telepolis, 01.05.2011
Neuro-Enhancement für ein gelingendes Leben?
Jörg Auf dem Hövel
Der Medizin-Ethiker Roland Kipke über die Veränderung und Verbesserung mentaler Eigenschaften durch Selbstformung und pharmakologische Mittel
Frage: Nach anfänglicher Scheu hat sich zur Beschreibung des Neuro-Enhancement in den Medien der Begriff des Hirn-Doping durchgesetzt. Ist das eine hilfreiche Analogie?
Roland Kipke: Im Gegensatz zu dem in der Fachdebatte benutzten Begriff „Neuro-Enhancement“ ist „Hirn-Doping“ weniger sperrig und leichter verständlich. Das Problem ist, dass mit dem Begriff des Dopings von vornherein eine negative ethische Bewertung nahegelegt wird. Denn im Sport, von wo der Begriff entlehnt ist, gilt Doping weithin als unanständig. Ich kann damit leben, von mir aus kann man auch „Hirn-Doping“ sagen, aber ich bevorzuge den Begriff „Neuro-Enhancement“.
Um zu einer ethischen Einordnung zu gelangen, vergleichen Sie Neuro-Enhancement mit dem Konzept der Selbstformung. Was beinhaltet Selbstformung?
Roland Kipke: Selbstformung ist die absichtliche und nicht-therapeutische Veränderung mentaler Eigenschaften durch mentale Arbeit an sich selbst. Diese mentalen Eigenschaften reichen von einzelnen Gewohnheiten über kognitive Fähigkeiten bis hin zu tief verankerten Charakterzügen. Selbstformung kann zum Beispiel in einem einfachen Konzentrationstraining bestehen, in einer Meditationspraxis oder in dem Versuch, sein soziales Verhalten zu ändern. Welche Form und welches Ziel Selbstformung auch hat, stets ist sie eine mentale Aktivität. Sie geht stets mit erhöhter Selbstaufmerksamkeit und Selbststeuerung einher und besteht immer in mehr oder weniger langfristiger Übung.
Ist der Besuch eines Coaches, um am Arbeitsplatz besser agieren zu können, noch Selbstformung oder schon Therapie? Oder spielt diese Grauzone für ihren Vergleich mit dem Enhancement keine Rolle?
Roland Kipke: Was Selbstformung und Neuro-Enhancement auf der einen Seite ist und eine therapeutische Maßnahme auf der anderen Seite hängt davon ab, was krank bzw. was gesund ist. Der Krankheitsbegriff wird nun zwar vielfach kritisiert. Doch wir kommen weder lebensweltlich noch wissenschaftlich ohne ihn aus. Und ein hinreichend komplexer Krankheitsbegriff ist trotz mancher Grauzone durchaus in der Lage, eine praktikable Unterscheidung zwischen Therapie und „verbessernden“ Maßnahmen zu ziehen.
Zu Ihrer konkreten Frage: Wenn Sie nicht in der Lage sind, die Anforderungen Ihres Arbeitsplatzes zu erfüllen, weil Sie krank sind, weil Sie über gewisse normale menschliche Funktionen nicht verfügen und dafür eine Hilfe suchen, ist diese Hilfe als Therapie einzustufen. Wenn Sie hingegen einen Coach aufsuchen, um „noch besser“ zu werden, handelt es sich um Selbstformung – vorausgesetzt natürlich, dass Sie selbst die Veränderung herbeiführen und sie nicht bloß passiv über sich ergehen lassen.
Unter welchen Aspekten haben Sie technisches beziehungsweise pharmakologisches Enhancement auf der einen Seite und Selbstformung auf der anderen Seite miteinander verglichen?
Roland Kipke: Ich habe sie in Bezug auf zwölf Aspekte personalen Lebens miteinander verglichen, die sich unter den vier Stichworten Identität, Freiheit, Moral und Glück versammeln. Dazu gehören unter anderem Authentizität, Selbsterkenntnis, Selbststeuerung, moralische Verantwortung, Selbstverwirklichung und die Orientierung an einem Lebensplan. Die Frage ist jeweils: In welchem Verhältnis stehen Selbstformung und Neuro-Enhancement zu diesen Fähigkeiten, Erfahrungsweisen und Selbstverhältnissen? Welche Folgen sind für sie aufgrund der spezifischen Handlungsstrukturen von Selbstformung und Neuro-Enhancement absehbar? Diese Frage ist von erheblichem ethischen Interesse, weil diese Fähigkeiten, Erfahrungsweisen und Selbstverhältnisse allesamt für uns Aspekte eines gelingendes Lebens sind.
Aber ist ein gelingendes Leben nicht hochindividuell?
