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Elektronische Kultur Interviews

„In einer Utopie der Idioten sehe ich die größte Gefährdung für die kapitalistische Maschinerie“

Hans-Christian Dany über die Wurzeln der sich selbst kontrollierenden Gesellschaft in der Kybernetik

Erschienen in der Telepolis v. 01.09.2013
Das Gespräch führte Jörg Auf dem Hövel

Anfang der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts tauchte ein Forschungsansatz auf, der das wissenschaftliche Denken nachhaltig verändern sollte: die Kybernetik. Angelehnt an den griechischen Begriff des „Steuermann“ beschäftigte sich die neue Disziplin mit der Regelung von Maschinen, Organismen und Organisationen. Die Grundannahme: Alles ist ein System und funktioniert nach den Prinzipien von Rückkopplung, Selbstregulation und Gleichgewichtserhaltung. Das oft genannte Beispiel eines kybernetischen Systems ist der Thermostat. Dieser vergleicht den Istwert der Raumtemperatur mit dem Sollwert, der als gewünschte Temperatur eingestellt wurde. Der Temperaturunterschied führt den Thermostaten in einen Regelkreis, bei dem Ist- und Sollwert ständig angeglichen werden. Ahnherr der Disziplin ist Norbert Wiener, ein US-amerikanischer Mathematiker, der über die Analyse von automatischer Zielerfassung von Militärflugzeugen zum Begriff der Kybernetik kam. Die Kybernetik befruchtete zahlreiche andere Domänen, ihre Ideen und Begriffe flossen in Management- und Therapieschulen, Erkenntnistheorien und die soziologische Systemtheorie ein.

Der Hamburger Autor Hans-Christian Dany hat die Geschichte der Kybernetik in seinem Buch „Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft“ [1] neu erforscht und sieht eine starke Verbindung zwischen dem Modell selbstregulierender Systeme und der heutigen, auf ständige Selbstoptimierung ausgerichteten Gesellschaft.

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Drogenpolitik Interviews Interviews

Der Medizin-Anthropologe Nicolas Langlitz über das Forschungs-Revival psychedelischer Substanzen

telepolis, 12.01.2012

Subjektiver Rausch und objektive Nüchternheit

Jörg Auf dem Hövel

Der Medizin-Anthropologe Nicolas Langlitz über das Forschungs-Revival psychedelischer Substanzen, die objektive Erkenntnis subjektiven Erlebens und kulturell beeinflusste Psychopharmakawirkung

Blickt man auf die mittlerweile 60-jährige Geschichte der wissenschaftlichen Erforschung halluzinogener Drogen zurück, fallen mindestens zwei Eigenwilligkeiten auf. Zum einen ist es die bis heute hochemotional geführte Diskussion um Potential und Gefahren dieser Substanzen. Dies hängt sicherlich mit der mental aufwühlenden Kraft dieser Substanzen zusammen, die in der Lage sind, Weltbilder zu formen, einstürzen zu lassen und den Geist einen tiefen Einblick in das Gebiet der Psychose werfen zu lassen. Zum anderen ist es die unterschiedlicher Herangehensweise von europäischen und US-amerikanischen Wissenschaftler an das Phänomen.

Während die europäischen Forscher Drogen wie LSD und Psilocybin im Rahmen psycholytischer Therapien einsetzten, um das Unbewusste ihrer Patienten an die Oberfläche kommen zu lassen, sahen Forscher in den USA die Möglichkeiten viel weiter gesteckt. In Anlehnung an Aldous Huxley sollten sie die „Pforten der Wahrnehmung“ öffnen und den menschlichen Geist in die Lage versetzen, Teil eines größeren, kosmischen Bewusstseins zu werden. Psychische Transformation war aus dieser Sicht nur eine vorbereitenden Maßnahme für mentale Transzendenz. Die sich aus diesem Ansatz entwickelnde Gegenkultur der USA rüttelte damit am Gerüst der protestantisch-calvinistische Arbeitsethik, die größten Ängste evozierten die Substanzen bei denen, die sie nie genommen hatten. Es kam zum weitgehenden Verbot der Arbeit mit Halluzinogenen.

Seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erlebt diese Forschung nun ein Revival. Organisationen wie MAPS, das Heffter Research Institut und das Universitätshospital in Zürich experimentieren wieder mit psychedelischen Drogen.

Der Medizin-Anthropologe und Historiker Nicolas Langlitz hat die Arbeit in den Laboratorien der USA und der Schweiz teilnehmend beobachtet und eine Dissertation an der Universität von Kalifornien mit dem Titel „Neuropsychedelia. The Revival of Hallucinogen Research since the Decade of the Brain“ verfasst. Langlitz lehrt zur Zeit an der New School for Social Research in New York.

Frage: Welche Faktoren waren Anfang der 90er Jahre für das Revival der Forschung mit psychedelischen Substanzen ausschlaggebend?

Nicolas Langlitz: Das Revival der Halluzinogenforschung in den 90er Jahren hatte verschiedene Gründe. Zunächst einmal war einfach Gras über die sozialen Unruhen der Sechziger gewachsen, in denen psychedelische Drogen ja eine wichtige Rolle gespielt hatten. Selbst in der damals aufkommenden Technoszene haben die klassischen Halluzinogene im Vergleich mit Ecstasy eine untergeordnete Rolle gespielt und wurden nicht länger mit einer grundsätzlichen Infragestellung der Gesellschaftsordnung assoziiert. Zugleich waren diejenigen, die 1968 noch studierten – insofern sie nicht Learys Rat gefolgt und ausgestiegen waren – inzwischen Professoren, hatten eigene Labors und konnten so selbst bestimmen, worüber geforscht werden sollte.

Die Neurowissenschaften erlebten eine nie dagewesene öffentliche Anerkennung während dieser von US-Präsident George H. W. Bush ausgerufenen „Dekade des Gehirns“, was einige der Protagonisten des Revivals, insbesondere vom Heffter Research Institute, zu nutzen wussten. Man wollte die neuronalen Grundlagen des menschlichen Bewusstseins experimentell untersuchen. Was könnte es für einen besseren Weg geben als bewusstseinsverändernde Drogen?

An einer Wiederbelebung der Halluzinogenforschung waren aber nicht nur diese Wissenschaftler interessiert, sondern auch Leute in Kalifornien, die aus der Counterculture der Sechziger hinaus- und in die boomende Cyberculture der Achtziger hineingewachsen waren. Apples gerade verstorbener Steve Jobs war nicht der einzige, der nostalgisch seiner LSD-Erlebnisse gedachte, während er ein Vermögen machte. In den 90er Jahren wurde beispielsweise ein substantieller Teil der akademischen Forschung aus dem Privatvermögen von Bob Wallace, der Nr. 5 bei Microsoft, bezahlt.

In Deutschland und der Schweiz hat aber auch eine Relegitimierung der Modellpsychoseforschung mit Halluzinogenen eine wichtige Rolle gespielt. Dieser Prozess hatte nichts mit der Geschichte der Counterculture zu tun, sondern war eher eine wissenschaftsinterne Entwicklung in der Biopsychiatrie. Das sind meiner Ansicht nach die wichtigsten Faktoren, die die gegenwärtige Renaissance der Halluzinogenforschung möglich gemacht haben.

Haben Sie einen Überblick, wie viele wissenschaftliche Projekte mit halluzinogenen beziehungsweise entaktogenen Substanzen zur Zeit weltweit laufen? Es ist interessant zu beobachten, wie vergleichsweise klein dieses Forschungsgebiet ist und zugleich hoch emotional diskutiert wird.

Nicolas Langlitz: Um wie viele Labore es sich genau handelt, lässt sich so allgemein schwer beziffern. Das kommt ganz darauf an, welche Substanzen man einbezieht. Die Zahl würde deutlich höher ausfallen, wenn man Cannabis als Halluzinogen kategorisieren oder Ketaminstudien einschließen würde. Mir würden spontan vielleicht 15-20 Arbeitsgruppen einfallen, aber gerade wenn man in den tierexperimentellen Bereich geht, sind es sicherlich deutlich mehr.

Bedenkt man, wie exponentiell die Neurowissenschaften und die Psychopharmakologie in den letzten 20 oder 30 Jahren gewachsen sind, dann hinkt die Zahl der Halluzinogen- und Entaktogenstudien relativ betrachtet vermutlich sehr hinterher. Andererseits hat es in der Zeit zwischen 1970 und 1990 fast überhaupt keine Studien am Menschen gegeben, sodass nicht so sehr die Quantität zählt, sondern der qualitative Sprung dahin gehend, dass überhaupt wieder mit diesen Substanzen gearbeitet wird. Durch ihre affektiv und politisch aufgeladene Geschichte bekommt die Forschung mit ihnen natürlich ein überproportionales Maß an medialer Aufmerksamkeit. Aber dieses Phänomen kann man auch in anderen Bereichen der Neurowissenschaften beobachten: die breitere Öffentlichkeit interessiert sich häufig für wissenschaftlich eher marginale Forschungsfelder. Denken Sie nur an die Debatte über den freien Willen. Da gibt es auch nicht viele Studien zu.

Die teilweisen spirituellen Erweckungserlebnisse, die Teilnehmer an Forschungsprojekten erfahren, scheinen sich oft in die eine oder andere Weise auf die Wissenschaftler zu übertragen.

Nicolas Langlitz: Ja, wobei die Übertragung auch anders herum stattfinden könnte. Je nachdem wie man die Studie designt, wird man mehr oder weniger mystische Erfahrungen zu sehen bekommen. Und das Studiendesign hängt wiederum unter anderem davon ab, welche Forschungsinteressen und Vorannahmen der Wissenschaftler an sein Studienobjekt heran trägt.

Man könnte natürlich auch argumentieren, dass die Bewertung der Halluzinogenerfahrungen von Forschern und Probanden deshalb konvergieren, weil beide – vor dem Hintergrund ähnlicher kultureller Deutungsmuster – dieselben Substanzen genommen haben. Wir sollten aber hinzufügen, dass bei weitem nicht alle Versuchspersonen „spirituelle Erweckungserlebnisse“ haben und ein Teil der Forscher zwar weiß, worüber die Probanden da sprechen, die Erfahrungen aber trotzdem auf Neurochemie reduziert. Wenn ich davon ausgehe, dass mir nur deshalb eine mystische Vereinigung mit Gott zuteil geworden ist, weil meine Serotoninrezeptoren verrückt gespielt haben, dann hat so ein Erlebnis natürlich nichts Erweckendes. Ich werde deshalb nicht gleich mein Leben ändern.

Tatsächlich ist es aber so, dass die Neurochemie nur ein Teil der Geschichte ist. Religiös musikalische Menschen, die einer spirituellen Praxis nachgehen, scheinen unter Psychedelika sehr viel häufiger mystische Erfahrungen zu machen als andere Probanden, insbesondere wenn sie die Drogen in einem geeigneten Setting unter entsprechender Anleitung verabreicht bekommen – wie es etwa in John Griffiths Labor an der Johns Hopkins University in jüngster Zeit der Fall gewesen ist. Den Einfluss solcher kulturellen Faktoren auf die pharmakologische Wirkung von Halluzinogenen hat man allerdings noch nicht systematisch erforscht.

Zumindest scheint es heute möglich zu sein, durch eine Auswahl von geeigneten Kandidaten und ein gutes, nicht allzu technisch-steriles Setting die Gefahren auch bei hochdosierten Halluzinogensitzungen zu minimieren. Das war beim Good-Friday-Experiment von Walter Pahnke im Jahre 1962 noch anders.

Nicolas Langlitz: Im Vergleich zu Timothy Learys Forschungen in den 60ern – und Pahnke war bekanntlich Learys Doktorand – sind die heutigen Studien in der Tat sehr viel kontrollierter. Es spricht auch nicht für Learys wissenschaftlichen Ethos, dass er die Öffentlichkeit nicht darüber informiert hat, dass einer der Probanden aus Pahnkes Experiment vorübergehend psychotisch geworden ist und aus der Kirche, in der die Versuchspersonen einem Karfreitagsgottesdienst beiwohnten, abgehauen ist. Damals war die Situation so polarisiert, dass keine Seite der anderen Material an die Hand liefern wollte, das propagandistisch ausgeschlachtet werden könnte.

Ich denke, es ist bezeichnend für das Revival der Halluzinogenforschung, dass dieser Vorfall im Good Friday-Experiment und anderes wissenschaftliches Fehlverhalten auf Learys Seite von einem der wichtigsten Aktivisten, Rick Doblin, aufgedeckt wurde. Natürlich war das auch ein strategischer Zug, Glaubwürdigkeit wiederherzustellen, indem man sich von der Counterculture distanziert. Aber es spricht auch für ein nüchterneres Verhältnis zu diesen Substanzen, wenn man auch die Risiken bedenkt und ihnen vorzubeugen sucht. Diese neue Nüchternheit hat auch dazu beigetragen, dass – zumindest in Franz Vollenweiders Labor in Zürich, wo ich ein halbes Jahr lang zur Feldforschung war – im Laufe von 20 Jahren Hunderte von Probanden Halluzinogene verabreicht bekommen haben, ohne dass es je zu Zwischenfällen wie beim Good-Friday-Experiment gekommen wäre.

Ein Grundproblem der Forschung mit Probanden scheint noch immer die Diskrepanz zwischen deren subjektivem Erleben und den objektiven Messungen zu sein. Worüber genau macht man sich da eigentlich solches Kopfzerbrechen?

Nicolas Langlitz: Die Vision, die den philosophisch relevanten Teil des Neuroimaging – im Gegensatz etwa zu einer Bildgebung, die darauf abzielt, einen Hirntumor zu lokalisieren – antreibt, ist, statt eines introspektiven einen objektiven Zugang zum Geist zu erlangen – sozusagen dem Anderen beim Denken tatsächlich zusehen zu können. Dabei gibt es zwei Wege.

Zum einen kann man Versuchspersonen bestimmte messbare Leistungen erbringen lassen und diese mit den neurophysiologischen Messungen des Hirnstoffwechsels korrelieren. Testet man zum Beispiel die Wirkung eines Halluzinogens oder irgendeines anderen Psychopharmakons auf das Kurzzeitgedächtnis, dann fragt man den Probanden nicht, ob er meint, sich nun besser oder schlechter erinnern zu können, sondern schaut, wie gut er tatsächlich Informationen kurzzeitig abspeichern und wieder aufrufen kann. In diesem Fall können sowohl die mentale Funktion als auch ihr neuronales Pendant objektiviert werden.

Und der zweite Weg?

Nicolas Langlitz: Auf der anderen Seite stehen Versuchsdesigns, bei denen man den Probanden fragen muss, wie er eine experimentelle Situation erfährt. Ob jemand halluziniert, eine ekstatische Entgrenzung seiner selbst oder Angst erlebt, lässt sich objektiv nur schwer beurteilen. In diesen Fällen bitten die Forscher um eine introspektive Bewertung des Erlebens – und zwar anhand quantifizierbarer Skalen. Dieses Zahlenmaterial kann dann mathematisch mit den Messungen des Hirnstoffwechsels in Bezug gesetzt werden. Nur wenn man weiß, was jemand erlebt hat, lässt sich eine stärkere oder schwächere Aktivierung bestimmter Hirnregionen als Korrelat dieses Erlebens behaupten. Das heißt: auch wenn am Ende ein scheinbar objektives Hirnbild steht, so lebt die Subjektivität des Probanden darin doch fort, denn ohne dessen Angaben könnte man gar nicht sagen, was für einen mentalen Prozess oder Zustand das Bild eigentlich repräsentieren soll.

Liegt es nicht in der Natur der Sache, dass sich subjektives Erleben nie vollkommen auf objektive Daten reduzieren lässt?

Nicolas Langlitz: Darüber kann man verschiedener Meinung sein. Der finnische Philosoph und Neurowissenschaftler Antti Revonsuo hat ein Gedankenexperiment beschrieben, das er in stark vereinfachter Weise nun im Labor umzusetzen versucht. Demzufolge wäre eine solche Reduktion möglich. Er sagt: wenn man die Technik hätte, um die Hirnaktivität bis in den letzten Winkel ganz genau aufzuzeichnen, dann müsste es auch möglich sein, das Erlebte zu rekonstruieren – und zwar in Form einer Virtual-Reality-Simulation, die anderen Menschen ermöglichen würde, die Erfahrungen des Probanden nachzuerleben. Dann würden Subjektivität und Objektivität in eins fallen.

In Hegels Worten könnte man auch von einer Aufhebung sprechen, denn die Überwindung des Unterschieds würde auch zu einer Auflösung der unterschiedenen Konzepte selbst führen. Subjektivität ist ja durch radikale Privatheit und das Unvermögen, den Zustand einem anderen zu kommunizieren, definiert. Insofern stimmt es natürlich, dass subjektives Erleben sich schon per definitionem nie auf objektive Daten reduzieren lässt – es sei denn, es hört auf subjektiv zu sein, weil so eine Virtual-Reality-Simulation es intersubjektiv vermittelbar machen würde. Aber bislang ist das ein reines Gedankenexperiment. In der Praxis verzweifelt Revonsuo in seinem Schlaflabor schon darüber, auch nur festzustellen, ob ein Schläfer gerade träumt – also in einem bewussten Zustand ist – oder nicht. Von den Inhalten des Bewusstseins, also dem Traum selbst, ist da noch gar keine Rede. Ob es nun also in der Natur der Sache liegt oder nicht, bislang führt die Subjektivität ein höchst lebendiges Schattendasein in den Neurowissenschaften.

Placebo-Effekte werden mitunter als eine Form subjektiven Erlebens dargestellt. Welchen Beitrag kann die Forschung mit Halluzinogenen in diesem Zusammenhang in Bezug auf die placebo-kontrollierte Arzneimittelforschung leisten?

Nicolas Langlitz: Neben dieser Perspektive, die davon ausgeht, dass es sich um bloß eingebildete Effekte handelt, die sich objektiv nicht untermauern lassen, stehen zwei andere Konzeptionen. Die eine sieht darin ein reales und spezifisches biologisches Phänomen. Denn beispielsweise lassen sich als Schmerzmittel verabreichte Placebos durch Gabe des Opioid-Antagonisten Naloxon unwirksam machen. Die andere betrachtet den Placebo-Effekt als eine unspezifische Störvariable, die man durch placebo-kontrollierten Studien eliminieren muss. Letzteres ist seit den sechziger Jahren der methodologische Goldstandard der pharmakologischen Forschung.

Meiner Ansicht nach stellt die Arbeit mit Halluzinogenen jedoch einen interessanten Grenzfall dar, der dieses Paradigma infrage stellt. Wer schon einmal die Wirkung von psychedelischen Drogen am eigenen Leib erfahren hat, wird sicher nicht auf die Idee kommen, er hätte eine Zuckerpille genommen. Und doch kann deren Wirkung – nicht nur im Sinne der subjektiven Erfahrung, sondern auch was die physiologischen Korrelate dieses Erlebens angeht – ganz unterschiedlich sein, je nachdem in welchem psychischen Zustand sich der Konsument befindet und in welcher Umgebung die Substanz genommen wird. Das bedeutet, wenn ich ein Halluzinogen in dem einen Kontext gegenüber Placebo teste und das Ergebnis einer solchen Studie mit dem Ergebnis einer zweiten Studie vergleiche, in der dieselbe Substanz in einem anderen Kontext gegenüber Placebo getestet wurde, so könnte man denken, dass es sich um zwei ganz verschiedene Psychopharmaka gehandelt haben muss.

So hat man bei mit LSD behandelten Ratten zeigen können, dass diese in einer ihnen vertrauten Umgebung so aktiv sind wie sonst auch, ihr Umfeld zum Teil sogar noch munterer erkunden, während sie in einem neuen Umfeld ängstlicher als normal an der Wand kauern. Mit anderen Worten: die Effekte von Halluzinogenen – und möglicherweise auch von anderen Psychopharmaka, man denke etwa an Alkohol, sind umgebungsabhängig. Von placebo-kontrollierten Studien wird das aber systematisch verschleiert. Deshalb wäre es sinnvoll, einen alten Vorschlag des Anthropologen Anthony Wallace wieder aufzunehmen und placebo-kontrollierte Studien durch so genannte kultur- und situationskontrollierte Studien zu ergänzen. Aber dem stehen wohl zu viele Interessen entgegen.

Ist das Einbeziehen der diversen kulturellen und situationsabhängigen Parameter in placebokontrollierten Studien praktisch überhaupt möglich?

Nicolas Langlitz: Nein, nicht innerhalb von placebo-kontrollierten Studien: Entweder man vergleicht Placebo mit Verum und versucht, dabei alle anderen Bedingungen konstant zu halten, oder man hält das Psychopharmakon konstant und vergleicht zwei Kultur- oder Situationsbedingungen miteinander. Beides zusammen geht nicht, kontrollierte Experimente können immer nur auf einen Faktor schauen.

