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Eine kurze Geschichte der Orgie

Eine Geschichte der Orgie/

HanfBlatt Nr. 115, Juli 2008

Sex, Drogen, alles außer Rand und Band

Eine kurze Geschichte der Orgie

Kaum jemand kann sich der Faszination der Orgie entziehen, sei es aus Begeisterung, sei es aus Abscheu. Die lustvolle Hemmungslosigkeit beflügelt die Phantasie. Welche Funktion hatte die Orgie in der Geschichte? Und spielt sie heute noch eine Rolle in der Gesellschaft?

Die klassischen Griechen hatten schon Jahrhunderte vor dem Erscheinen von Jesus Christus einen speziellen Gott, nämlich Dionysos. Dieser war für Rausch, Ekstase und den Wein zuständig. Ein wilder Kerl. Jedes Jahr feierten die Griechen Dionysos mit mehreren Festspieltagen. Dort wurde aber nicht gesoffen und gefummelt, sondern hohe Kultur zelebriert: Dichter trugen ihr Kunst vor, Komödien und Tragödien wurden aufgeführt, Satyrspiele abgehalten. Satyrn sind mythologische Figuren, halb Mensch, halb Tier, die wie Dionysos immer feierbereit waren. Der Sage nach scharten sie sich um den Gott, um mit ihm zusammen allerhand Schabernack zu treiben. Der prominenteste Vertreter dieser Gattung ist Pan. Die weiblichen Fans von Dionysos waren die sogenannten Mänaden. In der griechischen Welt vermengten sich der Mythos der Dichtungen, tatsächliche historische Figuren und gelebter Alltag auf heute kaum noch vorstellbare Weise. So sind die Mänaden nicht nur die erdachten Begleiterinnen von Dionysos, sondern auch die Anhängerinnen eines Kultes, der lange Zeit sein Wesen trieb. Ursprünglich waren Orgien religiöse Festspiele, erst später wurden sie zu Anlässen trunkener Wildheit.

Eine besondere Rolle in der Geschichte der Orgie spielt ein kleines Örtchen in der Nähe von Athen mit Namen Eleusis, heute ein Vorort der Millionenmetropole. Hier spielten sich die legendären „Mysterien von Eleusis“ ab. Im antiken Griechenland waren diese Mysterien über einen Zeitraum von annähernd 2000 Jahren ein wichtiger Kultkomplex. Auch sie waren keine Orgien im engeren Sinne. Die Teilnahme war einem Griechen nur ein einziges mal im Leben gestattet. Die Gesetze verlangten bei Androhung der Todesstrafe absolutes Schweigen über die Vorgänge in Eleusis. Es ist bis heute unklar, was genau dort passierte, die überlieferten Schriften zeugen allerdings davon, dass viele Teilnehmer hier beeindruckende spirituelle Erfahrungen gemacht haben. Da während der Mysterien auch ein Trank eingenommen wurde, spekuliert man bis heute darüber, dass dieser Trank halluzinogene beziehungsweise entheogene Substanzen enthalten haben muss.Der Chemiker Albert Hofmann hat mit anderen Autoren dazu eine Theorie vorgelegt. Stichhaltige Beweise fehlen aber. Denn mutterkornbefallener Roggen oder Wildgrasmutterkörner sind schwer dosierbar und führen oft eher ins Delirium als denn ins Götterreich. Wahrscheinlicher ist der Einsatz von Bilsenkraut oder Schlafmohn. Auf der anderen Seite dürfte die Empfänglichkeit der antiken Menschen für spirituelle Erfahrungen durch Lebenswelt sowie Set und Setting sehr hoch gewesen sein, so dass vielleicht schon kleine Mengen einer Droge zu außergewöhnlichen Erfahrungen geführt haben. Wie auch immer, zu sexuellen Massenakten ist es während dieser antiken Techno-Party nicht gekommen. Dionysien und die Eleusis-Mysterien waren eng an naturgegebene Vorgänge gebunden, sie fanden zumeist im März zu Beginn der neuen Vegetationsperiode statt.

Die Römer übernahmen viele der griechischen Traditionen, so auch der Gott Dionysos. Er hieß ab jetzt Bacchus. So entstanden die Bacchanalien und allmählich die Art der zügellosen Orgien, die bis heute in unseren Vorstellungen präsent sind. Mengen von Alkohol, wahrscheinlich aber auch Laudanum und anderen berauschenden Substanzen gehörten von nun an zu den Festen dazu. Man verkleidete sich, der Mummenschanz erhöhte die Hemmungslosigkeit – hier gibt es Berührungspunkte zum Karneval.

Im 2. Jahrhundert v. Chr. steigerten sich die Bacchanalien zu volksfestartigen, vollkommen entfesselten Massenorgien. Es bildete sich die Grundstruktur der Orgie heraus, wie wir sie bis heute kennen und definieren. Alle Beteiligten streben danach, einander durch möglichst sinnliche Handlungen gegenseitig zu überbieten und erotisch zu reizen. Die Partner einer Orgien treten in eine ständige Wechselwirkung, sie sind gleichzeitig Handelnde und Zuschauer. Es gilt in einem Rausch der Sinne zu versinken, durch ständige Reizung und Überreizung alle Grenzen fallen zu lassen. Alle dafür nötigen Mittel sind legitim. Damals wurden dabei die Grenzen zu menschenverachtenden Methoden immer wieder überschritten. Sklaven konnten sich nicht wehren, Kinder auch nicht. Selbst Tiere wurden missbraucht. Im Jahre 186 v. Chr. wurde es schließlich dem römischen Senat zu bunt. Er erließ einen Beschluss über die Bacchanalien und verbot sie. Um klar zu machen wie ernst man es meint, ließ man mehrere Tausend Teilnehmer hinrichten.