Roland Kipke: Ja, was unter einem gelingenden Leben verstanden wird, ist je nach Individuum und Kultur teilweise sehr unterschiedlich. Das ist eine zentrale Einsicht der modernen Ethik, und deshalb sollte man mit Aussagen zum gelingenden Leben, die einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit verfolgen, sehr vorsichtig sein. Allerdings schlägt diese Vorsicht oft in eine totale Urteilsenthaltsamkeit um. Die ist ebenso unberechtigt wie das andere Extrem eines glückstheoretischen Paternalismus, der die andere bevormundet, auch wenn es ihm – vermeintlich – um deren Wohl geht.
Wir teilen grundlegende Überzeugungen, was ein gelingendes Leben ausmacht.
Roland Kipke: Richtig, und diese Überzeugungen betreffen nicht Einzelheiten, nicht die Frage, ob man gerne Sport treibt oder lieber gemütlich im Café sitzt oder ob man Baguette oder Schwarzbrot bevorzugt, sondern um grundlegende Dinge, wie dass wir alle Selbstverwirklichung schätzen, das heißt die Verwirklichung zentraler Wünsche, oder dass wir eine gewisse Kohärenz unseres Lebens anstreben. Der Standardeinwand lautet hier: Auch diese Überzeugungen und Werte werden nicht von allen Menschen geteilt. Das mag sein, sie werden aber von nahezu allen Menschen in unserer Gesellschaft oder in unserem „Kulturkreis“ geschätzt. Das mag für eine allgemeine Ethik in ihrer Suche nach universell gültigen Aussagen unbefriedigend sein, für eine angewandte Ethik, der es um konkrete Fragen für konkrete Menschen geht, nämlich für uns, reicht es hingegen aus.
Selbststeuerung und Selbsterkenntnis werden durch Neuro-Enhancement nicht gestärkt
Betrachtet man nun beispielsweise den Aspekt der Selbststeuerung. Wie schneiden hier Neuro-Enhancement und Selbstformung ab?
Roland Kipke: Selbststeuerung ist die Fähigkeit, den eigenen Willen gegen innere Widerstände durchzusetzen. Komplizierter ausgedrückt ist es die Fähigkeit, dem eigenen Willen zuwiderlaufende Handlungsimpulse wie Affekte oder Gewohnheiten an ihrer Handlungswirksamkeit zu hindern und die Handlungsimpulse durchzusetzen, deren Handlungswirksamkeit man wünscht. Ein erhöhtes Maß dieser Selbststeuerung ist in jeder Selbstformung gefragt, denn es geht ja gerade darum, vorhandene Verhaltensweisen umzuformen, und das können auch rein mentale Verhaltensweisen wie die Konzentration sein.
Selbststeuerung ist also einerseits eine Voraussetzung von Selbstformung, andererseits wird sie in jeder Selbstformung geübt und somit gestärkt. Auch wenn jede menschliche Person diese Selbststeuerungsfähigkeit hat, ist das Maß, in dem wir über sie verfügen, doch sehr unterschiedlich. Selbstformung tendiert dazu, dieses Maß zu erhöhen. Und ein hohes Maß an Selbststeuerung schätzen wir. Sie macht das Maß unserer Willensfreiheit aus. Diesen positiven Effekt bietet Neuro-Enhancement nicht. Denn es funktioniert ja gerade ohne diese Aktivität der Selbststeuerung. Selbststeuerung ist nicht gefordert und wird dadurch auch nicht gefördert.
Und wie ist das bei der Selbsterkenntnis?
Roland Kipke: Auch hier wirken sich die unterschiedlichen Handlungsstrukturen von Selbstformung und Neuro-Enhancement aus. Denn Selbstformung funktioniert nur mit einem erhöhten Maß an Selbstaufmerksamkeit. Ich muss mir meine Eigenschaften bewusst machen, ich muss sie mit Aufmerksamkeit verfolgen, um sie verändern zu können. Selbstaufmerksamkeit ist zwar keine hinreichende, aber eine notwendige Bedingung für Selbsterkenntnis. Sicherlich wäre es falsch zu sagen, Selbstformung führt zwingend zu einem Mehr an Selbsterkenntnis. Aber sie hat auf jeden Fall eine Tendenz, Selbsterkenntnis zu befördern. Diese Tendenz hat Neuro-Enhancement nicht. Denn ich kann zwar die Wirkungen, die Neuro-Enhancer bei mir bewirken, mit erhöhter Aufmerksamkeit verfolgen, aber diese Selbstaufmerksamkeit ist nicht notwendig. Die erwünschte Veränderung kommt auch so zustande.