Inwiefern die Untersuchung kultureller und situationsabhängiger Parameter aber überhaupt möglich ist, kommt wohl darauf an, in welcher Form man diese einbezieht. Wallaces Strategie war, den Einfluss eines möglichst isolierten Kultur- oder Situationsfaktors auf die pharmakologische Wirkung einer Substanz zu untersuchen, indem man lediglich diesen einen Faktor experimentell variiert und dann die beiden Bedingungen miteinander vergleicht. Das ist aber nur dann Erfolg versprechend, wenn solche Faktoren sich überhaupt auseinander dividieren lassen und wenn der untersuchte Faktor alleine stark genug ist, um sichtbar zu werden.

In Tierexperimenten war das zum Beispiel der Fall, als man Ratten Kokain angeboten hat – auf der einen Seite alleine eingesperrten Tieren, auf der anderen Seite in Gruppen lebenden. Das Suchtpotenzial der Droge war bei den sozial nicht deprivierten Ratten deutlich geringer als bei den zu Einzelhaft verdammten. Aber ich würde vermuten, dass in menschlichen und anderen tierischen Lebenswelten eine Vielzahl für sich genommen relativ schwacher nichtpharmakologischer Faktoren zu starken Vektoren aufaddiert werden, ohne dass man dieses Geschehen im Labor kontrollieren könnte.

In der Gefängnispsychologie wird ja gerade mit pink angemalten Räumen experimentiert.

Nicolas Langlitz: Dabei entgeht einem, dass Erleben und Verhalten des Probanden auch von einem Streit mit der Freundin, sexueller Attraktion gegenüber der Versuchsleiterin oder – im Falle psychopharmakologischer Forschung – den kulturellen Vorannahmen über die verabreichte Substanz beeinflusst wird, die vielleicht alle miteinander interagieren. Ich denke, es gibt gute wissenschaftsphilosophische Gründe zu glauben, dass das Leben, und zwar nicht nur im mittlerweile etwas antiquierten Sinne der Lebensphilosophie, sondern auch in dem der life sciences, einfach zu komplex ist, um alleine durch Laborexperimente verstanden werden zu können. Sowohl placebo- als auch kultur- und situationskontrollierte Studien sind meiner Ansicht nach wichtig, aber für sich genommen nicht ausreichend. Die Psychopharmakologie müsste zumindest in Teilen eine field science wie die Kulturanthropologie und die Verhaltensbiologie werden.

Denken Sie, dass die im letzten Jahrzehnt sehr deutlich gewordenen Probleme der Arzneimittelforschung, wirklich neue Psychopharmaka zu entwickeln, damit zusammenhängen?

Nicolas Langlitz: Nein, die Krise in der Entwicklung neuer Psychopharmaka hat wohl andere Ursachen. Wenn man sich nicht auf das letzte Jahrzehnt beschränkt, dann dürfte die zunehmende Regulierung der Arzneimittelforschung viel damit zu tun haben. Wobei ich gar nicht sagen will, dass das schlecht ist: schließlich werden so ja die Interessen von Versuchspersonen und an Studien teilnehmenden Patienten geschützt. Die wilden Experimente der fünfziger Jahre haben uns nicht zuletzt den Contergan-Skandal beschert. Aber man lernt natürlich sehr viel mehr, wenn man früh mit Humanexperimenten beginnt – was, nebenbei bemerkt, auch im Interesse der Versuchstiere wäre.

Über die Schwierigkeiten, auf neue Psychopharmaka aufmerksam zu werden, wenn alle initialen Hinweise auf deren Wirksamkeit aus Tiermodellen stammen, gehe ich, anhand eines Modells, bei dem mit Nagetieren im Halluzinogenrausch nach neuen Antipsychotika gesucht wird, ausführlich in meinem nächsten Buch ein. Die zunehmende Regulierung hat auch dazu geführt, dass der wissenschaftliche Selbstversuch weitgehend aus der Psychopharmakologie verdrängt wurde.

Während das Innovationspotenzial der Pharmaindustrie in Sachen Psychopharmakologie in den letzten dreißig Jahren immer weiter nachgelassen hat, konnte ein Untergrund-Forscher wie Alexander Shulgin über 200 neue Psychedelica entwickeln, indem er jede einzelne Substanz – sehr vorsichtig und sehr kontrolliert – an sich selbst testete. Es wäre zumindest eine interessante Arbeitshypothese für einen Pharmakologiehistoriker, die Krise der Medikamentenentwicklung mit dem Niedergang des Selbstexperiments in Beziehung zu setzen.

Vielleicht beginnt die Psychopharmakologie aber auch ganz grundsätzlich, an ihre Grenzen zu stoßen?

Nicolas Langlitz: Ja, vielleicht. Jede Pille, die man schluckt, affiziert eine Vielzahl von Rezeptorsystemen, nicht nur im Gehirn, sondern im ganzen Körper: neuro-anatomisch betrachtet ein Schrotschuss. Manche dieser Systeme arbeiten in entgegengesetzte Richtungen. Verbessert ein cognitive enhancer zum Beispiel das Kurzzeitgedächtnis ein wenig, verschlechtert sich zugleich das Langzeitgedächtnis. Deshalb lassen sich Nebenwirkungen so schwer vermeiden.

In jüngster Zeit mehren sich außerdem die Hinweise, dass viele der langfristig einzunehmenden Psychopharmaka – inklusive Antidepressiva und Antipsychotika – Abhängigkeiten erzeugen und den Zustand der Patienten zwar kurzfristig verbessern, langfristig aber zu einer Chronifizierung beitragen. Vielleicht sind wir einfach dabei, auf neurobiologische Grenzen zu stoßen, die sich mit den Mitteln der Psychopharmakologie nicht überwinden lassen – egal wie viele Milliarden man in Forschung und Entwicklung steckt. Aber vielleicht bin ich auf diesem Gebiet auch nur ein geschichtsphilosophischer Pessimist. Ich würde mich jedenfalls sehr freuen, wenn die Wissenschaftsgeschichte mich Lügen strafen würde.

 

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Drogenpolitik Interviews Interviews

Interview with Michael A. Rinella about Plato and the Pharmakon

telepolis, 28.04.2010

„It is a contest between philosophy and its rivals
to speak with the power of truth.“

Interview with Michael A. Rinella about Plato, drug culture, ecstasy
and philosophy in ancient greece

Platon
Platon

Dr. Rinella, what significance, what weight did the Greeks of the Classical Period attach to intoxication?

Let us consider the question of significance or awareness first. It surprises me that there are many analysts who believe that intoxication was not a condition subjected to a constant, regular, and on-going ethical inquiry in ancient Greece, simply because ancient thought lacked, to give one example, something like our contemporary theory of addiction. In other words they argue that the ancient Greeks had no “drug problem” and were in a sense oblivious about drugs. Well of course that is true if by “drug problem” you are thinking of the specific set of responses to recreational drug use in play since roughly the beginning of the Industrial Revolution. But if you consider Greek thought on intoxication in its own terms you’ll find a discourse as rich and complex as the ancient discussion of food and sex.

And the emphasis?

The question of weight or emphasis is equally important. In contemporary market economies non-productive drug use has been problematized as a disease condition to be subjected to a juridical intervention by a criminal justice system, a medico-therapeutic intervention by a drug-abuse system, or both because these systems tend to operate in loose conjunction or alliance with one another (each having a normalizing role within late-capitalist society). In ancient Greece intoxication was problematized largely on aesthetic grounds. At least until Plato, who was considerably more sophisticated than his peers in terms of understanding human psychology.

What were the parameters of an aesthetic appraisal of intoxication? And what did Plato change?

The central idea within the symposia of the elite was to drink well, and wisely. And by “drink well” they meant becoming intoxicated. If you met this goal your peers considered you properly aristocratic, refined, and a truly attractive human being. The ancient Greek poets speak of this constantly. To allow the mind to be completely unseated by a substance such as wine was considered boorish, ugly, and unattractive for several reasons. On the one hand it was considered unmanly; it made the warrior emotional and feminine. On another it led to hubristic behavior, something that was, in a culture heavily based on honor and shame rather than responsibility and guilt, about as taboo as you could get. The ugly side of intoxication was seen as a primary cause of discord in the social body politic, what the Greeks called stasis. In the politically charged atmosphere following the end of the Peloponnesian War and the trial and execution of Socrates Plato comes along and introduces a new way to think about social discord. For instance in the Republic he uses the term stasiazonta, or “stasis within” and this allows him to begin to question the value of intoxicated states from a new perspective.

Was the most common choice of intoxication at that time, wine, comparable with our wine today?

No, it really wasn’t, and this is a continuing source of misunderstanding. Ancient wine was frequently combined with other substances, including what we would today call “recreational drugs.” The surviving textual record offers ample proof of this but, as classicist Carl A. P. Ruck and a handful of others discovered, purely textual evidence was easy to dismiss or, worse, simply ignore. Now, however, the latest techniques of archeological analysis have confirmed the presence of other intoxicants in Greek wine, to the point it is simply incontrovertible. I’m thinking specifically of anthropologist Patrick E. McGovern’s works, like Ancient Wine.

On which occasions and how often were which people drinking wine?

The occasions were many. Drinking might be done in public, or private, in a religious context, or a recreational context. And the ethics of consumption would have varied depending on the situation. For example the festival of the new wine, the Anthesteria, would have been a public and religious setting for drinking, while the wine drinking and sacrifices that took place before the theatrical performances, the City Dionysia, would have been primarily public and recreational, though of course the high priest of Dionysus was seated in the front row during performances. The drinking party of the wealthy during the Classical era may be thought of as private and recreational drinking, but at the same time the ritual libation s of wine that commenced this drinking in private were themselves religious in character. The question how often or how deeply people were drinking wine is difficult to assess over the gulf of time but I suspect it was on an order different than we are accustomed too. In Plato’s Laws, for example, the Spartan Megillus mentions having seen the entire city of Tarentum drunk during the Dionysia.

And Plato’s new perspective on intoxicated states led to a new view on ecstasy as well?

Closer to the reverse. Many of Plato’s dialogues dissect claims to knowledge and authority that are based on non-rational methods, and this leads him to new insights on the value of both intoxication and ecstasy. The ancient Greeks had a saying that translates to, approximately, “truth comes from wine and children,” and this view was extolled by many poets – whose cultural authority was great – and Plato’s contemporaries in the Athenian upper class. If the project of philosophy was to know the truth through rigorous intellectual training that led to contemplation of the eternal forms, as it was for Plato, you can see how an ecstasy-based path to wisdom was going to be a problem. It is a contest between philosophy and its rivals to speak with the power of truth.

So Plato sees no place for ecstasy in the civil society?

I would distinguish between his views of civil society and the politics. On the one hand Plato is careful not to tread too heavily on ground ordinarily reserved for religion, such the cult of Dionysus or the Eleusinian Mysteries. An accusation of impiety was something you avoided if you had any sense. On the other hand he is quite hostile to social intoxication and wants to cordon that off from as many people as possible. In the political realm he sees, at most, a place for the use of dialectic to perceive, almost like a religious revelation, the eternal and unchanging forms. At the same time he appears quite pessimistic about more than a handful of individuals ever reaching such a stage of enlightenment. All in all, he has very little use for ecstasy. He may borrow some of the linguistic trappings of, for example, religious ecstasy but in the end ecstasy winds up being replaced by philosophy.

Is it correct to say that Plato’s ideas about intoxication constitute the ground for the western „drug politics“ today?

In a certain sense, yes. Michel Foucault correctly identifies Plato’s dialogues as the soil, the leaven, the climate and the environment from which a number of spiritual and intellectual movements will germinate, rise, and grow over the next two millennia. Plato’s general distrust of, and hostility toward, the pharmakon, the drug, reappears in many ancient texts. Dio Chrysosotom and Clement of Alexandria, for example. Look at Immanuel Kant’s Metaphysics of Morals. Like Plato, he allows for moderate use of wine to promote friendly conversation, but for the drugs that produce what he calls “dream euphoria” there is zero tolerance. The individuals who use these drugs are, Kant writes, less than beasts, and may be denied treatment as human beings. And Kant’s influence on moral philosophy over the last two hundred years is undeniable. If you look at the arguments against “drug abuse” in early twentieth-century publications, like the American Journal of Mental Hygiene, the perspective on drug use is distinctly Kantian.

What are the disadvantages of this perspective on drug use?

The perspective is questionable for two reasons. First, it fails to see that the arguments it advances are historically situated. Said another way, during the Industrial Revolution a set of strategies arose to address the question of ecstasy and identity – including recreational drug use – that were unique to that time period. The response to the question of recreational drug use will be as different in the post-industrial age as our present policies are from the pre-industrial age. To give a very simple example, what would be the purpose of “driving while intoxicated” laws if your vehicle is intelligent enough to drive itself? Given the growth of artificial intelligence, this could happen within a century. Second, these discourses of “drug abuse” can hide behind the veneer of “science” but at their core they are rhetorical, polemics. They do not engage in dialogue, they speak in monologues, encase themselves in privileges they alone possess and will never agree to critically examine. The recreational drug user is denied as a subject having the right to speak. He or she is reduced to a data point in a problem of epidemiology. You do not have a dialogue with an epidemic. It is a threat, an enemy, against whom any action is just and capable of being justified.

Is there a need for re-integrating ecstasy into our culture?

There is. First, because there is some evidence suggesting that taking a “break from identity” is not a disease condition to be subjected to criminal or medico-therapeutic “intervention,” it is actually common in the natural world, and ought to be something we view as both rational and healthy. Second, because the consequences of drug prohibition are both too costly in a monetary sense and too odious in a democratic and human rights sense to tolerate any longer.

Why should we use chemical intoxication instead of other forms of reaching ecstasy?

If marijuana products were legalized, for example, I really don’t think you would see them replacing “the runner’s high,” or organized religion, or artistic creation. People will still enjoy running a marathon for its own sake, attending religious rites for spiritual consolation, and the thrill of performing music and the rush of dancing. The techniques or paths for reaching ecstasy should not be seen as mutually exclusive, but rather complimentary. Seen this way, recreational intoxication is simply a single facet of a very ordinary, common, and natural human behavior.

 

About the Author

Michael A. Rinella is instructor of political theory at Empire State College in New York, and former senior editor at the State University of New York Press. In his forthcoming book Pharmakon: Plato, Drug Culture, and Identity in Ancient Athens (Lexington Books) he examines emerging concern s for controlling state s of ecstasy in ancient Greece, focusing on the dialogues of Plato.

 

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Drogenpolitik Historische Texte Interviews Interviews Psychoaktive Substanzen

Interview mit Michael A. Rinella über Plato, das Symposion und die philosophischen Ursprünge moderner Drogenpolitik

telepolis, 28.04.2010

„Für einen auf Ekstase beruhenden Pfad zur Weisheit war kein Platz mehr“

Interview mit Michael A. Rinella über Ekstase und Philosophie im Altertum und Plato als Ahnherrn der Drogenpolitik

Platon

 

Der us-amerikanische Autor Michael A. Rinella hat eine detailreiche Studie über die Ethik des Rausches in der griechische Philosophie und Gesellschaft veröffentlicht. Er beschreibt dabei den Sieg der Rationalität über die Ekstase während der klassische Periode zwischen 500 und 336 v. Chr. anhand von Material aus poetischer Literatur, medizinischen Dokumenten und Gesetzestexten, vor allem aber den Dialogen von Plato (427 – 347 v. Chr.). Im Interview mit der Telepolis spricht Rinella über angereicherten Wein, gepflegte Saufgelage und die Auswirkungen der griechischen Philosophie auf die heutige Beurteilung ekstatischer Zustände.

Dr. Rinella, welche Bedeutung, welches Gewicht, maßen die Griechen der klassischen Periode dem Alkohol- und Drogenrausch bei?

Lassen Sie uns zunächst die Frage der Bedeutung betrachten. Es hat mich überrascht, dass viele Wissenschaftler/Analysten glauben, dass der Rausch kein Gegenstand regelmäßiger und geordneter ethischer Diskussionen war, nur weil das damalige Denken keine Theorie der Sucht kannte. Es wird teilweise argumentiert, dass die Griechen kein „Drogenproblem“ und in gewisser Weise keine bewusste Einstellung gegenüber Drogen hatten. Nun, das stimmt natürlich nur, wenn man in den Kategorien spezifischer Reaktionen auf freizeit- und genussorientierten Drogenkonsum denkt, die aber erst seit der industriellen Revolution etabliert sind. Analysiert man das griechische Denken allerdings in seinen originären Ausdrücken, so findet sich ein reicher Diskurs, der ähnlich komplex ist wie die antike Diskussion über Ernährung und Sex.

Und die Gewichtung?

Die ist genauso bedeutend. In der zeitgenössischen Marktwirtschaft wird nicht-produktiver Drogenkonsum als Krankheit problematisiert und ist Ziel juristischer Interventionen durch das Rechtssystem und medizinisch-therapeutischer Interventionen durch das Suchthilfesystem. Oder die beiden intervenieren gemeinsam, nicht zuletzt, weil sie beide eine Normalisierungsfunktion in der spätkapitalistischen Gesellschaft haben. Im antiken Griechenland wurde der substanzgebundene Rausch in erster Linie als ästhetisches Problem behandelt. Zumindest bis Plato, der die menschliche Psyche wesentlich besser durchschaute.

Was waren denn die Parameter, um den Rausch unter ästhetischen Gesichtspunkten zu betrachten? Und was hat Plato geändert?

Die zentrale Idee der Elite war es, im Rahmen der Symposien gebührend und weise zu trinken. Und mit „gebührend“ meinte man damals, sich einen Rausch anzutrinken. Erreichte man dies galt man unter seinesgleichen als aristokratisch, anständig und als ansprechendes menschliches Wesen. Die antiken Poeten sprechen ständig davon. Sich allerdings völlig von einer Substanz wie Wein davontragen zu lassen galt als flegelhaft, hässlich und unattraktiv. Und zwar aus folgenden Gründen: Auf der einen Seite galt es als unmännlich, es drohte den Krieger weichlich und weibisch zu machen. Auf der anderen Seite führte es zu anmaßendem Verhalten, zur Hybris, etwas, das in einer Kultur, die extrem auf Ehre und Schande und weniger auf Verantwortung und Schuld beruhte, als absolutes Tabu galt. Die hässliche Seite des Rausches wurde darin gesehen, der primäre Grund für Zerwürfnisse in der sozialen Gemeinschaft zu sein, die die Griechen als „stasis” ansahen. In der politisch aufgeladenen Atmosphäre nach dem Ende des peloponnesisches Krieges und dem Prozess und der Exekution von Sokrates führte Plato ein neues Denken über die Gründe für Zerwürfnisse und soziale Uneinigkeit ein. Beispielsweise nutzt er in seiner Schrift „Der Staat“ den Begriff „stasiazonta“ oder „im Rahmen der stasis“. Dies erlaubt es ihm, die Fragen nach dem Wert des Rausches neu zu stellen.

War denn das verbreiteste Rauschmittel der damaligen Zeit, der Wein, überhaupt mit unserem Wein vergleichbar?

Nein, überhaupt nicht, und das ist eine Quelle fortwährender Missverständnisse. Antiker Wein war häufig mit anderen Substanzen versetzt, eingeschlossen dem, was wir heute Freizeit- beziehungsweise Partydrogen nennen würden. Die überlieferten Aufzeichnungen geben ausreichend Zeugnis davon. Wie Carl A. P. Ruck und Andere entdeckten wurden diese Aufzeichnungen aber übersehen oder gar ignoriert. Mit den neuesten archeologischen Analysetechniken konnte mittlerweile die Existenz von anderen, psychoaktiven Substanzen im griechischen Wein nachgewiesen werden, so das dies heute unbestreitbar ist. Ich denke da speziell an die Werke des Anthropologen Patrick E. McGovern, wie beispielsweise „Ancient Wine“ (http://press.princeton.edu/titles/7591.html).

Zu welchen Gelegenheiten und wie oft tranken die Menschen Wein?

Viele Gelegenheiten wurden genutzt. Getrunken wurde in der Öffentlichkeit oder privat, in religiösen Kontext oder um sich zu erholen. Die begleitenden ethischen Regeln für den Konsum variierten mit der Situation. Beispielsweise war das Festival für den neuen Wein, das Anthesteria, ein öffentliches und religiöses Setting für das Trinken. Der Weinkonsum und die Opferriten vor den Theraterauführungen der städtischen Dionysien waren eher öffentlich und freizeitorientiert. Obwohl hier der Hohepriester von Dionysos in der ersten Reihe saß. Die Trinkgelage der Wohlhabenden während der klassischen Ära waren eher privat und erhohlungsorientiert, obwohl die dabei praktizierten [http://de.wikipedia.org/wiki/Trankopfer Trankopfer] einen religiösen Charakter hatten. Die Frage wie oft und wie stark die Menschen Wein tranken ist nach so langer Zeit schwer zu beantworten. Ich vermute aber, dass es anders ablief, als wir uns vorstellen. In Platos „Nomoi“ erwähnt der Spartaner Megillus beispielsweise, er habe die gesamte Einwohnerschaft von Tarentum während der Dionysien betrunken erlebt.

