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Interview mit Svenja Flaßpöhler über Leistungsdruck und Selbstverwirklichung in der postindustriellen Arbeitsgesellschaft

telepolis, 25.02.2011

„Wir kommen um die Systemfrage nicht herum“

Interview mit Svenja Flaßpöhler über Leistungsdruck und Selbstverwirklichung in der postindustriellen Arbeitsgesellschaft

Arbeit und Genuss sind für eine Vielzahl von Menschen in der westlichen Hemisphäre nah zusammengerückt. Gerade die durch die Informationsarchitekturen beschleunigte Mittelschicht der Gesellschaft neigt zu exzessivem Arbeitsverhalten, es herrscht zwanghaftes Tun. Aktivität und Leistung sind selbst in der Freizeit die bestimmenden Antriebskräfte. Der Geist des Kapitalismus, der sich aus Sicht von Max Weber noch aus der protestantischen Ethik speiste, erfährt dabei eine neue Ausformung: Heute arbeitet man nicht mehr für Gott, sondern zur Erhöhung des Selbstwerts. Die Philosophin Svenja Flaßpöhler analysiert die Ursachen und Symptome dieses Phänomen unter dem Stichwort „Genussarbeit“.

Als ich Sie per Email um das Interview bat, haben Sie erst nach knapp vier Wochen geantwortet. Genussarbeit oder falsches Zeitmanagement?

Svenja Flaßpöhler: Das war ausnahmsweise einmal richtiges Zeitmanagement. Ich hatte nämlich schlichtweg keine Zeit, aufgrund meiner neuen Arbeit als stellvertretende Chefredakteurin des Philosophie Magazins. Auf diese Arbeit wollte – und musste – ich mich konzentrieren. Genussarbeit in einem positiven Sinne heißt für mich genau das: Muße, Raum und Ruhe haben, um sich der Arbeit lustvoll zu widmen und trotzdem noch die anderen Dimensionen des Lebens zu leben. Genussarbeit in einem schlechten Sinne besteht aus exzessiver, zwanghafter, ausschließlicher Beschäftigung. Der exzessive Genussarbeiter kann nicht loslassen, nicht ablassen, nicht auslassen, nicht seinlassen. Hätte ich Ihre Mail also gestresst und womöglich nachts beantwortet, wäre genau das der Fall gewesen. Insofern schließen sich Genussarbeit und falsches Zeitmanagement übrigens nicht aus.

Ihr Genussarbeiter definiert seinen Selbstwert vor allem über die Arbeit und macht sich dadurch abhängig von der Anerkennung durch Kollegen und Vorgesetzten. Brauchen wir die Bestätigung unseres Tuns aber nicht alle? Und wie stellt man fest, ab wann die Grenze zum Krankhaften überschritten ist?

Svenja Flaßpöhler: Davon bin ich tatsächlich fest überzeugt: Niemand tut etwas einfach nur aus sich selbst heraus, sondern immer auch für einen Anderen. Das lässt sich an Kindern wunderbar beobachten. So selbstvergessen sie beispielsweise ein Bild malen: Es ist wichtig, dass Mama oder Papa das Bild würdigen. Wenn die Eltern vollkommen gleichgültig und gefühlskalt wären, würde das Kind möglicherweise überhaupt nicht malen. Dieses Angewiesensein auf die Anerkennung Anderer ist die Grundstruktur des menschlichen Schaffens, ja Existierens schlechthin. Schlimm wird es allerdings, wenn der Blick ausschließlich auf die Anderen und deren unter Umständen gnadenloses Urteil gerichtet wird. Dann stellt sich schnell das Gefühl ein, nie genügen zu können, und der individuelle Antrieb des Arbeitens geht verloren. Was zählt, ist nur noch der Erfolg, eine sinnentleerte, abstrakte Anerkennung, die schal ist. Der Kampf in Anerkennung schlägt in Sucht nach Anerkennung um.

Wir halten Passivität kaum mehr aus

Ein Problem dabei scheint zu sein, dass egal, was der Einzelne leistet, er durch viele äußere und innere Faktoren zu immer mehr angespornt wird.

Svenja Flaßpöhler: Ansporn ist zunächst einmal etwas Positives: Was wäre das Leben ohne diesen leichten Schmerz, diese Grundspannung, die uns auf Trab hält? Wem der Ansporn voll und ganz verloren geht, ist depressiv. Das Problem ist aber, dass das Angesporntsein heute absolut gesetzt wird: Das Ideal ist der ständig angespornte Mensch, der unablässig neue Ideen produziert, in seinem Beruf „aufgeht“, wie es so schön heißt und auch im Urlaub das Smartphone ganz nah am Herzen trägt. Aber Aktivität braucht Passivität als entgegengesetzten Pol. Keine Motivation ohne Langeweile, keine Inspiration ohne Phasen des Nichtstuns. Mein Eindruck ist, dass wir Passivität kaum noch aushalten.

Kann man sagen, dass das System diejenigen nach unten durchreicht, die dieses hyperaktive Spiel nicht mitmachen können – oder wollen?

Svenja Flaßpöhler: Einerseits ja. Wer sonntags prinzipiell nicht arbeitet und wochentags nach Feierabend keine Emails mehr checkt, gilt schnell als unbrauchbar. Allerdings, und insofern stimmt Ihre Annahme nur eingeschränkt, landen in der Regel ja auch die „unten“, die das Spiel mitmachen. Hyperaktivität schützt vor sozialem Abstieg keineswegs. Irrtümlicherweise glauben wir, uns durch ständige Präsenz unentbehrlich zu machen. Aber Präsenz ist keine individuelle, das heißt unaustauschbare Eigenschaft. Es gibt immer jemanden, der noch präsenter ist. Insofern sollten wir, da das Spiel nicht gewonnen werden kann und auch nicht glücklich macht, den Mut haben zu sagen: I would prefer not to.

Und wo liegt die Grenze zur Faulheit, die ohne soziale Verantwortung agiert?

Svenja Flaßpöhler: Ich würde den Spieß gern umdrehen. Ein hyperaktiver Mensch, der immer nur nach vorne, nie aber nach links und rechts, geschweige denn nach hinten schaut, weil er dafür gar keine Zeit hat, agiert ohne soziale Verantwortung. Ihn interessiert nur das Vorwärtskommen. Jede Ablenkung verursacht Stress.

Der faule Mensch, der Sonntags nachmittags auf dem Sofa liegt, schläft, ein bisschen Zeitung liest, zwischendurch auf der Gitarre klimpert, agiert hingegen sozial. Durch seine Passivität, die ja nie reine Passivität ist; die gibt es nur im Tod, wird er wieder offen für die Welt. Hyperaktivität verhärtet den Menschen. Passivität lässt ihn weich werden, empfindsam für Eindrücke, Verlockungen, Kinderfragen.

Wobei neue Eindrücke doch wiederum ständig um die Aufmerksamkeit buhlen. Heutzutage scheint mir selbst die Passivität von Disziplin begleitet sein zu müssen, um nicht Gefahr zu laufen, zwischen Gitarre, Zeitung, Kind und iPad hin und her zu pendeln. Die moderne Unterhaltungsindustrie setzt ja mittlerweile den Second Screen voraus, möchte also, dass wir die im Fernsehen laufenden Ereignisse und Nichtigkeiten parallel mit dem Smart Phone kommentieren.

Svenja Flaßpöhler: Das ist richtig. Und die Frage, die sich da aufdrängt, lautet: Wer beherrscht wen? Ich die Maschine oder die Maschine mich? Ich habe mir gerade ein Smartphone angeschafft und laufe ständig Gefahr, dem Gerät erlegen zu sein. Die Faszination, die davon ausgeht, mit dem Zeigefinger die Welt zu bewegen, ist enorm. Das Fatale ist doch, dass wir uns im Grunde gern den Maschinen unterwerfen. Lust dabei empfinden. Wir müssen heute nicht mehr Pferdekarren über Äcker schieben, sondern sitzen auf ergodynamischen Stühlen vor schicken Macs und geben uns dem Rausch der Arbeit hin. Der moderne, technisch hochgerüstete Leistungsträger genießt sein Tätigsein, fühlt sich wichtig mit dem iPhone in der Hose. Warum also soll er nach Feierabend aufhören, das Display zu liebkosen? Um der Aktivitätsfalle zu entkommen, müssen wir das Begehren identifizieren, das uns in sie hineintreibt.

Das flüssige Selbst des modernen Menschen westlicher Industrie- und Informationsgesellschaften hat enorme Probleme der Grenzziehung, ständig wird sich neu erfunden, außer dem Therapeuten sagt uns keiner mehr, wann genug ist. Wie könnten, abseits der bewussten Passivität auf individueller Ebene, Anfänge vom Ende der Beschleunigung aussehen?

Svenja Flaßpöhler: Ich bin mir sicher: Wir kommen um die Systemfrage nicht herum. Wer nur empfiehlt, ab und zu mal das iPhone auszuschalten, betreibt Symptombehandlung, und die geht bekanntermaßen nicht sehr tief. Selbstverwirklichung, für mich immer noch eine lohnenswerte Utopie, setzt die Anerkennung der eigenen Grenzen, das Wissen um die eigenen Neigungen voraus: Ohne Selbst keine Selbstverwirklichung. In Zeiten neoliberaler Flexibilisierung sind wir davon weit entfernt. Marx war der Ansicht, dass Selbstverwirklichung im Kapitalismus nicht realisiert werden kann, weil das Arbeitsprodukt nie dem Arbeiter, sondern einem Anderen gehört. Dieser Andere treibt uns an mit dem Versprechen, dass die Mühe sich lohne. Aber lohnt sie sich wirklich? Möglich, dass wir gerade dabei sind, uns auf grandiose Weise selbst zu verfehlen.

Dieses System ist nicht die beste aller möglichen Welten

Zumal auch die neuen Medien, unter der Preisgabe der Privatsphäre, die Handlungs- und Beziehungsmuster der Nutzer mittlerweile im Sinne der Logik der globalen Verwertungsmaschinerie verändern. Welche Rolle spielt die Genusskultur aus ihrer Sicht in dieser Hinsicht? Für was steht das exzessive Genießen?

Svenja Flaßpöhler: Wer exzessiv genießt, überschreitet zwanghaft Grenzen. Körpergrenzen, Schmerzgrenzen, Grenzen der Privatsphäre, moralische Grenzen. Diese Form des Genießens wird uns durch unsere heutige Kultur nachgerade aufgedrängt, indem sie die Überschreitung einerseits untersagt und gleichzeitig anpreist. Auf der einen Seite sollen wir moralisch integer, fürsorglich uns selbst und anderen gegenüber, leistungsstark, schlank und vieles anderes sein; auf der anderen Seite aber leben wir in einer Kultur der All-you-can-eat-Angebote, der Flatrates, des Internetshoppings, der ständigen Erreichbarkeit und frei verfügbarer Internetpornographie.

Unsere Konsumgesellschaft fördert zwanghaftes Genießen, weil sie einerseits auf strengstem Verzicht beruht, gleichzeitig aber durch ihre Reize die Lust an der Überschreitung provoziert. Wenn ich beim Gehen Emails checke, meinem Gesprächspartner kaum zuhöre, weil es wieder einmal piept in der Tasche, dann fühle ich durchaus – ganz subtil, als leisen Kitzel – in meinem Inneren, dass ich eine Grenze, die Grenze des Anstands, die Grenze meines Aufnahmevermögens überschreite; aber gerade in der Überschreitung liegt ja die Lust.

Das klingt so, als ob durch korrekt angewandte Passivität zugleich der systemimmanente Leistungsdruck ausgehebelt und der Konsumterror abgemildert werden könnte. Das löst noch nicht das oben aufgeworfene Problem, dass die Produkte unserer Tätigkeit selten uns selbst, sondern einem Anderen gehören.

Svenja Flaßpöhler: Der Kapitalismus funktioniert doch nur so lange, wie der oder die Einzelne mitmacht bei dem Dreischritt: Produzieren – Konsumieren – Sterben. Würde er oder sie mehr seinlassen, auslassen und weglassen, bliebe die Shoppingmall am Samstag möglicherweise leer und das Büro auch.

Ich möchte mein Plädoyer für das Lassen tatsächlich nicht nur als ein Aufruf zum Nickerchen am Sonntagnachmittag verstanden wissen, sondern durchaus auch im Sinne des Streiks: Dieses System, in dem wir vor allem damit beschäftigt sind, Geld zu verdienen und Geld auszugeben, ist nicht die beste aller möglichen Welten. Insofern ist es nicht ausgeschlossen, dass der Andere früher oder später sein Köfferchen packen muss, wenn sich die 99 Prozent zu korrekt angewandter Passivität entscheiden.

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Cognitive Enhancement

Hirndoping im Schach

telepolis, 09.02.2011

Jenseits des Schwarz-Weiß Denkens

Jörg Auf dem Hövel

Ist Hirndoping im Schach möglich? Eine praxisnahe Studie sucht Aufklärung

Der legendäre Schachgroßmeister und TV-Kommentator Helmut Pfleger unternahm 1979 einen heroischen Selbstversuch. Vor einer Partie gegen den Ex-Weltmeister Boris Spasski nahm Pfleger einen sogenannten Beta-Blocker ein – wohlgemerkt mit dem Wissen Spasskis. Beta-Blocker galten damals wie heute als probates Mittel gegen Nervosität vor öffentlichen Auftritten. Sie senken in erster Linie den Blutdruck. Pfleger verlor, wie er selber sagte, „sang- und klanglos“, weil sein Puls im Keller und die Gleichmut groß war. Er testete die Substanz noch bei einigen Sportkameraden, die Ergebnisse waren seiner Aussage nach „widersprüchlich, einmal sogar eindeutig schlecht“.

Schach gilt als eine der letzten dopingfreien Domänen. Die Verantwortlichen sind sich seit Jahrzehnten der Sauberkeit ihres Denksports sicher. Umso größer war die Aufregung, als das deutsche Innenministerium den Schachverbänden vor einigen Jahren nahe legte, die Anti-Doping-Statuten zu unterzeichnen. Man drohte mit dem Streichen der Fördermittel. Seit 2009 hat sich der Deutsche Schachbund dem Code der Nationalen Anti-Doping-Agentur (NADA) unterworfen. Bei den deutschen Einzelmeisterschaften der Frauen, der Männer sowie der Juniorinnen und Junioren gibt es seither je drei Kontrollen.

Über die potentiellen Möglichkeiten von Hirndoping wird viel spekuliert, aber wenig ist bewiesen. Die oft genannten Kandidaten sind, neben Koffein, das als „Ritalin“ bekannte Methylphenidat und das bei Narkolepsie eingesetzte Modafinil. Keine der Substanzen konnte aber bislang ihren Ruf als Hirndopingmittel gerecht werden. Sie helfen, wenn überhaupt, nur übermüdeten Menschen, länger wach zu bleiben. Intelligenteres Handeln wurde noch nicht beobachtet.

