Juli 2008
Ein Abgesang
Die Akzeptierende Drogenarbeit als Gegenentwurf zum Abstinenzparadigma der herrschenden Drogenpolitik scheint am Ende zu sein. Es ist Zeit Bilanz zu ziehen.
Zunächst ein Rückblick: Während des ersten großen Drogenkonsumbooms in den 60ern und Anfang der 70er keimten in einer Phase der Orientierungslosigkeit auf staatlicher Seite aus der linken Szene gewachsene offene Hilfsprojekte wie „Release“ auf. Für kurze Zeit (1970 bis 1975) konnten sie eine Alternative zur damaligen Psychiatrisierung sprich Einweisung der Konsumenten illegaler Drogen in die Irrenanstalten bieten. Kiffende Weltverbesserer versuchten damals mittels diverser kreativer Projekte Junkies zur Speerspitze der subkulturellen Revolution zu machen. Dank geschickter Selbstdarstellung gelang ihnen eine Zeit lang die Finanzierung über Spenden und staatliche Tagegelder.
Schnell berappelte man sich jedoch auf Behördenseite und förderte praktisch nur noch auf totale Abstinenz setzende therapeutische Unternehmen, die bereit waren mit den Strafverfolgungsbehörden zusammen zu arbeiten. Das „Drogenhilfesystem“ wurde auf drei Säulen gestellt: Erstens Prävention, sprich Dramatisierung zur Abschreckung, zweitens Strafverfolgung und damit Ausgrenzung der Konsumenten, um diese quasi als Seuchenherde sozial zu isolieren und über die Verschärfung des sogenannten „Leidensdrucks“ zum Ausstieg zu „motivieren“, und drittens rigide Abstinenztherapien, offiziell seit 1982 „statt“ aber defacto als alternative Strafe. Dieses System erwies sich als weitgehend uneffektiv und trug erheblich zu einer Verschlechterung der Verfassung der stigmatisierten Konsumenten bei.
Mit der zweiten Drogenwelle in den Achtzigern und der rasanten Verbreitung der damals nicht effektiv behandelbaren HIV-Infektion bzw. AIDS-Erkrankung trat in Kreisen injizierender Drogengebraucher eine massive Verelendung ein, die von kritisch denkenden Sozialwissenschaftlern und Pädagogen insbesondere freier Träger, Initiativen und der AIDS-Hilfen als unmittelbare Folge einer in eine Sackgasse geratenen repressiven Drogenpolitik interpretiert wurde. Man entwickelte einen Gegenentwurf, eine auf einer „rationalen und humanen Drogenpolitik“ basierende „Akzeptierende Drogenarbeit“, die der Schadensminimierung dienen sollte. 1990 wurde gar ein „Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik, akzept e.V.“ gegründet.
Zugute kam dieser neuen drogenpolitischen Ideologie, dass in den Aufbruchsjahren nach der „Wiedervereinigung“ 1989 plötzlich vieles realisierbar erschien, was in den deprimierenden 80er-Jahren der reaktionären „Wende“ unter BRD-Kanzler Helmut Kohl noch als undenkbar galt. In diese Zeit Anfang der 90er fielen auch das Haschischurteil des Bundesverfassungsgerichts, die folgenden Coffeeshop-Experimente in den Großstädten, der Growshop-Boom, die Smart Drugs-, Herbals- und Psilo-Wellen, die von den Autoren Herer/Bröckers angezettelte „Hanf rettet die Welt“-Euphorie mit ihren Hanf-Produkten und Läden und die parallel laufende „Ecstasy“-Party-Seeligkeit der frühen Techno-Jahre inklusive LSD-Revival in der Goa-Szene. Ähnliche Entwicklungen fanden zudem nicht nur in Deutschland statt, sondern in weiten Teilen Europas, insbesondere in den Niederlanden, der Schweiz, Großbritannien und Spanien. Offene Grenzen, das Internet und moderne Kommunikationstechnologien trugen ihren Teil zur Gesamtentwicklung bei.
