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Mixed Reisen

Wie München ist

Warum München die Hauptstadt Deutschlands ist

Oktober 2005

Sonnenpfützen schimmern auf Sitzflächen. Ein Cafe in Hamburg, Stühle und Bänke stehen vor der Fensterfront, Linden tröpfeln ihre klebrigen Tränen. Zum Espresso wird ein Glas Wasser gereicht, Tageszeitungen mit Holzhalter liegen auf den Tischen, hier bleibt man sitzen. Frank, ein Dreißiger mit wenig Haaren, hält mit dem Fahrrad an. „Ey, Frank, alter Lappen, was geht ab?“, tönt es fordernd neben ihm. Es ist Mark, ebenfalls in den ersten Zügen der 30, mehr Haare, nicht so dünn wie Frank, aber auch diesen stoppeligen Halbbartwuchs, Cordhemd in blau, alte Jeans, Clocks an den nackten Füßen. „Du bist zu spät“,

„Na und?“,

„Ich freu mich auch, dich zu sehen“.

Ein Aufstehen, ein Fahrradabschließen, ein Zugehen, eine Umarmung. „Erzähl!“

„Was denn?“

„Witzbold, wie war’s in München, du warst fast zwei Jahre dort. Also wie war´s? Wohnen, wo andere Urlaub machen? Oder was?“

„Es sei bei dir anders, aber ansonsten fällt mir auf, dass alle, die diese Frage stellen, ohnehin nur ihre Vorurteile bestätigt oder widerlegt haben wollen. Wer fragt heute schon noch, um dann zuzuhören? Aber ganz abgesehen davon, wie soll man ohne Vorurteile in eine Stadt einziehen? Denn Wünsche hatte ich nicht an die Stadt, ich wusste, es wird gut werden, weißt schon, wie ich meine. Schließlich bin ich es, der da hingeht.“

„Ja, ja, versteh schon, aber einen Batzen von schon mal Gehörtem bringt doch jeder mit in seine neue Bleibe. Normal.“

„Wir haben alles gehört: <München ist ein Dorf>, und <München ist spießig, aber das Umland ist toll>. Bei mir kam noch etwas dazu, das über Vorurteile hinaus ging, nämlich eine Abneigung gegen katholische Lehren und den damit zusammenhängenden Obrigkeitsglauben, der aus meiner Sicht von der Kirche aus seit Jahrhunderten virusartig auf das soziale Gefüge der bayerischen Gesellschaft übergegriffen hatte. Na ja, so ähnlich.
Um es schnell loszuwerden: Und irgendwie war es auch genau so, aber irgendwie war es genau anders. Keine Angst, es folgt jetzt keine differenzierte Abwägung von Gut und Schlecht für München, sondern es folgt eine hemmungs- und erbarmungslose Niedermachung einer Stadt, über der der Materialismus wie eine schwangere Blase hängt und das Licht der funkenden, selbstgenügsamen und daher zunächst immer auch nicht profitorientierten Idee für Jahre und vielleicht Jahrzehnte verdunkelt.“

„Na, das ist doch ein Scherz, es gibt auch in München Künstler und andere Penner.“

„Das war Mal. Gleich zu Beginn unserer Zeit dort ist Louis Marzaroli gestorben, ein Künstler aus Schwabing. Wenn ich traf, warnte er mich vor München. Sicher, das lag auch daran, das er auch privat nicht glücklich geworden war, aber er behauptete steif und fest, dass die künstlerische Szene in München eine reine Chimäre ist, ein potemkinsches Dorf, dass alle voreinander hin- und herschieben. Und selbst in der Vergangenheit lassen sich doch Beispiele der frustrierten Künstler finden. Lies doch mal Erich Kästners „Hausapotheke“, ein unfreiwilliger, aber furchterregender Beweis seiner Unlust am Leben in der Stadt. Ich sah Louis sterbliche Hülle im Krankenhaus, da passte keine Seele mehr rein, die saß am anderen Ende des Universums, so hoffte ich für ihn, bei Pasta und Rotwein, neben ihr eine schöne Frau.“

Die Bedienung, ein Rotwein, ein Astra, ein einparkendes Auto.

„Wie man sich dem Münchner Naturell am klügsten annähert?, fragst du mich. Das kann ich dir sagen, Mark. Mir reicht der Ausspruch: „Mir san mir“, in der freien Übersetzung so etwas wie <Wir haben’s voll raus>. Das ist der Fachausdruck für eine satte, bornierte Selbstzufriedenheit, gepaart mit krachlederndem Humor, immer rauf auf die Schenkel, har, har; Hauptsache wir bleiben subtil wie ein Panzerkreuzer. Ja, wir Bayern sind geschäftstüchtiger, schlauer, gottgläubig noch dazu! Neoliberale mit Hostienzugang, wenn es den Primat des Mammons nicht schon geben würde, für die Münchner müsste er erfunden werden.

Es ist ja auch kein Wunder, das die so satt sind. Die Verfettung der Bevölkerung ist sichtbar, selbst an heißen Sommertagen sieht man sie in den draußen in Restaurants oder Biergärten sitzen, um in praller Sonne schwitzend Schweinsbraten mit Soße zu fressen, dazu ein Liter Bier in sich reinschüttend und einen Krapfen hinterher werfend. Selbstzufrieden schmatzende, rosige Gesichter sind das, völlig mit dem Braten vor ihnen verschmelzende Zentauren, „Jo mei, is das a Hitz heut“ brummelnd, noch echte Stofftaschentücher aus der Hosentasche ziehend, Wildmosers in Herden, oft auch noch in Kostümen, Entschuldigung , Tracht nennt sich das ja, rumlaufend, „Zahlen, bitte“, kleines Trinkgeld an die Kroatin, das wär ja wohl gelacht, erstmal was leisten, „kann froha sein, dass sie hier ist, joa, hier sein darf (!). Lauter gestandener Mannsbilder und dralle Frauen, immer etwas älter wirkend. „Der hat´s geschafft,“ denkt der Mann und seine Denkblase wandert zum Fahrer des glänzenden Vehikels – „und der da nicht“, denkt sein Kind, das so herrlich brav an seiner Hand flaniert, den Fußgänger nachsehend. Da, mit einem sanften Ruck reißt es sich los, geht kurz ein Stück alleine des Weges, wundert sich über alles neu, wie bunt der Rock, wie schwarz der Mann, wie faltig der Opa, wie grün der Halm aus Plattenwegen. „Vorsichtig, da vorn, komm her“: die Mutter ruft, neu andocken, traute Sicherheit oder auch: hiergeblieben (!), du Wildfang, dich ordnen wir schon ein, und unter sowieso. Nachher gehen wir zu den Stoibers, eine Art Doku-Soap in Bayern, da wirst du lernen, wie man gerade bei Tisch sitzt, du Feuerkopf. Ab in den fetten BMW und davon brausend.“

„Ja, Ja, Frank, ich weiß Bescheid. Ein einziges Würgen.“

„Ja, klar, das sind jetzt Überzeichnungen, Mark, aber was tut das gut. Aber ich bleibe dabei: Nach oben buckeln, nach unten treten, so heißt es dort. Die Stadt bewegt sich zwischen genau zwei Polen: Duckmäusertum und Großmannssucht. Hier wollen sich die Erfolgreichen stets von den Erfolglosen unterscheiden. Letztere, und das ist das Neue, machen dieses Spiel auch noch mit. Sie schauen traurig aus der Wäsche, weil sie nicht so viel von diesem nutzlosen Dreck haben. Eine Kultur des Habens liegt wie eine feucht-schwangere Blase über der Stadt. Tropfen für Tropfen sondert sie ihr Sekret ab und alle, die davon lecken, werden mit einem Virus infiziert und der heißt: Neid.

„Was du Neid nennst, ist wahrscheinlich nur Broterwerb. Aber dir ist ja jede kaufmännische Haltung zuwider. Kaufen und Verkaufen, das ist für dich nur ein anderer Name für elegantes Bescheißen. Und Freude an der Arbeit zu haben ist blinde Unterwürfigkeit. Wenn ich nach deinen Tiraden auch mal etwas Sagen darf: der historische Prozess kennt nur eine Konstante: Veränderung, nicht Beharrung. Und die Welt befindet sich, diese Erkenntnis ist mittlerweile offensichtlich auch bei dir angekommen: im Wandel. Und dieser Wandel, ob wir das wollen oder nicht, ist ein ökonomischer. Und er bestimmt das Bewußtsein.“

„Komm mir doch nicht mit der <Welt im Wandel> Propaganda. Das musst du mir erstens nicht erzählen und zweitens: Das ist doch genauso wahr wie die „ewigen Werte“, und die hast du doch noch vor kurzem immer gepredigt, du Wendehammer. Wie denn nun? Dass das ökonomische Sein das Bewusstsein bestimmt, das kommt ja Gott sei Dank nicht von dir, sondern vom dem Mann mit dem Bart, aber auch hier gilt: Umgekehrt wird der zweite Schuh draus. Soll heißen: Wenn ich die Welt als gigantischen Tauschhandel sehen will, dann wird sie mir auch so erscheinen. Man stelle sich die Anwendung dieser Theorie auf alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens vor. Na, vielen Dank. Die Ökonomie unterliegt kulturellen und noch tausend anderen Bedingungen. Kapitalismus ist heute in erster Linie Konsumkapitalismus, im dem es um den Verkauf von aus meiner Sicht meist kranken Lebensanschauungen geht. Und vielleicht ist deine Argumentation vom „ewigen Wandel“ nur eine Bejahung des unablässigen ökonomischen Fortschritts, der auf diese Karte setzt.