Führten Platos neue Ansichten zum Rausch zu einer neuen Sicht auf die Legitimität der Ekstase?

Sie wurden nahezu ins Gegenteil verkehrt. Viele von Platos Dialogen analysieren die hergebrachten, nicht-rationalen Methoden zur Wissens- und Autoritätserlangung. Das führte ihn zu neuen Einsichten bezüglich des Wertes von Rausch und Ekstase. Die antiken Griechen hatten ein Sprichwort das ungefährt lautete: „Im Wein und den Kindern liegt die Wahrheit“. Diese Sicht wurde von vielen Poeten hoch gehalten und gelobt, und deren kulturelle Autorität war groß, ebenso wie die von Platos Zeitgenossen aus der Oberschicht von Athen. Das Projekt der Philosophie war für Plato die Wahrheitsfindung durch rigorose intellektuelle Anstrengung, die zu Einsichten in das ewig Seiende führt. Für einen auf Ekstase, also auf dem Aus-sich-Heraustreten, beruhenden Pfad zur Weisheit war da kein Platz mehr. Es ist ein Wettbewerb zwischen der Philosophie und ihren Rivalen um die Vorherrschaft über den richtigen Weg zur Wahrheit.

Also sah Plato keinen Platz für die Ekstase in der zivilen Gesellschaft?

Da würde ich zwischen seiner Sicht auf die zivile Gesellschaft und die Politik unterscheiden. Auf der einen Seite ist Plato bedacht darauf nicht in den Gefilden zu wildern, die der Religion vorbehalten sind, so wie der Dionysos-Kult oder die Eleusinischen Mysterien. Den Vorwurf der Pietätlosigkeit wollte er vermeiden. Auf der anderen Seite steht er Rauschmitteln und Rausch recht skeptisch gegenüber und möchte diesen von so vielen Menschen wie möglich fern halten. In der politischen Sphäre sieht er zwar die Chance durch Dialektik, quasi wie eine religiöse Offenbarung, das ewig Seiende zu erkennen. Zugleich ist er skeptisch, das mehr als eine Handvoll von Auserwählten diese Stufe der Erleuchtung erreichen. Insgesamt sieht er wenig Nutzen für Ekstase, am Ende wird sie durch die Philosophie ersetzt.

Kann man behaupten, dass Platos Ansätze den Rausch zu domestizieren, die Grundlage für die westliche Drogenpolitik bilden?

Unbedingt, ja. Michael Foucault identifiziert Platos Dialoge korrekterweise als das Erdreich, das Treibmittel, das Klima und das Milieu, in dem eine Anzahl von spirituellen und intellektuellen Bewegungen keimten, wuchsen und über die nächsten zwei Jahrtausende gedeihten. Platos generelles Misstrauen und seine Ablehnung gegenüber dem Pharmakon, der Droge, erscheint in vielen historischen Texten wieder, so zum Beispiel bei Dion Chrysostomos und Clemens von Alexandria. Oder schauen Sie auf Immanuel Kants Metaphysik der Sitten. Wie Plato lässt er moderaten Weinkonsum zum Fördern gepfleger Konversation zu, aber für Rauschmittel, die das evozieren, was er „geträumtes Wohlbefinden“ nennt, hat er keine Toleranz. Die Individuen, die diese Drogen benutzen, schreibt Kant, sind weniger wert als Tiere, ihnen könnte die Anerkennung als Menschen aberkannt werden. Nun, Kants Einfluss auf die Moralphilosophie der letzten zwei Jahrhunderte ist unbestritten. Schaut man auf die Argumente gegen „Drogenmissbrauch“ in den Publikationen des frühen 20. Jahrhunderts, wie dem „American Journal of Mental Hygiene“, fällt die Übereinstimmung mit den Ansichten von Kant ins Auge.

Was sind die Nachteile dieser Sicht auf den Drogengebrauch?

Diese Sicht ist aus zwei Gründen fragwürdig. Erstens übersieht sie die historische Bedingtheit der Argumentation. Mit anderen Worten: Während der industriellen Revolution kamen Strategien zur Beantwortung der Fragen nach Ekstase und Identität auf, auch in Zusammenhang mit freizeitorientierten Konsum, die zur damaligen Zeit passten. Die Antwort auf die Fragen zu freizeitorientiertem Drogengebrauch werden in der post-industriellen Ära anders zu beantworten sein. Unsere heutige Drogenpolitik stammt allerdings noch aus der prä-industriellen Zeit. Um ein einfaches Beispiel zu geben: Wie wäre der Inhalt von Gesetzen zu „Fahren unter Drogeneinfluss“, wenn das Auto intellgent genug ist sich selbst sicher zu steuern? Durch die Fortschritte der KI ist das noch in diesem Jahrhundert möglich. Zweitens verstecken sich die Diskurse um „Drogenmissbrauch“ hinter wissenschaftlicher Fassade, in ihrem Kern sind sie aber phrasenhaft und polemisch. Sie agieren nicht im Dialog, sondern im Monolog, sie kapseln sich in Privilegien ein, deren Grundlagen sie nie kritisch hinterfragen lassen. Dem Drogenkonsumenten wird dabei das Recht aberkannt, für sich zu sprechen. Er oder sie wird zu einem Datensatz in der epidemiologischen Problemanalyse reduziert. Aber Mit einem Seuchenherd kann man keinen Dialog führen. Er ist eine Gefahr, ein Gegner, gegen den jede Maßnahme gerechtfertigt ist.

Gibt es Bedarf, die Ekstase in die Kultur zu reintegrieren?

Ja. Zum einen, weil es durchaus Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Wunsch, eine kurzzeitige Pause von der persönlichen Identität zu nehmen, keine Krankheit ist, die durch eine juristische oder therapeutische Intervention behandelt werden muss. Es ist vielmehr gebräuchlich in der Natur und sollte von uns als etwas angesehen werden, das vernünftig und gesund ist. Zweitens sind die Konsequenzen des Drogenverbots kostspielig, sowohl in monetärer als auch in humanitärer und demokratischer Hinsicht.

Warum sollte man psychoaktive Substanzen nutzen, es gibt doch genug andere Wege in den ekstatischen Zustand?

Würde man beispielsweise Cannabisprodukte legalisieren, so würden diese doch nicht die organisierten Religionen, das „Runners High“ oder das künstlerische Schaffen ersetzen. Die Menschen würden ihren Marathonlauf weiterhin genießen, religiöse Riten durchführen, um sich spirituell aufzuladen, den Nervenkitzel beim Musizieren erleben oder den Sturm beim Tanzen. Die Techniken zum Erreichen der Ekstase schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich. Sieht man das auf diese Weise, wird der genussorientierte Drogengebrauch zu einer weiteren Facette des ganz alltäglichen und normalen menschlichen Verhaltens.

 

Michael A. Rinella

Michael A. Rinella ist Dozent für Politische Theorie am Empire State College in New York und ehemaliger Cheflektor am Universitätsverlag State University of New York Press. Sein im Mai bei Lexington erscheinendes Buch „Plato, Drug Culture, and Identity in Ancient Athens“ examiniert die im antiken Griechenland aufkommenden Bestrebungen, ekstatische Zustände zu bändigen. Der Fokus des Buches liegt dabei auf den Dialogen von Plato.

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Zur Neurobiologie der Alkoholabhängigkeit

Interview mit dem Suchtforscher Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie der Berliner Charité. Heinz gilt als einer der führenden Experten für Alkoholabhängigkeit in Deutschland.

An den Folgen ihres übermäßigen Alkoholkonsums sterben alleine in Deutschland jährlich rund 40.000 Menschen. Bei einem hohen Anteil der Alkohol-Konsumenten in der Bevölkerung steigt auch der Anteil derer, die mit der Droge Alkohol nicht umgehen können. Trotzdem der Alkoholismus seit Jahrhunderten bekannt ist, bleibt seine Therapie schwierig: Über die Hälfte der Abhängigen erleiden meist mehrere Rückfälle.

Seit einiger Zeit erlauben die bildgebenden Verfahren der Kernspintomographie Einblick in das Gehirn von Alkoholabhängigen, die Wissenschaft erhält Einsichten in die neuronalen Grundlagen der Sucht. Das wissenschaftliche Modell der Wirkung des Alkohols ist komplex: Alkohol stimuliert das sogenannte „Belohnungssystem“ im Gehirn, eine evolutionär alte Instanz, die dafür sorgt, dass Menschen wesentliche Erlebnisse nicht vergessen und auch wiederholt ausführen. Ein Schnaps führt zu einer erhöhten Ausschüttung des Botenstoffes Dopamin, einem der wichtigen Neurotransmitter. Die Folge: man entwickelt Verlangen nach mehr Alkohol. Ebenfalls freigesetzte körpereigene Opiate, die Endorphin, sind für die guten Gefühle beim Alkoholkonsum zuständig. Provoziert man die positiven Gefühle nun häufig und immer wieder, prägt sich das Hirn die Verknüpfung von gutem Gefühl und dafür eingesetzter Substanz ein.

Interessanterweise sind die Andockstellen für die Opiate, die Opiatrezeptoren, bei alkoholabhängigen Patienten im Belohnungssystem eher erhöht, so dass der Alkohol besonders stark wirken könnte. Umgekehrt sucht das Gehirn nach Ausgleich zu der ungewohnten Dopamin-Ausschüttung und reduziert seine Empfangseinheiten, genauer gesagt die Rezeptoren, wo die Dopamin-Reize eintreffen. Dies hat zur Folge, das die Wirkung des Alkohols nachlässt, immer größere Dosen werden benötigt, damit man sich berauscht fühlt.

Weitere Prozesse kommen zum Tragen: Die Moleküle des Alkohols setzen an den GABA(A)-Rezeptoren des Hirns an, genauer gesagt ist eine relativ kleine Tasche, die durch 45 Aminosäuren gebildet wird, mit dafür zuständig, dass Alkohol als sedierend empfunden wird. Der dauerhafte Genuss von Spirituosen aber auch „weicheren“ Alkoholen führt zu einer Verminderung dieser Rezeptoren. Viel und oft getrunkener Alkohol blockiert zudem die Signal-Übertragung am NMDA-Rezeptor, der den Transport eines weiteren Neuotransmitters, des Glutamats, regelt. Auch dies führt dazu, dass zunehmend mehr Alkohol konsumiert werden kann, ohne das eine starke Ruhigstellung des Konsumenten erfolgt. Die Folge: Er oder sie kann trinken, ohne sediert zu sein, eine Erhöhung der Dosis ist oft die Folge, der Schritt in den Kreislauf der Sucht ist getan.

Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie der Berliner Charité, gilt als einer der führenden Experten für Alkoholabhängigkeit in Deutschland. Im Gespräch erläutert Heinz die Wirkung verschiedener psychoaktiver Substanzen auf das Gehirn, warum die Alkoholabhängigkeit so schwer zu therapieren ist und ob Medikamente gegen die Sucht helfen können.

Frage: Lange Zeit unterschätzt bei der Ausbildung einer Alkoholabhängigkeit wurde die körperlich bedingte Fähigkeit viel zu trinken ohne am nächsten Morgen den berühmten „Kater“ zu haben. Welche neuronalen Grundlagen hat dieses Phänomen der Trinkfestigkeit? Wie viel Prozent der Deutschen sind davon betroffen?

Andreas Heinz: Es gibt keine scharfe Grenze, aber je „trinkfester“ eine Person ist, desto eher neigt sie dazu, zu viel Alkohol zu konsumieren. Dies gilt für Jugendliche wie für junge Erwachsene, und für Männer ebenso wie für Frauen. Eine neurobiologische Grundlage ist im jeweiligen Zustand des Botenstoffsystems zu suchen, das nach dem Transmitter Serotonin benannt ist. Besonders „trinkfest“ ist, wer genetisch bedingt oder auch nach einer ausgeprägten Stresserfahrung über relativ mehr Serotonin-Transporter verfügt, wer also Serotonin nach Freisetzung sehr schnell wieder in die Nervenzellen aufnehmen, sozusagen „recyceln“ kann. Dann ist nämlich die über die GABA(A)-Rezeptoren vermittelte sedierende Wirkung des Alkohols vermindert.

Frage: Existiert eine Qualitäts-Reihenfolge der Wirkmächtigkeit verschiedener Substanzen auf das Belohnungssystem? Wie aktiviert beispielsweise Alkohol dieses System im Vergleich zu Kokain?

Andreas Heinz: Alkohol erhöht die Dopaminausschüttung um etwa 50-100%, Kokain um circa 1000%, ist also viel stärker wirksam. Die Alkoholwirkung befindet sich im Bereich weiterer Drogen, wie Nikotin oder die Opiate. Auch neuartige Reize wie ein ungewohntes gutes Essen steigern die Dopaminausschüttung, diese nimmt aber beim erneuten Essen schnell ab: man „gewöhnt sich“ beziehungsweise habituiert. Das ist bei Alkoholkonsums wie beim Konsum aller anderen Drogen nicht der Fall. Sie wirken also ungewöhnlich lange beziehungsweise immer wieder neu, man spricht deshalb auch davon, dass sie das Belohnungssystem „kidnappen“.

Frage: Trotz ausgedehnter Erforschung der Alkoholsucht ist eine Therapie derselben äußerst schwer, die Rückfallquoten sind hoch. Woran liegt das aus neurobiologischer Sicht? Und kann man den Anteil bestimmen, den diese körpereigenen Prozesse gegenüber sozialen Faktoren haben?

Andreas Heinz: Die Folgen jahrelangen Alkoholkonsums auf das Nervensystem lassen sich nicht einfach in wenigen Therapietagen revidieren oder durch neue Lernerfahrungen überlagern. Hier hilft nur eine mehrdimensionale Therapie, die eine Beratung, Psycho- und Soziotherapie, Fragen der Lebensgestaltung, Selbsthilfegruppen und eine zusätzliche medikamentöse Rückfallprophylaxe beinhaltet. Soziale Faktoren wirken sich ja auf das Organ Gehirn aus, so dass die Trennung zwischen körperlichen und seelischen Prozessen künstlich ist. Die messbare Reaktion des Gehirns auf Alkoholreize erklärt beispielsweise etwa die Hälfte des Rückfallrisikos in den folgenden Wochen, die Reaktion selbst wird aber natürlich durch Lernvorgänge, Stressfaktoren, Folgen chronischen Alkoholkonsums und einiges mehr beeinflusst.

Frage: Die Übererregung des zentralen Nervensystems im Alkohol-Entzug, die sich durch die sogenannte Entzugserscheinung manifestiert, kann durch Medikamente wie Benzodiazepine abgeschwächt werden, gelernte Entzugserscheinungen wahrscheinlich durch Acamprosat. Gibt es weitergehende Ansätze die Hirnchemie so zu verändern, dass nicht nur Entzugserscheinungen, sondern auch andere neuronale, suchterhaltende Prozesse verändert werden? Was sind die Probleme bei der Entwicklung von Medikamenten dieser Art?

Andreas Heinz: Acamprosat beeinflusst einen Rezeptor für den erregenden Botenstoff Glutamat und wirkt wahrscheinlich am stärksten auf gelernte Entzugserscheinungen: das Gehirn erwartet Alkohol, reguliert dagegen und wenn kein Alkoholkonsum erfolgt, kommt es zu konditionierten Entzugserscheinungen, die den Patienten in den Rückfall treiben können. Naltrexon blockiert Opiatrezeptoren und kann so die angenehmen Wirkungen des Alkoholkonsums abschwächen. Die Probleme sind keine anderen als bei der Entwicklung weiterer Pharmaka im neuropsychiatrischen Bereich: die Substanzen werden meist im Tiermodell gescreent und es wird geprüft, ob sie den Alkoholkonsum von Laborratten oder Mäusen senken, dann in Bezug auf ihre Sicherheit und schließlich auf klinische Wirksamkeit und Nebenwirkungen getestet. Je besser die Sozio- und Psychotherapie ist, desto geringer kann allerdings unter Umständen der Effekt der Medikamente ausfallen, so dass sie gegebenenfalls gegenüber Placebo keine signifikante Wirkung mehr zeigen.

Frage: In welchem Bereich sehen Sie die größten Chancen für die Entwicklung von Medikamenten gegen die Sucht?

Andreas Heinz: Am ehesten ist aus dem Bereich der Antiepileptika mit Neuentwicklungen zu rechnen, hier gibt es bereits erste erfolgreiche Studien mit einzelnen Substanzen wie Topiramat. Es ist möglich, dass auch das Verständnis der molekularen Reaktionsketten, die durch Alkohol und andere Drogen in der Zelle selbst aktiviert werden, zur Entwicklung von neuen Medikamenten führt. Interessant wäre auch die Entwicklung von Medikamenten, die vor den neurotoxischen Wirkungen der Drogen schützen, als neuroprotektiv sind.

Frage: Wird diese Art der Impfung gegen Drogenwirkungen, wie sie beispielsweise das Scripps Research Institute in La Jolla entwickelt, auch in Deutschland erforscht? Wie funktioniert diese Impfung im Gehirn?

Andreas Heinz: Die Grundidee ist, dass sich Antikörper gegen die Droge bilden und diese bereits im Blut ausgeschaltet wird, so dass sie das Gehirn gar nicht erst erreicht. Ob das im Einzelfall klappt und welche Nebenwirkungen das Verfahren hat, muss man sehen. Eine ähnliche Testreihe wie in La Jolla ist mir für Deutschland nicht bekannt. Aber es gibt Untersuchungen zur Wirkung von Depot-Naltrexon, das die Opiatwirkung blockiert, allerdings direkt am Rezeptor, nicht als Impfung. Das kann helfen, aber nur, wenn der Betroffene unbedingt abstinent bleiben will und eine Sicherheit braucht, dass im Fall des Rückfalls die Droge nicht wirkt. Bei Opiatabhängigkeit hilft aber öfter die Substitution, also der Ersatz der Drogen durch gleichartig wirkende Medikamente, die den Vorteil bieten, dass sie legal verschrieben werden und die Folgen der Illegalisierung für den Abhängigen aufheben.

Frage: Könnte ein ausgebildeter Mensch aus neurobiologischer Sicht mit jeder Substanz vernünftig umgehen oder sollten gewisse Drogen grundsätzlich aus dem Verkehr gehalten werden?

Andreas Heinz: Es gibt unterschiedliche Wirkstärken, beispielsweise setzt eben Kokain etwa 10 Mal so viel Dopamin frei wie Alkohol. Hinzu kommt die Frage, ob eine Gesellschaft eine lange Tradition mit Ritualen ausgebildet hat, die bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung helfen, den Substanzkonsum in Grenzen zu halten. Bei der zunehmenden Vereinsamung und Zersplitterung der Lebenszusammenhänge nehmen diese Rituale aber auch im Umgang mit den lange etablierten Drogen ab. So sank das Einstiegsalter für Rauchen auf 12-13 Jahre. Letztendlich kommt es immer darauf an, was eine Gesellschaft an risikoreichem Drogenkonsum zulassen will.

Frage: Wobei die Illegalität die Probleme eher verschärft?

Andreas Heinz: So einfach ist das nicht. Legale Beschränkungen der Zugänglichkeit von Drogen begrenzen immer den Konsum und damit auch die drogen-assoziierten Probleme – das gilt sogar für die Alkoholprohibition. Die wurde nicht etwa aufgehoben, weil sie nicht wirkte – der Alkoholkonsum sank sogar recht deutlich – sondern weil die Große Wirtschaftsdepression kam, und die Alkoholsteuer als gute Alternative zu einer Einkommenssteuer gesehen wurde, die eher die oberen Schichten betroffen hätte. Aber natürlich hat sich damals das organisierte Verbrechen der illegalen Droge Alkohol angenommen, und das gilt heute ebenso für alle illegalen Drogen.

Frage: Daneben postuliert die „akzeptierende Drogenarbeit“ allerdings, dass ein großer Teil der Probleme von Abhängigen aus der Illegalität ihres Konsums entsteht.

Andreas Heinz: Abhängige, die illegale Drogen konsumieren, leiden an beidem: An den Folgen sowohl ihrer Abhängigkeitserkrankung wie der Strafverfolgung, insbesondere, wenn sie Beschaffungsdelikte verüben, um die Drogen bezahlen zu können und um die für sie unerträglichen Entzugssymptome zu vermeiden. Viele Migranten können in dieser Situation abgeschoben werden und kommen aus Angst davor gar nicht erst in Therapie – der Grundsatz „Therapie vor Strafe“ ist hier oft nicht verwirklicht. Es gibt circa 2000 Menschen, die pro Jahr an den Folgen illegaler Drogen sterben, ungefähr 40. 000 sterben am Alkoholkonsum und rund 100.000 an den Folgen des Rauchens. Die meisten leiden also an den Folgen des Konsums von Drogen, die in dieser Gesellschaft legal und frei verkäuflich sind.

