Sissy auf Koks
Um 1900 waren Präparate auf Basis der Bedeutendsten der heute als Rauschgift verteufelten Substanzen wie Cannabis indica, Cocain, Opium, Morphium, Codein und Heroin gebräuchliche Medikamente. Ein Opiumgesetz gab es noch nicht. Campher, Coffein und Strychnin kamen als Stimulanzien zum Einsatz. Mildere pflanzliche Beruhigungsmittel wie Hopfen und Baldrian gehörten ebenso zum Repertoire wie Nachtschattenalkaloide und schlichtweg toxische Mixturen auf Quecksilber- und Arsen-Basis. Selbstverständlich wurde in Adelskreisen fleissig konsumiert, litt man doch nicht nur unter allerlei psycho- und somatischen Wehwehchen, sondern unter schweren Erkrankungen wie der verbreiteten Tuberkulose (TBC) und diversen Geschlechtskrankheiten, insbesondere der Geißel Syphilis. Diese infektiösen Krankheiten waren in der Prä-Antibiotika-Zeit praktisch kaum heilbar und führten zu Siechtum und frühem Tod. Die Rezeptbücher der Apotheke des Wiener Hofes der K.u.K.-Monarchie der Habsburger geben einen Einblick in die Verschreibungspraxis der damaligen Zeit, zumindest was die Rezepturen der reichen Elite betrifft. Den Autorinnen Sabine Fellner und Katrin Unterreiner ist es gelungen an Hand von diesen ergänzt durch umfangreiche Recherchen ein spannend zu lesendes pharmaziehistorisches Sittenbild dieser Zeit zu zeichnen.
Fünf Prominenten sind dabei eigene Kapitel gewidmet: Erzherzog Otto, der Quecksilber gegen seine Syphilis einsetzte, aber auch homöopathisch Cannabis nahm; Kronprinz Rudolf, der Morphium zur Linderung seines Trippers bekam, aber auch Cocain (so wie Kronprinzessin Stephanie); Kaiser Franz Joseph, der das beliebte Hustenmittel Codein konsumierte und sonst Einiges mehr; der legendären Sissy, Kaiserin Elisabeth, die in ihrer Reiseapotheke über eine eigene Spritze verfügte, mit der sie sich Cocain gegen ihre Melancholie zu injizieren pflegte und auch Hustenpulver auf Cannabis indica-Basis nicht verschmähte; Erzherzog Franz Ferdinand der nicht nur Cocain nahm, sondern auch allerlei Opiate gegen seinen chronischen Husten, darunter Heroin.
Lediglich ein paar besserwisserische Anmerkungen, die den hohen Unterhaltungswert des vorliegenden Werkes nicht schmälern können, seien hier erlaubt: Dass Cannabis indica im 19. Jahrhundert „in erster Linie zur Behandlung von Appetitlosigkeit“ (S.113) verwendet wurde, müsste belegt werden. (Maßgeblich ist hier Manfred Fankhauser mit seinem großartigen Meilenstein „Haschisch als Medikament“, der nicht auf diese Indikation gestossen ist.) Sigmund Freud empfahl oral (!) eingenommenes und daneben subkutan injiziertes Cocain. Die „intravenöse“ und die „intranasale“ Applikation waren zu seiner Zeit (1884) noch nicht etabliert (S.117).
Dass der karrieregeile „Wiener Quacksalber“ (so Han Israels) seiner damaligen Verlobten im Nachhinein vorwarf, sie sei Schuld, dass er nicht schon in jungen Jahren als Entdecker der Lokalanästhesie berühmt geworden wäre, wurde als Lüge entlarvt (Han Israels „Der Fall Freud“, sehr zu empfehlen). Demnach hatte Freud selbst die Verantwortung für sein damaliges Handeln zu tragen (S. 119). Aber vielleicht wäre der Menschheit so eine der großen Pseudo-Wissenschaften, die Psychoanalyse, erspart geblieben. Die Shen-Nung-Datierung ist fragwürdig wie eh und je (S. 174). Pemberton benutzte für die Ur-Coca Cola Cocablätter- und Colasamen-Extrakt und nicht Cocain (das damals verhältnismäßig teuer war) und Coffein als Reinsubstanzen (S. 176). Und der Name des Entdeckers des möglicherweise mit dem etwas später isolierten „Cocain“ identischen „Erythroxylin“s (1855), des Pharmazeuten Dr. Friedrich Gaedcke (1828-1890), wird verbreitet gerne falsch geschrieben (S. 175).
az
Sabine Fellner/Katrin Unterreiner
„Morphium, Cannabis und Cocain.
Medizin und Rezepte des Kaiserhauses.“
Amalthea Signum Verlag, Wien 2008
Geb. mit Su., 192 S., 11 Abb.
ISBN 978-3-85002-636-9