Aber darauf wollte ich ja gar nicht hinaus. Das, was ich über München sagte, das gilt immer nur abstrakt, immer nur auf die Münchner als Gruppe bezogen. Sobald ich irgendeinen dieser Klöpse persönlich kennen lernten, stellte er sich als zwar sehr direkter, aber durchaus differenzierte Mensch heraus. Das Problem ist nur: meistens kam er oder sie dann gar nicht aus München, sondern war ein „Zugereister“, wie das so heißt. In knapp zwei Jahren habe ich nur zwei Münchner näher kennen gelernt. Einen Maurer aus Harlaching und eine Tischler und Designer aus dem Glockenbachviertel. Sie waren in München geboren, ich war alarmiert, aber trotz bösen Willens konnte und kann ich beiden Stadt-Vertretern nichts anhängen. Geordneter Bierkonsum, der eine wollte sogar kiffen. „Teert und federt ihn“, rufen da jetzt manche, aber die Drogenpolitik des Freistaates ist ein eigenes Thema, so abstrus, so hinter dem Mond, dass ich nicht weiter darüber reden möchte, weil ich mich nicht aufregen soll, sagt mein Arzt. Das erinnert mich an den Junkie, der aus Bayern flüchtete, der vertrug das Klima noch weniger als den schlechten Stoff.“

Ein Winken, die Bedienung: „Noch ein Bier, äh, bitte.“

„Mir auch noch Eines, bitte.“

„Du also wieder in Hamburg. Und hier ist alles besser, oder wie? Hier, wo man bewusst lässiges rumschlomt, ein Kiffergesicht macht und trotz erstklassiger Connection so Straight wie Rumsfeld ist? Hast du den Heroin-Chic der Schanze vermisst, oder was? Nebenbei, München hat eine Uni mit Zehntausenden von Studenten, du willst mir doch nicht erzählen, das die nicht ändern oder auch nur feiern wollen? “

„Ach, den bleibt kaum was anderes übrig, als sich Strähnchen zu färben. Absurd, die Schweinsteiger-Frisuren. Punk für Arme. Der gesamte Fankult um den FC Bayern lässt sich genau daran festmachen. Da geht’s nicht um die Identifikation mit der Seele bayerischer Spielkultur, sondern um die Identifikation mit dem Bankkonto und dem Pokalschrank des Vereins. Die Motzerei des Publikums ist schlimmer als beim HSV. Aber die Grundstimmung der Stadt ist sowieso wütend. Es ist Wut darüber, noch nicht so erfolgreich zu sein wie die anderen, Wut darüber, dass der Verkehr nicht richtig läuft, Wut darüber, dass die Großkopferten doch machen, was sie wollen. Wollte man München mit einem Ton beschreiben wäre es ein motziger Grunzlaut. „Dammischer Dreck“.

„Ich habe nach den Studenten gefragt. Aber egal, du willst mir erzählen die Stadtbevölkerung pöbelt den Tag so munter vor sich hin – so wie du jetzt?“

„Studenten? Da ist ja dagegen die Christian-Albrechts-Universität in Kiel ein brodelnder melting-pot. Wenn die ohne Schlips in der Jura-Vorlesung erscheinen ist das schon Revolution. Völlig konform. Sie atmen die gleiche Luft. Irgendein Museumsdirektor sagte mal: <Wenn man hier in München etwas gut findet, das unbekannt ist, ist das Gotteslästerung. Und wenn man hier etwas gut findet, was bekannt ist, dann ist es ein Hype. Eine interessante Stadt.>

Aber hör hin, ich habe ein Beispiel: Eine alte Oma führte bei uns um die Ecke in den Straßen ihren Hund Gassi. Wahrscheinlich pinkelte er ihr nicht schnell genug, auf jeden Fall motzte sie ihn die ganze Zeit an: „Du Saubuab, du dammischer Saubuab, jetzt komm hinni, du Saubuab.“ Ihre Tonlage vibrierte zwischen Aggression und Zuneigung, sie konnte ihre Liebe zu dem Tier nur in zeternder Form ausdrücken.“

„Das musste dir doch entgegen kommen.“

„Witzbold, ich pöbel vielleicht auch gerne, vielleicht um meinen Weltschmerz zu befreien, aber in mir wohnt doch keine aggressive Grundstimmung gegenüber den Dingen dieser Welt. Na, sei’s drum. Ich will hier jetzt auch gar nicht den Münchner das Gefühl für’s Schöne absprechen, aber es ist immer alles so brachial. Anstatt sich wie die Leute auf dem Land ihren Ursprüngen bewusst zu sein, denken die Freaks sie wären die Aufsteiger. Bei jedem Fest riecht es nach tumber Bauerntümelei, da vereint sich die motzende Grundhaltung mit kräftiger Fröhlichkeit und heraus kommt bestenfalls eine „zünftige Rauferei“, wie die das dann nennen.

„Du lässt ja kein gutes Haar an der Aktion. Wie bist du denn dort zwei Jahre durch die Gegend gerannt? Erzähl doch Mal was Positives!“

„Schwer, wenn man nicht kitschig werden will. Willst du was über die Landschaft hören, die fruchtbar-furchtbar, unfassbar schönen Berge?“

„Auch, aber lieber was aus der Stadt. Von den Menschen.“

„O.k., was ich sagen kann: Die Dickköpfigkeit der Münchner ist in gewisser Hinsicht charmant, denn sie ist kommunikativer als die Sturheit der nordischen Schlickrutscher. Im Biergarten kommt es schnell zum Erstkontakt mit den Aliens, ich sag’s dir. Das eine Mal saßen wir in einem solchen Garten unter Kastanienbäumen. Die Sonne schien, es war warm, brennend heiß sogar, aber unter den Bäumen war es kühler. Ein paar Metal-Freaks sprachen Tina und mich an. Der eine Langhaarige zeigte sich im Laufe des Gesprächs begeistert über den von uns auf dem Flohmarkt erstandene Salat-Schleuder. Aus seinem gepiercten Mund kam der Satz: „Die meisten Leute wissen ja nicht, dass ein feuchter Salat das Dressing überhaupt nicht richtig annehmen kann.“ He, he.

Ein anderes Mal saß ich alleine im Biergarten des Englischen Gartens, beim Chinesischen Turm. Ein Rentner hatte es sich auf der Bank schon bequem gemacht, es war Nachmittags, die Sonne schien mal wieder und sein Klappfahrrad stand direkt neben ihm. Ich setzte mich zwei Plätze neben ihn, wir schwiegen. Oben auf dem Turm spielte eine Kapelle, in Tracht, weißt du, täterä. Blasmusik, aber auch Interpretationen von bekannten Hits aus den 50ern. Na ja, nach der ersten Maß Bier tippte ich leicht mit den Fußspitzen mit. Der Rentner zog sich seine zweite Maß rein und blinzelte in die Sonne. So verging eine Stunde, vielleicht etwas mehr. Ich war bei der dritten Maß angelangt, die hatte ich aber schon als Radler panaschiert. Kleine Bläschen formten sich über meinem Kopf. Die Band spielte. Langsam wandte sich der Rentner zu mir, grinste, und sagte: „Is’ a herrlich Sach’ heit.“

“Mehr nicht?“

„Mehr nicht. Und ich konnte auch nicht antworten, ich war zu beeindruckt von seiner Weisheit, denn besser konnte man es nicht ausdrücken. Es war herrlich: Sonne, Bier, dazu a Musi; Herz, was willst du mehr?“

„Einfach, aber gut.“

„Gut, weil einfach. So gefallen mir die Bayern am besten.“

„Und dann?“

„Nix dann, irgendwann habe ich mich auf mein Fahrrad geschwungen und bin nach Hause geeiert. Wobei ich keine 100 Meter an der Isar entlang gefahren war, als wieder einer dieser Deppen mich anpöbelte, ich solle auf der richtigen Seite fahren. „Rechtsfahrgebot“, brüllte er. „Rechtsfahrgebot, wenn ich das schon höre, so eine biedere Klugscheißerei.“

„Jetzt kommst du wieder ins Pöbeln.“

„Ach, ist doch wahr. Und weißt du, woran das liegt? Radfahrer sind die ursprünglichen Verlierer in München. Das Auto hat Vorfahrt, wenn nicht nach den Verkehrs-, so dann doch nach den sozialen Regeln. Fahrradwege, so meine Meinung, sind hier und meinetwegen auch anderswo nur Abschiebungsmaßnahmen, nur dazu da, den Fluss der Abgasheinis nicht zu stören. Und um der drohenden Abdrängung ins soziale Abseits entgegen zu treten, bedienen sich die Radler des üblichen bayrischen Tricks: Sie rüsten auf. Hier wird auf technisch hohem Niveau gegurkt, Gore-Tex am Bein, Carbon unterm Arsch, Fleece über den Schultern. Eine ständige Selbstbehauptung. Und ihr Stück Radweg wird dann auch wieder den strikten Regeln unterworfen. „Falsche Straßenseite“, ich weiß nicht, wie oft ich mir das anhören musste, selbst wenn der Radweg zehn Meter breit war. Der Höhepunkt war als mich irgendein Depp sogar im Wald bei Schäftlarn, einem Vorort an der Isar, anpöbelte, ich solle auf ihn auf der richtigen Seite überholen. Ich voll in die Bremsen, brülle: „Was ist denn nun schon wieder, Mann, Leben und Leben lassen, begreift es doch Mal.“

Aber du wolltest etwas Positives hören. Gleich nebenan von unserer Wohnung am Sendlinger Tor öffnete jeden Morgen um 6.15 Uhr Ida ihren Milchladen. Eine Miniatur-Ausgabe eines Geschäftes, aber mit Herz geführt. Mit Edamer belegte, frische Brötchen, Paninis, Nudelsalate, alles von dem Frauenteam dort selbst gemacht. Eine Goldgrube, zurecht. Manchmal, wenn ich im Hinterhof auf dem Balkon saß, hörte ich die Schläge auf das nackte Fleisch der Schnitzel. Mittagstisch. Jeden Nachmittag um 16 Uhr schloss Ida, aber vorher versammelten sich immer ein paar Leute auf der anderen Straßenseite von dem Laden. Ich wunderte mich zunächst, bis ich mitbekam, das Ida und ihre Frauen die Reste des Tages immer an Hilfsbedürftige verteilten. Sie konnten sich aussuchen, was sie wollten und Ida packte es ihnen in genau die gleichen schönen bedruckten Tütchen, die die anderen Kunden erhielten.“

„Dir blieb anscheinend nur eine schmale Lücke zwischen Naturverherrlichung und Ablehnung der Stadtkultur, etwas abgefedert durch Sozialromantik?“