Frage: Zugleich offenbart das Problem der Drogen aber auch eine Stärke des Menschen.

Andreas Heinz: Rasch zu lernen und sich dabei von Vorfreude und Belohnung leiten zu lassen, das können zwar grundsätzlich auch alle Tiere, die Lernvorgänge und die zu erlernenden Situationen sind beim Menschen aber ungleich vielfältiger, und die resultierende Verhaltensflexibilität hat uns ja viele Handlungsmöglichkeiten beschert. Abhängigkeitserkrankungen sind ein Preis der Freiheit, und auch deshalb gebührt den abhängig kranken Menschen unser Respekt und sie haben dasselbe Recht auf Behandlung und Hilfe wie alle anderen Kranken.

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Drogen und Drogenpolitik – Texte von Jörg Auf demHövel und AZ

Gesundheit und Drogenpolitik

Zwischen 1994 und 2013 von Jörg Auf dem Hövel und AZ veröffentlichte Artikel

Psychopharmakologie

Ein verheißungsvolles Antidepressivum scheitert in der entscheidenden Studie. Der Fall zeigt erneut, wie wenig verstanden die Chemie des Gehirns ist. (Telepolis v. 22.11.2011)

Therapeutische Wahrheiten und Illusionen
Zu den Ursachen der weltweiten Pandemie psychischer Krankheiten. (Telepolis v. 14.08.2011)

Placebos ohne Täuschung. Jetzt ist es soweit: Placebos wirken selbst dann, wenn die Patienten wissen, dass sie ein Scheinmedikament einnehmen. Oder nicht? (Telepolis v. 29.04.2011)

 

Arzneimittelherstellung und pharmazeutische Industrie

Länger leben durch Vitaminzusatz? Hilft die Einnahme von Antioxidantien? (Telepolis v. 25.01.2013)

Krebs und seine Metastasen: Es ist alles viel komplizierter
Die verschiedenen Zellen eines Tumors haben oft mehr genetische Unterschiede als Gemeinsamkeiten. (Telepolis v. 16.03.2012)

Hoffnung für Zuckerkranke
Die Entwicklung der „künstlichen Bauchspeicheldrüse“ macht Fortschritte. (Telepolis v. 13.12.2011)

Kleine Geschenke begründen die Freundschaft
Weltweit haben Medizinstudenten schon früh Kontakt zur pharmazeutischen Industrie
(Telepolis v. 02.06.2011)

Marketing statt Evidenz: Durch Gerichtsverfahren veröffentlichte Dokumente zeigen die gewieften Methoden der pharmazeutischen Industrie (Telepolis v. 09.03.2010)

Innovationsmangel: Big Pharma sucht nach Orientierung
(telepolis v. 13. August 2008)

Placebos: Warum der Schein besser wirkt als nichts (DIE WELT v. 11. Juli 2008)

 

Interviews

Subjektiver Rausch und objektive Nüchternheit
Der Medizin-Anthropologe Nicolas Langlitz über das Forschungs-Revival psychedelischer Substanzen, die objektive Erkenntnis subjektiven Erlebens und kulturell beeinflusste Psychopharmakawirkung. (Telepolis v. 12.01.2012)

Zur philosophischen Basis heutiger Drogenpolitik: Interview mit Michael Rinella über das Symposion und Platos Neueinordnung der Ekstase (Deutsch & english version).

„Salvia ist keine Eskapisten-Droge“
Interview mit Daniel Siebert, dem weltweit führenden Experten für Salvia divinorum, dem sogenannten „Wahrsagesalbei“ (and here is the english version)

Alte Pflanzen, neue Heilung?
Interview mit dem Experten für historische Pharmakologie Werner Dressendörfer

Der Körper geht sich selbst
Interview mit dem Buchautoren Hans-Christian Dany über die Rolle von Amphetamin in der modernen Gesellschaft

„Eine integrale Drogenpolitik wäre weit von einer generellen Drogenfreigabe entfernt!“
Interview mit dem Psychologen Wulf Mirko Weinreich über das Bewusstseinsmodell von Ken Wilber, die Zukunft der Drogenkultur und die psychotherapeutische Praxis

„Die Verelendungsprozesse hören nur durch die Vergabe von Methadon oder Heroin nicht auf“
Interview mit dem Bremer Suchtforscher Heino Stöver

Chemische Kriegsführung
Der Psychiater James S. Ketchum �ber seine Experimente im Dienste der US-Armee mit Belladonnoid-Glycolaten und LSD

Zur Neurobiologie der Alkoholabhängigkeit
Interview mit dem Suchtforscher Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie der Berliner Charité

Die Heroinabgabe muss kommen
Interview mit Henning Voscherau über synthetische Opiate vom Staat und die erreichbaren Ziele der Drogenpolitik

Von einem, der auszog, …
Baba Rampuri spricht über die Welt der Yogis (and here is the english version)

Der ewig missachtete Richterspruch
Staatsanwalt Carsten Schäfer über seine Max-Planck Studie zu Cannabiskonsum und Strafverfolung in den Bundesländern

Evolution
Interview mit dem Buchautoren und 68er-Veteranen Bruno Martin

Der Bandit von Kabul
Jerry Beisler im Gespräch über den Haschisch-Trail und das Afghanistan der 70er Jahre

„Kunst war mir immer suspekt“
Interview mit dem visionären Künstler Fred Weidmann

MAPS: Psychedelika als Therapie
Interview mit Rick Doblin, Gründer der „Multidisciplinary Association for Psychedelic Studies“, über MDMA und die Probleme bei der Arbeit mit psychoaktiven Substanzen

Halluzinogene in der praktischen Forschung
Interview mit Prof. Charles Grob über seine Studien mit MDMA und Psilocybin.
(Hier die englische Version)

Aus den Tiefen
Interview mit Amon Barth

Annäherung an das richtige Leben
Interview mit Wolfgang Sterneck

Wenn der Konsum zum Problem wird
Interview mit dem Psychiater Eckart Schmidt über starke Cannabis-Raucher

Die Hanfapotheke
Franjo Grotenhermen spricht über ein Projekt, in dem Kranke Cannabis bestellen können.

Grenzwertig: Fahren und Gefahren mit THC
Interview mit dem Rechtsanwalt Martin Krause über Cannabis und eine kraftfahrzeuggestützte Lebensweise.

„Der Leistungssport wird seine ‚Unschuld‘ nie wieder zurückgewinnen“
Interview mit Günter Amendt, Experte für Drogenökonomie und Drogenpolitik, über Doping, die Pharmakologisierung des Alltags und das Scheitern der Prohibition.

Natur und „research chemicals“
Interview mit Jon Hanna, Herausgeber der Psychedelic Resource List, über den globalen ethnobotanischen Markt.

„Wir haben in unserer Gesellschaft insgesamt ein Problem mit dem Genießen“
Interview mit Prof. Gundula Barsch, Mitglied der Nationalen Drogen- und Suchtkommission im Bundesgesundheitsministerium über ihr Konzept der Drogenmündigkeit.

Dem Kiffer (mit Problemen) kann geholfen werden
Interview mit dem Suchttherapeuten Helmut Kuntz.

Interview mit Tilmann Holzer vom „Verein für Drogenpolitik“
Holzer spricht über das „Cannabis-Regulierungsmodell“ des Vereins.

Interview mit Joseph R. Pietri, dem „König von Nepal“
Der Haschisch-Schmuggler spricht über seinen Job.

Interview mit Nol van Schaik
Der Coffee-Shop Aktivist über die Praxis des niederländischen Modells.

Interview mit Gerhard Seyfried
Die Comic-Ikone über seine neue Lust am Schreiben.

„Rauschkultur als Form der Religiösität und des Hedonismus“
„Die soziale Realität muß die Normen durch Lächerlichkeit aushebeln“
Zwei Gespräche mit Professor Sebastian Scheerer, Kriminologe an der Universität Hamburg. Es geht um den Streit um das Cannabiskraut, das Urteil des Verfassungsgerichts, die Drogenpolitik in Deutschland und die Auswirkungen von Drogen auf das Bewusstsein.

Interview mit Ronald „Blacky“ Miehling
Der ehemalige Kokainhändler Ronald Miehling hat über Jahre den deutschen Markt mit Kokain versorgt.

Interview mit Christian Rätsch
Christian Rätsch -der wohl anerkannteste Ethnobotaniker Deutschlands- im Gespräch. Esoterischer Schamanenkult, psychoaktive Pflanzen, „Das Gute“, „Das Böse“ und Richard Wagner sind Themen.

Interview mit Wolf-Dieter Storl
GRÜNE aufgepasst: Dieser Pflanzenkenner und -lauscher weiß, was man von Pflanzen lernen kann.

„Ich sehe keine Bewegung“
„Sind wir durch mit dem Interview?“
Zwei Gespräche mit Hans-Georg Behr, dem zornigen Hanf-Veteranen. Der kiffende Psychiater hat eine bemerkenswerte Art, seine Meinung auszudrücken…

Mr. Cannabusiness
Interview mit Frank Zander, dem Organisator der grössten Hanfmesse Deutschlands.

„Wir nutzen nicht das, was in den Drogen steckt“
Interview mit Horst Bossong, dem früheren Drogenbeauftragten der Hansestadt Hamburg.

Gespräch mit Renate Soellner
Autorin der Studie „Abhängig von Haschisch? Cannabiskonsum und psychosoziale Gesundheit.“

„Unglücklicherweise wissen wir nicht genug über Cannabis, dabei wäre es einfach heraus zu finden.“
Interview mit Jonathan Ott, Autor des Buches „Pharmacotheon“.
(Hier die englische Version)

„Techno, Tanzen, Törnen, Ficken – Wegbereiter der Extase“
Interview mit dem Eve&Rave Urgestein Hans Cousto

Von alten und neuen Hexen und einem neuen Naturverständnis
Interview mit der Ethnologin Claudia Müller-Ebeling

Vom Wandeln zwischen den Welten
Schamanismus-Expertin Nana Nauwald im Interview

Pilzmännchen und Freiheitskappen
Interview mit Roger Liggenstorfer zum Thema psilocybinhaltiger Pilze

Der ganze Drogenkrieg kippt…
Hanf- und Verschwörungs-Experte Mathias Bröckers im Gespräch

Hanf – Eine Nutzpflanze unter vielen?
Ein Interview mit Hanf-Forscher Michael Karus, Geschäftsführer des nova-Instituts

 

Substanz-Specials

Der umfassende Einblick in die Welt der psychoaktiven Substanzen: Alle Specials (mit aktuellen Ergänzungen) von az, dazu weitere Artikel aus Magazinen, Zeitungen und Online-Medien.

Absinth, Alkohol, Argyreia nervosa, Ashwaganda, Ayahuasca, Bananenschalen, Betel, Damiana, Designerdrogen, Ephedra, Fliegenpilz, GHB ( 1.4 Butandiol), Ginkgo, Ginseng, Kawa Kawa, Ketamin, Koffein, Kaffee, Kokain, Krähenaugen, Lactucarium, LSD, Modafinil, Nachtschattengewächse, Oxy, Oxytocin, Pilze, Placebo, Ritalin (Methylphenidat), Salvia, Schlafmohn, Tabak, Teufelsdrogen (Yaba, Speed), Viagra, Yohimbe, Zigaretten.

 

Neue Drogenpolitik

Das Drogenverbot ist (mal wieder) am Ende
Der hochtechnisierte und globale Markt produziert ständig neue Substanzen, eine Kontrolle wird immer schwieriger (Telepolis v. 21.06.2012)

Ecstasy und seine Kinder
Mal wieder schafft eine Drogenstudie mehr Verwirrung als Aufklärung. (Telepolis v. 18.04.2012)

Das Ende der Akzeptierenden Drogenarbeit? Ein Abgesang

Abstinenz: Von der christlichen Idee zur Richtlinie der Politik

Klassifikation von Drogen: Britische Experten urteilen neu

Regulierungsmodelle: Wie der Staat mit Cannabis umgehen sollte

Bedenklich: Cannabis auf dem Schulhof

Wie stellt sich die Cannabis-Szene die Legalisierung vor? Legal, aber wie?

Wo ist wieviel erlaubt? Gesetze und Realitäten des Hanfkonsums in Europa und Osteuropa

Zu Besuch beim Organisator des Hamburger Hanffest: „Wir wollen uns zeigen.“

Ergo: Thesen zur Drogenpolitik

 

Drogen – global

Die europäische Drogenbeoachtungsstelle legt ihren Bericht für 2007 vor
Same procedure as every year

Die Wiedergeburt einer alten Bekannten
In Afghanistan wird wieder Haschisch produziert

Gefahr im Paradies
Thailand im Wandel

Mal ganz unten, mal ganz oben, aber immer: Kokain
Eine Polemik zum Fall Kate Moss

Die Weltreligionen und ihr Verhältnis zum Rausch
Teil 1: Das Christentum, Teil 2: Der Hinduismus, Teil 3: Der Islam,
Teil 4: Der Buddhismus, Teil 5: Das Judentum

Chemie-Apotheken schließen
Research Chemicals

Ritualgruppen und neue Kirchen nutzen den Trank als Sakrament:
Ayahuasca kommt in den Großstadtdschungel

Weltweite Cannabis-Politik und ihre Missachtung:
Arizona, Australien, Großbritannien, Costa Rica, Indien, Kanada, Vietnam, USA, Europa, Ost-Europa

Grasgeflüster:
Auf welchen Routen reisen Haschisch und Marihuana?

Ausführliche Rezension eines Buches von Alfred McCoy:
Die CIA und die Drogenbarone

Cannabis-Praxis

Spice: Aufstieg einer dubiosen Psycho-Droge (telepolis v. 22.02.2009)

Das Ying und Yang der Cannabis-Psychose

Berauschende Aromaten?
Welchen Anteil kann ätherisches Hanfblütenöl an der psychoaktiven Wirkung von Rauschhanf-Präparaten haben?

Internet:
Sicheres Surfen und das Posten in Grow- und Drogen-Foren

In medias res:
Das Graslexikon und das Haschlexikon

Handwerk:
Die Growing-Area

Vorsicht :
Cannabis und der Führerschein
Welche Fehler Kiffer in Polizeikontrollen und danach machen.

Mangelhaft:
Ein Test mit Drogentests

Schädlich:
Cannabis und die Lunge
Ein Vergleich der giftigen Inhaltsstoffe von Cannabis und Tabak

 

Cannabis als Medizin

Cannabinoid-Arzneimittel im Aufwind:
Man hofft auf das große Geschäft

This will get you medicated!
In den USA hat sich Cannabis als Medizin längst durchgesetzt

Viel THC, aber auch Mikroben
Uni Leiden untersucht Coffee-Shop-Cannabis

Antiseptisch:
Zu Besuch bei THC-Pharm

Verdampfung:
Universität Leiden testet den Vaporizer

Feinstofflich:
Die Forschung zu den Cannabinoiden

Alltag:
Cannabis in der Praxis medizinischer Anwendung

Interview über Cannabis in der Medizin
mit dem Apotheker Manfred Fankhauser

Interview mit Lester Grinspoon
über Cannabis als Medizin

Interview mit Franjo Grotenhermen,
dem Vorsitzenden der „Internationalen Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin“

 

Mischen possible

Portrait des Künstlers und Rock’n’Rollers Helmut Wenske

Eine kurze Geschichte der Orgie

Albert Hofmann: Zum Tod des Chemikers und Naturphilosophen

Männer & Rausch Warum wir?

Halluzinogene Fische? Ein Mythos?

Nautische Architektur: Die Kunst des Mathias Erbe

Fressflash: Wenn der Rausch im Essen deponiert wird

Die ultimative Pfeifenkritik

Der ebenso ernst zu nehmende Psychotest

Mattscheibe:Kiffen und Kiffer im Film

Netzwerkpartys: Im LAN-Wahn

Eine satyrische Bilanz zur hundertsten Ausgabe des Magazin „Hanfblatt“

Wahrer Trash: Ein Bericht vom Cannabis-Kongress

Nachruf auf Timothy Leary

20 Jahre als Head-Shop Besitzer

Mit einem Fan auf dem Hamburger Hanffest 2000

Verkostung beim Nachtschattenmagier:
Miraculix aus Winterhude

Historische Kultur:
Deutsche Anti-Marihuana-Krimis aus den 50ern
Als die Bayern auszogen den Weltmarkt mit Haschisch zu überfluten
Marihuana in den Groschenheften der Sechziger Jahre

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Interviews Interviews Psychoaktive Substanzen

Interview mit Daniel Siebert, dem weltweit führenden Experten für Salvia divinorum

hanfblatt, Nr. 117, Januar 2009

„Salvia ist keine Eskapisten-Droge, im Gegenteil,
es ist ein philosophisches Instrument“

Interview mit Daniel Siebert, dem weltweit führenden Experten
für Salvia divinorum, den Wahrsagesalbei.

Daniel Siebert erforscht den Wahrsagesalbei (Salvia divinorum) seit über 20 Jahren. Er untersuchte die Pflanze in ihrer natürlichen Umgebung in Mexiko, arbeitete vor Ort mit Schamanen zusammen, entdeckte die Psychoaktivität des Inhaltstoffs Salvinorin A, veröffentlicht wissenschaftliche Aufsätze über den Göttersalbei und hält gut besuchte Vorträge. Salvinorin A gilt als das potenteste natürlich vorkommende Halluzinogen. Zur Zeit wohnt er mit Frau und jungem Kind im kalifornischen Malibu. Im Gespräch geht das Aussterben der bedrohten Pflanzenart und die besondere Qualität der Salvia-Erfahrung.

Daniel Siebert in seinem Labor

Herr Siebert, stimmt es nach wie vor, dass das gesamte auf dem weltweiten Markt erhältliche Salvia divinorum von einem Klon abstammt, der aus einer Ursprungspflanze aus der mexikanischen Sierra Mazateca gezogen wurde?

Daniel Siebert: Lebende Salvia divinorum Pflanzen werden seit Jahrzehnten in der Mazateca-Region gesammelt, es wird also unterschiedliche Klone geben. Die Mazateken vermehren die Pflanze per Setzling, denn sie produziert sehr selten Samen. Daher ist es gut möglich, dass die verschiedenen Exemplare identisch sind. Der überwiegende Teil von heute verkauften Salvia wird aus Mexiko importiert und davon wiederum stammt das meiste aus der Mazateca-Region. Aber es wird durchaus auch in anderen Ländern Salvia kommerziell angebaut. Es kann durchaus sein, dass die Pflanze nirgendwo mehr auf der Welt wild wächst. Sollte dies der Fall sein, liegt es in den Händen der Menschen sie vor dem Aussterben zu bewahren. Aus ökologischer Sicht ist es eine sehr seltene Pflanze. Die Tatsache, dass viele Länder Salvia divinorum verbieten gefährdet die gesamte Art.

Zur Zeit ist es äußerst populär seine Salvia-Trips auf Youtube zu veröffentlichen. Die meisten der Menschen scheinen eine außergewöhnliche Erfahrung zu machen. Was ist aus ihrer Sicht zu den Bedingungen zu sagen, unter denen Salvia genommen wird?

Die meisten der Youtube-Videos zeigen Menschen, die das Kraut unvorsichtig und in maßlos überhöhten Dosen nehmen. Ich bin verwundert: Warum sendet irgendjemand Videos in die Welt, auf denen man so töricht handelt? Die Leute blamieren sich nicht nur, sie sorgen auch für ein negatives Image von Salvia und das spielt genau in die Hände derjenigen, die die Pflanze verbieten wollen. Typischerweise zeigen die Filme Menschen in ihren Interaktionsversuchen mit Kamera und anderen Menschen im Raum. Dabei geht die eigentliche Qualität der Salvia-Wirkung verloren: Die innere Erfahrung. Es ist wichtig Salvia mit guter Vorbereitung, in angemessener Dosis und in friedlicher Atmosphäre zu nehmen, wobei die Aufmerksamkeit nach Innen gelenkt werden sollte. Dies ist nun garantiert nicht das, was die Leute auf Youtube tun.

Welche Einnahmeform würden sie empfehlen? Das Kauen oder Rauchen der Blätter, einen Alkoholextrakt oder pures Salvinorin A?