Die abstinenzorientierte Drogenpolitik wirkte überkommen, realitätsfern und geradezu lächerlich. In der Folge gelang es in Deutschland zahlreiche „niedrigschwellige“ Projekte mit akzeptanzorientiertem Ansatz zu verwirklichen, wie Szene-Cafes mit Spritzentausch, Fixerstuben, Übernachtungsstätten und pädagogisch betreute Wohngemeinschaften. Ein wichtiges Ziel war die Substitutionsbehandlung der Opiatabhängigkeit. Die Möglichkeit der ärztlichen Verschreibung von Methadon/Polamidon, heute auch Buprenorphin/Subutex, wurde schließlich sogar gesetzlich garantiert. Da sich die Konsumenten dafür zeitweise einer „Psychosozialen Betreuung“ unterwerfen mussten, boomten Einrichtungen, die hier zur Stelle waren.
Dennoch schwebte über Allem immer noch der Anspruch staatlicher Drogenpolitik Akzeptierende Drogenarbeit nur für eine Übergangsphase im Leben der Klienten finanzieren zu wollen. Das Ausstiegsdenken war keineswegs vom Tisch. Aus Ratlosigkeit lies man machen, was auf der dienstleistenden Seite eine Art Wildwuchs zur Folge hatte. Da die Finanzierung der entsprechenden Einrichtungen meist nicht pauschal sondern über die Zahl der Klientenkontakte oder Stundenhonorare erfolgte kam es zu undurchschaubaren Abrechnungen. Nicht selten wurden Klienten obendrein in mehreren Einrichtungen gleichzeitig betreut. Zusätzlich wanderten sie ihrem primären Bedürfnis nach Grundversorgung und Obdach folgend nach erfolgten Rausschmissen oft von einer Einrichtung in die Nächste. Es haperte aus Sicht der Kostenträger insgesamt an Zielvorgaben und an Qualitäts- und Effektivitätskontrollen.
In den letzten Jahren bemühte man sich nun von Behördenseite aus diese Lücken zu schließen. Projekten, die den neuen Kontrollansprüchen nicht genügen konnten oder wollten, wurde die Finanzierung entzogen. Wer im Rennen bleiben will orientiert sich in der Konzeptualisierung seines Unternehmens an scheinbar modernen Leitbildern: Ausufernden Antrags- und Dokumentationssystemen, wie sie die WHO bei ihrem Versuch im Rahmen der Globalisierung ein einheitliches von der westlichen Medizin geprägtes Menschenbild zu konstruieren und zu institutionalisieren vorgibt, Floskeln aus dem Case-Management, therapeutischen Ansätzen aus der Verhaltenstherapie, wie sie mit dem materialistischen auf Genetik und Epigenetik setzenden Menschenbild der US-amerikanischen NIDA konform gehen. Sah man die Arbeit vorher als schadensminimierend und suchtbegleitend, sollen die „Klienten“ jetzt offiziell selbst, wenn sie sterbenskrank sind, „trainiert“ (das klingt „ein Stück weit“ nach Boot-Camp) und „auf Ausstieg orientiert“ werden (aus der „Sucht“ natürlich). Wo vorher in vielen Projekten eine relative Gleichberechtigung unter den Mitarbeitern herrschte, werden Hierarchien aufgebaut, die der klassischen Hackordnung Psychiater, Psychologe, Sozialpädagoge, Hilfspersonal entsprechen.
Teilen des (Führungs-)Personals kommt der rigidere und gängelnde Umgang mit unter Druck gesetzten Klienten durchaus recht. Mittlerweile älter geworden, sehnt man sich nach mehr Distanz zum Objekt, nach strikterem Regelwerk und konzentriert sich ohnehin mehr auf sein Privatleben. Für die Klientel ist so eine Entwicklung bedenklich. Was sich als professionelle Distanz verkleidet, droht in Ignoranz gegenüber im humanen Ansatz immerhin theoretisch gleichwertigen und gleichberechtigten Mitmenschen umzukippen. Aus Akzeptierender Drogenarbeit kann auf diesem Wege eine überheblich auftretende Entmündigende Drogenarbeit werden.
Der Leistungsdruck unter dem nicht nur die Klienten sondern auch die relativ schlecht bezahlten Mitarbeiter stehen führt bei diesen teilweise zu Burn out-Symptomen und Krankheitsausfällen. Qualifiziertes Personal zu finden, dass sich derartige Arbeitsbedingungen reinzuziehen bereit ist, wird schwierig. Die Akzeptierende Drogenarbeit als optimistische Alternative ist am Ende. Doch die Vereinsmitgliedschaft bleibt bestehen. Licht am Ende des Tunnels ist nicht zu sehen.