„Vielleicht. München fördert den Kampf alle gegen Alle, die bleibende soziale Ungleichheit wird durch christliches Mitleid und Fürsorge abgedämpft. Es herrscht das Geld, und die Ideale, die kommen später, auch die <leistet> man sich. Ja, ich weiß, was du jetzt sagen willst: <Erst das Brot, dann die Moral>; alles bekannt, aber den globalisierten Kapitalismus gab es doch wahrlich nicht vor dem ersten Erscheinen der Demokratie. Er fußt auf ihr und seine habgierigen Macher sind drauf und dran diese aufzulösen.“

„Ach, Frank, der Humanismus und die Aufklärung ist der geistige Ausfluss eines mit viel Mitteln und wenig Rechten ausgestatteten global kapitalisierten Bürgertums. Das nannte sich Merkantilismus, du Schlaumeier. Und er ist daher nicht ohne Grund in Handelszentren entstanden. Oder auch: Nur weil es schlechte Fußballer gibt, muss ich ja deswegen den Fußball nicht insgesamt Scheiße finden.“

„Es ist wieder nur die halbe Wahrheit, die du da rausstöhnst. Der Humanismus und die Aufklärung sind nur in ihrem bewusstem Rückgriff auf die griechische Philosophie zu verstehen. Muss ich dir das sagen? Und zu deinem Fußballbeispiel: Wenn in den Regeln des Fußballs eine immanente Ungerechtigkeit eingebaut wäre, dann, erst dann, würden wir nicht mehr hinschauen.“

„Die deutsche Wirklichkeit bietet auch in Bayer nachweislich Schwächeren die allergeringsten Aufstiegschancen im Vergleich zu allen anderen, zum Teil viel liberaleren Staaten. Einmal arm, immer arm. Sie ist die Gesellschaft mit den geringsten Geburtenraten. Uns stören die lauten, langweiligen Balgen doch nur. Bei uns sind in 20 Jahren die Hälfte, ich wiederhole: die Hälfte der Menschen über 60 Jahre, also fast alles Rentner. Wir werden ein Seniorenheim. Es gibt noch nicht einmal genügend Kindergartenplätze, die Schulen zerfallen. Bei mir bewerben sich deutsche Abiturienten, die DEVIENITIF der deutschen Sprache nicht mächtig sind – zumindest nicht in schriftlicher Form. Die Wissenschaftler, und zwar nicht nur Gentechniker, verlassen das Land. Ach nö, das ist alles so faktisch, so kalt?“

„Ja, das ist die Form, die ich hören will. Kann ich auch: Dieses Gerede vom Aussterben der Deutschen ist doch hahnebüchen, die sollen doch alle Kinder aus der 3. Welt adoptieren, wenn sie so heiß auf Muttisein sind. Einwanderer rein, heiße Afghanen sollen die 60-jährigen meinetwegen dusselig poppen.“

„Da fällt dir nichts Besseres ein, was? Meiner Meinung nach sind aber nur das die Bereiche, aus denen sich eine Gesellschaft erneuert, und zwar geistig erneuert. Das sind die klassisch-staatlichen Bereiche: Kinder, Jugend, Bildung, Forschung, Lehre. Das gibt es aber hier nicht mehr oder kaum noch. Der deutsche Staat hat dafür kein Geld mehr, weil 6 Millionen Arbeitslose und 20 Millionen Rentner finanziert werden müssen. Und es werden täglich mehr. Und jetzt sag mir bitte nicht, dass das am Neo-Liberalismus liegt. Komm bitte nicht mit dieser verfickten Platte. Lass dir Besseres einfallen, als Antwort auf diese Herausforderung.“

„Für eine Herausforderung müsste ich nachdenken, das hier schüttel ich so aus dem Ärmel. Erstens: Wieder stellst du mich hin, als ob ich gegen Unternehmertum in jeder Form bin. Blödsinn, aber hinter jedem Unternehmer steckt halt eine Idee, weshalb er den Laden aufmacht und führt. Selbstverwirklichung? Gemeinwohlmehrung? Leben, um zu arbeiten? Arbeiten, um zu leben? Oder aber eben Raffung von Geld, weil er dann irgendwann eben doch dem Geist des Kapitalismus erlegen ist; hier definiert als habgieriges Anhäufen von Besitztümern auf Kosten von Menschen und Umwelt. Das ist das Problem. Wer viel arbeitet, soll viel verdienen, auch einverstanden, aber daran krankt es nicht. Es krankt an den egoistischen Geistern in der Gesellschaft, die ihr Wohl über das aller anderer stellen, nur um sich den dritten Porsche zu kaufen.

Bücher und Reagenzgläser kosten Geld, korrekt. Woher nehmen? Aus den Steuern, korrekt. Wer zahlt die? Wir. Wer oft nicht: Die Großkonzerne. Wer hat sie über Jahre veruntreut? Die von uns gewählten Damen und Herren. Was tun? Ehrliche Politiker wählen, geht nicht, gut. Denn auch Sie denken wieder nur an sich oder sind meinetwegen auch nur gefangen im falschen System.“

„Quatsch. Eine Politik, die sich spät, aber nun immerhin hinstellt und sagt: Wir brauchen mehr Arbeit, mehr Arbeitsplätze. Und leider macht die nicht der liebe Gott und die macht auch nicht der Schröder und die Merkel und auch nicht der Fischer, deren Rotweinkeller sind prallgefüllt, sondern die machen Menschen wie Du und ich oder meinetwegen auch irgendwelche Scheißkonzerne. Alles nur damit der Staat zumindest einen Teil seiner Ausgaben finanzieren kann. Und es müssen alle mit weniger auskommen, die die bekommen und denen, denen es genommen wird. Aber es muss erstmal wieder Menschen geben, denen etwas genommen werden kann, um es denen geben zu können, die es brauchen. Ja, das ist alles profan materiell. Aber Scheiße noch einmal: Das ist doch deswegen trotzdem richtig. Es entspricht menschlichen Erfahrungswerten, wenn ich schon nicht mit Kategorien wie Wahrheit kommen darf. Ich kann das doch nicht alles verdrängen, nur weil es mir noch so gut geht und weil mir die Argumentation nicht gefällt. Was wollt ich sagen? Ach ja: So eine Politik finde ich verantwortungsvoll und ehrlich. Und nicht kalt und herzlos, wie mir irgendwelche ahnungslosen ignoranten Spinner erzählen wollen. Leute, die die Wahrheit ignorieren, verdrängen, verdrehen. Leute, die sich dann auch noch anmaßen, moralisch im Recht zu sein. Gerade auf dieser Anklagebank sitzend, finde ich die Standhaftigkeit einer solchen Politik verantwortungsvoll und ehrlich. Aber Du glaubst nach wie vor am Deutschen Wesen, soll die Welt genesen. Na denn Prost, solang es hier noch Bier gibt.“

„Ein weiteres unkonzentriertes Scheinargument gysischer Ausprägung.“

„Aber wie waren wir darauf gekommen? Richtig, es ging um München, für dich wahrscheinlich die neue Hauptstadt des am Neoliberalismus leidenden Deutschlands.“

„Stadt ist immer auch ein State of Mind. Und der kollektive Geisteszustand der Stadt ist ein ewiges Zur-Schau-tragen. Und zur Schau trägt man halt nur Erfolg. Der wiederum bemisst sich hier und auch sonst halt vor allem ökonomisch. Und das, Entschuldigung, wenn ich da jetzt noch mal einhake, empfinde ich als schädlich. Nach München passt dieses Zurschaustellen auch deshalb so hervorragend, weil es historisch eingebettet ist. Erstens in die Architektur: Die Stadt strotzt vor Kulissen und demnach fühlen sich auch alle wie Schauspieler. Ein eitler Maskenball. Zweitens politisch, weil es eine stringente Verbindung vom Wittelsbacher Herrscherhaus, mit so glanzvollen Gestalten wie Ludwig dem Zweiten, über Strauß bis Stoiber gibt. Und der Rest sind Hofstaat, Narren, so wie Mooshammer, und Promis, die den nötigen Größenwahn nur mit ner Prise Koks gebacken kriegen. Es is a Woansinn. Am meisten gefreut hat mich daher der Feinstaub-Alarm. München für ein paar Wochen als Hauptstadt des Rußes in Deutschland. Dabei hatte man sich doch so eine Mühe mit dem Dreck gegeben. Der eine Dreck ins Bahnhofsviertel, der andere ins Hasenbergl. Tja, aber der feine, der ganz feine Dreck, der hat sich halt in allen Ecken der Stadt schon festgesetzt.“

 

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Reine Ruhe statt Radau und Rabatz

Telepolis, 18.10.2005

Nach dem Feinstaub erscheint die nächste EU-Richtlinie am Horizont, die vor allem eine Reduzierung des Verkehrslärms zur Folge haben wird

Die Auflage aus Brüssel ist eindeutig: Der Lärm in den europäischen Ballungszentren soll abnehmen, bis 2008 müssen Maßnahmen entworfen sein, die helfen, dass es hier erheblich leiser wird. Der Bundestag übernahm das EU-Verdikt aus dem Jahre 2002 mit dem Namen EG-Richtlinie über die Bewertung und Bekämpfung von Umgebungslärm (1) erst im Juni 2005. Nun herrscht Zeitdruck. Über die konkrete Umsetzung (2) wird nun gestritten, denn durch welche Maßnahmen der Krach auf den Straßen, Flughäfen und Gleisen abnehmen soll ist unklar.

Zunächst müssen bis 2007 die Lärmbelastungen in 31 deutschen Großstädten, an 12 Flughäfen, den Hauptverkehrsachsen mit mehr als 16.000 Kfz am Tag und einigen Haupteisenbahnstrecken kartografiert werden. Die grafische Aufbereitung dieses Lärms ist aufwändig, die Kosten werden auf mindestens 60 Millionen Euro geschätzt. Einige Städte, wie beispielsweise Bonn, sind mit der Erstellung dieser Schallimmissionspläne (vulgo: Lärmkarten) schon fortgeschritten (3), in den meisten Großstädten – wie zum Beispiel in Hamburg – steht man am Anfang (4).