Zusammen mit dem Internisten Harald Balló, der zudem Präsident des Hessischen Schachverbandes ist, führt die Universität Mainz nun eine interessante, weil praxisbezogene Studie durch. 40 Schachspieler werden ihrer ELO- Stärke entsprechend gegen das Schachprogramm „Fritz“ antreten. Sie spielen 40 Partien Schnellschach, wobei sie doppelblind entweder Koffein, Methylphenidat, Modafinil oder einen Placebo erhalten. Jeder Spieler erhält dabei jede Substanz genau einmal. Die Dosierungen werden sich im üblichen Rahmen bewegen: 200 mg (das entspricht zwei Tassen Kaffee) bei Koffein, wahrscheinlich 200 mg bei Modafinil. Beginn der Studie ist im März, Teilnehmer werden noch gesucht. Mit den Ergebnissen ist nicht vor dem Herbst 2011 zu rechnen.

Die Untersuchung dürfte einen Einblick in das reale Potential von Doping im Denksport geben. Bislang gelten Schachpartien als zu diffizil, um mit Aufputschmitteln wie Amphetaminen positiv gelenkt werden zu können, überhastetes Handeln ist unerwünscht. Koffein ist zwar beliebt unter Schachspielern, bei hohen Dosierungen können aber die negativen Kreislaufwirkungen überwiegen, zudem kann das klaren Denken gestört werden. Eine kurze Zeit lang stand Koffein auf der Dopingliste, heute ist das Verbot aufgehoben. Das intellektuelle Ethos der Spieler ist zudem hoch, man ist Stolz auf die reine Denkleistung im traditionellen „Spiel der Könige“.

Dies und wohl auch die fehlenden Kontrollen sind der Grund dafür, dass bislang auf großen Schachturnieren keine Dopingfälle bekannt geworden sind. Es wurde immer wieder vermutet, dass einige Spieler in langen Partien mit Amphetaminen nachhelfen, nachgewiesen werden konnte bislang nichts. Sollte die Mainzer Studie allerdings einen positiven Effekt von Hirndoping nachweisen, dürfte die psychoaktiven Helferlein von einigen Schachspielern sicherlich genauer in Augenschein genommen werden.

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Gesundheitssystem Psychoaktive Substanzen Psychopharmakologie

Oxytocin

telepolis, 06.12.2010

Foxy-Oxy?

Das „Liebeshormon“ Oxytocin funktioniert bei weitem nicht so simpel wie bislang angenommen

Das Hormon Oxytocin ist vielseitig. Es kann Vertrauen und Kooperation verstärken; das funktioniert sogar bei Erdmännchen. Es kann sozial kompatibles Verhalten bei Autismus-Patienten fördern und wird während des Orgasmus vom Körper freigesetzt. Auch bei Depressionen, Großzügigkeit und Empathie scheint es eine Rolle zu spielen.

Das Hormon wird in Studien zumeist nasal verabreicht und führt bei den meisten Menschen zu einem Gefühl von Vertrauen. Oxytocin wird daher als „Liebeshormon“ gefeiert. Aber es geht auch anders. 2008 haben Forscher der Universität Zürich gezeigt (pdf), dass das Hormon die Empathie für den Schmerz anderer Menschen nicht erhöht. Eine im letzten Jahr veröffentlichte Studie hatte gezeigt, dass bei den Teilnehmern nach der Hormonvergabe vermehrt Neid und Schadenfreude auftraten. Verlor ein Spielpartner Geld, reagierten die hormongedopten Mitspieler gerne hämisch.

Ein neues Experiment untersuchte nun, wie Oxytocin die Einstellung von Männern gegenüber ihren Freundschaften und der Beziehung zur eigenen Mutter verändert. Die Ergebnisse sind mehrdeutig.

Durchschnittlich veränderte das geschnupfte Hormon die Erinnerung an die Mutter nicht. Bei denjenigen Männern aber, die eher besorgt um ihre Freundschaften sind, führte das Hormon zu eingetrübten Kindheitserinnerungen. Gegenüber der Placebogruppe sahen sie ihre Mutter plötzlich als weniger fürsorglich an. Die Teilnehmer dagegen, die sich ihrer Freundschaften und sozialen Kontakte eher sicher sind, reagierten genau anders herum: Sie würdigten die Nähe zu ihrer Mutter und lobten die Geborgenheit.

Die Untersuchungsleiterin Jennifer Bartz spricht mit Blick auf Oxytocin von einer „nuancierteren Rolle als bisher gedacht“. Die Wirkung der Substanz sei viel individueller als angenommen und kein Patentrezept, um Vertrauen zu schaffen. Die Flutung von Konferenzsälen muss also nicht unbedingt helfen. Wie bei anderen psychoaktiven Substanzen ist die Wirkung von der aktuellen Situation und der charakterlichen Disposition des Menschen abhängig. Zudem scheint es kulturelle Unterschiede zu geben. US-Amerikaner und Koreaner reagieren beispielsweise unterschiedlich auf das Hormon.

 

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Cognitive Enhancement Elektronische Kultur Gesundheitssystem Übermensch

Interview mit dem Philosophen Oliver Müller über chemo- und neurotechnologische Umbaumaßnahmen an Körper und Geist

telepolis, 20.08.2010

Wenn Technik Lösungen, aber keine Antworten bietet

Der Philosoph Oliver Müller arbeitet am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin in Freiburg und hat jetzt ein erhellendes Werk über den Einzug technischer Optimierungen in Lebenswelt und Körper des Menschen geschrieben. Im Interview beschreibt er, welche Auswirkungen diese Technisierungsprozesse auf Selbstsein und Selbstverständnis haben können.

Der Gegensatz von Natur und Technik ist bis heute Grundlage vieler Überlegungen zu Stellung des Menschen in der Welt. Wo liegen aus Ihrer Sicht die Grenzen dieser Dichotomie?

Oliver Müller: Auch wenn sie meiner Meinung nach nicht als völlig obsolet betrachtet werden darf, kommt die Dichotomie von Natur und Technik vor allem in anthropologischer und ethisch-normativer Hinsicht an ihre Grenzen. Epistemologisch-phänomenologisch kann man im Normalfall dann doch meist unterscheiden: Viele technische Eingriffe verändern die Natur nachhaltig, doch bleibt das veränderte „natürlich“ – sei es der Schwarzwald (den es in der heutigen Form – mit dem Fichtenbestand – Anfang des 19. Jahrhunderts noch nicht gab) oder ein durch künstliche Befruchtung auf die Welt gekommenes Kind. Selbst in der Synthetischen Biologie, deren Produkte „living machines“ genannt werden, sind es zwar synthetisierte, aber doch lebende Mikroorganismen.

Beim Menschen ist das anders: Da ist es schwer zu sagen, was ist ganz natürlich und was ist kulturell und technisch überformt. Wir nehmen Medikamente, fahren Autos und implantieren Hirnchips. Dabei können massive Anpassungsvorgänge eine Rolle spielen und es kann zu weitreichenden Eingriffen kommen – doch macht uns diese „natürliche Künstlichkeit“, die typisch für die menschliche Lebensform auch nicht zu komplett „künstlichen“ Wesen, gleichzeitig wollen wir ohne das „Künstliche“ und „Technische“ gar nicht leben, identifizieren uns mit dem hochkomplexen Kulturraum. Trotzdem empfinden wir bestimmte Techniken als „natürlich“ oder integrierbar in eine als „natürlich“ empfundene Lebensweise. Und das führt uns zu der ethisch-normativen Dimension dieser Unterscheidung.

Häufig wird dem Natürlichen ein Wert zugemessen, der respektiert werden soll und das technische Handeln wird in irgendeiner Weise als problematisch angesehen. Doch so eins-zu-eins kann man weder aus der Natur noch auch der Technik Normatives ableiten. Dazu braucht es zusätzliche Argumente, bedarf es eines anthropologisch-ethischen Rahmens, in dem die Unterscheidung von Natur und Technik überhaupt sinnvoll eingesetzt gemacht werden kann. Dann kann aus der Begrenzung der normativen Reichweite – das klingt paradox – normativ Fruchtbares gemacht werden.

Ist denn aus Sicht der Philosophie so etwas wie ein unverbauter, tiefer Einblick in natürliche Zusammenhänge überhaupt möglich? Anders formuliert: Wartet auf dem Grund philosophischer Erkenntnis eine naturgegebene Ebene, deren Erkennen Richtlinien vorgeben kann?

Oliver Müller: Da müsste man gegenfragen: Was ist ein tiefer Einblick in natürliche Zusammenhänge? Ich denke, die Philosophie kann versuchen, die verschiedenen Weisen, das Natürliche zu verstehen und mit ihm umzugehen, präsent halten. Wenn Philosophie die kritische und selbstkritische Klärung der wichtigen, der interessanten und existenziellen Begriffe und Konzepte einer Zeit zum Ziel hat, dann muss sie sich auch der Natur und dem Natürlichen annehmen: Wie kann man sinnvoll nach dem Natürlichen fragen? Und dann kann man das auffächern: wissenschaftstheoretisch (welcher Naturbegriff liegt den Naturwissenschaften zugrunde?), anthropologisch (kann man gehaltvollerweise von einer „Natur des Menschen“ reden?) oder ethisch (inwiefern kann das Natürliche Handlungsorientierung bieten?) und so weiter. Und dann muss man sich eben einer dieser Fragen annehmen und sie genau analysieren und die Antworten streng prüfen. Wenn ich Sie richtig verstehe, dann hat Ihre Frage nach dem Erkennen und den daraus folgenden Richtlinien eine ethische Zielrichtung…

Anders formuliert, würde sie lauten: Kann das, was ich als „natürlich“ erkannt habe, im Gegensatz zum Künstlichen, Technischen, Kulturellen, zu normativen Richtlinien des Handelns führen?

Oliver Müller: Hier würde ich nun sagen, dass die Philosophie moderieren kann, sie kann sagen, die Erläuterung der Funktionsweise von Peptidverbindungen als Erklärung von bestimmten natürlichen Vorgängen ist auf einer anderen Ebene anzusiedeln als die „Natürlichkeit“ einer Lebensweise. Letzterem kann man sich etwa metaphorologisch nähern und fragen: Inwieweit spielen die Vorstellungen des „Organischen“ oder des „natürlichen Gedeihenkönnens“ für die ethische Orientierung eine Rolle. Dass das eine sinnvolle Frage ist, zeigt die anhaltende Konjunktur des Aristotelismus. Doch wird man vermutlich sagen, die Richtlinien des Handelns lassen sich nicht auf diese metaphorischen Hintergrundvorstellungen reduzieren, das wäre schräg. Und dann müsste man diesen „Daseinsmetaphern“ einen Ort in der ethischen Theorie zuweisen und entwickeln, dass sie eine bestimmte Funktion ausfüllen, die vielleicht der Person-Begriff nicht mitabdecken kann.

Gleichzeitig muss man dabei aufpassen: Der direkte Verweis auf die Natur kann ja, wie Hume angemerkt hat, von einem unrechtmäßigen Schluss vom Sein auf ein Sollen führen. Gleichzeitig kann der Verweis auf die Natur zynisch oder chauvinistisch sein, etwa wenn man sexuelle Orientierungen als „widernatürlich“ bezeichnet. Das heißt, man muss sich genau anschauen, welcher Art der Begriff oder die Metapher des Natürlichen ist, den man fruchtbar machen will. Auf diese Weise würde man auch weitere für die Ethik relevante Natur- oder Natürlichkeitsbegriffe näher untersuchen, wie etwa den Körper, den Leib. Der Leib als die „Natur, die wir selbst sind“, wie Gernot Böhme das genannt hat, wird in ethischen Theoriebildungen oftmals marginalisiert. Und dann muss man fragen, warum das so ist und gegebenenfalls die leibliche Existenz anthropologisch und ethisch gehaltvoll machen. So kann die Philosophie durch eine Differenzierung der Fragestellung zu Antworten beitragen, die vielleicht präziser sind als die Antworten, die man vorher hatte.

Will man diese Methode konkret am Fall der Diskussion um die Selbstoptimierung durch chemisches oder neuro-technisches Enhancement anwenden, so könnte man beispielsweise fragen, welchen Sinngehalt „Optimierung“ heute zugemessen wird.

Oliver Müller: Genau. Die Verständigung über das, was wir in diesem Zusammenhang genau als „Optimierung“ bezeichnen, ist für die ethische Einschätzung des Enhancement von zentraler Bedeutung. Mir scheint, als würden in der Debatte immer wieder Kategorienfehler begangen. Denn von der Verbesserung des Menschen zu reden, hat eine lange kulturgeschichtliche Tradition, Menschen wollten und sollten schon immer in moralischer oder körperlicher Hinsicht verbessert werden, die Perfektibilität galt als Auszeichnung des Menschseins. Und diese als wertvoll erachteten Verbesserungstendenzen des Menschen scheinen mitgemeint zu sein, wenn von neurotechnischer „Verbesserung“ oder ähnlichem die Rede ist.

Doch ist genau an dieser Stelle eine anthropologische Reflexion von Bedeutung: Denn das, was mit einem Medikament verbessert wird, muss erst in seiner Bedeutung für die menschliche Lebensführung qualifiziert werden. Die gesteigerte Konzentrationsfähigkeit, die bei Prüfungen nützlich sein kann, oder der modulierte Stimmungshaushalt, der eine Person gesellschaftsfähiger machen mag, sind nur in bestimmter Hinsicht Optimierungen, in anderer Hinsicht können sie Verschlechterungen sein, etwa wenn die Einnahme von Medikamenten zu einer Selbstinstrumentalisierung führt, wenn sich eine Person also nur um des guten Funktionierens willen zu optimieren trachtet. Und an dieser Stelle kann es eben bedeutsam sein, sich des „Natürlichen“ oder „Organischen“ der Lebensführung als Richtwert zu erinnern.

Was die Stoa „nach der Natur leben“ nannte, hat nichts mit einem zivilisationskritischen „Walden“ zu tun. Es ging um die Etablierung von Orientierungsfiguren für die Lebensführung. Und da kann unter Umständen das Gefühl der „organischen Entwicklung“ oder des „Gedeihenkönnens“ stimmiger sein als die Logik des Enhancements, quasi auf Knopfdruck pharmakologische Lösungen für Herausforderungen in bestimmten Lebenssituationen anzubieten. Es geht also nicht darum zu sagen, die Enhancements seien „wider die Natur“. Das ist Quatsch. Aber die Reflexion über das Natürliche kann helfen, einen Rahmen zu etablieren, in dem die Beantwortung der ethischen Fragen der individuellen Lebensführung zumindest bereichert wird.

Dazu kommt die Aufgabe, Enhancement-Techniken vor dem Hintergrund ihrer historischen Entwicklung zu betrachten. Bei den Medikamenten zeigt sich hier eine Linie von den Stimulanzien, wie sie beispielsweise im 2. Weltkrieg von deutschen Fliegern benutzt wurden, bis hin zum heutigen Modafinil, das an britische Truppen verteilt wurde. Wie kommt es, dass diese Aufputschmittel, trotz mangelnder wissenschaftlicher Basis, nun als „Neuro-Enhancer“ bezeichnet werden?

Oliver Müller: Das ist eine gute Frage. Mir scheint da eine merkwürdige Allianz von wissenschaftlicher Rationalität und mythisch-magischen Praktiken bzw. Sehnsüchten eine große Rolle zu spielen. Offenbar gibt es ein menschliches Grundbedürfnis, sich mit Pharmaka selbst zu formen, andere Seelenzustände zu erkunden oder ähnliches.

