp/blogs/3/153490