Sieht man von den Lärmausstößen von Flugzeugen, Eisenbahnen und Industrieanlagen einmal ab, so ist es vor allem der Straßenverkehrslärm, der heute und in Zukunft in die Bürgerohren gelangt. Trotz hoher Spritpreise wird in Deutschland soviel Auto gefahren wie nie, 2004 haben sich der Gesamtverbrauch an Kraftstoffen und damit die klimarelevanten CO2-Emissionen gegenüber 2003 wieder erhöht. In den nächsten zehn Jahren, so die Prognose, wird der Kfz-Verkehr um rund 25%, der LKW-Verkehr um mindestens 50% ansteigen.

Anhand der Lärmkarten müssen in einem zweiten Schritt bis 2008 so genannte „Aktionspläne“ zur Vermeidung und Verminderung von Lärm erarbeitet werden. Schon bei der Erstellung der Karten wird es zu Zeitverzögerungen kommen, korrekte Aktionspläne aber werden die wenigsten Städte bis dahin vorlegen können. Damit steht Deutschland nicht allein da – im Gegenteil: In vielen europäischen Ländern ist die EU-Richtlinie nicht einmal in Fachkreisen virulent.

Die EU gibt keine Grenzwerte vor, die Aktionspläne werden aber überall dort zum Tragen kommen, wo am Tag durchschnittlich 65 dB(A) überschritten werden. Zum Vergleich: Die Lärmkarten von Hamburg und anderen Großstädten verzeichnen regelmäßig einen Straßenlärmpegel zwischen 60 und 65 Dezibel tagsüber.

Wie nun aber den nervenden Rabatz eindämmen? Lärm berechnet sich logarithmisch, zehn Dezibel mehr bedeuten eine Verzehnfachung der Schallenergie, drei Dezibel eine Verdoppelung. Ansonsten gelten die nationalen Vorschriften. Das deutsche Bundes-Immissionsschutzgesetz ( BImSchG (5)) sieht zwar Grenzwerte (etwa für Wohngebiete von 59 Dezibel tagsüber und 49 Dezibel nachts) vor, aber: Dieses Gesetz gilt nur für den Neubau und die wesentliche Änderung von Straßen und Schienenwegen.

Zusammen mit den technischen Maßnahmen ist zunächst eine überdachte Verkehrsleitpolitik Erfolg versprechend. Auf lange Sicht, so sind sich zumindest diejenigen Experten einig, die den Individualverkehr nicht für eine der ehernen Errungenschaften des vergangenen Jahrhunderts halten, mehr aber noch eine Politik, die Verkehr zu vermeiden sucht.

OPA oder 2 OPA?

Spätesten ab 50 km/h, so die Forschung, ist es nicht mehr der Motor, sondern der Reifen, der ein Automobil zum Radaubruder macht. Die Abrollgeräusche der Pneus übertönen das Antriebsaggregat. Die Industrie experimentiert daher seit Jahren mit leisen Reifen und offenporigen Straßendecken, es ist von speziellen Gummimischungen, Radhausabsorbern und „Flüsterasphalt“ die Rede. Zwar sind moderne Reifen durchaus leiser als ihre Vorgänger, noch immer aber stehen Haltbarkeit und Hochgeschwindigkeit im Vordergrund bei Käufern und Entwicklern.Als ein Wundermittel zur Lärmbekämpfung gilt offenporiger Asphalt (OPA). Hierbei verläuft sich der Schall in kleinen Hohlräumen im Straßenbelag. Auf Schnellstraßen und Autobahnen konnten Reduzierungen der Emissionen um bis zu fünf Dezibel gemessen werden, was etwa einem Drittel der Schallabstrahlung entspricht. Unklar ist aber bislang, wie lange der empfindliche Asphalt hält. Ergebnisse aus Kopenhagen, wo die leise Decke verlegt wurde, deuten darauf hin, dass der ohnehin teurere Belag alle sechs Jahre ausgetauscht werden muss, wenn er seine dämpfenden Eigenschaften behalten soll.

Innerorts ist die Verwendung des „Flüsterasphalts“ zudem mit Problemen verbunden. Um einige zu nennen: Die Drainagen für den seitlichen Abfluss von Flüssigkeiten aus der Poren sind in der Stadt bei Straßen mit Bordsteinen sehr teuer, das Auftrennen und der anschließende Neuguss der Asphaltdecke bei Kabelverlegungen oder Kanalisationsarbeiten zerstört die Drainagewirkung, auslaufende Kraft- oder gar Giftstoffe dringen in den Asphalt ein, Salz und Split-Einsatz müssen neu koordiniert werden.

Um Teile dieser Probleme aufzulösen, befindet sich in Augsburg seit August 2003 ein zweilagiger, offenporiger Asphalt (2OPA) in der Testphase. Die obere Schicht gleicht dem normalen Asphalt und lässt keinen Schmutz durch, erst die zweite Schicht schluckt die Roll- und Antriebgeräusche. Laut bayerischen Landesamt für Umweltschutz (6) ist der 2OPA „ein voller Erfolg“. Die Minderung des Verkehrslärms gegenüber den Abschnitten ohne diesen speziellen Asphalt betrüge sieben dB(A). In Ingolstadt wurde der Belag dieses Jahr ebenfalls neu gegossen, eine erste Testmessung ergab laut dem bayerischen Umweltministerium eine Lärmverringerung von sechs Dezibel; das wären 75 Prozent. Ob der 2OPA auch in der Innenstadt eingesetzt werden kann und sollte ist umstritten.

Insgesamt, so schätzt Christian Popp von Lärmkontor (7) in Hamburg, lassen sich die Reifen-Fahrbahngeräusche mit den beschriebenen Maßnahmen langfristig um etwa fünf Dezibel, im Stadtverkehr um etwa drei Dezibel verrringern. Aus seiner Sicht müssen alle Pläne zum Lärmabbau viel deutlicher auf eine Änderung der Geschwindigkeit und die Förderung des Umweltverbundes setzen. Das heißt: zu Fuß gehen, Rad fahren, ÖPNV nutzen. „In Städten muss sich die Kfz-Geschwindigkeit, je nach Bebauungssituation, zwischen 30 und 50 km/h einpendeln.“ Dabei sei darauf zu achten, dass durch eine intelligente Straßenverkehrsführung ein stetiger Fluss des Verkehrs gewährleistet ist. Denn: „Anfahrende Autos erzeugen nun einmal mehr Lärm als gleichmäßig vorbei fahrende.“

Auch der jetzt veröffentliche Bericht des Sachverständigenrates für Umweltfragen (8) beim Bundesumweltministerium sieht ein Autobahn-Tempolimit von 120 km/h und im innerörtlichen Bereich 30 km/h vor. Das Gremium übergab der Bundesregierung ein Gutachten mit einem klaren Fazit: Das Auto schädige trotz aller technischer Fortschritte die Gesundheit weiterhin erheblich. „Die durch den Straßenverkehr verursachten Folgeschäden an Gesundheit und Umwelt“, so die Professoren, „sind nach wie vor unakzeptabel hoch“.

Laut Gutachten sind über 16 % der Bevölkerung nachts Pegeln von mehr als 55 dB(A) ausgesetzt. 15,6 % sind tagsüber Pegeln von mehr als 65 dB(A) ausgesetzt. Ab diesen Werten, darüber ist man sich einig, bestehe ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Nervtötender Krach ist kein Einzelphänomen: 64 % der Bundesbürger fühlen sich durch Alltagslärm belästigt, sagt eine Studie des Umweltbundesamtes.

Die Macht der Spurt-Lobby hat bislang weitere Möglichkeiten der Lärmreduzierung verhindert

Dabei stehen die Alternativen bereit: Öffentlicher Personennahverkehr, Radfahren und der simple Fußgang stehen ganz oben auf der Liste, wenn es um Verkehrsvermeidung geht. Städte wie Zürich wurden durch solche Verkehrsplanungen erheblich befriedet. Die Stadt der kurzen Wege, in der Arbeit, Leben und Wohnen nicht mehr nur durch Autos zusammen geführt werden, ist für die Experten keine Utopie mehr, sondern naheliegendes und notwendiges Planungsziel. Und: Für die beteiligten Städte und Regionen muss die Investition in Lärmschutz nicht nur mit Kosten verbunden sein. Der Standortfaktor „Ruhe“ gewinnt zunehmend an Wert und damit auch der Grundstückswert in ruhigen Lagen. Kostenentlastungen im Gesundheitssystem wären eine weitere Folge von Lärmreduzierung.

Alternative Mobilitätsgarantien fristen nach wie vor ein Nischendasein, Erdgasfahrzeuge und Solarmobile haben auf dem Markt kaum eine Chance, der Hybrid-Antrieb setzt sich nur langsam durch. Die Macht der Spurt-Lobby hat bislang weitere Möglichkeiten der Lärmreduzierung verhindert: Ein Tempolimit auf Autobahnen würde nicht nur den Krach, sondern auch Unfallhäufigkeit und Schadstoffausstoß verringern. Fast scheint es, als ob die gesamte weltweite Automobilindustrie sich am deutschen Vorbild orientiert. Nach wie vor werden vor allem Automobile gebaut, die mit Hochgeschwindigkeit überzeugen wollen.

Für die gesamte Vollgas-Fraktion wäre es ein ökonomisches und psychisches Gräuel, zukünftig eventuell gleich doppelt ausgebremst zu werden: Auf der Autobahn schleichen müssen und in der Stadt sogar nur kriechen dürfen. Das schnelle Auto ist nach wie vor Machtsymbol und seit Jahrzehnten Innitiationsinstrument beim Übergang vom Jugend- ins Erwachsenendasein. Das mit Emotionen beladene Auto wird in der Freizeit heute noch häufiger genutzt als in den 90er Jahren – und auch die Fahrt zum 400 Meter entfernten Briefkasten ist nach wie vor üblich. Dieses Bewusstsein zu verändern, dürfte eine der schwierigen Aufgaben der Zukunft sein.