Welche Fehler führten zu dieser Misere?
Das zentrale Problem aller Drogenkonsumenten ist nach wie vor die Kriminalisierung und die damit zusammenhängende soziale Ausgrenzung. Ihrer Beendigung müsste eigentlich das Hauptengagement gewidmet sein, nicht der Besitzstandswahrung, dem Erhalt pädagogischer „Idyllen“, die keine (mehr) sind. Die Meisten, die ihren staatlich finanzierten Laden bekommen hatten, hielten sich schließlich drogenpolitisch zurück. Mancheine Einrichtung war froh, wenn ihr Kontrollen erspart blieben. Man blieb inkonsequent in der Durchsetzung von Zielen innerhalb der Projekte wie auf der langfristig viel bedeutsameren drogenpolitischen Ebene. Auf dieser ließ man sich mit Kompromissen abspeisen. So auch in der Opiat-Substitution mit Methadon/Polamidon. Nach deren immerhin erfreulichen Realisierung war hinter der Durchsetzung der Originalstoffvergabe, sprich Heroin, nicht mehr der erforderliche Druck.
Inkonsequent war man auch in der Diskussion und Klärung von Fragen, wie man beispielsweise mit Schwerstabhängigen umgehen oder wie man sich gegenüber dem sogenannten „Beikonsum“, insbesondere dem von Kokain („Base“, „Steinen“, „Crack“), verhalten soll. Das Phänomen des süchtigen Verhaltens ist bis heute wissenschaftlich und ethisch nicht hinreichend ergründet worden. Zuverlässige dauerhaft effektive Hilfen gibt es daher nicht. Bedeutende das Leben stabilisierende Faktoren scheinen am Ende ganz banal eine unkomplizierte medizinische Versorgung, gesicherte menschenwürdige Wohnverhältnisse, flexible Arbeitsangebote und vor Allem eine kontinuierliche menschliche Anbindung darzustellen.
Unter den Projekten herrscht obendrein mangelnde Solidarität. Letztlich wurschteln die verschiedenen Einrichtungen unterschiedlicher Träger mehr oder weniger unkoordiniert und bisweilen unambitioniert vor sich hin. Die Träger stehen gegenüber den staatlichen Geldgebern zueinander in starker Konkurrenz. So lässt sich drogenpolitisch nichts durchsetzen. Von einer Lobby kann nicht die Rede sein.
Leider herrscht bei den Mitarbeitern selbst nicht selten Ignoranz gegenüber dem Menschenbild und den Idealen der Akzeptierenden Drogenarbeit. Die Leitlinien von einem parteiischen akzeptierenden, respektierenden, an der Menschenwürde orientierten, die Selbständigkeit des Individuums fördernden, die Handlungsspielräume erweiternden Umgang mit Drogengebrauchern sind vielfach auch mit dem Älterwerden der Mitarbeiter aus dem Fokus geraten. Dass auch drogenpolitisches Engagement zu den Aufgaben der Akzeptierenden Drogenarbeit gehört ist Vielen gar nicht mehr bewusst.
Generell fehlt die Bereitschaft zu einer ehrlichen (selbst)kritischen Bestandsaufnahme sowohl der tatsächlich geleisteten Drogenarbeit mit all ihren Pleiten und Pannen, wie auch der Auswirkungen der Drogenpolitik in den vergangenen Jahren unter Herbeiziehung aller Beteiligten inklusive der Betroffenen. Aber so locker funktioniert Drogenpolitik nun mal nicht, schon gar nicht in Zeiten des Neoliberalismus. Dieser verlangt gleichermaßen nach der Kontrolle Aufmüpfiger und staatlicher Knauserei bei den Bedürftigen wie nach Schaffung maximaler Freiheiten für die Aktionen kapitalistischer Unternehmen.
Es bleibt zu hoffen, dass die in Folge dieser Hinwendung zu einer tendenziell auf Bevormundung und Überwachung setzenden Drogenpolitik zu erwartenden Verelendungsprozesse bei den Betroffenen und damit zusammenhängende Frustrationserfahrungen bei in der Drogenarbeit Tätigen irgendwann doch noch einmal zu einem dann koordinierteren nachhaltigeren Engagement für einen menschlicheren Ansatz in der Drogenpolitik wie in der Gestaltung des Hilfesystems führen mögen.