Schon in der Antike dient das „pharmakon“ immer wieder als Begriff, aber auch als Metapher, um philosophische oder anthropotechnische Selbstformungen zu thematisieren und zu propagieren. Zaubertränke gibt es in der Kulturgeschichte zuhauf, bei „Tristan und Isolde“ ist es sogar so, dass die pharmakologisch induzierte Liebe als besonders „authentische“ gilt. Und diese mythisch-magische Folie der Selbsteinwirkungen wird nun in der modernen Zivilisation rationalisiert, indem die Aura, das Versprechen, sich selbst zu verbessern, als technisch generierbar, als machbar auf der Basis gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse gilt.

Es entspricht der Logik der Technik, Lösungen auf Knopfdruck anzubieten, perfektes Funktionieren zu garantieren. Dies kann sich dazu ausweiten, dass in einer Art technologischem Imperativ alles „Imperfekte“ am Menschen – oder eben am Soldaten – technisch kompensiert werden muss. Und auch wenn nicht in allen Fällen klar ist, in welcher Weise das vermeintlich Imperfekte perfektioniert wird oder welche Wirkungen und Langzeitfolgen manche Medikamente überhaupt haben, findet hier eben ein Überlagerungsvorgang statt: Der technologische Imperativ der Selbstkorrektur ist nur eine Ausdrucksform für mythische Sehnsüchte nach dem ultimativen pharmakon.

Es ist sicherlich so, dass die Pharma-Industrie von diesem Vorgang profitiert. Inwieweit sie bei der Lancierung des Begriffs „Enhancement“ eine Rolle spielt, weiß ich nicht zu sagen, doch es ist jedenfalls so, dass manche Ethiker vorschlagen, statt „Hirndoping“ den Begriff „Enhancement“ zu verwenden, weil er „neutral“ sei – aber genau das ist nicht der Fall. Dadurch dass Enhancement „Steigerung“ oder „Verbesserung“ bedeutet, liegt auch in diesem Ausdruck schon etwas Tendenziöses. Oder anders gesagt: Im Enhancement feiert die mythisch-magische Sehnsucht nach pharmakologischer Selbsttranszendierung im Gewand des Sachlich-Rationalen fröhliche Urständ…

Das menschliche Grundbedürfnis seine Umwelt und sich selbst mittels Technik zu perfektionieren, braucht Richtwerte. Sind uns diese in den westlichen Industriegesellschaften im Rahmen der von ihnen „Selbstinstrumentalisierung“ und „Selbstverdinglichung“ genannten Prozesse verloren gegangen?

Oliver Müller: Selbstinstrumentalisierung und Selbstverdinglichung sind nach meinem Verständnis Deutungsmuster, mit denen man Grenzen von Technisierungsprozessen ermitteln kann. Ich verstehe Technisierungsprozesse als in ihrer Grundstruktur ambivalent: Die Technik erschließt uns unsere Wirklichkeit, kann sie aber auch verarmen, in dem Sinne, dass andere Wirklichkeitsbereiche durch die Technik dominiert werden. Die Technik hilft uns, die Wirklichkeit zu kontrollieren, kann aber sie auch beherrschen, Technisierung ist immer auch Ersparnis von Zeit, kann aber auch zu Beschleunigungsvorgängen führen, mit denen wir nur noch schwer zurechtkommen können. Mir geht es nicht darum, die Technik zu verteufeln, das wäre unsinnig, denn der Mensch ist ganz wesentlich Techniker. Ich will vielmehr zeigen, dass wir kritischer Deutungsmuster bedürfen, um sensibel zu sein für negative Auswirkungen von Technik.

Was bedeutet das für das Enhancement-Beispiel?

Oliver Müller: Die moderne Medizintechnologie wird uns immer mehr Präparate und Techniken zu Verfügung stellen, nicht mehr nur therapeutisch, sondern optimierend auf uns einzuwirken. Zu Selbstinstrumentalisierung wird der Einsatz dieser Technik, wenn die Selbstbezugnahme einseitig wird, wenn alternative Selbstverbesserungsmöglichkeiten verloren gehen oder marginalisiert werden. Zur Selbstverdinglichung wird das Enhancement, wenn ich mein Leben nach Maßgabe dieser Techniken ausrichte und etwa defiziente Erfahrungen im Kontext leistungsgesellschaftlicher Anpassungsvorgänge chemisch ausgleiche. Wenn ich die pharmakologische Nachbesserung an meinem Selbst für gerechtfertigt halte, dann interpretiere mich schon, als wäre ich eine Maschine.

Und welche Richtwerte schlägt die Philosophie vor?

Oliver Müller: Richtwerte würden in den Aufgabenbereich der philosophischen Ethik fallen. Dabei sind unterschiedliche Ebenen zu betrachten: Erstens muss die Ethik, müssen Ethiker angesichts weitreichender Handlungsmöglichkeiten des Menschen – der Mensch ist immerhin das einzige Tier, das böse sein kann – diejenigen unverrückbaren Grenzen und Normen formulieren, die das Rückgrat unserer Kultur bilden, die menschliches Leben überhaupt garantieren können. Beispiele hierfür sind die Menschenwürde oder die Respektierung individueller Autonomie.

Zweitens geht es in der Ethik aber auch darum, die Zumutungen der conditio human in Lebenspraxis umzusetzen. Hierunter verstehe ich nicht nur die Tradition des Nachdenkens über das „gute Leben“ oder die „Sorge um sich“, sondern überhaupt den Umgang mit der eigenen Endlichkeit, Gebrechlichkeit, Fragilität. Um mit den Unbilden des Lebens umgehen lernen zu können, bedarf es grundsätzlicher anthropologischer und sozialer Reflexionen über die Eigenarten der humanen Lebensform. Und dazu gehört auch eine Verständigung über die Rolle der Technik in unserem Leben.

Welche Aspekte unseres Dasein wollen wir in den Verfügungsbereich der Technologien rücken und welche nicht? Also geht es in der Ethik immer auch um die Selbstverortung in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation. Die Normen und Lebensregeln, die aus solchen Überlegungen gezogen werden können, sind natürlich anderer Art als der Rekurs auf die Würde. Hier spreche ich eher von Orientierungsnormen, Maßstäben oder Richtwerten, die eine andere Art von Verbindlichkeit haben – die aber helfen, das individuelle Leben zu strukturieren. Was von großer Bedeutung ist, denn es ist charakteristisch für Menschen, dass sie sich in einem Netz von normativen Vorstellungen bewegen und unzählige Meinungen darüber haben, wie etwas sein soll, wie ein Leben geführt werden soll, was gar nicht „geht“ – derartige kryptonormative Vorstellungen gilt es explizit zu machen, zu bündeln, zu hinterfragen.

Wenn es gut läuft, dann schiebt die Enhancement-Debatte doch die öffentliche Thematisierung der menschlichen Selbstdeutung an. Ab wann führen technische Einflussnahmen auf den Körper zur Mechanisierung menschlicher Selbstdeutung? Ein Problem dabei ist doch sicherlich, dass die Definition des Selbst so schwierig und hoch individuell ist.

Oliver Müller: Die Definition des Selbst ist schwierig, ist eine große philosophische Herausforderung. Das werde ich hier nicht versuchen. Was hier jedoch wichtig ist: Der Mensch ist das sich selbst interpretierende Wesen, wie Charles Taylor sagt. Das heißt: Wie man sich selbst deutet – in einer anderen Sprache: Welches Menschenbild man hat –, wirkt sich auf die Bewertung von Handlungen und Einschätzung von Lebensweise aus. Daher sind Veränderungen in der Selbstdeutung ein herausragendes Thema der Ethik. Diese sind natürlich schwer zu protokollieren, doch ich bin davon überzeugt, dass hier einer der Knackpunkte in der Bewertung von Technisierungsprozessen im Allgemeinen und des Enhancement im Speziellen liegt.

Um ein extremes Beispiel zu verwenden: Wenn sich Menschen als im Prinzip unfreie, fremdgesteuerte Wesen verstehen, dann wird sich dies auch auf ihre Begriffe von Verantwortlichkeit und Schuld auswirken, falls sie diese überhaupt noch im ethischen Repertoire haben. Im Enhancement-Kontext heißt das: Wenn die vorherrschende Selbstdeutung diejenige ist, dass Menschen physiologisch imperfekte Maschinen sind, die man pharmakologisch und technologisch verbessern kann und sollte – dies ist übrigens eine der Grundüberzeugungen des Transhumanismus –, dann wird man die entsprechenden Medikamente und Techniken nicht nur sorgloser einsetzen, sondern diesen Einsatz auch fordern… Wenn die Selbstdeutung derartige Auswirkungen auf die individuelle und gesellschaftliche Praxis hat, dann kann man in der Tat von einer „Mechanisierung menschlicher Selbstdeutung“ reden.

Es ist eine Illusion, dass wir unsere Beschränkungen jemals vollständig überwinden können, weil ja hinter jeder überwundenen Schranke eine neue wartet. Sollte man zu mehr Bescheidenheit aufrufen?

Oliver Müller: Ob Bescheidenheit hier die richtige Tugend ist, weiß ich nicht, ich würde vielleicht sagen, dass dies eine Sache der Klugheit ist, der phronesis, also der Fähigkeit, Situationen nüchtern einzuschätzen und ausgewogene Urteile zu fällen, auf deren Basis man dann handelt. Und dann kann es in der Tat hilfreich sein, Enhancement-Maßnahmen auf ihre Kurzsichtigkeit hin zu untersuchen.

Wenn mit einem verbessernden Eingriff auch ein bestimmtes Lebensgefühl des Erfolgs, der „Unschlagbarkeit“ oder der souveränen Lebensgestaltung verbunden ist, dann ist es eben klug abzumessen, ob das entsprechende Medikament denn auch wirklich die Grundsituation verändert oder ob es nicht nur auf Symptome reagiert. Und wenn man zum dem Schluss kommt, dass sich die Lebenssituation durch Enhancement-Einnahmen nicht wesentlich und nur kurzfristig ändert, dann kann man den Einsatz von Enhancements vor diesem Hintergrund ethisch beurteilen.

Sind wir automatisch in der technischen Logik gefangen, sobald wir eine Technik anwenden, um unsere Denken oder Fühlen zu verändern, man denke an Meditationstechniken?

Oliver Müller: Ich denke nicht, dass wir automatisch in einer technischen Logik „gefangen“ sind, wenn wir Technik anwenden. Denn wir können als Menschen gar nicht umhin, Technik anzuwenden, Technik gehört, wie schon gesagt, zum Menschsein dazu. Aber es kann eben sein, dass die Anwendung von Techniken andere Erfahrungsbereiche oder Rationalitätstypen dominiert – das war übrigens eines der Hauptargumente von Ernst Cassirer -, und dann kann die Technik, die den menschlichen Freiheitsspielraum erweitert, in ihr Gegenteil umschlagen und Freiheiten unterbinden, etwa wenn mit der Technisierung Normierungs- und Standardisierungsprozesse verbunden sind, die ein spezifisches Repertoire an Handlungen nahelegen oder nur noch diese ermöglichen.

Ich finde es sehr interessant, dass Sie in diesem Kontext Meditationstechniken erwähnen. Denn zur Zeit gibt es ja viele Annäherungsversuche zwischen Neurowissenschaftlern und Buddhisten oder anderen Meditationstechnikern. Ich bin sehr gespannt, was bei diesen Begegnungen längerfristig herauskommt. Wir können zum einen sicher sehr viel lernen, wie neurobiologische Prozesse mit meditativen Bewusstseinszuständen korrelieren. Das finde ich spannend. Doch es kann eben auch sein, dass das Bedürfnis entsteht, die Meditationstechniken auf der Basis neurobiologischer Erkenntnisse zu „verbessern“. Es ist nicht schwierig, sich eine Welt vorzustellen, in der sich Meditationstechniken als Anthropotechniken etablieren – Meditationstechniken dienen ja auch heute schon dazu, groteske, scheinbar systembedingte Arbeitsbelastungen zu kompensieren -, und in der dann Meditationstechniken medikamentös oder vielleicht neurotechnologisch „unterstützt“ werden.

Eine solche chemische Unterstützung von Meditationstechniken wäre für mich ein Beispiel dafür, wie die technologische Logik zu einer Entfremdungssituation im Sinne einer Selbstverdinglichung führt. Es ist ein Charakteristikum der technologischen Zivilisation, dass Wissen (fast) immer eine „Umsetzung“ verlangt. Auch hier wird es nicht bei dem neurobiologischen Wissen bleiben, sondern es wird in Umsetzbares, Machbares transformiert. Aber es ist eben fraglich, so drückt das Günther Anders aus, ob das Gekonnte gleichzeitig auch das Gesollte ist.

 

Literatur:
Oliver Müller: Zwischen Mensch und Maschine – Vom Glück und Unglück des Homo faber. 214 Seiten, edition unseld, 12 Euro.

 

 

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Gesundheitssystem Mixed

Das spezielle Yoga des Inders Bellur Iyengar stärkt das körperliche und geistige Befinden

„Beobachte ohne zu Bewerten“

Das spezielle Yoga des Inders Bellur Iyengar stärkt das körperliche und geistige Befinden

Die Welt steht Kopf seit einer Minute. „Etwas mehr nach Links mit den Beinen“, sagt Babette Rincke, „ja, so stehst du gerade“. Das Blut läuft mir in den Kopf, ohne das dies besonders unangenehm ist. Die Arme fangen unter der Anstrengung an zu zittern, aber ich will noch etwas länger durchhalten. „Lass den Kopf hängen und kneif die Pobacken zusammen.“ Ich versuche zu gehorchen, bin aber mit der Aufrechterhaltung des Handstands so beschäftigt, dass ich kaum folgen kann. Schließlich lasse ich mich zurück gleiten, gehe zurück zu meiner Matte und ruhe mich aus. Seit drei Jahren praktiziere ich das Yoga von Bellur Iyengar, einem heute 85-jährigen Inder, der das klassische Körpertraining des indischen Kontinents auf westliche Bedürfnisse zugeschnitten hat.

Iyengar (sprich: Eijengar) entwickelte bereits in den 40er Jahren neue Formen der Körperhaltungen und Bewegungsfolgen, welche die individuell unterschiedlichen, anatomischen Strukturen des menschlichen Körpers berücksichtigen. Dabei lag sein Augenmerk auf der Entwicklung einer Yoga-Form, die auch von Menschen mit körperlichen Schwächen und Behinderungen geübt werden kann. Für die eigenen Übungspraxis und den Unterricht erkannte er den Wert von Hilfsmitteln für die Ausführung der Übungen: Gürtel, Holzklötze, Stühle, feste Kissen und Gewichte werden so angewandt, dass die Anstrengung wesentlich verringert wird um das längere Verweilen in einer Übung zu ermöglichen. Dies wiederum ermöglicht eine tiefere Erfahrung und damit bessere Wirkung. So ist Iyengar-Yoga zwar eine Form des eher bekannten Hatha-Yoga, geht aber mehr als dieses auf die anatomischen Besondheriten des jeweiligen Schülers ein.