Zunächst aber wird die EU-Lärmrichtlinie für Krach in den Parlamenten sorgen. Die Aufregung wird sich zwar zunächst in Grenzen halten, denn individuell einklagbar sind diese Grenzwerte vor Gericht nicht. Gleichwohl stehen die Metropolen unter Zugzwang, denn die EU will Verstöße mit hohen Geldbußen ahnden.
Links

(1)
(2) http://217.160.60.235/BGBL/bgbl1f/bgbl105s1794.pdf
(3)
(4) http://fhh.hamburg.de/stadt/Aktuell/behoerden/stadtentwicklung-umwelt/umwelt/laerm/schallimmissionsplaene/altona/start.html
(5) http://bundesrecht.juris.de/bundesrecht/bimschg/
(6)
(7) http://www.laermkontor.de
(8)

Telepolis Artikel-URL: http://www.telepolis.de/r4/artikel/21/21047/1.html

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Mixed Psychoaktive Substanzen

Angst und Schrecken mit Hunter S.

blond, 3/2005

Der Dalai Lama der Furcht

Halluzination und Recherche, Fiktion und Realität: Hunter S. Thompson ist der erste und letzte Mohikaner der Gonzo-Reportage.

(Hier das Original PDF des Beitrags aus dem mittlerweile eingestellten Magazin „blond“)

Die knallharte Pfeife entfaltete ihre Wirkung genau in dem Moment, als wir zu unseren Kino-Plätzen stolperten. Beine von Zuschauern schlängelten sich wie dunkle, verdorrte Wurzeln durch die Sitzreihen, mit einem Bier in der rechten und einem in der linken Hand balancierte ich mit Storchenschritten über die Wurzeln, im Augenwinkel donnerte ein rotes Cabrio durch die Wüste. Noch bevor wir unsere Sitze erreicht hatten sprang Hunter S. Thompson alias Johnny Depp aus dem Chevy, spaddelte Richtung Kofferraum, verjagte ein paar Fledermäuse und inspizierte dann eine beneidenswert gut sortierte Drogensammlung.
Wir sackten hysterisch kichernd immer tiefer in die Sessel, mein erster Schluck Bier spülte drei Minuten meinen Rachen, an Schlucken war nicht zu denken. Die Eingangssequenz von „Fear and Loathing in Las Vegas“ im Jahre 1998 war eine Offenbarung, hielten wir uns doch schon für Kenner des von der Leine gelassenen Wahnsinns, hier aber hatte sich offensichtlich unser Meister ausgedrückt. Es war die erste Begegnung mit dem Totengräber des objektiven Journalismus, dem Erfinder der fiktiv-realen Reportage, dem Dr. Jekyll und Mr. Hyde der Schreiber, kurzum: mit dem teuflischen Gott.

Schreiben, das war für den 1937 geborenen Thompson Anfangs nur „einfacher als Algebra“, wie er sagt. Seine ersten Reportagen verfasst er für das Truppenblatt der Air Force, die Jobs bei Zeitungen und einem Wrestling Newsletter enden meist fatal, seine Südamerika-Tour als freier Autor verläuft eher mau. Hunter ist das relativ egal, solange genug Alkohol fließt und sich ab und zu eine Frau in sein Bett verirrt. In dieser Zeit, er ist gerade 25 Jahre alt, schreibt er seinen ersten und einzigen Roman, der erst jetzt auf Deutsch erschienen ist: „The Rum Diary“. Ein intensives Stück Literatur im Stile von Ernest Hemingway. Freelancer schwitzen unter der Sonne Puerto Ricos, zumeist in einer Bar rumhängend, in der man nur drei Dinge bestellen kann. Bier, Rum und Hamburger.

Zurück in den USA folgt der erste Knall: Hunter Stockton taucht für über ein Jahr bei den Hell’s Angels ein und marodiert mit den Rockern durch den wilden Westen. Seine stark subjektiv gefärbte Erinnerunge vermischen sich mit harter Recherche und Polemiken. Er zitiert ausführlich aus Zeitungsberichten und Akten, nimmt an den Ausfahrten („Runs“) und Gelagen teil und stellt nebenbei die Sensationslust der amerikanische Medien bloß. Der Trip wird zur Blaupause seiner künftigen Arbeit: Vom Rande der Gesellschaft aus beobachtet er deren maroden Kern.
Trotz der Nähe biederte sich Thompson nicht bei den biersaufenden Speed-Outlaws an. „Die kollektive Haltung der Angels war immer eine faschistische“, schreibt er, „ihre politischen Überzeugungen sind auf denselben Retro-Patriotismus begrenzt wie die des Ku Klux Klan und der American Nazi-Party.“ Das Buch über die gefallenen Engel, 1967 veröffentlicht, wird ein Erfolg. Von dem Geld kauft er sich eine BSA 650 Lightning, das damals mit Abstand schnellste Serienmotorrad. Es ist die Ära, von der Thompson bis heute zehrt und die er zugleich nie überwunden hat.

Die cineastische Einführung in die Urgründe des Drogentrips in dem verschmutzten Kino auf dem Hamburger Steindamm zeigte deutliche Parallelen zu den Erlebnissen in den nebligen Schweinekoben (neudeutsch: Clubs), durch die wir uns während der letzten Jahren gerockt hatten. „Fear and Loathing“ passte wunderbar in die verspulten 90er: Die ganze Welt ein Trip, eine Matrix wohlmöglich, und überhaupt: Was ist schon Realität? Egal, vorwärts, hinein ins Vergnügen.
Trotz aller Euphorie war uns im Kinosaal nicht entgangen, dass sich das Publikum in zwei Teile spaltete: Diejenigen, die recht genau nachfühlen konnten wie es Johnny Depp und seinem samoranischen Anwalt bei ihrer Reise erging und diejenigen, die außer einem Alkohol-Vollrausch oder einer Atem-Therapie noch keine außergewöhnlichen Abfahrten durch die Psyche und darüber hinaus erlebt hatten. Die einen brüllten vor Lachen, die anderen schwiegen irritiert.

Sein Faible für Drogen und hippe Randgruppen brachte Thompson schnell mit den Beatnicks und Hippies zusammen. Ken Kesey, Autor von „Einer flog über Kuckucknest“, lud Thompson und die Hell’s Angels auf seine Farm in die Nähe von San Francisco ein. Die Polizei belagerte die Farm, drinnen herrschte seit Wochen der induzierte Ausnahmezustand. Eine intellektuelle Dauerparty war hier und im ganzen Land in Gang, es ging um den Vietnamkrieg, den Weltfrieden, die größtmögliche Bewusstseinerweiterung und letztlich immer auch um das große Ganze. Ein riesiger Traum blies sich auf und schwebte für einige Monate über dem Land. Und Hunter, dem schon schlecht wurde, wenn er nur ein Peace-Zeichen oder florale Muster sah, saß mitten drin.
Zwischen Beat-Poeten wie Allen Ginsberg und Showmastern wie Timothy Leary sonnten sich die Angels in der neuen Aufmerksamkeit, nebenbei gab es natürlich Acid für alle. Wochen später war es vorbei mit der Eintracht, die Angels mischten eine Anti-Vietnam-Demo auf, später boten sie sich in einem öffentlichen Brief sogar als freiwillige Kämpfer in Vietnam an.

Der legendäre „Gonzo-Journalismus“ (span. gonzagas „jemanden verarschen“) entstand kurz darauf aus einer depressiven Phase des jungen Künstlers heraus. Ein Redaktionsauftrag hatte gelautet über das jährliche Kentucky Derby, das wichtigste Pferderennen der USA, zu berichten. Thompson pendelte aber nur betrunken zwischen Hotelbar und Schlafzimmer hin und her und schickte in einem Anflug von Wahnsinn die aus seinem Notizbuch herausgerissen Seiten. Überschrift: „Das Kentucky-Derby ist dekadent und verkommen“. Die Redaktion war verzweifelt, die Leser begeistert: „was für eine Sprache, was für ein Formgefühl“. Ein Mythos war geboren.
Hunter hatte seinen Stil gefunden, eine aggressive, schnelle Sprache, die, wenn sie keine Lust mehr hat zu argumentieren, sich martialischen Bilder bedient. Aus der Tatsache, dass er eine Zumutung für seine Umwelt war wurde langsam ein Geschäft. In seinem Worten: „Wenn du dafür bezahlt wirst verrückt zu sein, dann kannst du so verrückt nicht sein.“ Gut so, war es doch für alle besser, wenn er seine Individualität auf der Schreibmaschine auslebte, als, wie er es selber ausdrückte „in plötzliche Ausbrüchen von frustrierte Gewalt“. Noch heute ballert er gerne mit einem seiner vielen Gewehre auf tibetanische Gongs, die in seinem Garten aufgehängt sind.

ChevySein nie versiegender Zorn wird zusätzlich von dem Glauben gespeist, dass es nach den Morden an Kennedy, Martin Luther King und Malcolm X keine Versöhnung mit Amerika mehr geben kann. Thompson trägt den amerikanischen Traum seit nunmehr dreißig Jahren zu Grabe. Dazu gehört sein Hass auf die Präsidenten, heißen sie nun Nixon, Ford, Reagan, Clinton (in dessen Beraterstab er kurz saß) oder jetzt wieder Bush. In Pamphleten für den „Rolling Stone“ kriegen alle ihr Fett weg. Lange vor Michael Moore attestierte Thompson den USA eine verlogene Politik, eine korrupte Wirtschaft und eine nur auf Konsum geeichte Gesellschaft. Die mit dem System verbandelten Medien und den Journalismus hält er dabei für „eine blinde Gasse zur Kehrseite des Lebens, ein dreckiges, nach Pisse stinkendes kleines Loch, auf Anordnung eines Bauamt-Inspektors zugenagelt, aber noch groß genug für einen Wermutbruder, sich in einer Nische am Gehsteig zu verkriechen und sich einen runterzuholen wie ein Schimpanse im Zookäfig.“

Das war die Sprache die wir hören wollten. Seit „Fear and Loathing“ spukte die Idee in unseren Köpfen rum, mit einer Mischung von Nörgeln auf hohem Niveau und systematischer Breitheit eventuell sogar unseren Lebensunterhalt verdienen zu können. Nüchtern betrachtet bediente Thompson nur unsere infantile Junggesellenfantasien: Ein ungebundenes Leben, die jederzeitige Verfügbarkeit von Uppern, Downer und Heulern, die einen mächtig rauskickten oder – wenn es schlecht lief – zumindest ein inneres Gepöbel verursachten.
Den Höhepunkt dieser selbstvergessenen Lust auf Mehr bildete sicherlich eine Reise nach Asien, bei der ich im karnevalesken Thompson-Outfit (gelbe Sonnebrille, Hawaii-Hemd, kurze Hose, Zigarettenspitze) durch das, na, sagen wir mal „Disco-Viertel“ von Bangkok schwebte, das Hirn mit LSD und Johnny Walker zugeschissen, die Reisekasse aller Beteiligten locker in der Hose tragend, weil „Du der Vernünftigste bist“, wie mir gesagt worden war. Aus dem Hotel waren wir rausgeflogen, denn die Wanne war bis ins Zimmer übergelaufen, im Restaurant fuhren dann die Pappen so heftig ein, dass wir uns mit Basmati-Reis beworfen hatten. Momente ohne Furcht, Schmalspur Rock’n’Roll.