Ich persönlich bevorzuge die orale Aufnahme. So machen es auch die Mazateken. Oral flutet die Wirkung langsamer an und dauert zugleich beträchtlich länger als beim Rauchen. Dies macht den Übergang in die Erfahrung leichter, gibt mehr Zeit sie zu erforschen und konstruktiv mit ihr umzugehen. Die langsame Anflutung ermöglicht zudem ein Erinnern daran, warum man Salvia genommen hat und was man während des Erlebnis angehen wollte. Dies ist besonders dann wichtig, wenn jemand den Göttersalbei für ernsthafte Selbsterkenntnis und innere Arbeit konsumiert. Das ist aus meiner Sicht ohnehin die beste Art Salvia zu nutzen.

Wie lange dauert so eine Erfahrung?

Oral genommen hält die Spitzenwirkung zwischen 45 Minuten und 1,5 Stunden an. Das Abklingen dann noch einmal eine Stunde. Dagegen führt das Rauchen zu einem schnellen Effekt, der nur fünf bis sechs Minuten anhält, bevor er wieder abklingt. Das plötzliche Anfluten ist oftmals sehr desorientierend und bevor man dann überhaupt schnallt, um was es geht, verschwindet die Wirkung auch schon wieder. Gerade bei starken Extrakten kann das passieren. Manche Leute empfinden die orale Wirkung aber als zu schwach, daher rauchen sie lieber.

Verfolgt man die öffentliche Drogen-Diskussion herrscht Befangenheit: Unterschiedliche Typen, Inhalte und Wirkqualitäten von unterschiedlichen Drogenarten kommen nicht zur Sprache. Das englische Wort für das schöne deutsche Wort „Rausch“ ist „intoxication“, also Vergiftung. Würde es helfen vernünftige Charakterisierungen von Drogenerlebnissen einzuführen, trotz der Tatsache, das die Wirkung so individuell verschieden ist?

Generalisierungen führen oftmals zu oberflächlichen und inakkuraten Vorstellungen über bestimmte Drogen. Das sehe ich regelmäßig bei Salvia divinorum. Weil es visionäre Effekte verursacht nennen es die Menschen „halluzinogen“, „psychedelisch“ oder „entheogen“. Das sind zwar alles angemessene Generalisierungen für Vision-induzierende Substanzen, es ist aber wichtig zu verstehen, dass die Wirkung von Salvia sich von allen ähnlich kategorisierten Drogen unterscheidet. Bedauerlicherweise übertragen die Menschen ihr Vorwissen über andere Drogen auf Salvia. Aber Salvia ist einzigartig.

Und als was für eine Art von Erfahrung würden sie Salvia beschreiben?

Üblicherweise nenne ich Salvia divinorum ein Vision-induzierendes Kraut und Salvinorin A als Vision-induzierende Diterpenoid. Die Begriffe „halluzinogen,“ „psychedelisch“ oder „entheogen“ versuche ich zu vermeiden, hauptsächlich, weil dies die Menschen an Alkaloide wie LSD und Psilocybin denken lässt. Salvia Trips variieren in ihrem Charakter, abhängig von Set, Setting und Dosierung, aber generell gesagt sind es traumartige, visionäre Erfahrungen.

Über die Qualität dieser Erfahrungen läuft eine lang anhaltende Diskussion. Von den einen werden sie als chaotische Zustände des Gehirn beschrieben, als irreale Halluzinationen. Andere beschreiben sie dagegen als wertvolle Verfassungen des Bewusstseins, aus denen zu lernen ist. Gibt es so etwas wie einen Trick um die Erfahrungen so zu übersetzen, dass sie in Leben und Alltag hilfreich sind?

Salvia divinorum species from Oaxaca (Mexico). Photographed at the Conservatory of Flowers in San Francisco

Salvia ermöglicht Zugang zu Teilen der Psyche, die sich normalerweise außer Reichweite befinden. Aus diesem Grund lernen viele Menschen oftmals etwas über sich. Um das zu ermöglichen ist es sehr wichtig, während der Erfahrung fokussiert und achtsam zu bleiben. Die Bilder und Szenen die auftauchen sind häufig bedeutungsvoll. Nicht immer ist diese Bedeutung sofort zugänglich, dann hilft es abzuwarten und nach der Sitzung das Erlebte zu reflektieren. Es kann hilfreich sein bereits kurz nach dem Abklingen eine Zusammenfassung aufzuschreiben. Salvia kann nützlich sein, gerade wenn es um die Einsicht in den weiteren Lebensweg oder Freundschaften geht.

Aber sind die Einsichten nicht manchmal überwältigend? So dass die Nachricht gar nicht zu extrahieren ist?

Ja, das kann vorkommen. Häufig ergibt das Material was nach oben kommt keinen Sinn. Das kann aus mehreren Gründen passieren: Fehlende Reife, fehlender Fokus, zu viel Ablenkung, mangelnde Vorbereitung, fehlende Erfahrung, um einige Beispiele zu nennen.

Wenn Sie die Vorteile von Salvia mit anderen therapeutischen Optionen vergleichen müsstest, mehr über sich und die Welt zu erfahren, was wäre Ihr Fazit? Kann man die Gefahren eines Salvia-Trips mit anderen Therapien vergleichen?

Ich bin eigentlich nicht qualifiziert diese Frage zu beantworten, denn ich weiß nicht viel über Psychotherapie. Ich weiß, dass Menschen tiefe Einsichten während eines Salvia-Trips haben und das sie sich danach oft vitalisiert und mental erfrischt fühlen. Sicherlich kann Salvia vielen Menschen helfen, vorausgesetzt Set, Setting und Dosierung stimmen. Aber ich würde es nicht jedem empfehlen. Obwohl es viel Potential hat ist der Nutzen von Salvia als therapeutisches Werkzeug kaum erforscht.

In einem Interview mit Hans-Christian Dany, Autor eines lesenswerten Buches über Amphetamin, behauptet dieser, dass es gute Gründe geben kann, unter den falschen Umständen nüchtern zu bleiben. Dany denkt dabei an das kapitalistische System, in dem Drogen wie Speed zur Kontrolle der Gesellschaft beitragen. Ist dies ein Argument, welches sich aus deiner Sicht auf den Salvia-Konsum übertragen lässt?

Ich denke die sozial-ökonomischen Bedingungen haben wenig damit zu tun, ob eine Person sich entscheidet Salvia zu nehmen oder nicht. Salvia ist keine Eskapisten-Droge, im Gegenteil, es ist ein Philosophen-Instrument. Es motiviert die Menschen das eigene Leben zu betrachten und positive Veränderungen herbeizuführen. Der gezielte und gelegentliche Einsatz von Salvia kompromittiert nicht die Fähigkeit ein gesundes, produktives Leben zu führen, geschweige denn ein fruchtbares Mitglied der Gesellschaft zu sein.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

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Drogenpolitik Interviews Interviews Psychoaktive Substanzen

Interview mit dem Buchautoren Hans-Christian Dany über die Rolle von Amphetamin in der modernen Gesellschaft

Telepolis v. 21.04.2008

Der Körper geht sich selbst

Interview mit dem Buchautoren Hans-Christian Dany über die Rolle von Amphetamin in der leistungsorientierten Gesellschaft

Der Hamburger Autor Hans-Christian Dany hat eine lesenswerte Geschichte des Amphetamins vorgelegt. Darin beschreibt er die wirtschaftlichen und kulturellen Hintergründe einer Droge, die als Stimulanz bis heute eine wichtige Rolle sowohl in der medizinischen Anwendung wie auch im illegalen Gebrauch spielt. Seiner Meinung nach konzentrieren sich in dem kristallinen Beschleuniger die Sehnsüchte des leistungsorientierten und geschwindigkeitsverliebten 20. Jahrhunderts. „Speed“, wie Amphetamin gemeinhin genannt wird, ist aus dieser Sicht eine Droge der Disziplinierung, um den Anforderungen des Fordismus gerecht werden zu können. Dany, Jahrgang 1966, spricht im Interview über die Droge der Nazis, den motorisierten Geschwindigkeitsrausch der Beatniks, das Wachbleiben als Hilfsmittel der Kunst und systemstabilisierende Drogenbenutzer.

Frage: Amphetamin erlebt seine erste Blütezeit als Asthmamittel mit Namen Benzedrine in den USA der frühen 30 Jahre. Wie kam es zu dieser erster Konjunktur?

Hans-Christian Dany: Benzedrine erweiterte wirkungsvoll die Bronchien und half gegen Asthmaanfälle. In der Zeit der großen wirtschaftlichen Depression erreichte das neue Produkt aber schnell weitaus mehr Menschen als es Asthma-Kranke gab und wird zu einem Antreiber für den ökonomischen Aufschwung.

Lässt sich vergleichbares im europäischen Raum feststellen?

Zunächst entwickelte ein Franzose das erste europäische Amphetamin, aber auch die Deutschen wollten unabhängig von den Lieferungen des Wundermittels aus den USA werden.

Aber Deutschland galt doch als Apotheke der Welt.

Ja, aber in dem Fall lagen die Deutschen zunächst hinten, sollten durch ihren Willen zu einer rohstoffabhängigen Alternative aber rasant aufholen. Kunststoffe waren im an Rohstoffen armen Dritten Reich, dass plante die Welt anzugreifen, ein zentrales Thema. Perlon oder synthetischer Treibstoff wurden mit Blut und Boden zusammengedacht. Vor diesem Hintergrund entwickelten deutsche Wissenschaftler auch ein Recylingverfahren um aus Industrieabfällen Methamphetamin herzustellen. Ein Produkt das Ende der dreißiger Jahre unter dem Namen Pervitin auf den Markt kam.

Und von den Temmler-Werken in großen Mengen hergestellt.

Zielrichtung des zivilen Projektes war zunächst ein Alternativprodukt zu dem erfolgreichen Benzedrine, auf den Markt lanciert wurde das Ergebnis dann eher als leichtes Antidepressiva und Gegenrauschgift. Man nutzte es als Substitutionsmittel bei Alkoholismus, Opiat, und Kokainabhängigkeit. Pervitin war ein Versuch den Drogenmarkt unter Kontrolle zu bekommen.

Und landete schließlich bei der Wehrmacht.

Die war hellhörig geworden und testete das neue Wundermittel. Während der Blitzkriege wurden innerhalb weniger Monate 29 Millionen Dosen von Pervitin ausgegeben. Teilweise nahmen die Soldaten ihre Methamphetamin-Rationen aber auch von der Front mit nach Hause und schenkten es ihren Frauen. Etwas Chanel Nr. 5 und ein paar rote Kapseln aus Paris. Nach dem Krieg bekamen dann Kinder die Reste des Pervitins aus dem väterlichen Sturmgepäck, um in ihren Not-Abituren gut abzuschneiden.

Der „Generalluftzeugmeister“ Ernst Udet war abhängig von Amphetamin, auch andere Nazi-Größen nahmen Drogen in hohen Mengen, bekannt ist Görings Morphinaffinität. Wurde das innerhalb der Gruppe nie problematisiert?

Die Nationalsozialisten agierten in dieser Hinsicht widerspüchlich. Einerseits wurde im Zuge ihres Krieges gegen Rauschgift der Alkoholkonsum gebrandmarkt, andererseits zeigen die Statistiken einen Anstieg des Konsums im Dritten Reich. Daneben galt, was auch heute noch gilt: Solange man in bestimmten Strukturen funktioniert, wirft einem ja niemand den Drogenkonsum vor.

Funktionieren tat zeitgleich auch die junge Schauspielerin Judy Garland.

Garland sang 1938 in den USA 16-jährig unter starkem Amphetamin-Einfluss „Somewhere over the Rainbow“. Bei Garland ging es dem Werksarzt der Filmfabrik darum den Körper der pubertierenden Darstellerin auf die Figur der 10-jährigen Dorothy in „Wizard of Oz“ herunter zu hungern. In der damaligen Faszination für die technologischen Möglichkeiten von Drogen schien die Medizin kein Problem bei der Behandlung von Kindern zu haben. Die bis heute
verbreitete Form Behandlung von Kindern mit Amphetamin hatte sogar schon früher angefangen: 1937 erprobte Charles Bradley erstmals die Medikation unkonzentrierter Kinder mit Speed. All das macht die enorme Geschwindigkeit deutlich mit der das erst 1933 auf den Markt gekommene Präparat zu den Verbrauchern gebracht wurde. 1937 erhalten es erstmals Kindern, 1938 singt Garland den ersten Amphetamin-verstärkten Superhit und 1939 marschiert die deutsche Wehrmacht unter Amphetamin-Einfluss in die Blitzkriege.

Benzedrine Werbung von 1945
Benzedrine Werbung von 1945

Und es geht weiter: 1947 schreibt Jack Kerouac „On the road“, einen Klassiker der Speed-Literatur.

Die militärische Erfahrung des Amphetamin-gestärkten Geschwindigkeitrausches dringt nach dem 2. Weltkrieg in Zivilleben eine. Es ist ein neuer Weg, Mensch und Maschine bis zum äußersten zu treiben. Die industriell-kapitalistische Ordnung liefert die Voraussetzungen dafür, den Menschen als optimierbares Teilchen eines großen Apparates zu betrachten. Speed fördert die Dressur des Einzelnen im Gefüge der Maschine. Erst in den 70er Jahren sollte es zu einer Krise dieser Sichtweise kommen. Die Grenzen des Wachstums werden diskutiert. Aber die Skepsis war nur von kurzer Dauer, schon in den 80er Jahren kommt es zu einem Comeback der technischen Verbesserungsvorstellung des Menschen, ein Bild, in dessen Rahmen wir bis heute leben. Das Bewusstsein für den Preis, der für diese technologische Idee von Fortschritt gezahlt werden muß, ist zwar größer geworden, aber die Alternativen sind nicht gegenwärtig.

Und die Beatniks um Kerouac und Konsorten haben, so schreibst du, eher ihren Egoismus gefrönt als politische Verhältnisse ändern zu wollen?

Vielleicht kann man sich heute nicht mehr vorstellen, was individuelle Freiheit und Optimierung damals bedeutet haben. Schon länger ist diese Haltung der beschleunigten Bedürfnisbefriedigung problematisch geworden, weil es eines der letzten Versprechen ist, die die Gesellschaft zu bieten hat: Wie kann ich aus meinem eigenen Leben das maximale rausholen? Dazu kommt die Verherrlichung von Technologie als Freiheitsbegriffs. Das haben die Beatniks auf romantische Weise verkörpert.

In den 60er Jahren folgten die Hippies. Deren Verhältnis zu Speed war ambivalent. Speed galt als unnatürliche Droge.

Der berühmte Slogan „Speed kills“ wurde damals in Haight Ashbury geprägt. Dahinter steckte, neben der konkreten Angst vor der Übertragung von Hepatitis, eine Technologieskepsis. Drogen dienen aber auch als Vehikel zur sozialen Unterscheidung. Die Hippies kamen vornehmlich aus der Mittelschicht und wollten sich von der Arbeiterklasse und dem „White trash“ unterscheiden. Sie wollten kultivierter Drogen nehmen. Und das böse Speed galt und gilt bis heute als Droge der armen Leute.

Andy Warhol evozierte als „Fabrikdirektor“, wie du ihn nennst, zur gleichen Zeit mit Hilfe von Speed eine Art Dauerhysterie in seinem Umfeld.

In einem permanenten Ausnahmezustand sollten massenhaft Ideen freigesetzt werden. Jeder einzelne sollte sich als Subjekt bis zum Äußersten in den Produktionsprozess einbringen.

Kann das klappen, kreative Schübe durch Speed?

Für die moderne Kunst spielt das Kreative nur eine nachgeordnete Rolle. Warhol oder andere Kunstbewegungen der sechziger Jahre, wie auch vieles was in den Zusammenhängen von Punk oder Techno entstand – kulturellen Bewegungen die ohne Speed kaum vorstellbar wären, verstanden sich bewusst antikreativ. Da ging es darum Energien zu bündeln, sich reinzusteigern, Gedanken extrem zu fokussieren und rückhaltlos auf den Punkt zu zusteuern. Die Ausgangsidee kann dabei ganz banal sein, man muss es halt nur mit der Letztgültigkeit isolieren und behaupten. Das braucht Zeit, in der man einfach wach sein muss. Häufig ist es weniger der Einfall die Leistung, sondern deren Behauptung. Warhol, dem selten was einfiel, ließ sich Ideen von anderen flüstern und hat sie dann auf die Spitze getrieben.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen seiner repetitiven Kunst und Amphetamin?

Auf Amphetamin zeigt sich bei vielen Benutzern das Phänomen des „punding“. Das ist die Faszination für Monotonie und Wiederholung. Deshalb entstanden unter Einfluss von Speed vielleicht soviele wunderbare Bild für die fordistische Revolution, deren Grundgedanke – die Wiederholung des immer gleichen Handgriffs am Fließband – sich durch den Gebrauch einer Droge übersteigert.

In den 80er Jahren kommt es dann zur Nutzung von Drogen auf breiter Ebene. Eine weiteres Amphetamin-Derivat, nämlich MDMA, ist hier Vorreiter.

Mit Ecstasy kommt es zur endgültigen Normalisierung chemischer Rauschmittel, wie wir sie heute kennen. Bevölkerungskreise unterschiedlichster sozialer Schichten haben ja heute Drogenerfahrung, wozu die Techno-Bewegung Anfang der 90er Jahre viel beitrug. Sie hat vorgeführt, wie Drogen als Spaß- und Arbeitsfaktor zusammen gehen. Lange schien Drogenkonsum ein „Außerhalb“ darzustellen; so fühlen sich ja heute noch manche Drogenbenutzer. Dem ist ja gar nicht mehr so.

hc-danyWozu werden Drogenkonsumenten dann heute noch verfolgt?

Um Migration zu kontrollieren, nicht gezahlte Steuern einzutreiben, geopolitische Interessen zu verpacken oder um die Eigentumsverhältnisse an Technologien zu wahren. In Thailand wurden vor fünf Jahren in wenigen Wochen über zweitausend Amphetamin-Schieber von der Polizei erschossen, die im Prinzip die gleichen Wirkstoffe verkaufen, die Pharmaunternehmen herstellen, um Medikamente auf den Markt zu bringen. Die United Nations lobten damals Thailands Drogenpolitik mit dem Argument: Kinder hätten das Recht in einer drogenfreien Umgebung aufzuwachsen. Auf Novartis, den Hersteller von Ritalin, werden solche Maßnahmen aber nicht angewendet.

Wie müsste Drogenpolitik aussehen, wenn sie nicht Kontrollpolitik sein will?

Dazu müssten sich die gesamten Verhältnisse des kapitalistischen Systems ändern. Die Tendenz geht aber eher dahin immer mehr Technologien – und Drogen sind eben auch eine Technologie – als Eigentum zu deklarieren. Es soll ja nicht nur Kontrolle über Drogen, sondern beispielsweise auch über landwirtschaftliche Produkte mittels Patente garantiert werden. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Letzlich kommt man immer wieder auf den gleichen Punkt: nicht die Drogen sind das Problem, sondern die Umstände, in denen sie genommen werden.

Du schließt das Buch mit der Ansicht, dass es gute Gründe gibt, nüchtern zu bleiben. Warum?

Was ich damit zu beschreiben versuche ist die aktuelle Konjunktur bestimmter Drogen – zu denen ich auch den Hanf zählen würde – in einer Welt fremdbestimmter Arbeit. Drogen – legale, wie illegale fügen sich einfach erstaunlich gut in die Mechanismen der Kontrollgesellschaft ein. Wobei nicht die Drogen, bei denen es sich ja zunächst nur um Technologien handelt, das Problem sind, sondern wie sie vom Machtapparat mißbraucht werden. Da wird versprochen, man könne damit funktionieren. Dagegen zu funktionieren spricht viel, insofern gibt es gute Gründe in den falschen Umständen nüchtern zu bleiben.

 

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Drogenpolitik Interviews Interviews Psychoaktive Substanzen

Interview mit Hans Cousto von Eve & Rave

 

HanfBlatt

TECHNO, TANZEN, TÖRNEN, FICKEN – WEGBEREITER DER EKSTASE

Ein Interview mit dem Mathematiker, Musiker („Die kosmische Oktave“) und vor allem Eve & Rave-Urgestein Hans Cousto

Hanfblatt: Seit wann gibt es Eve&Rave?

Hans Cousto:  Im Sommer 1994 entwickelten ein paar Raver in Berlin die

Idee von Eve & Rave. Auf wöchentlichen Treffen wurde das Konzept

entwickelt. Am 27. September 1994 wurde das Konzept und die

„Party-Drogen-Broschüre – Safer Use“ im Rahmen einer Pressekonferenz im

E-Werk in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt. Am 12. Oktober 1994

wurde der Verein Eve & Rave zur Förderung der Party- und Technokultur

und zur Minderung der Drogenproblematik offiziell gegründet.

 

Hanfblatt: Wie finanziert sich der Verein?