Bestätigt wird dieses Prinzip bei den Standstellungen, die uns Babette am heutigen Nachmittag zum wiederholten Male zeigt. Hierbei stehen wir mit gespreizten Beinen fest auf dem Boden, beugen den Körper nach Links, verstärken aber den Druck auf den rechten Fuß. „Nach Links verlängern, nach Rechts den Druck gleichzeitig erhöhen“, weist unsere 45-jährige Yoga-Lehrerin an, die zudem ausgebildete Krankengymnastin ist. Zunächst wusste ich bei dieser wie bei vielen anderen Stellungen nicht, welchen Zweck sie haben sollten, dass Einnehmen der vorgegebenen äußeren Form schien mir ohne Sinn. Natürlich wurden dabei die hinteren Sehnen der Beine gedehnt, aber sollte darin die Bestimmung dieses Asanas liegen? Erst im Laufe von zwei Jahren erkannte und erspürte ich die innere Dynamik, durch die jede Übung zu einem Ganzen wird, in das alle Körperteile auf sinnvolle Weise integriert sind. So ist es eben durchaus möglich, den Oberkörper weit zu einer Seite zu legen, dabei aber das Gewicht auszubalancieren und so beide Füßen gleichmäßig zu belasten. Babette: „Der Körper ist keine Block, sondern besteht aus vielen Elementen, die sich völlig unterschiedlich zueinander bewegen können. Ein Ziel des Iyengar-Yoga ist es, die Kontrolle kleinster Körperbereiche immer weiter zu verfeinern.“

Was ist das besondere an der Methode des Bellur Krishnamachar Sundararaya Iyengar, wie der Mann mit vollen Namen heißt? Mit Yoga assoziieren viele entweder asketische Yogis mit hinter dem Kopf verschränkten Beinen oder esoterische Wünschelrutengänger auf Abwegen. Um Yoga zu verstehen und nachzuvollziehen, muss es dreifach gedacht werden. Die zahlreichen Posen dienen nicht nur der körperlichen Ertüchtigung, Geschicklichkeit, Dehnung und Balance, sondern zugleich der Persönlichkeitsbildung. Immer wieder muss beim Üben selbst beobachtet werden, was während der Stellung mit dem eigenen Körper und der Aufmerksamkeit geschieht. Wird ein Teil überdehnt, fehlt die Balance oder kommt es zu einer gemeinsamen Ausrichtung der Körperteile? Schweifen die Gedanken ab, flüchten sie vor der Anstrengung?

Die Theorie des Yoga besagt, dass aus einer in sich stimmigen Haltung ein Geschehen entsteht, welches die Gesamtheit des Körpers nachhaltig umfasst. Als dritten Faktor hat jedes Asana immer auch eine medizinische Wirkung. So belebt der Handstand durch die Umkehrung alle inneren Organe, während die Drehlage im Liegen, bei welcher die Wirbelsäule wie ein aufgedrehtes Handtuch gewrungen wird, das Rückgrat und die Bandscheiben nährt. Das korrekte Vorwärtsbeugen, gerade für Männer eine schwierige Übung des sich Gehen-Lassen, Nichts-Leisten-müssen und weicher werden, kräftigt Leber, Milz und Nieren in ihren Funktionen.

 

Das dies nicht nur Theorie ist, sondern in der Übungspraxis nach vollzogen werden kann, beweist Thomas Gärtner.* Durch seine Tätigkeit als Krankenpfleger und eine Jahre währende schlechte Körperhaltung hatte sich der 36-jährige den Rücken ruiniert. Angefangen beim „Scheuermann“, über Sklerose bis hin zum Gleitwirbel plagten ihn chronische Verspannungen und Schmerzen, die durch die vom Arzt verordnete Krankengymnastik kaum gelindert wurden. Durch eine Freundin bekam er den Tipp und seit einem halben Jahr übt er nun Iyengar-Yoga. „Meine Rückenprobleme haben sich enorm verbessert“, freut er sich, um anzufügen, „ich müsste zu Hause viel häufiger trainieren, dann würde es garantiert noch besser werden“. Gärtner geht es auch um den Beweis, dass Körper und Geist keine getrennte Einheiten, sondern auf vielfältige Weise untrennbar miteinander verbunden sind. Diese verschütteten, blockierten oder abgestorbenen Verbindungen sollte eine Methode wiederbeleben, die sowohl den physischen Körper als auch die Psyche stärkt und entspannt. „Ich möchte Körper und Geist zusammen bringen“, fasst Gärtner zusammen. Gar als „phänomenal“ bezeichnet er die Aufdeckung der Zusammenhänge zwischen innerer und äußerer Verspannung durch die Übungen. Dabei geht es ihm nicht so sehr um eine strikte Leistungsorientierung, als um eine Erweckung der Sensibilität für körpereigene Vorgänge. „Ich habe begriffen, dass ich hier nichts leisten, sondern beobachten und wahrnehmen muss. Weniger ist mehr.“

Mittlerweile sind wir bei der „Großen Drehlage“ angelangt. Hierbei liegen wir rücklings auf dem Boden, haben die Arme in Schulterhöhe ausgestreckt, ziehen die Beine an die Brust und drehen dann die Beine nach rechts und den Kopf nach links. „Langsam und mit Kontrolle“, erinnert Babette uns, „und wenn die Beine den Boden berühren, streckt ihr sie aus.“ Es ist drei Jahre her, dass ich diese Übung zum ersten Mal ausführte; damals verlor ich die Orientierung und wusste nicht mehr, wo meine Körperteile lagen. Heute bin ich tatsächlich in der Lage mich „in die Lage fallen zu lassen“, wie Babette es nennt. „Das Einatmen schafft Raum und mit der Ausatmung sinkst du in den Raum hinein“, muntert uns die Yoga-Lehrerin auf. Im Gegensatz zu den sehr dynamischen Standstellungen sind die Entspannungslagen ruhig und von geringer Anstrengung getragen. Dies bedeutet aber nicht die Abwesenheit von Aufmerksamkeit – diese sollte alle Übungen begleiten – nur nimmt diese eine rein beobachtende Rolle ein. Das größte Problem ist ohnehin das Abschweifen der Gedanken, die sich in manchen Entspannungsstellungen gerne den Ereignissen des Tages, den Plänen der nahen Zukunft oder noch öfter dem Essen zuwenden. „Wenn du dies bemerkst“, sagt die Yoga-Lehrerin, „hole den Gedanken sanft wie ein unartiges Kind zurück zu der Stellung.“ Einfacher gesagt, als getan, denke ich und verscheuche die Pasta mit Käse-Sahnesoße aus meinen Kopf. Nach der Drehlage fühlen sich die linke und rechte Körperhälften unterschiedlich an. Die rechte schwerer und wärmer, die linke volumiger. Auch hier gilt es, so weiß ich mittlerweile, über die Zeit die Beobachtung zu verfeinern und eventuell noch weitere Unterschiede wahrzunehmen.

Ralf Schütt, langjähriges Mitglied im Vorstand der Vereinigung der deutschen Iyengar-Lehrer, schätzt die Zahl der Aktiven Yoga-Schüler in Deutschland auf etwa fünf Tausend. Er bestätigt, dass ein großer Anteil davon aufgrund von Probleme mit dem Rücken, den Gelenken oder schlicht zum Stressabbau zum Iyengar-Yoga gekommen ist. „Viele wechseln aus dem Fitness-Bereich zu Iyengar, weil es neben dem Muskulaturaufbau auch ein hervorragendes mentales Training ist.“ Der 1999 verstorbene Geiger Yehudi Menuhin und Pop-Ikone Madonna -sie alle waren und sind begeisterte Anhänger des Iyengar-Yogas. Menhuin schrieb in einem Vorwort zu einem Buch von Bellur Iyengar: „Die Übung des Yoga gibt ein entscheidendes Gefühl für Maß und Proportion. Auf unseren Körper bezogen, bedeutet dies, dass wir unser wichtigstes Instrument zu spielen und die größte Resonanz und Harmonie daraus zu ziehen lernen. Mit unermüdlicher Geduld verfeinern und beseelen wir jede Zelle.“ Ähnlich blumig wie der Meister der Musik drückt es der Meister des Yoga aus: „Das Selbst füllt den Körper bis in die Zellen, wie Wasser, das in einem Gefäß ruht. Die Aufmerksamkeit muss ebenfalls den ganzen Körper füllen, so gleichmäßig und lückenlos wie Wasser, das sich in einem Gefäß verteilt.“ Seit nunmehr über 60 Jahren übt der heute 82-jährige alte Mann bis zu zehn Stunden am Tag, gemäß seiner Devise „Der Körper dein Tempel, die Pose das Gebet.“ Diese Kontinuität hat ihm den Ruf des besten aller lebenden Yoga-Meister eingebracht.
Die zweistündige Yoga-Sitzung mit Babette Rincke geht zu Ende. In dieser Zeit habe ich meine durch das viele Sitzen am Schreibtisch verkürzten hinteren Sehnen der Beine wieder ein Stück gedehnt, den Brustkorb geweitet und die eingesunkenen Wirbelsäule ausgerichtet. Schweiß ist geflossen, Körperspannung ist auf- und wieder abgebaut worden. Die kleine Gruppe von sechs Leuten liegt auf dem Boden und spürt noch einmal in die verschiedenen Körperteile hinein. Im Idealfall ist man fähig kleinste Körperbereiche voneinander zu unterscheiden – für mich und die anderen ein noch langer Weg.

* Name von der Redaktion geändert.

 


Yoga
Der Ausdruck Yoga stammt aus der indischen Sanskrit-Silbe „Yui“, was soviel wie zusammenbinden bedeutet. Zusammengebracht werden sollen Intellekt und Körper. Der Vermittler zwischen diesen Instanzen ist aus Sicht der alten Yoga-Sutras die Seele. Belur Iyengars Yoga-System fußt auf diesen von Patanjali ungefähr 200 v. Chr. nieder geschriebenen Sutras. Mit jeder korrekt ausgeführten Übung soll sich der Mensch nicht nur physiologisch und neurologisch, sondern auch emotional, ethisch und nicht zuletzt spirituell weiter entwickeln.

Zu Iyengar
Seit nunmehr 65 Jahren übt der Mann bis zu acht Stunden am Tag, gemäß seiner Devise „Der Körper dein Tempel, die Pose das Gebet.“ Diese Kontinuität hat ihm den Ruf des besten aller lebenden Yoga-Meister eingebracht. Bei fernöstlichen Weisheiten bleibt Iynegar nicht stehen, seine von ihm geleiteten Übungseinheiten stehen im dem Ruf äußerst anstrengend zu sein. „Schmerz ist dein Meister“, ist denn auch ein oft zitierter Ausspruch von Iyengar. Dies kommt allerdings zum einen immer auf den Lehrer, zum anderen auf den Praktizierenden selbst an. Die Methode ist zwar intensiv, aber nicht aggressiv. Unbewusste Blockaden im Körper benötigen jedoch oft einen deutlichen Hinweis von Außen um durchbrochen zu werden. Iyengar: „Wenn du dein Hemd aufhängen willst, brauchst du einen Bügel. Genauso ist es, wenn du einen geordneten Körper und einen geordneten Geist haben willst.“

 

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Zur Neurobiologie der Alkoholabhängigkeit

Interview mit dem Suchtforscher Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie der Berliner Charité. Heinz gilt als einer der führenden Experten für Alkoholabhängigkeit in Deutschland.

An den Folgen ihres übermäßigen Alkoholkonsums sterben alleine in Deutschland jährlich rund 40.000 Menschen. Bei einem hohen Anteil der Alkohol-Konsumenten in der Bevölkerung steigt auch der Anteil derer, die mit der Droge Alkohol nicht umgehen können. Trotzdem der Alkoholismus seit Jahrhunderten bekannt ist, bleibt seine Therapie schwierig: Über die Hälfte der Abhängigen erleiden meist mehrere Rückfälle.

Seit einiger Zeit erlauben die bildgebenden Verfahren der Kernspintomographie Einblick in das Gehirn von Alkoholabhängigen, die Wissenschaft erhält Einsichten in die neuronalen Grundlagen der Sucht. Das wissenschaftliche Modell der Wirkung des Alkohols ist komplex: Alkohol stimuliert das sogenannte „Belohnungssystem“ im Gehirn, eine evolutionär alte Instanz, die dafür sorgt, dass Menschen wesentliche Erlebnisse nicht vergessen und auch wiederholt ausführen. Ein Schnaps führt zu einer erhöhten Ausschüttung des Botenstoffes Dopamin, einem der wichtigen Neurotransmitter. Die Folge: man entwickelt Verlangen nach mehr Alkohol. Ebenfalls freigesetzte körpereigene Opiate, die Endorphin, sind für die guten Gefühle beim Alkoholkonsum zuständig. Provoziert man die positiven Gefühle nun häufig und immer wieder, prägt sich das Hirn die Verknüpfung von gutem Gefühl und dafür eingesetzter Substanz ein.

Interessanterweise sind die Andockstellen für die Opiate, die Opiatrezeptoren, bei alkoholabhängigen Patienten im Belohnungssystem eher erhöht, so dass der Alkohol besonders stark wirken könnte. Umgekehrt sucht das Gehirn nach Ausgleich zu der ungewohnten Dopamin-Ausschüttung und reduziert seine Empfangseinheiten, genauer gesagt die Rezeptoren, wo die Dopamin-Reize eintreffen. Dies hat zur Folge, das die Wirkung des Alkohols nachlässt, immer größere Dosen werden benötigt, damit man sich berauscht fühlt.

Weitere Prozesse kommen zum Tragen: Die Moleküle des Alkohols setzen an den GABA(A)-Rezeptoren des Hirns an, genauer gesagt ist eine relativ kleine Tasche, die durch 45 Aminosäuren gebildet wird, mit dafür zuständig, dass Alkohol als sedierend empfunden wird. Der dauerhafte Genuss von Spirituosen aber auch „weicheren“ Alkoholen führt zu einer Verminderung dieser Rezeptoren. Viel und oft getrunkener Alkohol blockiert zudem die Signal-Übertragung am NMDA-Rezeptor, der den Transport eines weiteren Neuotransmitters, des Glutamats, regelt. Auch dies führt dazu, dass zunehmend mehr Alkohol konsumiert werden kann, ohne das eine starke Ruhigstellung des Konsumenten erfolgt. Die Folge: Er oder sie kann trinken, ohne sediert zu sein, eine Erhöhung der Dosis ist oft die Folge, der Schritt in den Kreislauf der Sucht ist getan.

Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie der Berliner Charité, gilt als einer der führenden Experten für Alkoholabhängigkeit in Deutschland. Im Gespräch erläutert Heinz die Wirkung verschiedener psychoaktiver Substanzen auf das Gehirn, warum die Alkoholabhängigkeit so schwer zu therapieren ist und ob Medikamente gegen die Sucht helfen können.