In den Neunzigern trat der Desperado mit kahlrasiertem Kopf auf. Er sah damit, so beschrieb es ein US-Journalist, wie „ein Dalai Lama der Furcht und des Schreckens“ aus. Tatsächlich steigt seine Anhängerschaft in den prüden USA, seine Farm in der Nähe von Aspen, Colorado, ist zur Pilgerstätte geworden. Allzu aufdringlichen Fans verjagt der zornige 68-Jährige in Wildwest-Manier mit dem Schießeisen vom Gelände.

Nachtrag: Hunter S. Thompson erschoss sich im Februar 2005 auf seiner Farm in der Nähe von Aspen, USA.

 

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““Wir nutzen nicht das, was in den Drogen steckt”“

HanfBlatt, November 2004

Interview mit Horst Bossong, dem Drogenbeauftragten der Hansestadt Hamburg

HanfBlatt:

Der neue Hamburger Methadon-Vertrag ist seit einem halben Jahr in Kraft. Wie ist die Entwicklung: Kam es zu einem Rückgang der Neuanmeldungen für eine Substitutionsplatz?

Horst Bossong:

Wir stellen fest, daß seit dem 1. April diesen Jahres die Zahl der Neuanmeldungen erheblich zurückgegangen ist. Dies liegt zum einen daran, daß im Jahre 1995 bis zum 31. März 1996 der „run“ auf die Substitution vehement war. Insofern ist der Rückgang ist also zum Teil erklärlich und nicht besonders aufregend. Auf der anderen Seite muß man sagen, daß sich das neue Verfahren nur schleppend bei der Ärzteschaft, bei den Drogenberatern und den Junkies durchgesetzt hat. Ich gehe aber davon aus, daß sich die Substitution normalisieren wird.

In welcher Hinsicht?

Dass deutlich mehr als nur die Halbtoten in die Substitution kommen, also auch diejenigen, bei denen zwar keine lebensbedrohliche Krankheiten vorliegen, bei denen aber die Beherrschbarkeit der Drogensucht und die Therapierbarkeit von Sekundärkrankheiten wie beispielsweise Hepatitis, anders als durch die Substitution nicht möglich ist und wo nur durch diese eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft möglich ist.

Das wäre dann aber unter großzügiger Auslegung der bundesweit geltenden Methadon-Richtlinien bei gleichzeitiger Beibehaltung der restriktiven Vorschriften. Ist nicht auch an eine Änderung gedacht?

Das Bundessozialgericht hat dem Bundesausschuß Ärzte und Krankenkassen aufgegeben, die Richtlinien zu ändern und weiter als bisher zu fassen. Ich hoffe dementsprechend, daß es auch in Hamburg zügig zu einer realitätsgerechteren Auslegung der Richtlinien kommen.

Inzwischen steht fest, daß ein Teil der Methadon-Empfänger auch andere Drogen zu sich nimmt. Bietet die Behandlung mit Methadon überhaupt einen Ausweg aus der Sucht?

Man muß wissen, daß die Methadon-Behandlung für Junkies nicht der erste in Betracht kommende Therapieversuch ist, sondern die „ultima ratio“, also die Methode, die zum tragen kommt, wenn andere Therapien nicht in Betracht kommen. Dies ist durch das Betäubungsmittelgesetz so festgelegt. Fakt ist: Bundesweit sind diejenigen in der Methadon-Substitution, die schon sehr lange drogenabhängig sind; durchschnittlich zehn Jahre. Wer zehn Jahre in der Illegalität lebt, von dem kann realistischerweise nicht erwartet werden, daß er von heute auf morgen ein geordnetes Leben führt. Dies ist ein Prozeß, der Geduld erfordert. In dieser Zeit gilt es dem Substituierten klar zu machen, wie er seinen Beikonsum reduziert und schließlich ganz aufgibt. Die Erfahrungen im Ausland zeigen, daß das nach einer Zeit bei einem großen Teil gelingt. Andererseits ist auch klar, daß es Leute gibt, bei denen das nicht gelingt. So ist das Leben.

Sind Ihnen die Zahlen bekannt, wieviele Methadon Empfänger noch andere Substanzen konsumieren?

Mehr als die Hälfte der Substituierten nimmt in der Anfangsphase der Substitution zunächst ihre bisher bevorzugte Droge noch weiterhin zu sich. Manche von ihnen fangen an, Kokain oder andere Substanzen zu konsumieren. In der Regel läßt das nach einem halben Jahr nach, dann tritt der Beikonsum nur noch in Krisenphasen auf, also in Phasen, in denen die Gefahr eines Rückfalls in den illegalen Konsum besonders groß ist. Aber: Die ganze Suchtbehandlung, auch die Abstinenztherapie, arbeitet mit Rückfällen. Das gehört zur Sucht.

Ein anderer Weg wäre die Abgabe von Heroin.

Ja, die Abgabe von Heroin wäre der direktere Weg. Im Grunde gibt es keine vernünftigen Argumente dafür, daß man Leute, die von bestimmten Substanzen abhängig sind, diese Drogen unter Androhung von Strafe vorenthält. Alle Erfahrung zeigen, daß der Weg der Kriminalisierung restlos gescheitert ist. Und im übrigen auch niemanden, der bisher keine Drogen genommen hat, vom Konsum abhält.

Das Strafrecht hat versagt, dies gilt wohl für alle Substanzen.

Es gibt weltweit keine Erfahrungen, daß das Strafrecht im Bereich der Drogen funktioniert. Dies gilt auch für den Alkohol.

Muss also noch mehr als bislang auf die Aufklärung gesetzt werden?

Die Aufklärung funktioniert ja gar nicht schlecht. Man muß sich klar machen, daß die allermeisten Menschen keine harten Drogen nehmen. So gesehen kann man behaupten, daß die Prävention greift. In Deutschland haben wir uns seit Ende der sechziger Jahre angewöhnt, das Drogenthema in einer völlig unsachgemäßen Weise zu dramatisieren und jeden, der anfängt zu kiffen, einerseits zum Hochkriminellen, andererseits zum Kranken zu stempeln. Erst damit wurde das Drogenproblem in seiner jetzigen Form erfunden.

Mit ihrer Idee, die Drogenhilfe nach marktwirtschaftlichen Kriterien umzustrukturieren, haben sie einige Sozialarbeiter geschockt. Wie soll die Zukunft der Drogeneinrichtungen in der Hansestadt aussehen?

Die Drogenhilfe wie die gesamte Sozialarbeit ist Teil eines Marktes sozialer Dienstleistungen. Sie muß den Hilfesuchenden klar beschriebene Leistungen bieten, die nachprüfbar sein müssen. Zudem muß die Drogenhilfe auf einem bestimmten verbindlich definierten Qualitätsniveau stattfinden und für die erbrachten Leistungen Geld bekommen. Der Modernisierungsbedarf in der Sozial- und Drogenarbeit ist enorm. Der Bürger hat ein Recht auf Hilfe und der Staat hat die Pflicht dafür zu sorgen, daß der Bürger eine qualifizierte, zügige und seinen Bedürfnissen entsprechende Unterstützung erhält. Dies ist möglich, wenn der Bereich der Sozialarbeit grundlegend reformiert wird.

Was verschreckt hat, ist der Ausdruck der Marktwirtschaft. Es gibt ja durchaus andere Möglichkeiten, in Verwaltungen eine Output-Orientierung und mehr Effizienz zu erreichen. Die Zukunft der sozialen Einrichtungen wird doch wohl kaum in der Profitmaximierung liegen.

So war das nie gemeint. Wenn Sie so wollen, meine ich eine prononciert soziale Marktwirtschaft. Ich habe diesen Ausdruck als Pendant zu dem gewählt, was heute in der Sozialarbeit vorherrscht, nämlich eine Art Planwirtschaft. Betriebswirtschaftliches Denken muß sich auch im System der Drogenhilfe durchsetzen. Ein Träger, der heute Geld einspart, dem wird nach klassischem Förderungssystem das Geld vom öffentlichen Zuwendungsgeber wieder weggenommen. Warum soll er also sparen? Hamburg gibt für die zuwendungsfinanzierten Beratungsstellen im ambulanten Drogen- und Suchtbereich etwa 26 Millionen Mark aus. Zusätzlich noch Geld für den stationären Bereich und die psychosoziale Betreuung – insgesamt um die 60 Millionen Mark. Dies ist ein Dienstleistungsmarkt, der zwar nicht den harten kapitalistischen Regeln unterliegen sollte, etwas mehr an marktwirtschaftlichen Denken täte diesem Bereich aber gut.

Nicht zufällig kommt ihr Vorschlag zu einer Zeit, in der die Kassen der Stadt leer sind.

Es wäre sicher besser gewesen, wenn die Modernisierung früher begonnen hätte, denn so mobilisiert das in der heutigen Zeit natürlich Ängste.

Vielleicht zu recht. Wie bei anderen Einrichtungen auch, ist es schwierig, einmal etablierte Institutionen wieder abzuschaffen. Gibt es da bei Ihnen konkrete Pläne?