 

Hans Cousto:  Vor allem sind zwei Einnahmequellen zur Finanzierung der

Arbeit von Eve & Rave zu nennen: Beiträge der Mitglieder (Schüler und

Studenten DM 5.- pro Monat. Erwerbstätige DM 10.- pro Monat) und

Spenden (Eve & Rave Verein, Kto. Nr. 5809907009, Berliner Volksbank,

BLZ 10090000). Die Arbeit der Mitglieder von Eve & Rave Berlin ist nach wie

vor ausschliesslich ehrenamtlich. Dies gilt auch, von ganz wenigen

Ausnahmen abgesehen, für alle Eve & Rave Vereine.

 

Hanfblatt: Was kann man bei Eve&Rave machen?

 

Hans Cousto:  Die Augabenbereiche sind vielfältig. Das Organisieren,

Aufbauen und Betreuen von Informationsständen an Parties wie auch das

Planen und Durchführen von Fortbildungskursen für Mitarbeiter und

Szenemultiplikatoren sind zentrale Aufgabenbereiche bei Eve & Rave.

Hinzu kommt das Erstellen von Informationsmaterialien, die Gestaltung

von Internetseiten, die Bearbeitung der Post und E-mails und das

Veranstalten von Parties.

 

Hanfblatt: Und seit wann bist du dabei?

 

Hans Cousto: Ich bin Gründungsmitglied von Eve & Rave.

 

Hanfblatt: Wie bist du als menschliches Wesen Hans Cousto dazu gekommen, dich

ausgerechnet drogenpolitisch zu engagieren, in den trüben Ozean der

Drogenpolitik zu tauchen, und dann auch noch von der Seite aus, die die

Verhältnisse nicht gerade im Sinne der herrschenden Meinung betrachtet, und

von daher mit staatlichen finanziellen Segnungen zu rechnen hätte?

 

Hans Cousto: Prinzipell: Ob ich Haschisch rauche oder nicht, ob ich Zauberpilze esse

oder nicht oder ob ich LSD geniesse oder nicht, diese

Entscheidung will ich frei nach eigener Überzeung treffen. Diese

Entscheidung betrifft nur mich. Sie betrifft grundsätzlich keinen

anderen Menschen. Diese Entscheidung treffe ich für mich nach

individual-ethischen Prinzipien auf Grund meiner Erfahrungen und

Erkenntnisse betreffend der Wirkungsweise dieser Substanzen.

Das Recht ist die verbindliche Ordnung des Verhaltens,

das der Einzelne gegenüber anderen äussert. Das Recht reguliert

menschliche Beziehungen. Mein Drogenkonsum betrifft nur mich.

Nur ein Verhalten, das die Rechtsgüter anderer Menschen oder einer ganzen Gruppe unmittelbar

beeinträchtigen könnte, kann strafwürdig sein.

Nur solange sich das im Gesetz verankerte Recht, insbesondere das Strafrecht,

auf die Regelung menschlicher Beziehungen nach Massgabe sozial-ethischer

Prinzipien beschränkt und nicht, wie das beim Betäubungsmittelgesetz der Fall ist,

die Gebote der individuellen Sphäre oder gar der individual-ethischen

Grundprinzipen tangiert, ist gewährleistet, dass die

praktizierte Gesetzestreue nicht unwürdig entartet, wie das Wüten des

Strafrechts in totalitären Staaten (der Stalinismus in der Sowjetunion,

der Volksgerichtshof im III. Reich, u.s.w.) oder das Wirken der Inquisition

der römisch-katholischen Kirche (Hexenverbrennungen, Bücherverbrennungen).

Also, erstens bin ich nicht bereit, die durch das heutige

Betäubungsmittelgesetz bedingten freiheitlichen Einschränkungen

individueller Lebensgestaltung zu tolerieren oder gar zu akzeptieren,

und zweitens sehe ich die freiheitlich-demokratische Grundordnung durch

das Betäubungsmittelgesetz gefährdet. Darum setze ich mich politisch für

eine grundlegende Änderung dieses Gesetzes ein.

Generell: Das Betäubungsmittelgesetz gibt vor, die individuelle als auch

die öffentliche Gesundheit zu schützen, wirkt sich aber in der Realität

als gesundheitsschädigend aus. Bezugnehmend auf das

Betäubungsmittelgesetz wurde z.B. bis in die 90er Jahre hinein die

Abgabe von sterilen Spritzen an Fixer be- und verhindert. Dies

begünstigte nicht nur den Gebrauch bereits verwendeter Spritzen, sondern

nötigte die Fixer zum gemeinsamen Gebrauch ihrer Sprtzen. Dadurch haben

sich Tausende mit HIV infiziert, sind Tausende an AIDS erkrankt und

Tausende in jungen Jahren verstorben.

Bezugnehmend auf das Betäubungsmittelgesetz wurde z.B. auch in vielen

Städten die Einrichtung von Fixerstuben verhindert, obwohl seit langem

bekannt ist, dass die Überlebenschancen nach einer Überdosierung in

einer Fixerstube bei weitem grösser sind als in einer Privatwohnung. In

Deutschland geschehen 70% der Todesfälle, zumeist durch eine

Atemdepression bedingt, in Wohnungen, dem gegenüber ist weder in

Deutschland noch in der Schweiz jemand nach einer Überdosierung in

einer Fixerstube verstorben, da dort beim Auftreten einer Atemdepression

rechtzeitig Hilfe geleistet werden kann. Auch hier haben die

drogenpolitischen Hardliner Menschenleben auf dem Gewissen.

Heute wird z.B. in Deutschland das Drug-Checking, die chemische Analyse

von auf dem Schwarzmarkt erhältlichen Drogen und die Veröffentlichung der

Testergebnisse, be- und verhindert, was die Vergiftungsgefahr von

Drogenkonsumenten erhöht. Allein diese drei Beispiele offenbaren

deutlich, dass das Betäubungsmittelgesetz von der Grundstruktur her

nicht geeignet ist, die individuelle als auch die öffentliche

Gesundheit zu schützen. Deshalb ist das Grundkonzept der

Betäubungsmittelpolitik zu überdenken und neu zu strukturieren.

Zum letzten Punkt betreffend der finanziellen staatlichen Segnungen sei

hier angemerkt, dass ich etliche Drogenberater, die ihren Lohn

von staatlichen Institutionen beziehen, kenne, die leider aus Angst ihren

Arbeitsplatz zu verlieren, nicht sagen was sie denken oder was ihrer

Erfahrung und Überzeugung entspricht, sondern sich in

selbstverräterischer Weise zu opportunistischen Formulierungen verleiten

lassen. Nicht zuletzt trübt eben dieser Opportunismus den Ozean der

Drogenpolitik!

 

 

Hanfblatt: Eve & Rave war ein Phänomen früher Technopartystunden, sozusagen der

intellektuelle Extrakt des Technofeierspirits zum Verein gefasst, die

Botschaft: Friede, Freude, Pillentesten (Drug-Checking). Du als Veteran der

Bewegung kannst sicher auf eine bewegte Vergangenheit zurückblicken. Wie hat

sich die Technoszene und ihr Genussmittelgenuss über die Jahre gewandelt und

wie veränderte sich Eve & Rave?

 

Hans Cousto: Vorweg: Ich gehe immer noch gerne feiern, liebe es nach wie vor

nächtelang zu tanzen und dabei mit anderen die ekstatischen Gefühle der

Lebenslust zu geniessen. Dies gelingt mir vor allem in kleineren Klubs,

die eher der alternativen Szene zuzurechnen sind, da sich hier auch

heute noch häufig Partyfamilies mit einer ausgeprägt reifen Partykultur

treffen. In grossen komerziellen Klubs – ich denke, dies gilt nicht nur für

Berlin – kann es einem jedoch leicht passieren, dass man zwischen

Tausenden von sich modisch präsentierenden Schaulustigen und TänzerInnen

so wenig wahrgenommen wird, dass man nicht selten auf dem Dancefloor

angerempelt wird und so auf äusserst unangenehme Weise aus der Ekstase

herausgerissen wird. Die merkantilistische Vereinnahmung grosser Teile

der Technoszene hat einen unübersehbaren kulturellen Flurschaden

hinterlassen, so dass viellerorts die Voraussetzungen für echtes

Partyfeiern nicht mehr gegeben sind, ja vielerorts ist die Kunst des

gemeinsamen Geniessens erschreckend schnell verwelkt und verdorrt.

Der Gebrauch psychoaktiver Genussmittel entwickelt sich von Szene zu

Szene sehr unterschiedlich. In bestimmten Kreisen wird sehr bewusst mit

den psychedelischen, die Seele erhellenden und ästhetischen, die

Sinneswahrnehmung betreffenden Wirkungen verschiedener Pflanzen und

synthetischer Substanzen experimentiert. Hier trifft man oft auf Leute,

die in subtiler Weise unterschiedliche psychoaktive Substanzen

miteinander kombinieren, so dass ein ausgewogenes Wirkungsprofil zur

Entfaltung kommen kann und die Genussfähigkeit beflügelt wird. In

anderen Kreisen hingegen werden vor allem die Drogen konsumiert, die in

den Massenmedien unter reisserischen Überschriften hochstilisiert

werden. Ecstasy – weil es einfach gemäss Medien dazugehört – und viel

Speed, Amphetamin, zum Durchhalten, in letzter Zeit auch immer mehr

Methamphetamin, da auf Grund der Gewöhnung normaler Speed kaum noch eine

Wirkung hervorrufen kann. Für das Ego werden dann noch ein paar Nasen

Kokain reingezogen, und da man auf Dauer ein solches Übermass an

Aufputschmitteln nicht mit Genuss aushalten kann, wird der entstandene

Frust mit reichlich Alkohol ertränkt. Auf dieses Gebrauchsmuster trifft

man vor allem in kommerziellen Klubs, wo die Schönlinge aus der

sogenannten „High Society“ sowie jene, die den Schein erwecken wollen,

sie gehörten auch dazu, verkehren.

Um der Verwahrlosung der Genusskultur bezüglich Drogen und Rausch in

gewissen Kreisen entgegenzuwirken, wäre es sinnvoll, in Schulen das Fach

Drogen- und Rauschkunde einzuführen. Hier sollte nicht nur ein

theoretischer Unterricht anvisiert werden, sondern auch den jungen

Menschen die Möglichkeit geboten werden, im Rahmen von professionell

geführten praktischen Übungen eigene Erfahrungen zu sammeln. Ein solcher

Unterricht wäre sicherlich für viele Menschen ein wertvoller Beitrag zum

Erlernen einer kompetenten Drogenmündigkeit. Da jedoch das

Betäubungsmittelgesetz in der heute rechtskräftigen Fassung einen

derartigen praktischen Unterricht verbietet, ist eine Änderung dieses

Gesetzes eine unabdingbare Notwendigkeit, um der Verwahrlosung der

Drogenkultur entgegenzuwirken.

Die Verbotspolitik vermochte weder die Verfügbarkeit bestimmter

Substanzen noch die Nachfrage nach denselben einzudämmen. Einige

Untersuchungen zeigten sogar, dass eine verstärkte Repressionspolitik

eine beschleunigte Verbreitung des Drogenkonsums nach sich zog. So haben

z.B. in der welschen Schweiz mehr Jugendliche und junge Erwachsene

Erfahrungen mit illegalisierten Drogen als in der deutschsprachigen

Schweiz, obwohl oder vielleicht gerade weil in der welschen Schweiz der

polizeiliche Verfolgungsdruck auf Drogenkonsumenten wesentlich grösser

ist als in der deutschsprachigen Schweiz.

Nun zu Eve & Rave: Nebst Förderung der Techno- und Partykultur sind

Aufklärung und Informationsvermittlung nach wie vor Leitmotiv der

Tätigkeit der Eve & Rave Vereine. Früher konzentrierte sich das

Betätigungsfeld hierfür vor allem auf Informationsstände an Parties,

heute gewinnt das Internet immer mehr an Gewicht in diesem Bereich.

Mehrere Eve & Rave Vereine betreuen eine Homepage, wobei die

Schwerpunkte der Inhalte sich unterschiedlich entwickelten. Eve & Rave

Schweiz konzentriert sich vor allem auf Drug-Checking (in der Schweiz

völlig legal) und Substanzinformationen (http://www.eve-rave.ch), Eve &

Rave Münster auf „safer use“ und Szeneinformationen

(http://www.eve-rave.de), Eve & Rave Berlin auf Technokultur,

Drogenrecht und Drogenpolitik (http://www.eve-rave.net). In Kassel

konzentriert man sich nach wie vor auf die vor Ort Arbeit in Klubs, die

Homepage von Eve & Rave Kassel ist im Aufbau (http://www.eve-rave.org).

Die Kölner sind noch nicht im Netz, dafür noch immer auf Parties

präsent. Das kulturelle und drogenpolitische Engagement wird durch die Vernetzung

mit anderen Vereinen wie Eclipse e.V Berlin und Projekten wie

Drug-Scouts in Leipzig, Alice in Frankfurt am Main oder dem

Party-Projekt in Bremen im bundesweit tätigen Sonics Netzwerk

koordiniert.

 

Hanfblatt: Siehst du Chancen, dass legales Drug-Checking einmal so selbstverständlich

werden wird wie Kiffen, Spritzentausch, Oktoberfest und Koksen auf dem

Reichstagsklo? Wohin wird und will sich Eve & Rave bewegen?

 

Hans Cousto: In den Niederlanden ist Drug-Checking schon lange so selbstverständlich

wie Spritzentausch. In der Schweiz hat ausser Eve & Rave auch die

Stiftung Contact in Bern mit dem Project-e (Drug-Checking an Parties mit

mobilen Labor vor Ort) positive Erfahrungen gemacht. In Österreich führt

der Verein Wiener Sozialprojekte mit dem Projekt Check-it mit grossem

Erfolg ebenfalls seit Jahren chemische Analysen von Partydrogen vor Ort

an Parties durch. Die Testresultate werden im Internet dokumentiert

(http://www.checkyourdrugs.at). Auch in Belgien ist ein grosses

Drug-Checking-Programm im Aufbau. Auf Dauer wird sich auch Deutschland

trotz seiner vornehmlich repressiv-konservativ ausgelegten Drogenpolitik

nicht mehr gegen vernünftige Lösungsansätze zur Schadensminimierung im

Umfeld der Drogenkonsumenten verschliessen können. Zum Leidwesen der

Betroffenen kommt in Deutschland die Einsicht des Gesetzgebers bezüglich

der Notwendigkeit einer Legalisierung vernünftiger Massnahmen in der

Drogenpolitik oft reichlich spät. Die Spritzenabgabe wurde erst 1992 und

die Fixerstuben erst 2000 legalisiert!

 

Hanfblatt: Was ist das Geheimnis von MDMA? Warum wird es allen Unkenrufen und

Horrormeldungen zum Trotz immer noch beliebter?

 

Hans Cousto: MDMA verstärkt das Auftreten wie auch das Empfinden von Gefühlen. Die

eigenen inneren Gefühle werden angeregt und stärker wahrgenommen. Darum

bezeichnet man MDMA auch als Entaktogen von griechisch en gleich innen und gen gleich

erzeugen und lateinisch tacto, ich fühle, ich empfinde. Des weiteren wird die

Wahrnehmung der Gefühle anderer Menschen ebenfalls angeregt. Darum

bezeichnet man MDMA auch als empathische Droge. In einer gefühlsarmen

rein leistungsorientierten Gesellschaft ist das Bedürfnis nach einer

Gefühlsdroge gross.

 

Hanfblatt: Gibt es neue psychedelische Highlights bei den JüngerInnen der Tanzkultur,

auf die man sich schon mal geistig-moralisch vorbereiten sollte?

 

Hans Cousto: Biogene Substanzen, also pflanzliche Stoffe, werden nicht nur in der

Technoszene immer beliebter. Der Garten der Natur ist reichhaltig und

vielfältig. Vor allem Zauberpilze, aber auch Ayahuasca, ein

Pflanzentrunk mit den Wirkstoffen Harmalin und DMT, werden heute von

weit mehr Leuten als psychoaktive Stimulans geschätz als dies vor ein

paar Jahren der Fall war. Zauberpilze und Ayahuasca wurden von Schamanen seit

alters her bei rituellen Zeremonien eingesetzt. Somit kann man hier auf eine lange

Tradition aufbauen, die es zu pflegen gilt und auf einen grossen

Erfahrungsschatz zurückgreifen, den es zu vermitteln gilt.

 

Hanfblatt: Wie geht man am besten an psychoaktive Substanzen heran, ein kurzer,

knackiger Tip vom Fachmann?

 

Hans Cousto: Erst informieren, dann konsumieren. Neue Substanzen nie alleine nehmen,

sondern nur in Begleitung von einem oder mehreren Menschen, zu denen man Vertrauen hat

und die bereits Erfahrungen mit dieser Substanz haben. Vor

dem Mischkonsum sollte man auf jeden Fall erst die Wirkungsweise der

einzelnen Substanzen gut kennen lernen.

 

Hanfblatt: Schon fast seit Anbeginn der Technobewegung wird behauptet,

Techno sei eigentlich schon lange tot. Wann ist Techno tot und was kommt

dann?

 

Hans Cousto: Derzeit ist Techno eine gelebte Kultur – und das geniesse ich. Ich kann

weder den „Tod“ von Techno voraussehen, noch kann ich sagen was danach

kommen wird.

 

Hanfblatt: Was haben Sex und Drogen und Tanzmusik miteinander am Hut?

Hat das was mit Leitkultur zu tun?

 

Hans Cousto: Ein Mantra ist ursprünglich eine magische Formel der Inder, die als

wirkungskräftig geltender Spruch durch ständige Wiederholung Erlösung

herbeiführt. Der englische Punk-Musiker Ian Dury setzte mit seinem Song

„Sex and Drugs and Rock’n’Roll“ ein ausgeprägt rhythmisch betontes

Mantra in die Welt, wobei er durch die stetige Wiederholung der Worte

„Sex and Drugs and Rock’n’Roll“ in einer eingängigen Melodie eine

magische Wirkung bewirkte, die so manchem neue Dimensionen des Glücks

ebnete. Über Jahre hinweg erinnerte ich mich immer wieder an diesen Song

und er ging mir oft minutenlang durch den Kopf. Im Wandel der

kulturellen Vorlieben prägte sich mir wie aus dem Nichts auf dem

Dancefloor ein neues Mantra ein, das im 4/4-Takt simultan zu Technomusik

über Stunden durch den Kopf kreisen kann:

Techno, Tanzen, Törnen, Ficken – Wegbereiter der Ekstase!

 

az

 

 

Lesetips:

H. Cousto: „Techno – Eine neue Kultur mit alten Traditionen. Vom Urkult

zur Kultur – Drogen und Techno“

2. erweiterte Fassung, Berlin 2000 (im Netz bei http://www.eve-rave.net)

1. Aufl., Nachtschatten Verlag, Solothurn 1995; ISBN 3-907080-10-6

H. Cousto: „Drug-Checking – Qualitative und quantitative Kontrolle von Ecstasy und anderen Substanzen“

Nachtschatten Verlag, Solothurn 1997; ISBN 3-907080-23-8

 

 

Adressen von Eve & Rave:

Berlin: Eve & Rave e.V. Berlin, Postfach 450519, D-12005 Berlin

(http://www.eve-rave.net)

Kassel: Eve & Rave e.V. Kassel c/o Beate Marx, Gottschalkstr. 31,

D-34127 Kassel

(http://www.eve-rave.org)

Köln: Eve & Rave NRW e.V. c/o Ralf Wischnewski, Postfach 250349, D-50519

Köln

Münster: Eve & Rave Münster, Schorlemerstr. 8, D-48143

(http://www.eve-rave.de)

Eve & Rave Schweiz, Kronengasse 11, Postfach 140, CH-4502 Solothurn

(http://www.eve-rave.ch)

 

Kategorien
Drogenpolitik Interviews Interviews Psychoaktive Substanzen Übermensch

Interview mit Psychologen Wulf Mirko Weinreich über das Bewusstseinsmodell von Ken Wilber und die Zukunft der Drogenkultur

Hanfblatt Nr. 112, März 2008 „

Eine integrale Drogenpolitik wäre weit von einer generellen Drogenfreigabe entfernt!“

Interview mit dem Psychologen Wulf Mirko Weinreich über das Bewusstseinsmodell von Ken Wilber, dessen Anwendung in der Suchttherapie und die Zukunft der Drogenkultur.