Frage: Lange Zeit unterschätzt bei der Ausbildung einer Alkoholabhängigkeit wurde die körperlich bedingte Fähigkeit viel zu trinken ohne am nächsten Morgen den berühmten „Kater“ zu haben. Welche neuronalen Grundlagen hat dieses Phänomen der Trinkfestigkeit? Wie viel Prozent der Deutschen sind davon betroffen?

Andreas Heinz: Es gibt keine scharfe Grenze, aber je „trinkfester“ eine Person ist, desto eher neigt sie dazu, zu viel Alkohol zu konsumieren. Dies gilt für Jugendliche wie für junge Erwachsene, und für Männer ebenso wie für Frauen. Eine neurobiologische Grundlage ist im jeweiligen Zustand des Botenstoffsystems zu suchen, das nach dem Transmitter Serotonin benannt ist. Besonders „trinkfest“ ist, wer genetisch bedingt oder auch nach einer ausgeprägten Stresserfahrung über relativ mehr Serotonin-Transporter verfügt, wer also Serotonin nach Freisetzung sehr schnell wieder in die Nervenzellen aufnehmen, sozusagen „recyceln“ kann. Dann ist nämlich die über die GABA(A)-Rezeptoren vermittelte sedierende Wirkung des Alkohols vermindert.

Frage: Existiert eine Qualitäts-Reihenfolge der Wirkmächtigkeit verschiedener Substanzen auf das Belohnungssystem? Wie aktiviert beispielsweise Alkohol dieses System im Vergleich zu Kokain?

Andreas Heinz: Alkohol erhöht die Dopaminausschüttung um etwa 50-100%, Kokain um circa 1000%, ist also viel stärker wirksam. Die Alkoholwirkung befindet sich im Bereich weiterer Drogen, wie Nikotin oder die Opiate. Auch neuartige Reize wie ein ungewohntes gutes Essen steigern die Dopaminausschüttung, diese nimmt aber beim erneuten Essen schnell ab: man „gewöhnt sich“ beziehungsweise habituiert. Das ist bei Alkoholkonsums wie beim Konsum aller anderen Drogen nicht der Fall. Sie wirken also ungewöhnlich lange beziehungsweise immer wieder neu, man spricht deshalb auch davon, dass sie das Belohnungssystem „kidnappen“.

Frage: Trotz ausgedehnter Erforschung der Alkoholsucht ist eine Therapie derselben äußerst schwer, die Rückfallquoten sind hoch. Woran liegt das aus neurobiologischer Sicht? Und kann man den Anteil bestimmen, den diese körpereigenen Prozesse gegenüber sozialen Faktoren haben?

Andreas Heinz: Die Folgen jahrelangen Alkoholkonsums auf das Nervensystem lassen sich nicht einfach in wenigen Therapietagen revidieren oder durch neue Lernerfahrungen überlagern. Hier hilft nur eine mehrdimensionale Therapie, die eine Beratung, Psycho- und Soziotherapie, Fragen der Lebensgestaltung, Selbsthilfegruppen und eine zusätzliche medikamentöse Rückfallprophylaxe beinhaltet. Soziale Faktoren wirken sich ja auf das Organ Gehirn aus, so dass die Trennung zwischen körperlichen und seelischen Prozessen künstlich ist. Die messbare Reaktion des Gehirns auf Alkoholreize erklärt beispielsweise etwa die Hälfte des Rückfallrisikos in den folgenden Wochen, die Reaktion selbst wird aber natürlich durch Lernvorgänge, Stressfaktoren, Folgen chronischen Alkoholkonsums und einiges mehr beeinflusst.

Frage: Die Übererregung des zentralen Nervensystems im Alkohol-Entzug, die sich durch die sogenannte Entzugserscheinung manifestiert, kann durch Medikamente wie Benzodiazepine abgeschwächt werden, gelernte Entzugserscheinungen wahrscheinlich durch Acamprosat. Gibt es weitergehende Ansätze die Hirnchemie so zu verändern, dass nicht nur Entzugserscheinungen, sondern auch andere neuronale, suchterhaltende Prozesse verändert werden? Was sind die Probleme bei der Entwicklung von Medikamenten dieser Art?

Andreas Heinz: Acamprosat beeinflusst einen Rezeptor für den erregenden Botenstoff Glutamat und wirkt wahrscheinlich am stärksten auf gelernte Entzugserscheinungen: das Gehirn erwartet Alkohol, reguliert dagegen und wenn kein Alkoholkonsum erfolgt, kommt es zu konditionierten Entzugserscheinungen, die den Patienten in den Rückfall treiben können. Naltrexon blockiert Opiatrezeptoren und kann so die angenehmen Wirkungen des Alkoholkonsums abschwächen. Die Probleme sind keine anderen als bei der Entwicklung weiterer Pharmaka im neuropsychiatrischen Bereich: die Substanzen werden meist im Tiermodell gescreent und es wird geprüft, ob sie den Alkoholkonsum von Laborratten oder Mäusen senken, dann in Bezug auf ihre Sicherheit und schließlich auf klinische Wirksamkeit und Nebenwirkungen getestet. Je besser die Sozio- und Psychotherapie ist, desto geringer kann allerdings unter Umständen der Effekt der Medikamente ausfallen, so dass sie gegebenenfalls gegenüber Placebo keine signifikante Wirkung mehr zeigen.

Frage: In welchem Bereich sehen Sie die größten Chancen für die Entwicklung von Medikamenten gegen die Sucht?

Andreas Heinz: Am ehesten ist aus dem Bereich der Antiepileptika mit Neuentwicklungen zu rechnen, hier gibt es bereits erste erfolgreiche Studien mit einzelnen Substanzen wie Topiramat. Es ist möglich, dass auch das Verständnis der molekularen Reaktionsketten, die durch Alkohol und andere Drogen in der Zelle selbst aktiviert werden, zur Entwicklung von neuen Medikamenten führt. Interessant wäre auch die Entwicklung von Medikamenten, die vor den neurotoxischen Wirkungen der Drogen schützen, als neuroprotektiv sind.

Frage: Wird diese Art der Impfung gegen Drogenwirkungen, wie sie beispielsweise das Scripps Research Institute in La Jolla entwickelt, auch in Deutschland erforscht? Wie funktioniert diese Impfung im Gehirn?

Andreas Heinz: Die Grundidee ist, dass sich Antikörper gegen die Droge bilden und diese bereits im Blut ausgeschaltet wird, so dass sie das Gehirn gar nicht erst erreicht. Ob das im Einzelfall klappt und welche Nebenwirkungen das Verfahren hat, muss man sehen. Eine ähnliche Testreihe wie in La Jolla ist mir für Deutschland nicht bekannt. Aber es gibt Untersuchungen zur Wirkung von Depot-Naltrexon, das die Opiatwirkung blockiert, allerdings direkt am Rezeptor, nicht als Impfung. Das kann helfen, aber nur, wenn der Betroffene unbedingt abstinent bleiben will und eine Sicherheit braucht, dass im Fall des Rückfalls die Droge nicht wirkt. Bei Opiatabhängigkeit hilft aber öfter die Substitution, also der Ersatz der Drogen durch gleichartig wirkende Medikamente, die den Vorteil bieten, dass sie legal verschrieben werden und die Folgen der Illegalisierung für den Abhängigen aufheben.

Frage: Könnte ein ausgebildeter Mensch aus neurobiologischer Sicht mit jeder Substanz vernünftig umgehen oder sollten gewisse Drogen grundsätzlich aus dem Verkehr gehalten werden?

Andreas Heinz: Es gibt unterschiedliche Wirkstärken, beispielsweise setzt eben Kokain etwa 10 Mal so viel Dopamin frei wie Alkohol. Hinzu kommt die Frage, ob eine Gesellschaft eine lange Tradition mit Ritualen ausgebildet hat, die bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung helfen, den Substanzkonsum in Grenzen zu halten. Bei der zunehmenden Vereinsamung und Zersplitterung der Lebenszusammenhänge nehmen diese Rituale aber auch im Umgang mit den lange etablierten Drogen ab. So sank das Einstiegsalter für Rauchen auf 12-13 Jahre. Letztendlich kommt es immer darauf an, was eine Gesellschaft an risikoreichem Drogenkonsum zulassen will.

Frage: Wobei die Illegalität die Probleme eher verschärft?

Andreas Heinz: So einfach ist das nicht. Legale Beschränkungen der Zugänglichkeit von Drogen begrenzen immer den Konsum und damit auch die drogen-assoziierten Probleme – das gilt sogar für die Alkoholprohibition. Die wurde nicht etwa aufgehoben, weil sie nicht wirkte – der Alkoholkonsum sank sogar recht deutlich – sondern weil die Große Wirtschaftsdepression kam, und die Alkoholsteuer als gute Alternative zu einer Einkommenssteuer gesehen wurde, die eher die oberen Schichten betroffen hätte. Aber natürlich hat sich damals das organisierte Verbrechen der illegalen Droge Alkohol angenommen, und das gilt heute ebenso für alle illegalen Drogen.

Frage: Daneben postuliert die „akzeptierende Drogenarbeit“ allerdings, dass ein großer Teil der Probleme von Abhängigen aus der Illegalität ihres Konsums entsteht.

Andreas Heinz: Abhängige, die illegale Drogen konsumieren, leiden an beidem: An den Folgen sowohl ihrer Abhängigkeitserkrankung wie der Strafverfolgung, insbesondere, wenn sie Beschaffungsdelikte verüben, um die Drogen bezahlen zu können und um die für sie unerträglichen Entzugssymptome zu vermeiden. Viele Migranten können in dieser Situation abgeschoben werden und kommen aus Angst davor gar nicht erst in Therapie – der Grundsatz „Therapie vor Strafe“ ist hier oft nicht verwirklicht. Es gibt circa 2000 Menschen, die pro Jahr an den Folgen illegaler Drogen sterben, ungefähr 40. 000 sterben am Alkoholkonsum und rund 100.000 an den Folgen des Rauchens. Die meisten leiden also an den Folgen des Konsums von Drogen, die in dieser Gesellschaft legal und frei verkäuflich sind.

Frage: Zugleich offenbart das Problem der Drogen aber auch eine Stärke des Menschen.

Andreas Heinz: Rasch zu lernen und sich dabei von Vorfreude und Belohnung leiten zu lassen, das können zwar grundsätzlich auch alle Tiere, die Lernvorgänge und die zu erlernenden Situationen sind beim Menschen aber ungleich vielfältiger, und die resultierende Verhaltensflexibilität hat uns ja viele Handlungsmöglichkeiten beschert. Abhängigkeitserkrankungen sind ein Preis der Freiheit, und auch deshalb gebührt den abhängig kranken Menschen unser Respekt und sie haben dasselbe Recht auf Behandlung und Hilfe wie alle anderen Kranken.

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Drogen und Drogenpolitik – Texte von Jörg Auf demHövel und AZ

Gesundheit und Drogenpolitik

Zwischen 1994 und 2013 von Jörg Auf dem Hövel und AZ veröffentlichte Artikel

Psychopharmakologie

Ein verheißungsvolles Antidepressivum scheitert in der entscheidenden Studie. Der Fall zeigt erneut, wie wenig verstanden die Chemie des Gehirns ist. (Telepolis v. 22.11.2011)

Therapeutische Wahrheiten und Illusionen
Zu den Ursachen der weltweiten Pandemie psychischer Krankheiten. (Telepolis v. 14.08.2011)

Placebos ohne Täuschung. Jetzt ist es soweit: Placebos wirken selbst dann, wenn die Patienten wissen, dass sie ein Scheinmedikament einnehmen. Oder nicht? (Telepolis v. 29.04.2011)

 

Arzneimittelherstellung und pharmazeutische Industrie

Länger leben durch Vitaminzusatz? Hilft die Einnahme von Antioxidantien? (Telepolis v. 25.01.2013)

Krebs und seine Metastasen: Es ist alles viel komplizierter
Die verschiedenen Zellen eines Tumors haben oft mehr genetische Unterschiede als Gemeinsamkeiten. (Telepolis v. 16.03.2012)

Hoffnung für Zuckerkranke
Die Entwicklung der „künstlichen Bauchspeicheldrüse“ macht Fortschritte. (Telepolis v. 13.12.2011)

Kleine Geschenke begründen die Freundschaft
Weltweit haben Medizinstudenten schon früh Kontakt zur pharmazeutischen Industrie
(Telepolis v. 02.06.2011)

Marketing statt Evidenz: Durch Gerichtsverfahren veröffentlichte Dokumente zeigen die gewieften Methoden der pharmazeutischen Industrie (Telepolis v. 09.03.2010)

Innovationsmangel: Big Pharma sucht nach Orientierung
(telepolis v. 13. August 2008)

Placebos: Warum der Schein besser wirkt als nichts (DIE WELT v. 11. Juli 2008)

 

Interviews

Subjektiver Rausch und objektive Nüchternheit
Der Medizin-Anthropologe Nicolas Langlitz über das Forschungs-Revival psychedelischer Substanzen, die objektive Erkenntnis subjektiven Erlebens und kulturell beeinflusste Psychopharmakawirkung. (Telepolis v. 12.01.2012)

Zur philosophischen Basis heutiger Drogenpolitik: Interview mit Michael Rinella über das Symposion und Platos Neueinordnung der Ekstase (Deutsch & english version).

„Salvia ist keine Eskapisten-Droge“
Interview mit Daniel Siebert, dem weltweit führenden Experten für Salvia divinorum, dem sogenannten „Wahrsagesalbei“ (and here is the english version)

Alte Pflanzen, neue Heilung?
Interview mit dem Experten für historische Pharmakologie Werner Dressendörfer

Der Körper geht sich selbst
Interview mit dem Buchautoren Hans-Christian Dany über die Rolle von Amphetamin in der modernen Gesellschaft

„Eine integrale Drogenpolitik wäre weit von einer generellen Drogenfreigabe entfernt!“
Interview mit dem Psychologen Wulf Mirko Weinreich über das Bewusstseinsmodell von Ken Wilber, die Zukunft der Drogenkultur und die psychotherapeutische Praxis

„Die Verelendungsprozesse hören nur durch die Vergabe von Methadon oder Heroin nicht auf“
Interview mit dem Bremer Suchtforscher Heino Stöver

Chemische Kriegsführung
Der Psychiater James S. Ketchum �ber seine Experimente im Dienste der US-Armee mit Belladonnoid-Glycolaten und LSD

Zur Neurobiologie der Alkoholabhängigkeit
Interview mit dem Suchtforscher Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie der Berliner Charité

Die Heroinabgabe muss kommen
Interview mit Henning Voscherau über synthetische Opiate vom Staat und die erreichbaren Ziele der Drogenpolitik

Von einem, der auszog, …
Baba Rampuri spricht über die Welt der Yogis (and here is the english version)

Der ewig missachtete Richterspruch
Staatsanwalt Carsten Schäfer über seine Max-Planck Studie zu Cannabiskonsum und Strafverfolung in den Bundesländern

Evolution
Interview mit dem Buchautoren und 68er-Veteranen Bruno Martin

Der Bandit von Kabul
Jerry Beisler im Gespräch über den Haschisch-Trail und das Afghanistan der 70er Jahre

„Kunst war mir immer suspekt“
Interview mit dem visionären Künstler Fred Weidmann

MAPS: Psychedelika als Therapie
Interview mit Rick Doblin, Gründer der „Multidisciplinary Association for Psychedelic Studies“, über MDMA und die Probleme bei der Arbeit mit psychoaktiven Substanzen

Halluzinogene in der praktischen Forschung
Interview mit Prof. Charles Grob über seine Studien mit MDMA und Psilocybin.
(Hier die englische Version)

Aus den Tiefen
Interview mit Amon Barth

Annäherung an das richtige Leben
Interview mit Wolfgang Sterneck

Wenn der Konsum zum Problem wird
Interview mit dem Psychiater Eckart Schmidt über starke Cannabis-Raucher

Die Hanfapotheke
Franjo Grotenhermen spricht über ein Projekt, in dem Kranke Cannabis bestellen können.