Die Modernisierung die wir betreiben, orientiert sich am Nachfrageverhalten des Kunden. Dies kann dazu führen, daß diejenigen, die mit ihren Angeboten an den Bedürnissen der Kunden vorbeigehen, auf Dauer nicht existieren werden. Wer sich den veränderten Erfordernissen im Drogenbereich nicht anpasst, verschwindet vom Markt.

Wie weit ist dieser Prozeß fortgeschritten?

Wir haben bekanntlich seit einem Vierteljahr eine Diskussion über sogenannten offene Szenen in der Stadt. Trinkergruppen, Drogenszenen, alles im Kontext der Bettlerdiskussion. Was mich erschreckt, ist, wenn man solche Probleme zwar benennt, aber keine Antworten findet. Für mich ist interessant: Was ist die Antwort des Hilfesystems auf solche Probleme. Und wer da keine Antwort findet, der hat das Klassenziel verfehlt.

Themenwechsel. Fährt man durch Hamburg, fällt einem die reichhaltige Kultur an sogenannten „Grow-Shops“ für den Hanfanbau und „Head-Shops“ für die Raucherutensilien auf. Wie sehen sie das?

Das ist die Normalität unserer Großstadt, nichts aufregendes.

Daneben haben sich, nicht ganz so öffentlich, auch Coffie-Shops etabliert, in denen der Cannabis-Liebhaber sein Gras oder Haschisch kaufen kann. Diese werden inzwischen sogar geduldet…

Nein, sie werden nicht geduldet. Es gibt zwar eine Reihe von Argumenten dafür, den Bereich des Cannabis-Konsums anders zu behandeln als das gegenwärtig durch das Betäubungsmittelgesetz passiert, nur haben wir hier das gleiche Gesetz wie in Bayern oder sonst wo in Deutschland. In Hamburg setzt die Polizei allerdings die Prioritäten anders. Da ist es aus meiner Sicht vernünftig, wenn sie sich in erster Linie um den organisierten Handel mit harten Drogen kümmert und nicht mit ihrer gesamten manpower gegen Menschen vorgeht, die zum Teil aus innerer Überzeugung solche Einrichtungen betreiben.

Meines Wissens werden diese Läden aber nicht von Protagonisten der Cannabis-Legalisierung geführt, wie beispielweise Rigo Maaß einer ist, sondern liegen in kriminellen Händen.

Ich bin sicher, daß die Polizei gegen kriminelle Händler vorgeht. Gleichwohl muß man sehen: Bei der Bewertung gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen Leuten, die aus innerer Überzeugung für eine andere Cannabis-Politik eintreten, und denen, die allein wegen des Profits ihr Geschäft betreiben, obwohl sie wissen, daß es illegal ist.

Die Bewertung können sie so vornehmen, nur vor Gericht ist unklar, ob der Richter das ähnlich sieht.

Nein, das kann und soll die Politik dem Richter auch nicht vorschreiben. Aber auch der Richter hat die Aufgabe, die Schuld des Angeklagten zu würdigen. Ich will mich als Drogenbeauftragter dort nicht einmischen, aber meine persönlichen Überzeugung ist: Jemand, der mit nachvollziehbaren gesundheitspolitischen und auch gesellschaftspolitischen Gründen sagt, daß es nicht angehen kann, daß man sich bis zum umfallen besaufen, nicht aber eine andere Substanz zu sich nehmen darf, der hat nicht so Unrecht. Ich habe mit Rigo Maaß öfter gesprochen und versucht, ihm seine Grenzen aufzuzeigen. Gleichwohl verdient er, in seinem drogenpolitischen Bemühen ernst genommen zu werden.

Nun gibt die Politik den Richtern ja schon vor, wie sie zu entscheiden haben, indem sie die Gesetze formt. Arbeitet Hamburg daran, daß die im Betäubungsmittelgesetz festgelegte Prohibition gegen Cannabis fällt?

Wir haben in Hamburg in erster Linie ein sehr massives, bedrückendes Heroin-Problem. Schon ab 1990 haben wir versucht, über den Bundesrat Reformvorschläge durchzusetzen. Der weitreichenste Versuch war, die Heroinabgabe an Junkies zu erreichen. Dies stieß auf vehemente Ablehnung seitens der Bundesregierung. Derzeit liegt unsere Gesetzesinitiative in den Ausschüssen des Bundestages. Insgesamt haben wir mittlerweile in Deutschland einen erheblichen Reformstau in Sachen Drogenpolitik. Grundsätzlich müßte man sich ernsthaft fragen, wenn man denn bei Vernunft und Verstand wäre, ob wir das Betäubungsmittelgesetz überhaupt brauchen oder ob die für den Konsumentenschutz und die Unterbindung des illegalen Handels notwendigen Vorkehrungen nicht auch über das Arzneimittelgesetz zu erreichen wären. Allerdings gibt es dafür keine politische Mehrheit, das ist das Problem.

Bürgermeister Voscherau hält sich bisher aus taktischen Gründen aus der Diskussion um die Legalisierung von Cannabis heraus. Er will nicht, ich zitiere, der „Drogenspinner aus Hamburg sein, dem man nicht mehr zuhören braucht“. Halte Sie diese Zurückhaltung für richtig?

Voscherau ist garantiert nicht der Drogenspinner aus Hamburg, sondern derjenige, der in Deutschland als erster Bürgermeister klar gesagt hat, daß die bisherige Drogenpolitik gescheitert ist. Die Konsequenz für eine Großstadt wie Hamburg, mit einem riesigen Heroinproblem, ist, daß den Junkies ein legaler Zugang zu ihrer Droge geschaffen werden muß. Natürlich über ärztlich kontrollierte Abgabe. Das hat der Bürgermeister immer wieder unmißverständlich zum Ausdruck gebracht.

Das Thema Cannabis wird in Schleswig-Holstein sehr intensiv erörtert. Da gibt es entsprechende Vorschläge. Auch im Rahmen der Konferenz der Gesundheitsminister hat es eine intensive Diskussion gegeben und Hamburg hat sich da nicht zurückgelehnt und gesagt, daß machen wir nicht mit. Selbstverständlich stehen wir diesen Reformen aufgeschlossen gegenüber. Ich würde mir wünschen, daß beide Reformen Erfolg haben und es zudem zu einer grundlegenden Reform im Drogenbereich kommt.

Das Apothekenmodell von Heide Moser ist also auch in Hamburg denkbar?

Jeder Schritt, der auf einen rationaleren Umgang mit Cannabis, auf eine Entdramatisierung hinarbeitet, ist aus meiner Sicht zu versuchen. Wie so etwas konkret aussehen kann, muß man sehen, wenn die Schleswig-Holsteiner ihr Konzept vorgelegt haben. Die Umsetzung stelle ich mir nicht einfach vor. Die Cannabis Konsumentenszene ist bekanntlich ja nicht die Dauerkundschaft in Apotheken.

Sie denken nicht, das Cannabis Konsumenten eine Apotheke betreten, um Marihuana oder Haschsich zu erstehen?

Neben den Apotheken gäbe es ja noch die Möglichkeit, den Cannabisvertrieb an staatlich anerkannte Einrichtungen zu binden.

Wonach richten sich denn überhaupt Ausschlußkriterien für gewisse Substanzen in Deutschland? Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen?

Nein. Das hat mit wissenschaftlicher Erkenntnis nicht annähernd etwas zu tun. Die ganze Drogenprohibition geht auf die Opiumkonferenzen in Den Haag Anfang diesen Jahrhunderts zurück. Seinerzeit ging es zunächst um eine wirksame Kontrolle des Handels. In dieser Phase hatte es vehemente Bestrebungen -vor allem seitens der USA- gegeben, ein umfassenden Kontrollsystem zu schaffen. Die Staaten, die bislang vom Opium-Handel profitiert hatten, forderten, daß, wenn sie schon Einbußen haben, auch andere Ländern Abstriche bei ihren Drogengeschäften machen müßten. Das hat dazu geführt, daß letzten Endes nicht nur Opium, sondern auch Kokain und weitere Substanzen der Kontrolle unterworfen wurden. Es gibt keinen vernüftigen Grund, bestimmte Substanzen zu verbieten. Egal ob legal oder illegal, ich kann mit allen Substanzen meine Gesundheit ruinieren, wenn ich sie exzessiv, chaotisch und dauerhaft konsumieren. Ebenso kann es mit mit allen Substanzen gelingen, einen geordneten Konsum zu praktizieren.

Der Hanf gilt als relativ ungefährlich.

Bei Cannabis wissen wir seit langem, daß ein halbwegs geordneter Konsum weniger schädlich ist, als der Alkoholkonsum und das sich damit problemlos leben läßt. Das Suchtproblem ist primär in der Persönlichkeit des Konsumenten und seines sozialen Umfelds begründet und erst nachrangig in der Substanz selbst. Nebenbei bemerkt ist es ein Skandal, das Cannabis nicht AIDS- und Krebspatienten zugänglich ist. Unglaublich.

Eine Legalisierung aller im Betäubungsmittelgesetz aufgeführten Stoffe hätte momentan aber eher fatale Folgen.

In der Tat. Es ist immer leicht, Drogen zu verbieten, es ist später sehr schwer, diese Substanzen wieder zu legalisieren. Dies liegt auch an der Außenwirkung. Deshalb wird man da einen vorsichtigen Weg beschreiten müssen und ich verstehe auch das Modell aus Schleswig-Holstein als einen vorsichtigen Weg. Auch in Kiel ist man vermutlich nicht der Ansicht, daß Apotheken der prädestinierte und einzig denkbare Ort für die Abgabe von Cannabis sind.

Das langfristige Ziel bleibt aber die Legalisierung aller Substanzen?

Man wird überlegen müssen, ob man mit der Unterstellung dieser Drogen unter das Arzneimittelrecht nicht sehr viel weiter kommt. Beim Arzneimittelrecht hätten wir den entscheidenen Vorteil, daß nicht mehr die Konsumenten kriminalisiert werden. Stattdessen aber unterliegt der Handel und Vertrieb einer scharfen Kontrolle. Die Droge im Supermarkt liegt jedenfalls außerhalb der realistischen Optionen.

Zum Abschluss. Ausgeblendet in der Diskussion um Drogen bleibt meist der Zusammenhang zwischen Drogen und Erkenntnis.