Was ist vor dem Hintergrund ihrer Erkenntnisse von diesem Satz zu halten: „Der Erleuchtung ist es egal wie du sie erlangst.“
Roland Kipke: Der Erleuchtung ist es vielleicht egal, aber uns kann es nicht egal sein, weil wir an einem gelingenden Leben interessiert sind. Und das besteht nicht allein in einzelnen Bewusstseinsinhalten, sondern in der Art, wie wir sind, erleben und uns zu uns selbst verhalten.
Vom Neuro-Enhancement kommt man schwer wieder los
Würden Sie denn dem Neuro-Enhancement zumindest den Status einer „Anschubfinanzierung“ mentaler Weiterentwicklung zubilligen wollen?
Roland Kipke: Wenn jemandem die mentalen Voraussetzungen fehlen, um sich selbst formen zu können, wem also zum Beispiel das nötige Mindestmaß an Selbststeuerung fehlt, dem könnte vielleicht mithilfe medizinischer Mittel geholfen werden, um das nötige „Startlevel“ zu gelangen. Nur würden wir so jemanden als krank ansehen und die Hilfe wäre Therapie und kein Neuro-Enhancement. Das wäre ohne Zweifel legitim. Ob darüber hinaus auch Neuro-Enhancement als Anschubfinanzierung in Frage kommt? Ich schließe das nicht völlig aus.
Sie sind also nicht strikt gegen Neuro-Enhancement?
Roland Kipke: Nein, aber meine Sorge ist, dass man, wenn man einmal damit anfängt und die Erfahrung macht, dass es funktioniert, schwer davon loskommt. Nicht im Sinne einer Sucht, sondern im Sinne einer Gewöhnung an einen einfachen Weg. Gegen eine Vereinfachung ist zwar an sich nichts zu sagen, wir schätzen ja die Vereinfachung durch Technik, aber die Vereinfachung mittels Neuro-Enhancement hat den gravierenden Nachteil, dass sie bestimmte wertvolle Erfahrungen und Selbstverhältnisse nicht ermöglicht oder nicht zu ihrer Stärkung beiträgt. Dass Selbstformung hingegen das Potenzial dazu hat, ist nicht so leicht zu erkennen, weil diese Erfahrungen und Selbstverhältnisse gerade durch das entstehen, was auf den ersten Blick als Nachteil von Selbstformung aussieht: die nötige mentale Aktivität, die Langsamkeit, die Anstrengung. Deshalb sehe ich eine „Anschubfinanzierung“ durch Neuro-Enhancement eher kritisch. Aus ihr droht eine Dauerfinanzierung zu werden.
Hat sich das sinnstiftende Element des „Besserwerden“ in der heutigen Zeit vielleicht überlebt, weil es in erster Linie der Zementierung ökonomischer Verhältnisse dient? Enhancement wird doch zur Zeit in erster Linie in militärischen und leistungsbezogenen Zusammenhängen diskutiert.
Roland Kipke: Sicherlich liegt dem Streben nach Selbstverbesserung zum Teil die Motivation zugrunde, in bestimmten ökonomischen Verhältnissen zurechtzukommen. Diese Tatsache entwertet aber dieses Streben nicht zwingend. Die Pointe meines Buches ist ja gerade: Egal welche Motivation dem Streben nach Selbstverbesserung zugrunde liegt und welche Eigenschaft man anstrebt – die selbstformerische Art, sich selbst zu verbessern, hat das größere Potenzial, einen Beitrag zu einem gelingenden Leben zu leisten.
Will der Mensch tatsächlich immer besser werden? Oder sind ihm andere Faktoren wie Anerkennung oder Liebe ebenso wichtig?
Roland Kipke: Ich glaube schon, dass wir allesamt besser werden wollen. Auch wenn wir versuchen, gerade nicht immer besser werden zu wollen, streben wir damit eine Eigenschaft an, die in unseren Augen besser ist. Aber die Annahme, dass alle Menschen besser werden wollen, ist für meinen Ansatz überhaupt nicht notwendig. Ich sage nur: Wenn jemand besser werden will, dann hat der Weg dieses Besserwerdens erhebliche Bedeutung für ihn. Und selbstverständlich: Besserwerden und Besser-Werden-Wollen ist bei weitem nicht alles, was es für ein gelingendes Leben braucht.
Überforderung durch die Angebote und Aufforderungen zur Selbstverbesserung?
Das klingt so, als ob Neuro-Enhancement wie Selbstformung weitere Techniken sind, die gewachsene Autonomie des Menschen noch weiter auszudehnen. Diese Autonomie, hier verstanden als der Zwang, seine Fähigkeiten ständig für seine persönliche Entwicklung einsetzen zu müssen, lässt uns doch aber schon heute reichlich unbehaglich im Raum stehen.