Grenzwertig: Fahren und Gefahren mit THC
Interview mit dem Rechtsanwalt Martin Krause über Cannabis und eine kraftfahrzeuggestützte Lebensweise.

„Der Leistungssport wird seine ‚Unschuld‘ nie wieder zurückgewinnen“
Interview mit Günter Amendt, Experte für Drogenökonomie und Drogenpolitik, über Doping, die Pharmakologisierung des Alltags und das Scheitern der Prohibition.

Natur und „research chemicals“
Interview mit Jon Hanna, Herausgeber der Psychedelic Resource List, über den globalen ethnobotanischen Markt.

„Wir haben in unserer Gesellschaft insgesamt ein Problem mit dem Genießen“
Interview mit Prof. Gundula Barsch, Mitglied der Nationalen Drogen- und Suchtkommission im Bundesgesundheitsministerium über ihr Konzept der Drogenmündigkeit.

Dem Kiffer (mit Problemen) kann geholfen werden
Interview mit dem Suchttherapeuten Helmut Kuntz.

Interview mit Tilmann Holzer vom „Verein für Drogenpolitik“
Holzer spricht über das „Cannabis-Regulierungsmodell“ des Vereins.

Interview mit Joseph R. Pietri, dem „König von Nepal“
Der Haschisch-Schmuggler spricht über seinen Job.

Interview mit Nol van Schaik
Der Coffee-Shop Aktivist über die Praxis des niederländischen Modells.

Interview mit Gerhard Seyfried
Die Comic-Ikone über seine neue Lust am Schreiben.

„Rauschkultur als Form der Religiösität und des Hedonismus“
„Die soziale Realität muß die Normen durch Lächerlichkeit aushebeln“
Zwei Gespräche mit Professor Sebastian Scheerer, Kriminologe an der Universität Hamburg. Es geht um den Streit um das Cannabiskraut, das Urteil des Verfassungsgerichts, die Drogenpolitik in Deutschland und die Auswirkungen von Drogen auf das Bewusstsein.

Interview mit Ronald „Blacky“ Miehling
Der ehemalige Kokainhändler Ronald Miehling hat über Jahre den deutschen Markt mit Kokain versorgt.

Interview mit Christian Rätsch
Christian Rätsch -der wohl anerkannteste Ethnobotaniker Deutschlands- im Gespräch. Esoterischer Schamanenkult, psychoaktive Pflanzen, „Das Gute“, „Das Böse“ und Richard Wagner sind Themen.

Interview mit Wolf-Dieter Storl
GRÜNE aufgepasst: Dieser Pflanzenkenner und -lauscher weiß, was man von Pflanzen lernen kann.

„Ich sehe keine Bewegung“
„Sind wir durch mit dem Interview?“
Zwei Gespräche mit Hans-Georg Behr, dem zornigen Hanf-Veteranen. Der kiffende Psychiater hat eine bemerkenswerte Art, seine Meinung auszudrücken…

Mr. Cannabusiness
Interview mit Frank Zander, dem Organisator der grössten Hanfmesse Deutschlands.

„Wir nutzen nicht das, was in den Drogen steckt“
Interview mit Horst Bossong, dem früheren Drogenbeauftragten der Hansestadt Hamburg.

Gespräch mit Renate Soellner
Autorin der Studie „Abhängig von Haschisch? Cannabiskonsum und psychosoziale Gesundheit.“

„Unglücklicherweise wissen wir nicht genug über Cannabis, dabei wäre es einfach heraus zu finden.“
Interview mit Jonathan Ott, Autor des Buches „Pharmacotheon“.
(Hier die englische Version)

„Techno, Tanzen, Törnen, Ficken – Wegbereiter der Extase“
Interview mit dem Eve&Rave Urgestein Hans Cousto

Von alten und neuen Hexen und einem neuen Naturverständnis
Interview mit der Ethnologin Claudia Müller-Ebeling

Vom Wandeln zwischen den Welten
Schamanismus-Expertin Nana Nauwald im Interview

Pilzmännchen und Freiheitskappen
Interview mit Roger Liggenstorfer zum Thema psilocybinhaltiger Pilze

Der ganze Drogenkrieg kippt…
Hanf- und Verschwörungs-Experte Mathias Bröckers im Gespräch

Hanf – Eine Nutzpflanze unter vielen?
Ein Interview mit Hanf-Forscher Michael Karus, Geschäftsführer des nova-Instituts

 

Substanz-Specials

Der umfassende Einblick in die Welt der psychoaktiven Substanzen: Alle Specials (mit aktuellen Ergänzungen) von az, dazu weitere Artikel aus Magazinen, Zeitungen und Online-Medien.

Absinth, Alkohol, Argyreia nervosa, Ashwaganda, Ayahuasca, Bananenschalen, Betel, Damiana, Designerdrogen, Ephedra, Fliegenpilz, GHB ( 1.4 Butandiol), Ginkgo, Ginseng, Kawa Kawa, Ketamin, Koffein, Kaffee, Kokain, Krähenaugen, Lactucarium, LSD, Modafinil, Nachtschattengewächse, Oxy, Oxytocin, Pilze, Placebo, Ritalin (Methylphenidat), Salvia, Schlafmohn, Tabak, Teufelsdrogen (Yaba, Speed), Viagra, Yohimbe, Zigaretten.

 

Neue Drogenpolitik

Das Drogenverbot ist (mal wieder) am Ende
Der hochtechnisierte und globale Markt produziert ständig neue Substanzen, eine Kontrolle wird immer schwieriger (Telepolis v. 21.06.2012)

Ecstasy und seine Kinder
Mal wieder schafft eine Drogenstudie mehr Verwirrung als Aufklärung. (Telepolis v. 18.04.2012)

Das Ende der Akzeptierenden Drogenarbeit? Ein Abgesang

Abstinenz: Von der christlichen Idee zur Richtlinie der Politik

Klassifikation von Drogen: Britische Experten urteilen neu

Regulierungsmodelle: Wie der Staat mit Cannabis umgehen sollte

Bedenklich: Cannabis auf dem Schulhof

Wie stellt sich die Cannabis-Szene die Legalisierung vor? Legal, aber wie?

Wo ist wieviel erlaubt? Gesetze und Realitäten des Hanfkonsums in Europa und Osteuropa

Zu Besuch beim Organisator des Hamburger Hanffest: „Wir wollen uns zeigen.“

Ergo: Thesen zur Drogenpolitik

 

Drogen – global

Die europäische Drogenbeoachtungsstelle legt ihren Bericht für 2007 vor
Same procedure as every year

Die Wiedergeburt einer alten Bekannten
In Afghanistan wird wieder Haschisch produziert

Gefahr im Paradies
Thailand im Wandel

Mal ganz unten, mal ganz oben, aber immer: Kokain
Eine Polemik zum Fall Kate Moss

Die Weltreligionen und ihr Verhältnis zum Rausch
Teil 1: Das Christentum, Teil 2: Der Hinduismus, Teil 3: Der Islam,
Teil 4: Der Buddhismus, Teil 5: Das Judentum

Chemie-Apotheken schließen
Research Chemicals

Ritualgruppen und neue Kirchen nutzen den Trank als Sakrament:
Ayahuasca kommt in den Großstadtdschungel

Weltweite Cannabis-Politik und ihre Missachtung:
Arizona, Australien, Großbritannien, Costa Rica, Indien, Kanada, Vietnam, USA, Europa, Ost-Europa

Grasgeflüster:
Auf welchen Routen reisen Haschisch und Marihuana?

Ausführliche Rezension eines Buches von Alfred McCoy:
Die CIA und die Drogenbarone

Cannabis-Praxis

Spice: Aufstieg einer dubiosen Psycho-Droge (telepolis v. 22.02.2009)

Das Ying und Yang der Cannabis-Psychose

Berauschende Aromaten?
Welchen Anteil kann ätherisches Hanfblütenöl an der psychoaktiven Wirkung von Rauschhanf-Präparaten haben?

Internet:
Sicheres Surfen und das Posten in Grow- und Drogen-Foren

In medias res:
Das Graslexikon und das Haschlexikon

Handwerk:
Die Growing-Area

Vorsicht :
Cannabis und der Führerschein
Welche Fehler Kiffer in Polizeikontrollen und danach machen.

Mangelhaft:
Ein Test mit Drogentests

Schädlich:
Cannabis und die Lunge
Ein Vergleich der giftigen Inhaltsstoffe von Cannabis und Tabak

 

Cannabis als Medizin

Cannabinoid-Arzneimittel im Aufwind:
Man hofft auf das große Geschäft

This will get you medicated!
In den USA hat sich Cannabis als Medizin längst durchgesetzt

Viel THC, aber auch Mikroben
Uni Leiden untersucht Coffee-Shop-Cannabis

Antiseptisch:
Zu Besuch bei THC-Pharm

Verdampfung:
Universität Leiden testet den Vaporizer

Feinstofflich:
Die Forschung zu den Cannabinoiden

Alltag:
Cannabis in der Praxis medizinischer Anwendung

Interview über Cannabis in der Medizin
mit dem Apotheker Manfred Fankhauser

Interview mit Lester Grinspoon
über Cannabis als Medizin

Interview mit Franjo Grotenhermen,
dem Vorsitzenden der „Internationalen Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin“

 

Mischen possible

Portrait des Künstlers und Rock’n’Rollers Helmut Wenske

Eine kurze Geschichte der Orgie

Albert Hofmann: Zum Tod des Chemikers und Naturphilosophen

Männer & Rausch Warum wir?

Halluzinogene Fische? Ein Mythos?

Nautische Architektur: Die Kunst des Mathias Erbe

Fressflash: Wenn der Rausch im Essen deponiert wird

Die ultimative Pfeifenkritik

Der ebenso ernst zu nehmende Psychotest

Mattscheibe:Kiffen und Kiffer im Film

Netzwerkpartys: Im LAN-Wahn

Eine satyrische Bilanz zur hundertsten Ausgabe des Magazin „Hanfblatt“

Wahrer Trash: Ein Bericht vom Cannabis-Kongress

Nachruf auf Timothy Leary

20 Jahre als Head-Shop Besitzer

Mit einem Fan auf dem Hamburger Hanffest 2000

Verkostung beim Nachtschattenmagier:
Miraculix aus Winterhude

Historische Kultur:
Deutsche Anti-Marihuana-Krimis aus den 50ern
Als die Bayern auszogen den Weltmarkt mit Haschisch zu überfluten
Marihuana in den Groschenheften der Sechziger Jahre

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Cognitive Enhancement

Ginkgo biloba als Gedächtnisturbo?

Welt am Sonntag v. 05.09.2009

Ginkgo als Gedächtnisturbo?

Das pflanzliche Mittel soll Demenzkranken helfen und auch bei gesunden Menschen die Konzentration stärken. Doch die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind unter den Experten sehr umstritten.

Wer heute durch den Botanischen Garten in Jena streift, der wandelt auf den Spuren Goethes. Der Deutschen liebster Dichter war ein Pflanzenexperte, wobei es ihm eine Pflanze besonders angetan hatte: der Ginkgo-Baum. 1792 ließ er einen männlichen Ginkgo in dem von ihm beaufsichtigten Botanischen Garten einpflanzen. Dieser steht heute noch. Schon Ende des 18. Jahrhunderts war bekannt, dass Ginkgos uralt werden können. Aus Asien eingeführt, entzog sich die Pflanze den gängigen Klassifikationen, denn trotz seiner laubblattähnlichen Blätter ist der Ginkgo kein Laubbaum, sondern eine nacktsamige Pflanze, allerdings auch kein Nadelholz. Schon damals umgab die Pflanze ein Mythos, der durch Goethes Leidenschaft und sein berühmtes Gedicht noch verstärkt wurde. Es beginnt mit den Worten:

Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Giebt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut.

Seither ist der Ruf von Ginkgo (lat. Ginkgo biloba) als geistförderndes Tonikum etabliert. Ob die Inhaltsstoffe aber tatsächlich gegen den altersbedingte Abbau der kognitiven Fähigkeiten helfen ist bis heute umstritten. Weltweit gehen Wissenschaftler der Wirkung der Pflanze auf den Grund.

In Deutschland hat Ginkgo ein pharmazeutische Karriere hinter sich, in keinem anderen Land wurde soviel des Antidementivums verschrieben wie hier. Bei Vergesslichkeit verschrieben Ärzte bis 2002 gerne Ginkgo. Der Grund war auch ein praktischer: Die Nebenwirkungen sind gering, das Mittel gilt als allgemein durchblutungsfördernd und genießt den Ruf eines milden mentalen Stärkungsmittels. Der Grund für die positive Wirkung auf den menschlichen Stoffwechsel wird in der hohen Konzentration an Flavonoiden und Terpenoiden vermutet. Flavonoide gelten als gefäßverstärkend, Terpenoide sind in ihrer speziellen Form, den Ginkgoliden und einem Bilobalid, nur im Ginkgo zu finden. Sie sollen schützende Wirkung auf die Mitochondrien haben. Dies sind fest umschlossene Extra-Bereiche in einer Nervenzelle, die als „Kraftwerke“ der Zelle bezeichnet werden. Auf den ansonsten durch Psychopharmaka so oft angesprochenen Neurotransmitterhaushalt scheinen diese Wirkstoffe weniger Einfluss zu nehmen.

Zwischen 2003 und 2004 kommt es in Deutschland zu einem Einbruch bei den Ginkgo-Verordnungen. Innerhalb kurzer Zeit sacken die Verschreibungen durch deutsche Ärzte um 85 Prozent ab. Der Grund: Die Krankenkassen zahlen seither die Behandlung mit Ginkgo nur noch in Ausnahmefällen. Damit steht Ginkgo nicht allein, der Kauf praktisch aller über 2500 zugelassenen Pflanzenmedikamente wird seither nicht mehr von den gesetzlichen Kassen erstattet.

Lange Zeit waren viele wissenschaftliche Studien rund um die Eigenschaften von Ginkgo von deutschen Medizinern verantwortet. Mehr noch, der größte Hersteller des Tonikums, die Firma „Dr. Wilmar Schwabe“ finanziert bis heute viele der Experimente, die den Mechanismen und mentalen Auswirkungen von Tebonin auf den Grund gehen sollen. Wie andere Hersteller ist auch Schwabe verpflichtet, durch klinische Studien die Wirksamkeit eines Produkts nachzuweisen, wenn er eine Zulassung dafür beansprucht. Das Problem der Glaubwürdigkeit solcher Studien ist systeminhärent.