Der US-Forscher Ken Wilber hat ein Erklärungsmodell für das Bewusstsein entwickelt, das verschiedenste philosophische und psychologische Ansätze integriert. Dadurch kommt er zu einem räumlichen Modell, dass im wesentlichen aus drei Elementen besteht: Quadranten, Ebenen und Zuständen. Quadranten sind die unterschiedlichen Bereiche, die jedes Ding ausmachen. Danach besitzt alles (ja, alles) eine Außenseite, nämlich den Körper, und eine Innenseite – das individuelle Bewusstsein. Zugleich steht dieses „Objekt/Subjekt“ in einem kollektiven Verbund, nämlich einem kulturellen und einem systemischen. Klingt kompliziert, ist aber ein einem Beispiel ganz einfach zu begreifen: Ein Mensch hat immer ein ganz persönliches Bewusstsein, zu dem nur er Zugang hat. Dieses ist mit seinem Gehirn als körperlichem Ausdruck verbunden. Zugleich ist kein Mensch allein auf der Welt, sondern er ist in das kollektive Bewusstsein seiner Kultur eingebunden. Der äußere Ausdruck seiner Gesellschaft findet sich in ihren Systemen und Institutionen wieder, wie beispielsweise der Wirtschaft und dem Verkehrswesen.

Und nun kommts: Keiner dieser Bereiche lässt sich auf einen anderen reduzieren, es gibt von allen Dingen also immer vier Aspekte, „vier edle Wahrheiten“, wie es im China-Restaurant heißen würde. Die Auswirkungen dieser Sichtweise sind phänomenal, denn nun es ist möglich, die seit Jahrhunderten propagierte Trennung zwischen Körper und Geist beizulegen: Das sind nach Wilber nur zwei Seiten der gleichen Medaille.

Quadranten nach Wilber
Quadranten und Ebenen nach Ken Wilber

Nun kann man einwenden: „Ja aber ein Stein, hat der auch ein persönliches und gar kollektives Bewusstsein? Die Anwort lautet „Ja“, wenn auch auf einer sehr niedrigen Ebene. Damit kommt man schon zur nächsten Annahme (nicht nur) Wilbers, daß die Evolution nämlich eine Richtung hat, hin zu mehr Bewusstheit. Ein Stein hat, so weit wir wissen, sehr sehr wenig Bewusstsein, eine Pflanze schon etwas mehr, weil sie auf ihre Umwelt reagieren kann, und dass ein höheres Tier recht viel Bewusstsein hat, wird wohl niemand bestreiten wollen. Aus diesem Beispiel wird aber auch ersichtlich, dass die Quadranten in Wechselwirkung zueinander stehen: je komplexer der Körper, desto komplexer ist auch das Bewusstsein. Und weil sich Atome, Moleküle, Zellen, höhere Lebewesen und Menschen zeitlich nacheinander entwickelt haben, spricht Wilber von Entwicklungsebenen, wobei jede folgende die vorherige integriert: Eine Zelle kann ohne Atome und Moleküle nicht sein.

Auch das menschliche Bewusstsein im Speziellen hat sich bis heute über mehrere deutlich unterscheidbare Ebenen entwickelt. Das Bewusstsein der Urhorden war archaisch, die Stämme hatten ein magisches, die frühen Hochkulturen ein mythisches Bewusstsein. In unserer Gesellschaft dominiert die rationale Ebene, die vom wissenschaftlichen Weltbild geprägt ist. Sie wird jedoch immer mehr von der pluralistischen Postmoderne („alles geht“) abgelöst. Wilber hofft für die Zukunft auf eine neue, integrale Bewusstseinsebene.

Jeder Mensch durchläuft die oben genannten Ebenen während seines Lebens. O.k., manche werden nie erwachsen, wie es so schön heißt, sie bleiben auf einer vorrationalen Ebene stehen. Die Mehrheit aber schwingt sich im Laufe des Lebens bis zu der Stufe auf, auf der der Großteil der Gesellschaft steht und die Wilber daher das „Durchschnittsbewusstsein“ nennt. Wer weiter will, wird durch den Magneten der sozialen Kontrolle zurück gehalten, wer hinterherhinkt, wird durch den Magneten der gesellschaftlichen Anforderungen nach oben gezogen.

Das dritte wichtige Element in Wilbers Bewusstseinsmodell sind die Bewusstseinszustände. Diese leitet er ganz einfach von den drei natürlichen Bewusstseinszuständen Wachen, Träumen und Tiefschlaf ab. An die letzen beiden können wir uns normalerweise nach dem Aufwachen nicht erinnern. Doch sind Wilber zufolge außergewöhnliche Bewusstseinszustände nichts anderes als ein wacher Zugang zu den Welten, die wir im Traum oder Tiefschlaf erleben. Auslöser für außergewöhnliche Bewusstseinszustände können extreme Lebenserfahrungen, spirituelle Techniken, aber auch psychoaktive Substanzen sein.

Zustände nach Wilber
Zustände nach Ken Wilber
Und nun kommts: Diese psychoaktiven Substanzen lassen sich recht elegant im Wilberschen Modell von Ebenen, Quadranten und Zuständen beschreiben. Nehmen wir nur einmal die Wirkung von Cannabis in den vier Quadranten: Zum einen haben wir den Konsumenten, der sein Wohlbefinden steigert und einen bestimmten, inneren, allein ihm zugänglichen Zustand erreicht. Zum anderen verändern sich dadurch seine Körper- und Hirnaktivität. Cannabis wirkt aber zugleich im kulturellen Quadranten, intersubjektiv, sozusagen. Hier wird ausdiskutiert, welche Bedeutung die Substanz für die Gesellschaft hat. Wohlgemerkt sprechen wir hier von der Innenseite, da durch Kommunikation gegenseitiges Verständnis erzeugt wird. Von außen betrachtet schafft Cannabis aber auch eine gesellschaftliche Infrastruktur (Headshops, Firmen, Polizeieinheiten, usw.): Das ist der untere rechte Quadrant.

Was nun Cannabis und andere psychoaktive Substanzen sonst noch mit dem Menschen aus der Sicht dieses Modells anstellen, darüber handelt das folgende Gespräch mit dem Psychologen und Suchttherapeuten Wulf Mirko Weinreich. In seinem Buch „Integrale Psychotherapie“ hat er das Wilbersche Modell für die psychotherapeutische Praxis umgesetzt, im März diesen Jahres wird er auf dem „Welt Psychedelik Forum“ in einem Vortrag die psychedelische Erfahrung im Kontext dieses Modells erläutern.

Frage:
Legt man das Modell Ken Wilbers zu Grunde, wirken psychoaktive Substanzen zum einen in den Quadranten, zum anderen auch im Bewusstsein des Menschen auf besondere Weise. Wie würden Sie die Wirkung von „Drogen“ zunächst einmal auf der subjektiven Ebene erklären?

Antwort:
Das hängt natürlich ganz von der Art der Substanz ab. Die lassen sich ja grob in drei Wirkungsrichtungen einteilen: die anregenden „Upper“, die beruhigenden „Downer“ und die Psychedelika. Es gibt auch noch ein paar Zwitter, wie MDMA und Cannabis.

Drogenwikrungen

Alle Substanzen, die auf dem Upper-Downer-Pfeil liegen, scheinen vor allem unser normales Tagesbewusstsein zu verändern, wobei die Upper bei den meisten Menschen deutlich Ich-stärkend wirken, die Downer eher Ich-auflösend. Um es extrem zu illustrieren: Man vergleiche dafür nur mal den typischen Kokainbenutzer mit dem typischen Heroinkonsumenten. Ganz anders dagegen wirken die Psychedelika, die es ermöglichen, das normale Tagesbewusstsein einschließlich des Ichs weitgehend zu transzendieren und in außergewöhnliche Bewusstseinszustände einzutauchen. Das Ich verstehe ich hier als individuelle psychische Struktur, also den Teil des Bewusstseins, der dafür sorgt, daß wir morgens beim Aufwachen immer noch wissen, das wir die gleiche Person sind wie gestern.

Frage:
Und wovon ist abhängig, ob die verschiedenen Substanzen einen positiven Aspekt in das Leben des Konsumenten einbringen?

Antwort:
Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass es nichts Negatives in unserem Universum gibt. Positiv und negativ sind menschliche Bewertungen, die einfach davon abhängen, ob etwas intelligent oder unintelligent eingesetzt wird: „Das Messer in der Hand eines Mörders ist etwas anderes als das Messer in der Hand eines Arztes.“ Selbst Heroin als die verrufenste Droge entfaltet als Morphium bei Schmerzpatienten ihr positives Potential.

Frage:
Intelligenter Einsatz ist also abhängig von der Kompetenz, der Motivation und vom Kontext?

Antwort:
Richtig. Psychoaktive Substanzen können uns die Möglichkeiten unseres eigenen Bewusstseins zeigen, oder auch, was uns fehlt. Sie können also Wegweiser sein – für dauerhafte Veränderung braucht man andere Methoden, wenn man nicht im Kreislauf der Sucht landen will. Ich benutze bei meinen Patienten gerne ein Bild: „Stell Dir vor, Du sitzt in einer dunklen Einzelzelle. Und dann nimmst Du eine Droge, die Fensterläden gehen auf, Du siehst die Sonne, den Himmel, eine Landschaft ohne Grenzen et cetera. Die Droge lässt nach – die Fensterläden schließen sich und Du sitzt wieder im Dunkeln. Um dauerhaft nach draußen zu kommen, hilft nur eines: Du musst Deinen Hintern bewegen!“ Und „Hintern bewegen“ ist für mich nur ein anderes Wort für Selbst-Entwicklung.

Frage:
Das zielt auf den transformatorischen Aspekt, der ja nicht immer erwünscht ist. Die meisten der Konsumenten wollen ja eher eine kurzzeitige Entspannung oder Erregung ihrer Lebenslage.

Antwort:
Die meisten Menschen benutzen psychoaktive Substanzen für Dinge, für die sie eigentlich nicht da sind: zur Gefühlsregulation, zur Problembewältigung, für Kontakt und Abgrenzung und so weiter. Das geht am wahren Potential der Substanzen vorbei. Sich nur entspannen zu wollen, das ist psychologisch gesehen, wie mit dem LKW Brötchen holen fahren – ein Fahrrad hätte es auch getan – beispielsweise Sex oder eine Phantasiereise. Aus integraler Sicht ist der transformatorische Aspekt natürlich der interessantere, wobei Transformation durchaus auch Spaß machen darf.

Frage:
Aber wie benutzt man psychoaktive Substanzen korrekt?

Antwort:
Der Hauptunterschied zwischen der hedonistischen und der transformatorischen Verwendung ist das Setting und vor allem die Aufmerksamkeitsausrichtung. Im ersten Falle agiert der Konsument in der Außenwelt und nimmt sich selbst nur am Rande wahr. Im zweiten Falle liegt die Aufmerksamkeit ganz auf der Selbstbeobachtung: Was verändert sich wie in Körper und Bewusstsein während der Wirkzeit? Erst dadurch können die Substanzen ihr volles Potential entfalten – und der Anwender kann lernen, in diese Zustände ohne chemische Hilfe zu kommen. MDMA kann das Wesen der Liebe zeigen, LSD ermöglicht spirituelle Erfahrungen. Aber natürlich ist in MDMA keine Liebe und in LSD keine Transzendenz enthalten – das ist alles im Bewusstsein des Anwenders. Ob jemand nun fähig ist, eine Substanz als Wegweiser zu benutzen, oder hedonistisch oder sich sogar nur zudröhnt, hängt natürlich von seiner persönlichen Reife ab – was integral gesehen nichts anderes als seine individuelle Bewusstseinsebene ist. .
Um mal ein Beispiel zu bringen: 1985 habe ich einen Beutel Marihuana geschenkt bekommen. Das war natürlich ein Schatz in der DDR, den man nicht so einfach wegpaffen konnte. Also habe ich mir immer wieder Settings überlegt, wie ich das meiste da rausholen konnte. Z.B. mehrere Runden den gleichen Weg durch ein Stück Straße und Park gehen, jedes Mal mit einem anderen Musikstück im Walkman und dabei beobachten, wie sich die eigenen Gefühle und der visuelle Eindruck je nach Musikstück änderten. Jedes Mal habe ich mir irgendetwas einfallen lassen, was ich erforschen wollte. Die einzelnen Experimente fanden immer im Abstand von mehreren Wochen statt. Nach 10-12 Malen hatte ich das Gefühl, alles gelernt zu haben und Marihuana wurde uninteressant. Nach der Wende habe ich noch ein paar andere Substanzen kennengelernt, mit denen es mir genauso erging: Ein paar Mal ausprobieren, lernen, wie ich den Zustand willentlich ohne Substanz herbeiführen kann – und Tschüß.

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Frage:
Und die Gefahr der rein entspannenden Herangehensweise liegt worin?

Antwort:
Die hedonistische Haltung verführt sehr zur eigenen Passivität und dazu, immer öfter immer mehr zu nehmen. Das verändert den Konsumenten auch – aber eher in regressiver Weise. Es ist für mich zum Beispiel erstaunlich, dass die meisten Patienten in meiner Klinik schon zig „Pappen“ eingeworfen, aber noch nie das volle Potential von LSD erlebt haben. Sie sagen, es sei schön bunt gewesen –von der wahren Natur des Bewusstseins keine Spur. Bei anderen Substanzen genau das gleiche. Und sie sind immer ganz platt, wenn ich ihnen zeige, dass sie mit bestimmten Trance-Techniken die gleichen Zustände wie mit ihren Drogen erreichen können.

Frage:
Denkt man dieses Argument bis zum Ende, könnte es zur Legitimation der momentanen Drogenpolitik dienen, da die hedonistischen Nutzer den Zusammenhalt des sozialen Systems gefährden.

Antwort:
Drogen sind meines Erachtens gerade in der hedonistischen Anwendung grundsätzlich systemstabilisierend, da die hedonistische Anwendung nicht zu kritischen Einsichten führt. Anregende Drogen wirken leistungssteigernd, beruhigende Drogen stellen die Leute ruhig – was will der Staat mehr? Das es Gesetze gegen viele psychoaktive Substanzen gibt, hat meines Erachtens weniger mit deren Gefahrenpotential, sondern eher was mit Traditionen und rivalisierenden Lobbies zu tun. Wissenschaftlich lässt sich der derzeitige Zustand jedenfalls nicht begründen.

Frage:
Müssen, um zu einer besseren Anwendung von Drogen zu kommen, zugleich immer auch Veränderungen in allen Quadranten angestoßen werden?

Antwort:
Grundsätzlich käme der notwendige Veränderungsimpuls aus dem kollektiv-inneren Quadranten, nämlich dann, wenn genügend Individuen die derzeit herrschenden Auffassungen in Frage stellen. Das Problem ist, dass diese Diskussion kaum von den reinen Hedonisten ausgeht, obwohl sie in der Überzahl sind. Eigentlich müsste beispielsweise der „Verein für Drogenpolitik“ mehrere Millionen Mitglieder haben – tatsächlich sind es nur einige hundert. Dagegen schafft es die Gruppe von Menschen, die sich für eine transformatorische Anwendung dieser Substanzen einsetzt, allein in diesem Jahr im deutschsprachigen Raum zwei Großkongresse auf die Beine zu stellen – dabei sind das weltweit vielleicht nur tausend Menschen.

Frage:
Der kollektive-innere Quadrant, also das „Wir“, unterliegt in seiner Bewertung von psychoaktiven Substanzen den Zwängen der marktwirtschaftlich-kapitalistischen Gesellschaftsform. Wie kann es angesichts der Konsummechanismen zum Umdenken kommen?

Antwort:
Die Frage verleitet ja fast zu einer allgemeinen Kapitalismuskritik – das spare ich mir hier mal. Integral betrachtet gehe ich davon aus, dass die Evolution einfach weiter geht – also auch die Evolution des individuellen und kollektiven menschlichen Bewusstseins. Daraus folgt, dass sich das Durchschnittsbewusstsein unserer Gesellschaft langsam aber sicher nach oben verschiebt. Damit wird irgendwann sowohl genügend Wissen vorhanden sein, um psychoaktive Substanzen differenziert zu bewerten, als auch genügend Kraft im Sinne von gesellschaftlichem Druck, um aus diesem Wissen konkrete Gesetze entstehen zu lassen. Man braucht also nur etwas Geduld.

Frage:
Wie könnte denn eine integrale Drogenpolitik aussehen?

Antwort:
Lassen Sie mich mal ein bisschen in die Zukunft spinnen: Eine solche Drogenpolitik müsste sowohl die Quadranten als auch die Ebenen beachten. Das heißt beispielsweise, dass restriktive Gesetze für Menschen, die sich mit relativ einfachen Bewusstseinsstufen identifizieren, weiterhin angebracht sein können – in diese Richtung geht ja der Jugendschutz. Dummerweise hört die Differenzierung der Gesetze mit 18 Jahren auf. Nur weil der Körper dann ausgewachsen ist, sind noch längst nicht alle Menschen „erwachsen“. Auch nach dem 18. Lebensjahr gibt es noch Entwicklung, allerdings verlagert sie sich immer stärker vom Körper auf das Bewusstsein in Form von Persönlichkeitsreifung. Es gibt zwar eine Wahrscheinlichkeit, dass ältere Menschen auch reifer sind, das ist aber kein linearer Zusammenhang. Das heißt, dass Erwachsene gleichen Alters nicht alle auf derselben Bewusstseinsebene stehen. Ich nenne die Bewusstseinsebene gerne „inneres Alter“ – im Gegensatz zum „äußeren Alter“ des Körpers. Anders ausgedrückt: Menschen über 18 unterscheiden sich nicht nur quantitativ voneinander, indem der eine vielleicht etwas schlauer ist, als der andere, sondern auch qualitativ. Konsequent zu Ende gedacht müssten für jede Ebene eigene Gesetze gemacht werden…

Frage:
… was unter falscher Anwendung leicht zu einem totalitären Staat führen kann.

Antwort:
Als Suchttherapeut würde ich mir Liberalität lieber auf anderen Gebieten denn dem der Drogen wünschen. Psychoaktive Substanzen können zwar durchaus intelligent eingesetzt werden, sind aber nicht wirklich lebensnotwendig. Da ich als junger Mensch auch etwas zur Übertreibung neigte, bin ich ganz froh, als ehemaliger DDR-Bürger erst mit 30 richtig mit dem Thema Drogen konfrontiert worden zu sein. Doch zurück zu einer integralen Drogenpolitik:
Da sich Bewusstseinsebenen derzeit nur relativ aufwendig bestimmen lassen, wäre die einzige praktikable Möglichkeit, den Zugang zu bestimmten Substanzen auch über das 18. Lebensjahr hinaus nach dem körperlichen Alter zu regeln, also Gesetze für 30-, 40- oder 50-jährige zu erlassen. Vielleicht gibt es irgendwann ja mal die Möglichkeit, die Bewusstseinsebene relativ schnell und sicher neurologisch zu bestimmen.

Frage:
Die neurologische Bestimmung wäre ja eine reine Messung im rechten Quadranten.

Antwort:
Wenn Wilber Recht hat, dass alle Phänomene in den inneren Quadranten Korrelate in den äußeren haben, müsste sich die Bewusstseinsebene des Einzelnen auch neurologisch nachweisen lassen. Zielorientierte Bewusstseinstests sind leider sehr anfällig, wie z.B. Assessment-Center zeigen: Nur um die begehrte Stelle zu bekommen, werden die richtigen Antworten von den Anwärtern auswendig gelernt, egal, ob man für den Job geeignet ist, oder nicht. Da bietet der rechte Quadrant einfach die objektiveren Daten, weshalb ja auch das körperliche Alter oft als Kriterium genommen wird. In meiner Zukunftsspekulation wäre ein neurologischer Status nichts anderes, als ein körperliches Kriterium – nur viel differenzierter. Genau genommen wäre es eher eine Form von Leistungsdiagnostik, so wie Schulzeugnisse. Nur dass hier nicht Intelligenz, sondern das allgemeine Bewusstseinsniveau gemessen würde. Leider sind Intelligenz und Persönlichkeitsreife ja nicht identisch, sonst würden es die Schulzeugnisse auch tun. Aber wie gesagt, dass ist nur eine Idee auf der Suche nach einem einfachen, objektiven und akzeptablen Kriterium.

Frage:
Und was hätte man von so einem so differenzierten Kriterium?

Antwort:
So, wie Schulzeugnisse einem Menschen unterschiedliche Rechte verleihen – z.B. die Möglichkeit zu studieren oder eine bestimmte Stellung in der Gesellschaft einzunehmen – so könnte das gleiche für die Bewusstseinsebene in Bezug auf einen differenzierten Zugang zu psychoaktiven Substanzen gelten. Auch wenn es im Moment ungewöhnlich klingt, so gäbe es dann die Möglichkeit, dass Menschen gleichen äußeren Alters aufgrund ihres unterschiedlichen inneren Alters unterschiedliche Rechte hätten. Das könnte z.B. heißen, dass ein Mensch Alkohol trinken darf. Einem anderen – gleichaltrigen – wäre es dagegen verboten, weil man sich aufgrund seiner Bewusstseinsebene nicht sicher sein kann, ob er anderen Leuten unter Alkoholeinfluß nicht den Schädel einschlägt. Aus der Anwendung der Persönlichkeitsreife als Kriterium, ergäbe sich ein ironisches Paradoxon: Derzeit sind Drogen vorrangig ein Jugendthema. Nach dem integralen Modell käme es zu einer Umkehrung: Je älter – besser: je reifer – ein Mensch ist, desto eher würde ihm legaler Zugang zu bestimmten Substanzen gewährt.