Roland Kipke: Was soll eine Autonomie sein, die in Zwang besteht? Autonomie ist gerade das Gegenteil von Zwang. Meinen Sie, dass wir uns zur Veränderung unserer Eigenschaften um unseres beruflichen Vorankommens willen gedrängt sehen? Ja, sicherlich gibt es das. Doch auch dann kann ich freiwillig versuchen, mich selbst zu verändern. Und auch wenn es eine im strengen Sinne unfreiwillige Selbstveränderung gibt, diskreditiert das nicht den großen Bereich freiwilliger Selbstveränderung.
Interessanterweise gibt es auch hinsichtlich des Autonomiegrades einen Unterschied zwischen Selbstformung und Neuro-Enhancement. Erstens ist bei Neuro-Enhancement ein echter Zwang oder die Umgehung des eigenen Willens sehr viel einfacher möglich. Zweitens: Auch wenn man freiwillig handelt, kann man feststellen, dass man nicht den langfristigen Wünschen und eigenen Wertvorstellungen entsprechend gehandelt hat. Das kennen wir: Wir wollen etwas und hinterher stellen wir fest, dass wir es eigentlich doch nicht wollten. Diese Erfahrung ist bei Neuro-Enhancement viel wahrscheinlicher, eben weil es so leicht und schnell zu machen ist. Selbstformung hingegen dauert lang und ist mühsam. Ich bin dadurch immer wieder quasi gezwungen, mich mit meinen handlungsleitenden Wünschen nach Selbstveränderung auseinanderzusetzen. Das Befolgen eines sozialen Drucks, das Mitschwimmen mit einer Mode ist daher unwahrscheinlicher. Selbstformung hat eine Tendenz zu einer starken Autonomie.
Meine Frage zielte eher auf die Unfähigkeit mancher Menschen ab, die vielen Wahlmöglichkeiten und Freiheitsspielräume für ein gelingendes Leben zu nutzen, weil sie schlicht überfordert sind. In dieser Hinsicht scheinen mir sowohl Neuro-Enhancement als auch Selbstformung weitere Techniken in der Angebotspalette einer extrem individualisierten Gesellschaft zu sein.
Roland Kipke: Zunächst ist Selbstformung ja nichts Neues. Menschen formen sich seit jeher selbst. Also kann man nicht sagen, dass nun auch noch das Angebot der Selbstformung hinzukomme. Das gilt höchstens für einzelne Methoden. Vor allem aber bewerte ich das Angebot an Möglichkeiten, sich selbst zu verändern, nicht als negativ. Im Gegenteil, ich schätze die Freiheitsspielräume. Ich sehe auch nicht, dass Menschen durch das Angebot an Selbstveränderungsmöglichkeiten überfordert sind. Wer sagt denn „Es gibt so viele Möglichkeiten der Selbstveränderung, ich weiß nicht, welche ich wählen soll?“ Ich finde es allemal schwieriger, mich mit verschiedenen Handytarifen zu beschäftigen. Was aber tatsächlich anstrengend ist oder einen gar überfordert, ist nicht zu wissen, was man will. Hier kann aber gerade Selbstformung eine Hilfe sein, weil man sich aktiv und aufmerksam mit sich selbst auseinandersetzt. Sich selbst zu formen kann das Selbstverstehen erhöhen. Selbstformung ist ein Mittel, um seine Identität zu klären. Neuro-Enhancement ist dazu aufgrund seiner spezifischen Handlungsstrukturen weniger in der Lage. Und schließlich kann Selbstformung auch darin bestehen, eine Haltung zu entwickeln, mit dem Angebot an Möglichkeiten zurecht zu kommen, eine Gelassenheit zu entwickeln, vielleicht auch eine Zufriedenheit mit der eigenen Persönlichkeit.
Ich muss noch einmal nachhaken: Sie denken also nicht, dass es ein berechtigtes Unbehagen bei vielen Menschen darüber gibt, im Gegensatz zu früher ständig neue Methoden der Selbstoptimierung ausprobieren zu müssen, um im Wettbewerb zu bestehen?
Roland Kipke: Grundsätzlich beurteile ich die Möglichkeit, sich selbst nach eigenen Vorstellungen verändern zu können, als positiv. Zweitens halte ich die Einschätzung, dass Menschen „ständig neue Methoden der Selbstoptimierung ausprobieren müssen“, für überzogen und deshalb falsch. Drittens: Wenn aber solch ein Druck vorhanden wäre, würde ich es für sehr problematisch halten. Viertens: Solch ein Druck würde vor allem durch wirksame Neuro-Enhancer entstehen, weniger durch das Angebot von Selbstformungsmethoden.
Literatur:
Roland Kipke: Besser werden. Eine ethische Untersuchung zu Selbstformung und Neuro-Enhancement, Paderborn, Mentis Verlag 2011