In einem ersten Schritt wird heute daher grundsätzlich zwischen den Wirkung von auf kranke und gesunde Menschen unterschieden werden. Bereits 1998 nahmen sich Barry Oken und Daniel Storzbach von der Oregon-Universität für Gesundheitswissenschaften in Portland, USA, 50 Studien vor, die den Effekt von Ginkgo auf den Verlauf der Alzheimer-Demenz untersucht hatten. 46 Studien wiesen eine unklare Diagnose auf, die anderen vier zeigten aus Sicht der Autoren eine moderate, aber signifikante Wirkung einer drei bis sechs Monate währenden Behandlung mit 120 bis 240 Milligramm Ginkgo-Extrakt auf die geistige Leistungsfähigkeit.

Unter Leitung von Jaqueline Birks sichtete die unabhängige Cochrane Collaboration 2001 die Lage und bezog alle soliden Studien ein, die Ginkgo an Patienten mit Demenz oder kognitivem Handicap getestet hatten. 35 Studien wurden in die Meta-Analyse einbezogen, damit kommt man auf 4247 Probanden, denen Ginkgo-Extrakte in unterschiedlichen Dosierungen verabreicht wurden. Und schon hier stellte man das erste Problem fest: Die tägliche Dosis schwankte zwischen 80 und 600 Milligramm. Ein weiteres Problem: Die kognitive Leistungsfähigkeit wurde mit Hilfe von über 20 unterschiedlichen Tests überprüft. Aus Sicht der Autoren erschwert dies die Vergleichbarkeit der Studien untereinander enorm.

Wenn überhaupt, dann muss Ginkgo über einen längeren Zeitraum verordnet werden, um Effekte bei dementen Menschen zu erzielen. Bei Experimenten, die mindestens 12 Wochen andauerten, so das Cochrane-Institut, kommt es eher zu signifikanten Unterschied zwischen Placebo- und Ginkgo-Probanden. Insgesamt resümiert man: Die Ergebnisse sind zu inkonsistent und nicht überzeugend genug, als dass Ginkgo für die Behandlung von Demenzkranken empfohlen werden kann. Zugleich bedauert man, dass aufgrund der weltweiten Vorrangstellung der Acetylcholinesterasehemmer bei der Demenzbehandlung die zukünftige Forschung mit Ginkgo biloba erschwert ist.

In Deutschland prüfte zuletzt das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) das Potential von Ginkgo bei der Behandlung der Alzheimer-Demenz. Auch hier wies man auf die Uneinheitlichkeit der Studienlage hin und forderte weitere klinische Vergleiche.

Gehirn-Turbo?

Noch unsicherer ist die oft kolportierte Fähigkeit von Ginkgo auch gesunden Menschen dabei zu helfen, konzentrierter und ausdauernder zu arbeiten. Im Jahre 2000 machte sich eine Forschungsgruppe um den Biopsychologen David Kennedy von der Northumbria Universität in England daran, für konsistente Daten zu sorgen. Allerdings waren es nur wenige Probanden, nämlich 20, die an dem Experiment teilnahmen. Das Phänomen der geringen Teilnehmerzahl zieht sich wie ein roter Faden durch die Erforschung von Ginkgo für Gesunden. In der britischen Studie erhielten die Teilnehmer entweder 360 mg Ginkgo-Tonikum, 400 mg Ginseng, oder in der Luxusvariante 960 mg eines Kombinationsprodukts aus Ginkgo und Ginseng. Man stellte bei allen drei Anwendungen im anschließenden Test eine geringe Verbesserung des Erinnerungsvermögens fest. Nebenbei bemerkt: Die selbe Forschungsgruppe überraschte 2002 die Fachöffentlichkeit mit einem Versuch mit Kaugummi kauenden Probanden. Diese wiesen ebenfalls ein besseres Erinnerungsvermögen auf als die kieferberuhigte Kontrollgruppe. Man sieht, wie wenig es teilweise bedarf, um den Geist in Bewegung zu bringen.

Der australische Psychologe Nicholas Burns von der Universität Adelaide hat die Wirkung von Gingko an gesunden Menschen über einen längeren Zeit überprüft. Die 104 allesamt männlichen Probanden waren zwischen 18 und 43 Jahren alt und erhielten über 12 Wochen eine vergleichsweise geringe Dosis von 120 mg. Die Männer schlossen daraufhin die 13 Tests ihrer kognitiven Funktionen nicht besser ab als die Placebo-Gruppe. Zu einem anderen Ergebnis kommt allerdings eine Forschergruppe um die Leiterin des Gerontopsychiatrisches Zentrum im Alexianer Krankenhaus Krefeld, Brigitte Grass-Kapanke. Sie wollen nach einer dreimonativen Einnahme eine Steigerung der Merkfähigkeit um 25% beobachtet haben. Die Ginkgo-Kandidaten waren durchschnittlich 55 Jahre alt und hatten angegeben, unter Konzentrationsschwierigkeiten zu leiden und auch teilweise sich Dinge nicht mehr gut merken zu können.

Die wissenschaftlichen Erforschung des Ginkgos am Menschen geht in das dritte Jahrzehnt. Aus subjektiver Perspektive verhilft Ginkgo offensichtlich vielen Menschen bei der Linderung ihrer Beschwerden, anders sind die immer noch hohen Verschreibungszahlen in Deutschland, aber auch weltweit, kaum zu erklären. Bei Demenz kann Ginkgo unter Umständen den Lebensalltag der Patienten verbessern, eine Kurierung der Krankheit ist nicht möglich. Gesunden Menschen, die Ginkgo als Mittel zur Förderung ihrer Gedächtnisleistung anwenden wollen, helfen die konzentrierten Wirkstoffe der Pflanze kaum und wenn überhaupt, dann umso eher, desto älter der Konsument ist. Dem 43-jährigen Autoren dieser Zeilen hat ein Ginkgo-Extrakt in einer Testreihe von täglich 240 mg über zwei Monate nicht geholfen.

Das menschliche Gehirn scheint im engen Zusammenspiel mit dem Körper ein Gleichgewicht zu halten, welches nur schwer optimiert werden kann. Ist es außer Kontrolle, besteht eher die Chance, es mit Medikamenten wieder in Schwung zu bringen. Aber ist der natürliche Alterungsprozess des Gehirns eine Krankheit? Wie immer man die Frage beantwortet, zumindest lässt er sich mit den bisher bekannten Medikamenten kaum aufhalten.

 

 

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Gesundheitssystem Psychopharmakologie

Die Macht der Pharma-Portale erbost das Kartellamt

Spiegel Online v. 15.10.2008

Ärzte müssen sich seit 2004 regelmäßig fortbilden – eine gute Idee, schlecht umgesetzt. Denn viele wichtige Web-Kurse für Mediziner werden von der Pharmaindustrie gesponsert oder selbst betrieben, Produktwerbung inklusive. Jetzt will das Kartellamt einschreiten.

Alles begann mit einer guten Idee. Damit ihre Heilmethoden auf dem neuesten Stand sind, sollten sich alle deutschen Mediziner regelmäßig weiterbilden. Auch die abgelegensten Arztpraxen der Republik sollten vom wissenschaftlichen Fortschritt durchdrungen werden und zeitgemäße Therapien anbieten. Das von den Gesundheitsexperten erdachte System war denkbar einfach und wurde 2004 im Rahmen der Gesundheitsreform eingeführt: Pro absolvierter Fortbildung erhält jeder Arzt Punkte, innerhalb von fünf Jahren muss er 250 ansammeln.

Offen blieb allerdings, wer die Weiterbildung für die rund 145.000 Kassenärzte und Psychotherapeuten organisiert, vor allem aber wer sie finanziert. Die Ärzte selbst? Die Berufsverbände? Oder die Pharmaindustrie? Gegen letztere Variante sprach ein Passus im Sozialgesetzbuch, laut dem die Fortbildungen „frei von wirtschaftlichen Interessen“ sein müssen. Die Landesärztekammern müssen die Schulungen zertifizieren – um deren Qualität zu sichern und, so der Plan, einseitige Darstellungen oder gar Produktwerbung zu verhindern.

Doch dazu sind die Ärztekammern offenbar nur bedingt in der Lage. Inzwischen haben sich im Internet kostenlose Portale durchgesetzt, von denen der überwiegende Teil durch die pharmazeutische Industrie betrieben oder indirekt gesponsert wird.

Ein gesundheitsökonomisches Wunder

Rund hundert solcher virtuellen Schulen existieren derzeit. Alle großen Pharmakonzerne sind mit einem eigenen CME-Portal (Continuing Medical Education) im Netz vertreten, wie etwa Pfizer mit „pro-cme.de„, Astra Zeneca mit „top-cme.de“ oder Sanofi-Aventis mit „online-cme.de„. Dazu kommt eine Vielzahl von krankheitsbezogenen Internet-Seiten, die mit Unterstützung von Pharmaunternehmen betrieben werden.

Mediziner erhalten mit ihrer individuellen Arztnummer Zugang zu den Portalen. Damit ist weitgehend sichergestellt, dass tatsächlich der Arzt selbst die Vorträge ansieht und den anschließenden Fragebogen ausfüllt. Werden alle Fragen korrekt beantwortet, erhält der Teilnehmer die begehrten CME-Punkte. Das gesundheitsökonomische Wunder ist: Trotz der aufwendigen Programmierung und Aktualisierung der Lernmodule verlangt kaum einer der CME-Anbieter Geld.

Kann unter diesen Bedingungen ein Fortbildungsmarkt entstehen, so wie vom Gesetzgeber gewünscht? „Nein“, sagt Roland Holtz. „Warum sollte ein Arzt für etwas zahlen, was er zwei Mausklicks entfernt gratis erhält?“ Holtz hatte zusammen mit der Universität Hannover versucht, ein kostenpflichtiges Fortbildungs-Portal zu etablieren. Aus seiner Sicht scheiterte dies an der Marktdominanz der Pharma-Portale. Er stellte Strafanzeige gegen die größten Betreiber und informierte zugleich das Bundeskartellamt.

Das knöpfte sich daraufhin die Ärztekammern vor, die für die Zertifizierung der CME-Websitesn verantwortlich sind. In einem 19-seitigen Brief an die Bundesärztekammer monierte das Kartellamt die Online-Kurse, von denen viele „als Fortbildung getarnte Werbemaßnahmen“ seien, vor allem aber die Marktverstopfung. Man drohte, den Ärztekammern per Unterlassungsverfügung das Genehmigen solcher Schulungs-Portale zu verbieten.

Harsche Antwort der Ärztekammern

Die Antwort kam zügig, der Tonfall war harsch. Man unterliege nicht den Bestimmungen des Sozialgesetzbuches, sondern allein dem jeweiligen Kammer- und Heilberufsgesetzen der Länder, so die Bundesärztekammer. Ihre Empfehlungen zur ärztlichen Fortbildung ließen ein „transparentes Sponsoring in Bezug auf Fortbildungsmaßnahmen“ ausdrücklich zu. Damit waren die Fronten geklärt. Das Bundeskartellamt wird nach Informationen von SPIEGEL ONLINE wahrscheinlich exemplarisch gegen eine der Landesärztekammern vor Gericht ziehen.

Das könnte auch die Ärztekammer Hamburg betreffen. Deren Präsident Frank Ulrich Montgomery erklärt: „Bei zertifizierter ärztlicher Fortbildung sind die kommerziellen Hintergründe, wenn es sie gibt, klar erkennbar.“ Man vergebe für Fortbildungsveranstaltungen grundsätzlich nur dann Punkte, wenn neben der Anforderung an die wissenschaftliche Qualität auch die Sponsoren und die Verbindungen der Referenten zur Industrie transparent seien.

Doch schon eine kurze Stichprobe lässt daran zweifeln. Die Hamburger Ärztekammer hat im vergangenen Jahr 16 Online-Fortbildungen zertifiziert. Alle werden von der Firma Eumecom angeboten, die zum Pharmakonzern GlaxoSmithKline gehört. Letzteres aber ist weder auf der CME-Website des Unternehmens noch auf dessen CME-Unterseiten wie etwa „ringvorlesung.de“ auf den ersten Blick zu erkennen. Erst eine gezielte Suche im dortigen Impressum schafft die von Montgomery versprochene Transparenz. „Die Ärztekammer würde sich freuen, wenn deutlicher hervorgehoben würde, wer die Anbieter des Angebots sind“, sagte Montgomery zu SPIEGEL ONLINE ein.

Andere CME-Portale propagieren einzelne Medikamente – mal offensiv, mal subtil, wie zum Beispiel auf „Univadis“. Dieses ist von der zum US-Konzern Merck gehörenden Pharmafirma MSD aufgesetzt, nach Unternehmensangaben sind hier über 40.000 deutsche Ärzte registriert. In einer Beispieltherapie wurde hier einer Diabetes-Patientin der Fettwertsenker Simvastatin verschrieben. Den hat MSD im Portfolio, doch das Problem für den Pharmakonzern ist, dass Simvastatine als Generika erhältlich sind – der Patentschutz lief 2006 aus. Schlechte Aussichten also, noch große Gewinne zu erzielen. Allerdings hat MSD mit dem Wirkstoff Ezetimib einen weiteren Lipidsenker im Köcher.

In der Fortbildung wurde dem Arzt nun eine Kombinationstherapie aus beiden Wirkstoffen vorgestellt – und in den anschließenden Fragen galt eine solche Therapie als einzig richtige Antwort. Der Hintergrund: MSD hat Simvastatin und Ezetimib in einem neuen Kombinationspräparat mit Namen Inegy vereinigt, auf das der Arzt zwangsweise stoßen wird, wenn er den Empfehlungen des CME-Portals folgt. Auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE teilte MSD mit, das Modul sei bereits nicht mehr im Netz.

Das stimmt zwar, doch die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns (KVB) hatte von MSD schon 2007 die Löschung des Moduls verlangt. Lange passierte nichts, erst vor etwa zwei Monaten verschwand es dann von der Website. KVB-Vorstandschef Axel Munte zeigt sich gleichwohl zufrieden: „Auch wenn man über die Dauer bis zur Rücknahme der Fortbildung geteilter Meinung sein kann, so finde ich es insgesamt erfreulich, dass die entsprechende Fortbildung inzwischen vom Netz genommen worden ist.“

Noch liegt der Anteil der Internet-Portale am gesamten CME-Markt bei geschätzten zehn Prozent. Doch alle Beteiligen sind überzeugt, dass er stetig wachsen wird. Denn im Internet lassen sich die nötigen CME-Punkte bequem und schnell sammeln: Pro absolvierter Einheit gibt es zwischen zwei und fünf Punkte.

Kooperation mit Pharmaindustrie ausgelagert

Der größte CME-Anbieter, der Heidelberger Springer-Verlag, verzeichnet nach eigenen Angaben monatlich über 20.000 Teilnahmer an Online-Fortbildungskursen. Über 50.000 deutsche Ärzte seien registriert und könnten aus über 300 Fortbildungen wählen. Rund 35.000 davon drücken nach Angaben des Verlags regelmäßig die virtuelle Schulbank.