Von hier an trieb man es um Untergrund weiter. Ein Phänomen, das sich bis heute gehalten halt. Der Mythos der Bacchanalien wurde in zu einem bevorzugten Thema der bildenden Kunst. Ursprünglich zeigten die Maler die eigentlichen Bacchusfeiern, mit der Renaissance erweitert sich der Darstellungskreis. Er umfasste von da an alles, vom fröhlichen Gelage bis zur entfesselten Orgie. Kaum einer der großen Künstler der Neuzeit blieb vom Stoffgebiet der Bacchanalien unberührt. Die Wiedergabe der orgiastischen Hemmungslosigkeit ist das eigentliche künstlerische Problem, denn zuviel zeigen durfte man oft nicht. Zuletzt zeigte Georges Grosz in seinem Bild „l’orgie“ scheißende Damen und überlaunige, schwerstbesoffene Herren in der für ihn typischen Art des dekadenten Verfalls.

Vögelei

Von den Geschichtsschreibern überliefert sind meist nur die Ausschweifungen am Hofe. Berüchtigt in der Neuzeit waren die Orgien, die der Regent von Frankreich, Philipp II. von Orléans (1674–1723), veranstaltete. Als überzeugter Atheist hielt er sie gerne an christlich-religiösen Festtagen ab. Bestechend liebenswürdig, rasant frivol, künstlerisch begabt; Philipp sah im eigenen Vergnügen die einzige Richtschnur des Handelns. Er und seine Freund erdachten immer neue Ausschweifungen, die im Paris des 17. Jahrhunderts das bewundernd-schaurige Stadtgespräch bildeten. Es herrschten Verhältnisse, die heute undenkbar scheinen. Mit seiner eigenen Tochter unterhielt Philipp eine leidenschaftliche und öffentlich bekannte Liebesaffaire. Inzest war damals ohnehin in hohen Kreisen nichts ungewöhnliches, selbst das „gemeine Volk“ stieß sich nicht daran. Auch die anderen, üblichen Grenzen des Geschlechtsverkehrs wurden wenig beachtet. Kinderschändung war niemals wieder so verbreitet wie in diesem Zeitalter, das heute Rokoko genannt wird. Nach einigen Herzanfällen begriff er als 47-Jähriger, dass seine exzessive Lebensweise ihren Tribut forderte und gab sein nächtliches Lotterleben auf.

Mit der Angebotsvielfalt steigerte sich auch die Zahl der während Orgien konsumierten Drogen. Heute dürfte bei sexuell ausgelassenen Festen neben dem Alkohol vor allem Kokain eine Rolle spielen. Das Pulver gilt als Rammelgarant. Schade, das die Klavitatur der Liebesmittel heute meist nur auf chemischen Wege angeschlagen wird. Die Natur bietet viel. Es ist wenig darüber bekannt, ob heute Rituale existieren, die mit Hilfe psychoaktiver Substanzen und sexuell-erotischer Spielarten ein ekstatischen Erleben für alle Teilnehmer generieren wollen. Die schwülen und muffelnden Hinterzimmer der vorstädtischen Swinger-Clubs und die reglementierten Dark-Rooms der schwulen Szene kommen zwar der Orgie noch am nächsten, haben aber kaum zum Ziel sich im Wollusttaumel zu verbrüdern.

Heute ist die wilde Orgie domestiziert. Zum einen durch wissenschaftliche Einsicht, denn man weiß, dass Freiwilligkeit zum Erleben dazu gehören muss und erotische Exzesse mit Minderjährigen bei diesen mentale Narben hinterlassen. Zum anderen ist die Orgie durch moderne Regeln und Tabus domestiziert. Denn trotz aller Freizügigkeit ist die beklagte Pornographisierung weithin virtuell, sei es im Internet, sei es in literarischen Feuchtgebieten. Auch der am Ende des alten und Anfang des neuen Jahrhunderts vielgescholtene Hedonismus (Stichwort: Spaßgesellschaft) zeigte eher die soziale Tendenz, sich mit einer dauerhaften, aber dadurch halbschlaffe Erektion zufrieden zu geben. In diesem Sinne leben wir in einer ständigen semi-orgiastischen Zustand, umgeben von Gewaltorgien, Medienorgien und Konsumorgien.

Die Abgrenzung zwischen einer ordentlichen Orgie und der Perversion ist schwer. Menschen haben Macken aller Art, das macht uns aus. Das reicht vom Spleen, immer nur bei Sinatra vögeln zu können, über Bondage und justierbaren Krokodil-Brustklammern bis hin zu Lustgewinn durch menschlichen Kot, Koprophilie genannt. Was es nicht alles gibt. Und: Erlaubt ist was gefällt. Die Orgie muss nicht unbedingt Zeichen einer degenerierten, rohen Lustwelt sein. Der Begriff der Sublimierung trifft es schon ganz gut: Sublimierung kann eine Erhöhung der Sinne sein, trägt aber immer auch die Gefahr einer Umlenkung von Wünschen in sich, die untergründig und unbewusst in jedem von uns schlummern. Sie ab und zu auszuleben ist die eine Sache, sich ihrer bewusst zu werden eine andere.

 

Von Jörg Auf dem Hövel

Jörg Auf dem Hövel (* 7. Dezember 1965) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als freier Journalist u. a. für die Telepolis, den Spiegel und Der Freitag.

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