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Elektronische Kultur

Wohin mit den E-Mails von Schriftstellern?

E-Mails Archiv Schriftsteller DU /

DU, Nr. 752, Heft 11/2004

Schriftsteller im Datennirvana

Wer sichert eigentlich die E-Mail Korrespondenz von Autoren?

Bedrohlich sind Gedächtnislücken immer dann, wenn Elementares zu verschwinden droht. Auch die literarische Welt nutzt seit über zehn Jahren E-Mail, wie aber die weltweite Korrespondenz von Romanciers und Publizisten für die Nachwelt gesichert werden kann, dafür gibt es kaum konkrete Pläne. In der Flut von Interviewanfragen, Einladungen und dem unvermeidlichen Spam geht der elektronische Gedankenaustausch mit Freunden, Widersachern und Verlegern unter. Dem kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft droht die digitale Lücke.

Früher, ja früher, da war das einfacher. Briefe wurden auf Papier geschrieben und landeten im Archiv. Freundliche Erben hinterließen den Bibliotheken und Stiftungen den Nachlass, darunter waren oft Tausende von handgeschriebenen und getippten Schriftstücken. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach verwahrt beispielsweise über 1000 solcher Autorennachlässe.

Und heute? In den USA werden schon seit acht Jahren mehr E-Mails als Briefe verschickt und auch europäische PC-Besitzer senden lieber Mails als noch zur Post zu rennen. Die Folge: Im Jahr entstehen weltweit rund 400.000 Terabytes an Informationen durch E-Mail Verkehr, das entspricht ungefähr den Büchern von 40 Universitäts-Bibliotheken. Der umtriebige Surfer erhält täglich bis zu 60 E-Mails und muss sich entscheiden, ob, wohin, und vor allem in welchem Format er sie abspeichert.

Die moderne Kommunikation wartet nicht nur mit einer Vielfalt von E-Mail-Programmen auf, die die Botschaften meist properitär codieren, sondern zudem mit Dateien in Mail-Anhang. Deren Vielfalt stellt jedes ausgewachsene Rechnersystem vor eine Interpretationsaufgabe. Word- und Adobe Acrobat Dokumente belagern die Festplatte ebenso eingescannte Briefe im jpg, tif, oder, schlimmer noch, bmp Format. Jedes Software-Firma sucht ihre Codierungsart als Standard durchzusetzen, denn das verspricht Geld und Ruhm.

Die Folge ist ein Wildwuchs an Formaten, die mit den Jahren obsolet werden. Ältere digitale Dokumente verweigern sich gerne der Wiederherstellung, sind sie doch häufig in einem Format oder auf einem Medium abgespeichert, das heute nicht mehr lesbar ist. „Kann man alles Konvertieren, kein Problem…“, mailt Urs Gattiker, Professor für Management und Informations-Wissenschaft an der International School of New Media in Lübeck.

Nicht immer. So wurden in den 80er Jahren Millionen von Briefen und Studienarbeiten auf dem damals beliebten ATARI ST mit der Textverarbeitung „Signum“ verfasst. Deren Konvertierung ist heute nicht mehr möglich. Im Keller der British Library lagern Lochkarten eines Computers aus den sechziger Jahren, die vom Evolutionsbiologen Bill Hamilton gestanzt und nun nicht mehr entschlüsselt werden können. Die Institution ist auch stolzer Besitzer eines Geräts des Klimatologen James Lovelock, zu dem leider nur das Netzkabel fehlt.

Die ehrwürdige Library hat nun als eine der ersten Bibliotheken einen Kurator für digitale Manuskripte angestellt. Jeremy John soll die Archivierung der E-Mails bedeutender Schriftsteller und Wissenschaftler organisieren. Eine Aufgabe, der sich andere europäische Staaten bisher nicht stellen. Das Marbacher Literaturarchiv sieht sich bislang nur in der Lage, E-Mails aus ihnen überlassenen Nachlässen zu sortieren, eine Beschaffung und Speicherung aktueller Nachrichten sei bisher, Zitat, „nur angedacht“.

Selbst wenn Autoren keine Berührungsängste vor digitalen Welten hegen und ihre Post und Manuskripte brav auf CDs brennen, ist künftigen Generationen der Einblick in ihre Arbeit nicht garantiert. Eine CD-ROM hält unter guten Bedingungen die Daten zwischen drei und 15 Jahren authentisch parat. Danach verschwinden die Bits ins digitale Nichts.

In einer Zeit, wo die Antwort auf die meisten Fragen „Technik“ heißt, löst man auch diese Probleme auf dem herkömmlichen Wege: Auf der ganzen Welt sind Vollzeitkräfte damit beschäftigt, eingescannte oder digital erstellte Bilder, Dokumente und Filme ins nächste Hard- und Software-Zeitalter zu retten, indem sie die Informationen regelmäßig auf neue Datenträger kopieren und in das just moderne Datenformat konvertieren.

So viel Code war nie. Die enorme Anhäufung von digital verfügbarer Informationen stehen ebenso riesige Verluste gegenüber. Geht es nach den Apologeten des Cyberspace soll E-Mail den herkömmlichen Papierbrief bald ablösen. Aber das sind vielleicht dieselben Auguren, die vor Jahren die Ära des papierlosen Büros vorhergesagt haben. In Institutionen wie dem Marbacher Literaturarchiv will man so schnell eh nicht denken. Dort ist man sich noch nicht einmal einig, ob E-Mail nicht doch eher mit einem Telefonat vergleichbar und daher nur bedingt speicherungswürdig ist.

Von Jörg Auf dem Hövel

Jörg Auf dem Hövel (* 7. Dezember 1965) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als freier Journalist u. a. für die Telepolis, den Spiegel und Der Freitag.

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