Die Partnerschaft mit der pharmazeutischen Industrie lagert Springer in ein eigens dafür geschaffenes CME-Portal aus. Hier werden ausschließlich Fortbildungen in Kooperation mit Unternehmen aus der Pharmabranche angeboten. „CME mit Partnern“ nennt Springer das Projekt.

Offen ist, ob das immer ergiebig ist. Die Weiterbildung zur Therapie bei Morbus Paget etwa, einer krankhaften Deformierung der Knochen, wird laut Springer-Verlag von der Firma Novartis unterstützt. In der Online-Lehrstunde wird eine Studie vorgestellt, in der ein neues Novartis-Medikament mit der bislang marktführenden Arznei verglichen wurde. Es überrascht kaum, dass das Novartis-Mittel als das bessere angepriesen wird.

Verschwiegen wird jedoch, dass bis heute kein Medikament die Ausbreitung des Knochenwuchses bei Morbus Paget tatsächlich hemmt. So suggeriert die Fortbildung einen Therapiefortschritt, wo allenfalls eine bessere Verträglichkeit gegeben ist. Stephan Kröck, Mitglied der Geschäftsführung im Springer-Verlag, sieht das anders: „Die Studienlage legt hier tatsächlich einen Vorteil des neuen Präparats in einigen Bereichen nahe. Dies sollte man Ärzten, die Patienten mit Morbus Paget behandeln, mitteilen, und wir halten die Art der Darstellung in diesem Beitrag für absolut angemessen.“

Bedenken bei der Bundesärztekammer

Die Bundesärztekammer ist weniger glücklich über die von der Industrie gesponserten Fortbildungen, sieht aber kaum Alternativen. Franz-Joseph Bartmann, Vorsitzender des Senats für ärztliche Fortbildung, hat die große Menge an notwendigen Angeboten als Problem ausgemacht. Sie könne von den Berufsverbänden allein nicht erbracht und von den Ärztekammern nicht bis ins letzte Detail überprüft werden.

Wie lange sich die Kammer auf dieses Argument zurückziehen kann, ist unklar. Denn schon Stichproben reichen aus, um die wissenschaftliche Unausgewogenheit vieler Fortbildungen festzustellen. Selbst wenn man zugesteht, dass gerade bei neu eingeführten Medikamenten die Fachinformationen auf das Produkt bezogen sein müssen, dürfte das kaum die alternativlose Darstellung des neuen Wirkstoffs rechtfertigen. Denn insbesondere bei neuen Arzneimitteln besteht Anlass zur Vorsicht, weil gefährliche Nebenwirkungen oft erst später bekannt werden – nachdem Zehntausende oder Hunderttausende Patienten das Mittel bereits eingenommen haben.

 

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Gesundheitssystem Psychopharmakologie

Placebos: Warum der Schein besser wirkt als nichts

DIE WELT, 11.Juli 2008

Jörg Auf dem Hövel

Auch ohne den naturwissenschaftlichen Nachweis einer Wirkung können Placebos den Patienten heilen: Wie genau der Effekt entsteht, ist unklar, da die Gesundung nicht unbedingt auf die Einnahme eines Placebos zurückzuführen ist. Doch Mediziner versuchen von den Erfolgen der Scheinbehandlungen zu lernen.

Eine Mutter aus Maryland (USA) hat einen kleinen Internet-Shop eröffnet: „Efficacy Brands“. Im Sortiment gibt es nur ein Produkt – Dextrose-Tabletten mit Kirschgeschmack. Pillen ohne wirksamen Inhaltsstoff, Placebos. Jeder kann hier ein Medikament kaufen, das keines ist. 50 Tabletten kosten umgerechnet 3,20 Euro. Sie sollen Eltern helfen, ihre Kinder von einer eingebildeten Krankheit zu befreien, aber auch echte Beschwerden zu lindern. In den USA herrscht Aufregung, Medizinethiker wie Howard Brody von der Universität Texas geben zu bedenken, dass Placebos „unberechenbar“ seien, manche Menschen würden „dramatisch stark“ auf ein solches Mittel reagieren, andere gar nicht. Die Diskussion zeigt die Unsicherheit gegenüber einem faszinierenden Phänomen. Obwohl der Placeboeffekt seit Jahrhunderten erforscht wird, ist immer noch unklar, warum er entsteht. Nun wollen Mediziner von der sogenannten Scheinbehandlung lernen.

Placebos sind alle Maßnahmen, die ohne naturwissenschaftlichen Nachweis einer Wirkung dennoch eine positive Reaktion beim Patienten bewirken. Die meisten Ärzteverbände verbieten den Einsatz von Placebos. Dass Ärzte sie dennoch einsetzen, bewiesen zuletzt die dänischen Forscher Asbjørn Hróbjartsson und Michael Norup. Sie befragten über 700 Ärzte. Knapp die Hälfte der Allgemeinärzte hatte in den letzten Jahren mindestens zehn Mal ein Placebo verschrieben – um den Patienten zu helfen, aber auch um herauszufinden, ob jemand simuliert.

Ärzte greifen dann zum Scheinmedikament, wenn der Patient nach einer Behandlung verlang. Der lateinische Ausdruck Placebo heißt übersetzt: „Ich werde gefallen“. Eine weitere Funktion haben die Scheinpillen bei zufallskontrollierten und doppelblinden Studien: Sie helfen der Wissenschaft herauszubekommen, ob eine andere Substanz oder Methode wirklich wirkt. Schon hier ist ein erstes Problem sichtbar. Durch die weltweit größte Akupunktur-Studie Gerac hat sich vor Kurzem herauskristallisiert, dass eine Placebobehandlung durchaus besser als eine Nichtbehandlung sein kann. Hans-Christoph Diener vom Universitätsklinikum Essen stellte fest, dass „eine Scheinakupunktur fast genauso wirksam“ wie eine klassische chinesische Akupunktur sein kann.

Untersuchungen zum Placeboeffekt

Um dem Placeboeffekt auf die Schliche zu kommen, setzt man heute oft eine Kontrollgruppe ein, die weder Behandlung noch Placebo erhält. Antonella Pollo und ihr Team von der Universität Turin gaben Schmerzpatienten beispielsweise zunächst ein starkes Schmerzmittel. Parallel dazu injizierte man eine Kochsalzlösung. Diese zweite Infusion wurde aber durch die Ärzte mit unterschiedlicher Bedeutung aufgeladen: Der ersten Patientengruppe wurde nichts von einer schmerzstillenden Wirkung dieser Infusion erzählt. Der zweiten Gruppe wurde erzählt, dass die Kochsalzinfusion entweder ein kräftiges Schmerzmittel oder aber ein Placebo sein kann. Der dritten Gruppe wurde dargelegt, dass die Infusion ein Schmerzmittel sei. Die Behandlung aller drei Gruppen war also auf physischer Ebene gleich, denn alle erhielten eine Schmerzmittel und parallel dazu unwirksame Kochsalzlösung. Aber die damit zusammenhängende Erklärung war unterschiedlich. Das Ergebnis: Die zweite Gruppe forderte weniger Schmerzmittel nach als die erste Gruppe, der nichts erzählt worden war. Am wenigsten Opiat wollten aber die Probanden der dritten Gruppe haben, diejenigen, die dachten, sie hätten zusätzlich ein starkes Schmerzmittel erhalten.

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Ist also ein Placebo gegenüber einer Nichtbehandlung immer die bessere Wahl? Nicht unbedingt. 2001 zeigte Asbjørn Hróbjartsson zusammen mit Peter C. Götzsche, dem Direktor des Nordic Cochrane Center in Kopenhagen, dass viele Experimente, die die Placebo- mit Nichtbehandlung verglichen hatten, methodisch auf schwachen Beinen stehen. Ihre Meta-Analyse über 114 Studien fand „wenig Beweise“ dafür, dass Placebos gegenüber Nichtbehandlung große Vorteile haben. Aber diesem Fazit widersprechen Forscher immer wieder.

Selbst wenn der Placeboeffekt nicht zuverlässig arbeitet, unstrittig ist: Er existiert. Die Frage ist nur warum? Bis heute ist unklar, weshalb in manchen Situationen der Placebo wirkt, in manchen nicht. Gibt es überhaupt einen bewährten und wiederholbaren Placeboeffekt? Die Beweislage ist dürftig.

Leicht zu erforschen ist der Effekt nicht, was unter anderem daran liegt, dass beispielsweise nicht jede Gesundung nach Einnahme eines Placebos auf dieses zurückzuführen ist. Viele Symptome bessern sich nach einiger Zeit ohnehin. Einige weitere Rätsel: Offenbar wirken Scheinmedikamente besser, je häufiger sie eingenommen werden, und wenn sie einen Markennamen tragen. Blaue Beruhigungspillen helfen besser als rote, es sei denn, man ist Italiener, dann ist es genau umgekehrt. Deutsche können ihre Magengeschwüre effizient mit Placebos behandeln lassen, in der restlichen Welt ist die Erfolgsquote aber nur halb so gut. Das liegt nicht daran, dass die Deutschen besonders placebosensibel sind. Denn bei Blutdruck-Placebos ist es umgekehrt, hierauf sprechen die Deutschen weltweit am schlechtesten an.

Die Placebo-Sensiblen sind ein Problem für die Arzneimittelentwicklung, viele Studien beginnen daher mit einer reinigenden Maßnahmen, indem sie erst einmal allen Studienteilnehmern ein Placebo verabreichen und die darauf besonders Ansprechenden vom weiteren Verlauf ausschließen. Das Problem ist, dass bis heute keine verlässliche Methode existiert, um diese sogenannten Placebo-Responder zu identifizieren. Es gibt keine typischen körperlichen oder charakterlichen Eigenschaften einer Person, die besonders gut auf ein Placebo reagiert. Menschen reagieren zu einem Zeitpunkt ausgeprägt, zu einem anderen Zeitpunkt kaum auf ein Scheinmedikament. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass viele der eingesetzten Placebos wie Speisestärke, Kochsalzlösungen und Milchzucker durchaus physiologische Eigenschaften besitzen.

Schon das Design von Placebo-Studien ist schwierig: Einige Placebo-Forscher sind nicht davor gefeit, die Überlegenheit von Scheinbehandlungen bereits in ihrem Untersuchungsdesign zu formatieren. Ein Beispiel ist die oft zitierte Arthroskopie-Studie von Bruce Moseley. Seine Bilanz damals, die seither in der Welt steht: Nur angedeutete Kniegelenksoperationen führen ebenso zum Erfolg wie korrekt durchgeführte. Mosley hatte Arthroskopien durchgeführt, bei acht der Patienten allerdings nur einen Schnitt gesetzt, damit die Narbe zur Gesundung beiträgt. Sechs Monate später waren sowohl die Scheinoperierten als auch die korrekt Operierten zufrieden mit dem Ergebnis. Aber anstatt zu schließen, dass die Patienten die OP gar nicht nötig gehabt haben oder der chirurgische Eingriff nutzlos war, weil das Knie auch ohne Eingriff geheilt wäre, zog Moseley einen anderen Schluss: Die Heilung der acht Scheinoperierten sei durch den Placeboeffekt verursacht worden, die anderen Patienten hätten sich besser fühlten, weil sie richtig operiert wurden.

Das dopamingesteuerte Belohnungssystem

Spielt sich der Placeboeffekt nur im Kopf ab? Die Frage ist falsch gestellt, negiert sie doch den Fakt, dass jede psychische Begebenheit ein körperliches Korrelat hat. Im Falle der Placebos deuten das obige Experiment und die anderen Erfolge mit Schmerzpatienten darauf hin, dass die körpereigenen Opiate eine wichtige Funktion übernehmen. Vanda Faria, Doktorandin an der Universität in Uppsala, hat vor Kurzem 24 Studien zu den neuronalen Veränderungen durch Placebogabe überprüft. Danach spielen Endorphine, Cortisol und anderer körpereigene Substanzen beim Placeboeffekt eine Rolle. Schein- und Normalbehandlung können dabei ähnliche neuronale Mechanismen auslösen. Zusätzlich scheint das dopamingesteuerte Belohnungssystem wichtig zu sein.

Unklar ist, inwieweit das Wissen um den Placeboeffekt dessen Wirkung beeinflusst, ob also ein hohes Maß an richtiger Lageeinschätzung und an korrekter Selbsteinschätzung die Erfolgschancen verringern oder erhöhen. Für beides gibt es Hinweise. Unklar ist auch, wie sich messen lässt, ob der Patient überhaupt geheilt werden will.

Fest steht: Der Kontext, in dem ein Medikament vergeben oder eine Methode angewandt wird, spielt bei der Wirkung eine entscheidende Rolle. Heilung besteht aus mindestens drei Faktoren: der Wirkung von Medikament, Operation oder anderer Intervention, durch die biochemische Prozesse angeschoben oder krankhafte Veränderungen im Körper eliminiert werden. Zum anderen wirken die Selbstheilungskräfte des Patienten. Und dann ist da noch die wichtige Interaktion zwischen Patient und Arzt. Diese auch „Bedeutungserteilung“ genannte Interaktion ist ein entscheidender Faktor.

Schon 1985 war man der Bedeutungserteilung bei der Medikamentenvergabe auf der Spur. Ein Team um Richard Gracely nahm sich einige Patienten vor, denen die Weisheitszähne entfernt worden waren. In einer Doppelblindstudie konnten diese daraufhin einen Placebo, ein Schmerzmittel (Fentanyl) oder sogar einen Schmerzblockadehemmer erhalten. Der Clou: Einer Hälfte der beteiligten Ärzte wurde erzählt, es gäbe ein technisches Problem, daher würden die Patienten kein Fentanyl erhalten können. Diese Finte führte in der Placebo-Gruppe zu einer denkwürdigen Konsequenz: Obwohl ihnen von den Ärzten nichts über die vermeintlich technischen Probleme mitgeteilt wurde, stieg die Schmerzstillung bei denjenigen Placebo-Patienten erheblich, deren Ärzte daran glaubten, sie könnten Fentanyl injiziert bekommen. Eine der besten Erklärungen für dieses Phänomen ist: Die Ärzte haben ihr Wissen um die mögliche Schmerzmittelinjektion nonverbal an die Patienten kommuniziert.

Eine anhaltende Gesundung eines Menschen ist umso wahrscheinlicher, je eher die physikalisch-chemische Therapie und die Bedeutungserteilung durch Arzt und Patient in die gleiche Richtung zielen. Der Placeboeffekt rüttelt nicht nur ein weiteres Mal an der überkommenen Vorstellung der Trennung von Körper und Psyche, er kann als Instrument dienen, um der Zeicheninterpretation auf die Spur zu kommen, die ein Arzt gegenüber einem Patienten leisten muss. Diese Interpretation kann nicht allein auf einer Deutung der biochemischen Ereignisse in dessen Körper beruhen. Der Arzt muss den Patienten befragen, um seine individuelle Vorgeschichte zu erfahren und zudem seinen kulturellen Kontext berücksichtigen. Doch das kostet Zeit. Wie die Versuche mit Schmerzpatienten zeigen, hätte eine gründlichere Erklärung des Placeboeffekts einen weiteren Vorteil: Es wären weniger Medikamente nötig, um Heilung zu erzielen.