Frage:
Ich wüsste aber immer noch gerne etwas mehr über die Auswirkung einer integralen Drogenpolitik auf die kollektiven Quadranten?

Antwort:
Eines hatte ich schon genannt: Eine differenziertere Betrachtung dieser Substanzen in der öffentlichen Meinung und daraus abgeleitete Gesetze. Außerdem müßte eine wirkliche Kultur im Umgang mit psychoaktiven Substanzen entwickelt werden, wie sie viele Naturvölker noch haben. Das heißt, die Menschen müssen lernen, mit diesen hochpotenten Mitteln sinnvoll umzugehen, nicht nur im Party-Setting. Thomas Metzingers Vorschlag für einen LSD-Führerschein geht z.B. in diese Richtung. Im kollektiv-äußeren Quadranten ginge es z.B. darum, außer dem Repressionsapparat eine Infrastruktur zu schaffen, die einen konstruktiven Gebrauch überhaupt erst ermöglicht. Das würde mit einer staatlich kontrollierter Produktion und dem Vertrieb beginnen, um Missbrauch weitestgehend auszuschließen, und vielleicht mit speziellen Forschungslaboratorien enden.
Um hier keine falschen Hoffnungen zu wecken und es ganz deutlich zu sagen: Eine integrale Drogenpolitik wäre weit von einer generellen Drogenfreigabe entfernt! Statt dessen ginge es um einen mit dem integralen Modell begründbaren differenzierten und rationalen Umgang mit diesen Substanzen. Der derzeitige Umgang in der westlichen Welt ist völlig irrational – was einer der Gründe für die Drogenkriminalität ist: Gesetze, die keiner versteht, werden ignoriert. Lediglich Holland versucht da andere Wege zu gehen.
Viele der jungen Leute, die sich heute die Freiheit nehmen, Drogen nach eigenem Gutdünken zu konsumieren, wären auch nach dem integralen Modell von bestimmten Substanzen ausgeschlossen. Verschiedene Drogen, deren Gefahrenpotential nachgewiesenermaßen geringer ist als die des Alkohols und die jetzt noch verboten sind, wären dann aber sicher auch in jungen Jahren schon erlaubt. Das 21. Lebensjahr sollte aber nach meiner Auffassung die absolut untere Grenze sein – Bewusstseinsebene hin oder her. Vorher haben Körper und Geist noch mit der Pubertät zu tun, so dass der Drogenkonsum in 99% aller Fälle nur dazu dient, die damit verbundenen Unannehmlichkeiten zu kompensieren. Vielleicht würde das Konsumalter für Alkohol sogar auf 25 oder 30 Jahre heraufgesetzt. Weitere Substanzen wiederum, deren Sucht und Gefahrenpotential absolut nicht beherrschbar ist, würden sicher für den Normalbürger generell verboten bleiben und wären nur bestimmten, z.B. medizinischen, Anwendungsbereichen vorbehalten. Wenn Evolution nach Wilber eine ständige Zunahme an Differenzierung und Komplexität ist, kann eine zukünftige Drogenpolitik auch nur eine differenzierte und komplexe sein. Im Moment ist das ja oft sehr grob: Die Befürworter sagen „Ja“ und die Gegner „Nein“ – und das wars.

Frage:
Wie sieht es aus mit der integralen Drogenpolitik im rechten oberen Quadranten, die sich mit den objektiven, beobachtbaren Tatsachen beschäftigt? Was können die herkömmlichen Naturwissenschaften leisten?

Antwort:
In diesem Bereich sind natürlich vor allem die Biochemie, die Psychologie, die Medizin und die Neurowissenschaften gefragt, um die Auswirkungen psychoaktiver Substanzen sowohl auf den Körper als auch auf das Bewusstsein des Individuums zu untersuchen. Verrückterweise werden diese Wissenschaften am stärksten von der allgemeinen Drogenprohibition getroffen: Während der Jugendliche auf dem Parkplatz vor seiner Disko das – illegale – Drogenparadies vorfindet, quält sich der interessierte Wissenschaftler von Sondergenehmigung zu Sondergenehmigung. In Wissenschaftskreisen ist allgemein bekannt, dass das Gefahren- und Suchtpotential der Substanzen sehr unterschiedlich ist. Das zeigen auch meine eigenen Ratings bei Konsumenten. Drogenklassifikation

Zu ähnlichen Ergebnissen ist 2007 eine englische Befragung gekommen, die an Ärzten, Polizei- und Justizbeamten durchgeführt wurde, die im Drogenbereich arbeiten. Aus diesen und auch vielen medizinischen Erkenntnissen müsste die Politik nur mal die entsprechenden Schlüsse ziehen.
Was Sie in der oberen Tabelle sehen, sind bloß die negativen Aspekte. Viel spannender wären natürlich die positiven, nämlich das einmalige Potential der einzelnen Substanzen. Der weitaus größte Teil der Untersuchungen, die es dazu gibt, stammt leider aus den 60er Jahren, also aus der Zeit, bevor der „war on drugs“ ausgerufen wurde. Erst in den letzten Jahren gibt es wieder eine nennenswerte Forschung. Diese ist vor allem neurologisch orientiert, versucht also mit bildgebenden Verfahren die Wirkung auf das Gehirn zu untersuchen. Die wirklich spannende Frage ist natürlich, wie eine Substanz zum Wohl der Menschen genutzt werden kann – und da reicht es nicht, die chemischen und biologischen Veränderungen im Gehirn zu untersuchen, sondern auch die Auswirkungen auf Denken, Fühlen und Verhalten.

Frage:
Sie sind ja nun Psychologe und Suchttherapeut, beschäftigen sich also überwiegend mit dem individuell-inneren Quadranten. Wo sehen Sie da Anwendungsmöglichkeiten?

Antwort:
Da ich selbst über 20 Jahre Meditationserfahrung habe, interessieren mich persönlich besonders außergewöhnliche Bewusstseinszustände – also das, was man u.a. auch mit bewusstseinserweiternden Drogen erreichen kann. Unsere Gesellschaft leidet unter anderem ja an einer Sinnkrise. Weder der rationale Materialismus – „Money makes, that the world goes round“ – noch das mythische Christentum sind in der Lage, dieses Loch in den Seelen zu füllen. Erforschung des Innenraumes über Meditation wäre eine Möglichkeit – doch hat nicht jeder die Zeit dazu, sich 20 Jahre lang hinzusetzen. Ein entsprechendes Setting vorausgesetzt, bräuchte es eigentlich nur 45 Minuten, damit einem Menschen deutlich wird, dass Atheismus ein Irrtum ist und auch der christliche Vater-Gott ein bißchen an der Wahrheit vorbei geht – nämlich so lange, wie die meisten oral eingenommenen Halluzinogene brauchen, um zu wirken. Wer jemals die entsprechende Erfahrung gemacht hat, weiß, dass es sich dabei nicht um „Halluzinationen“ handelt, wie uns der Name Halluzinogene weismachen möchte, sondern dass es so ist, als ob einem eine Augenbinde abgenommen wird – und man die Welt zum ersten Mal sieht, wie sie wirklich ist.

Frage:
Wenn man das so hört, wundere ich mich, dass halluzinogene Drogen keinen größeren Einfluß auf das religiöse Leben haben?

Antwort:
Ich finde ihn ziemlich stark. Das ganze vielgeschmähte New Age ist letztlich nichts anderes als ein Nachhall der ersten psychedelischen Revolution in den 60ern: Ein Teil der Jugend machte unter Drogen spirituelle Erfahrungen pantheistischer und panentheistischer Natur. Da unsere Gesellschaft dafür keine Erklärungsmodelle hatte, wandten sie sich in den Osten. Sie suchten nach Erklärungen und nach Wegen, um diese Zustände permanent zur Verfügung zu haben. Das beste Beispiel sind die Beatles, die zu Maharishi Mahesh Yogi gingen, nachdem sie LSD genommen hatten. Das hat letztendlich den Buddhismus-, Zen- und Hinduismus-Boom ausgelöst. Auch die Beschäftigung mit dem Schamanismus gehört dazu. Im Westen bieten die Unitarier bzw. Freireligiösen zwar Erklärungsmodelle im Geiste der Aufklärung, aber keine Erfahrungswege, wie man solche Zustände dauerhaft verwirklichen kann. Letztendlich geht es aber darum, beides zusammenzubringen: Die Wege, um unmittelbare spirituelle Erfahrungen zu machen, sowie Erklärungsmodelle, die möglichst moderne und postmoderne Erkenntnisse mit einschließen sollten, die also einer rationalen oder pluralistischen Bewusstseinsebene entsprechen. Das könnte ein zeitgemäßer Ausweg aus der heutigen Sinnkrise sein. Dank des deutschen Papstes geht es im Moment ja eher wieder zurück in Richtung Mittelalter.

Frage:
Gibt es direkte therapeutische Anwendungen?

Antwort:
Die meisten Therapeuten beschäftigen sich hauptsächlich mit dem Tagesbewusstsein, also dem manifesten ICH. Aus integraler Sicht könnte man es so beschreiben, dass sie psychisch Kranken helfen, eine Bewusstseinsstufe zu erreichen, die die umgebende Gesellschaft für das äußere Alter des Betroffenen für angemessen hält. Dabei wird sehr viel mit Verhaltenstraining, Aufarbeitung der Vergangenheit, Einsicht, etc. gearbeitet, wenig jedoch mit intensiven korrigierenden Erfahrungen. Und gerade da könnten solche Substanzen hilfreich sein, als Wegweiser oder als Katalysator für psychische Prozesse. Z.B. erhielten in den 60ern Alkoholabhängige in Kanada eine einmalige Dosis LSD in einem klinisch-therapeutischen Setting – mit einer bis heute anhaltenden umwerfenden Effektivität. Ich persönlich halte zwar LSD aufgrund von Wirkungsdauer und Intensität gerade bei wenig strukturierten Patienten für ein extrem heftiges Medikament. In letzter Zeit wird der Einsatz von MDMA und verwandten Stoffen bei verschiedenen psychischen und psychosomatischen Krankheiten untersucht, z.B. bei Posttraumatischen Belastungsstörungen. Diese Substanz scheint das größte therapeutische Potential zu haben, bei einem relativ geringen Gefahren- und Suchtpotential. In meinen Gruppen hatte ich z.B. noch nie einen Ecstasy-Abhängigen. Die meisten, die diese Droge hedonistisch einnehmen, kennen sie ja nur im Party-Setting, meist überdosiert, damit sie länger tanzen können und mehr Alkohol vertragen. 95% meiner Patienten haben noch nie den Zustand erlebt, den man vielleicht am besten als „Herzöffnung“ bezeichnen kann, obwohl sie schon hunderte Pillen „geklinkt“ haben. Wenn ich „95%“ sage, ist mir schon bewusst, dass das nicht repräsentativ ist, da Menschen, die eine Therapie nötig haben, diesbezüglich eine Negativ-Auswahl darstellen. Dieser Zustand der „Herzöffnung“ zeichnet sich durch absolute Angstfreiheit, Urvertrauen und Kontaktfähigkeit aus. Dadurch ist es recht leicht möglich, sich mit Traumata auseinanderzusetzen, deren Konfrontation man normalerweise vermeiden würde. Das ist das, was man als Katalysatorfunktion bezeichnen könnte.

Frage:
Kritiker wenden ein, dass es absurd sei, in der Suchttherapie Drogen einzusetzen.

Antwort:
Ich bin mir ziemlich sicher, dass eine einmalige Erfahrung im therapeutischen Setting Süchtigen klar machen könnte, was sie eigentlich in den Drogen suchen, nämlich Nähe, Kontakt, Sicherheit. Viele von ihnen sind ja genau das Gegenteil: Sie sind voller Spannungen, misstrauisch und absolut nicht kontaktfähig. Gerade wenn jemand durch traumatische Erfahrungen oder eine lange Haftzeit emotional total blockiert ist, könnte die Erfahrung dessen, was möglich ist, eine Neuorientierung anstoßen.
Eine andere Möglichkeit ergäbe sich bei der Therapie von Menschen, die eine drogeninduzierte Psychose haben, die nach einem „Horrortrip“ „auf LSD hängengeblieben“ sind, wie man so schön sagt. In der normalen Psychiatrie versucht man das manifeste ICH zu stabilisieren. Als Gegengewicht zur Unordnung, die der Horrortrip im subtilen Selbst dieser Menschen verursacht hat, mag das ganz hilfreich sein – die Unordnung selbst wird dadurch aber nicht beseitigt. Eine wirkliche Heilung von Horrortrips kann meines Erachtens nur erfolgen, wenn man mit therapeutischer Hilfe noch einmal an diesen Platz geht, das heißt, indem man den ursächlichen Bewusstseinszustand jenseits des Tagesbewusstseins noch einmal induziert. Da die meisten dieser Menschen das nicht willentlich hinbekommen, wäre eine Möglichkeit die therapeutisch gesteuerte Anwendung eines Halluzinogens um dann den Schrecken bewusst zu integrieren. Allerdings wären solche Anwendungen sicher Einzelentscheidungen, da nicht alle Patienten fähig sind, aus derartigen Sitzungen die entsprechenden Einsichten zu ziehen. Und es kann ja nicht darum gehen, bestehende Psychosen oder Suchtstrukturen zu verfestigen. Das vorhin erwähnte Beispiel mit den Alkoholikern oder die erfolgreiche Therapie von Heroin-Abhängigen mit Ibogain zeigen, dass die therapeutische Anwendung psychoaktiver Substanzen nicht zu mehr, sondern zu weniger Sucht führt.

Frage:
Das therapeutische-transformatorische Setting, das Sie immer wieder betonen, was ist das besondere daran?

Antwort:
Die Beschreibungen ähneln sich da ziemlich: Statt „Risiko-Mischkonsum“ in großen Mengen werden die Substanzen dort in sehr geringer Dosis und pur verabreicht, dann niemals häufig, sondern nur einmal oder wenige Male in großen Abständen und nach sorgfältiger vorheriger Vorbereitung, statt Lärm ist dort Stille, statt Bewegung ist dort Ruhe, statt um den Kontakt mit anderen Menschen geht es um den Kontakt mit sich selbst. Dazu kommt dann noch eine entsprechende Lenkung durch Fragen, die der Therapeut stellt. Das ist natürlich das genaue Gegenteil vom Party-Setting.

Frage:
Wenn der therapeutische Nutzen so offensichtlich ist, warum wird das aus ihrer Sicht nicht schon längst praktiziert?

Antwort:
Da gibt es mehrere Gründe. Die politischen hatten wir schon. Dann gibt es natürlich wirtschaftliche: MDMA wurde schon 1913 entdeckt. Doch damals gab es noch keine richtige Psychotherapie. Heute, wo man wüsste, was man damit anfangen kann, sind die Patente abgelaufen. Das heißt, dass MDMA für die Pharmakonzerne völlig uninteressant ist, da sich damit kein Geld mehr verdienen läßt. Für andere Substanzen wie LSD und Psilocybin gilt ungefähr das gleiche. Außerdem müssen Vorteile und Nachteile natürlich erst einmal genau erforscht werden – wobei die Risiken der meisten klassischen psychoaktiven Substanzen natürlich bekannter sind als die Nebenwirkungen vieler Medikamente, die die Pharmakonzerne aktuell auf den Markt bringen. Hinzu kommt der alte Streit zwischen Medizin und Psychotherapie: Nur Ärzte dürfen Medikamente geben, auch psychoaktive. Aufgrund ihrer Ausbildung und ihres Auftrages sind die meisten Mediziner allerdings nicht an Medikamenten interessiert, die zu außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen führen – im Gegenteil: Der Mensch soll doch wieder „normal“ werden. Morphium ist okay, das nimmt die Schmerzen und der Patient ist wieder normal. Und Polamidon nimmt den Heroinabhängigen den Suchtdruck, ohne einen Rausch zu erzeugen. Aber MDMA, Ibogain oder LSD? Dabei haben diese 3 Substanzen wenig oder kein eigenes Suchtpotential. Wenn ich all die abhängig machenden Medikamente sehe, habe ich manchmal das Gefühl, dass die meisten Ärzte mehr Angst vor dem Rausch als vor der Sucht haben.

Weinreich

Frage:
Was haben Sie für ein Klientel? Können Sie das genauer beschreiben?

Antwort:
Altersmäßig natürlich eher junge Leute, die meisten aus dem Prekariat. Und wenn ich es nach den Hauptdrogen trennen sollte, könnte ich sagen, ca. 30% Heroin, 30% Kokain, 30% Methamphetamin und 10% THC. Von diesen 100% sind 98% aber auch Raucher und 80% haben ein Alkoholproblem. Oft steht letzteres sogar im Vordergrund.

Frage:
Und das Wilbersche Modell findet Verwendung bei Ihrer Arbeit?

Antwort:
Klar! Daran wird doch eines deutlich: dass Sucht in erster Linie keine Krankheit, sondern eine Entwicklungsstörung ist. Das zeigt sich an den Symptomen in allen Quadranten, z.B. emotionale und kognitive Unreife im individuell-inneren und süchtiges Verhalten und die körperlichen Auswirkungen im individuell-äußeren. An den Grenzen zu den kollektiven Quadranten kommen dann Störungen der Beziehungsfähigkeit und eine radikale Weltsicht im inneren und dissoziales Verhalten wie Beschaffungskriminalität etc. im äußeren hinzu. Normalerweise bekommen wir einfach nicht mit, das das alles zusammengehört, weil wir unsere Aufmerksamkeit aus dem Kontext heraus immer nur auf einen Quadranten richten. Und dann sehen wir entweder den Kriminellen, oder den Süchtigen, oder den Radikalen oder den emotional instabilen Menschen. Das sind einfach alles Symptome, die für eine bestimmte Entwicklungsebene typisch sind, mit der sich die meisten der oben beschriebenen Klienten identifizieren. In der klassischen Psychologie läuft sie unter dem Terminus „Persönlichkeitsstörung“. Der Blick durch die Quadrantenbrille hilft mir, das ganze Paket von Symptomen als ein Ganzes zu sehen und mich nicht an einzelnen festzubeißen. Das heißt, ich versuche nicht nur, den Patienten von seiner Sucht wegzukriegen, sondern ihm auch zu helfen, einen Entwicklungsschritt als ganzer Mensch, also in allen Quadranten zu machen.

Frage:
Ist das Modell für Ihre Patienten denn nicht etwas zu kompliziert?

Antwort:
Ich arbeite da schon mit Vereinfachungen, doch versuche ich ihnen grundsätzlich die Bewusstseinsebenen klar zu machen, vor allem, was es für Vorteile hat, sich da weiterzuentwickeln. Manchmal geht es auch ganz handfest zu. Z.B. lasse ich mich nicht auf rechtsradikale Diskussionen ein, da es dabei meines Erachtens nicht um eine wirkliche politische Meinung geht. Ich mache ihnen einfach deutlich, dass Rechtsradikalität eine Kinderkrankheit des Geistes ist, wie Mumps oder Masern für den Körper. Und dagegen hilft nur eines: Schnell erwachsen werden.

Frage:
Wo sehen Sie denn als nächstes Veränderungen im öffentlichen Umgang mit psychoaktiven Substanzen?

Antwort:
Ich bin mir sicher, dass die psychotherapeutische Anwendung über kurz oder lang kommen wird. Die Forschung in anderen Ländern ist sehr verheißungsvoll. Und spätestens wenn die Krankenkassen mitbekommen, dass sie damit viel Geld und Therapiezeit sparen können, werden sie Druck auf die Pharmakonzerne und die Politiker ausüben, damit die ihre Blockadehaltung aufgeben. Das könnte noch vor einer Liberalisierung des Betäubungsmittelgesetzes kommen.


Personeninfo:
Wulf Mirko Weinreich

geb. 1959, Dipl.-Psych., außerdem Studium der Ethnologie, Sinologie und Religionswissenschaft, schon viele Jahre mit Unterstützung vieler Lehrer und Methoden auf Entdeckungsreise im eigenen Innenraum, seit 1985 therapeutische Arbeit mit Methoden der Humanistischen, Systemischen und Transpersonalen Psychologie im Einzel- und Gruppensetting, mehrere Jahre ehrenamtliche Mitarbeit in einer Drogenberatungsstelle, z. Zt. Gruppentherapeut in einer Fachklinik für Abhängigkeitserkrankungen, Autor des Buches „Integrale Psychotherapie“
Website: http://www.integrale-psychotherapie.de