Drogen sind in früheren Jahrhunderten immer zu rituellen und transzendierenden Zwecken genutzt worden. Daran könnte man anschließen. Ein Beispiel: den momentan in der Öffentlichkeit zum Teil verzerrt wahrgenommenen Ecstasy wird von einigen Wissenschaftlern ein therapeutischer Nutzen zugesprochen. Bei Ecstasy mag es sein, daß es bei manchen psychotherapeutischen Behandlungen durchaus sinnvoll ist, es einzusetzen. Nur da wir in Deutschland die unangenehme Angewohnheit haben, psychoaktive Substanzen sofort zu verbieten, ist klar, daß man hinterher nicht mehr feststellen kann, welchen therapeutischen Wert sie eventuell besitzen. Das halte ich für einen der schädlichen Auswüchse unserer Verbotspolitik. Wir nutzen nicht das, was in den Drogen steckt.

Man könnte die Vermutung anstellen, daß sich das Suchtproblem erst dann eingestellt hat, als die Drogen aus ihrem rituellen Rahmen genommen wurden, die transzendente Ebene ausgeblendet wurde und nur noch um das Konsums willens konsumiert wurde.

Ein zentrales Problem. Wir haben heute diese rituellen Einbindungen nicht mehr, nur noch in Subkulturen finden sie statt. Es gibt keinen gesellschaftlichen Konsens über die Einbindung des Drogenkonsums in das Leben. Dies wird man aufgrund der Individualisierung auch nicht mehr ändern können. Gleichwohl wird man sich fragen müssen, ob sich nicht innerhalb gewisser Subkulturen ein ritueller, oder besser gesagt kultureller Drogenkonsum etablieren läßt. Der Umgang mit Drogen muß erlernt werden und wird auch erlernt. Aber: Die Öffentlichkeit nimmt nur die Konsumenten wahr, die aufgrund der Illegalität auffällig werden. Das sind Menschen, die aufgrund sozialer und biographischer Rahmenbedingungen in einer vergleichsweise schlechten Situation sind. Der Scheinwerfer der öffentlichen Wahrnehmung nimmt nur diese Konsumenten wahr. Das andere Segment derer, die in einer geordneten Weise Drogen konsumieren, bleibt unterbelichtet.

Vielen Dank, Herr Bossong.

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Ich© liebe Dich®

telepolis v. 1.11.2004

Ich© liebe Dich®

Das Markenregister wird mit immer abstruseren Werbe-Slogans zugemüllt, der Markenschutz zur Allzweckwaffe gegen die Mitbewerber

Nicht immer, aber immer öfter melden Global Player und kleine Klitschen ihre Werbe-Slogans beim Deutschen Patent- und Markenamt (DPMA) oder dem europäischen Harmonisierungsamt (HABM) an. Die Einordnung aller möglichen Slogans als schützenswertes Gut nimmt groteske Formen an, das DPMA-Register gilt als verstopft und mit ungenutzten und unnützen Marken zugemüllt. „Heul doch!“, „Ich bin da“, „Du kannst“ – selbst Floskeln wie „Unter uns“ sind inzwischen in privater Hand und genießen den Schutz des Markengesetzes. Ist es nur noch eine Sache der Zeit bis die Hardware-Hersteller gleich neben das €-Zeichen das © auf die Tastatur legen?

Schuh
Es ist bekannt: Die Eroberung der Käuferherzen erfolgt heute nicht mehr über die Güte der Ware, sondern deren Prestige. Dass Unternehmen ihre Slogans, neudeutsch „Claims“, rechtlich sichern, ist Resultat der Entwicklung von der Qualität des Produkts zu dessen Image. Heute sind die Artikel-Assoziationen im Kopf des Kunden wertvoller als das Produkt selbst. Die Macht der Marke beruht weithin auf ihrem immateriellen Wert.

Wer muss bei dem Satzfragment „Nichts ist unmöglich…“ nicht automatisch an den japanischen Automobilhersteller denken? Wem es gelingt seine Werbe-Kampagne auf die sprachliche Essenz eines knackigen Slogans einzudampfen, der ist dem Herz des Kunden schon ein Stück näher gekommen. Jede noch so ausgebuffte Produkt- oder Dienstleistungsstrategie bleibt luftleer, wenn sie nicht mithilfe der Werbung mit den Wünschen und Vorstellungen des Kunden spielt. Geht das Kalkül auf, verselbstständigt sich der Slogan und ist in aller Munde; im Bewusstsein des Kunden verbindet dann stets ein dünner Bewusstseinsfaden den Slogan mit dem Produkt.

Unternehmen suchten schon früher ihre Kundenbindungssprüche rechtlich abzusichern. Nur stand dem Jahrzehnte lang die Eintragungspraxis des DPMA und die Rechtsprechung der Patentgerichte entgegen. Aber über die Jahrzehnte wurde die Schutzfähigkeit von Slogans immer mehr ausgeweitet und ein Ende ist nicht in Sicht.

Ein Blick zurück in die Geschichte der Slogans in Deutschland zeigt das Ausmaß der Veränderung. In der Zeit vor der Einführung des Markengesetzes im Jahre 1995 wurden nur solche Werbesprüche eingetragen, die auf einen spezifischen Geschäftsbetrieb hinwiesen. So erschien meist der Firmenname des Herstellers oder eine bereits als Marke geschützte Bezeichnung im Reklamespruch: „Genießer trinken Doornkaat.“-Slogans, die weder Firmenname noch eine Marke enthielten, wurden damals regelmäßig als eintragungsunfähig angesehen. DPMA, Bundespatentgericht und Bundesgerichtshof (BGH) stellten mehrmals fest, dass solche Spruchfolgen als „allgemein reklamehaft“ zu gelten haben, weil sie dem allgemeinen Sprachgebrauch entnommen wären.

„Phantasievoller Überschuss“ ist der Zauberstab

Zu einer ersten Aufweichung dieser Praxis kam es nach Inkrafttreten des Markengesetzes. Das Bundespatentgericht gab Klagen von Firmen statt, die ihren Slogan unbedingt geschützt sehen wollten. Ab jetzt reichte es aus, Worte ungewöhnlich miteinander zu kombinieren oder sie in einen neuen Zusammenhang zu stellen. Das neue Zauberwort hieß „phantasievoller Überschuss“, und dieser war schon gegeben, wenn der Slogan mit seinem Wiedererkennungswert eine betriebliche Hinweiswirkung verband. Einfacher gesagt: Wenn der Slogan ungewöhnlich klang und keine im Sprachraum gebräuchliche Wortfolge für den Artikel darstellte, dann war er eintragungswürdig. Man gönnt sich ja sonst nichts.

LogoDuDarfstEin Beispiel: So erstritten ein Hersteller einer Margarine die Eintragung der Wortmarke „Du darfst“ ins Markenregister und eine Firma für Haushaltsgeräte den Begriff „Zisch & Frisch“. Die Richter waren der Meinung, dass „Du darfst“ eine unvollständige Aufforderung darstellte, deren gedankliche Ergänzung durch den Kunden den Kriterien des „phantasievollen Überschusses“ entsprach. Im Urteil zu den Küchenmaschinen machte die Lautmalerei des „Zisch“ in Zusammenhang mit dem „Frisch“ bei den Richtern Eindruck. Im selben Jahr (1997) hatten der 26. Senat des hohen Gerichts allerdings den Slogan „IS EGAL“ abgeschmettert. Da fragte sich der abgewiesene Getränkeabfüller, wenn „Du darfst“, warum „IS“ das dann nicht „EGAL“?

Zisch&Frisch öffnete die Schleuse, es folgte eine Flut von Klagen, die von den Gerichten mit immer spitzfindigeren Jurisdiktionen beantwortet wurden. Die Branchen bemühen sich um kurze, originelle und möglichst witzige Wortfolgen, um die begehrte Eintragung beim Markenamt zu erhalten. Diese gilt zunächst für zehn Jahre, ist aber beliebig oft verlängerbar und damit unsterblich.

Die Rechtsprechung des Bundespatengerichts wurde nahezu unberechenbar. Die Patenanwältin Alexandra Fottner spricht vorsichtig von einer „sehr subjektiven Auffassung“ des Gerichts hinsichtlich der Schutzfähigkeit von Werbeslogans. So wurde „Energie mit Esprit“ als eintragungsfähig angesehen, während „Partner with the Best“ diese Ehre nicht zuteil wurde. Einem Badener Radiosender wurde das zu bunt, er zog vor den BGH um seine kreative Wortfolge „Radio von hier, Radio wie wir“ durchzuboxen. Mit dem dann folgenden richtungsweisenden Beschluss des BGH trat die rechtliche Absicherung der Slogans in die dritte Phase ein.

Der BGH stellte in dem wegweisenden Urteil am 8. Dezember 1999 fest, dass an Slogans keine höheren Anforderungen als an andere Wortmarken (wie „IKEA“) gestellt werden dürfen. Seither können flotte Wortkombinationen für eine oder gar mehrere der 45 Produktklassen immer dann angemeldet werden, wenn sie eine deutliche Unterscheidungskraft besitzen.

Erst anmelden, dann weitersehen

Heute ist es nur noch die vermeintliche Originalität und Prägnanz des Slogans, die zur Entscheidung über die Eintragung herangezogen werden. So hob der BGH einen Beschluss des Bundespatentgerichts aus dem Jahre 1997 auf, der den Begriff „Unter uns“ noch als lexikalisch nachweisbare Redensart und allgemein gebräuchliche Redewendung angesehen hatte.

Dem entgegen sah der BGH in „Unter uns“ eine originelle Verkürzung des Satzes „unter uns gesagt“. Aus der Verkürzung resultiere, so der BGH, eine Mehrdeutigkeit, die der Kunde auflösen muss. Mehr noch, der Slogan könne auch in einem sozialen Sinne interpretiert werden, wonach der Kunde mit dem Erwerb des Produktes zu einer Gemeinschaft gehöre, wobei diese Gruppe unklar bliebe. Angesichts dieses juristischen Feinstricks murmelten einige Anwälte dann doch: „Ich bin doch nicht blöd.“

Die UFA nahm das Urteil dankbar an, sie hat sich den Titel ihrer Soap „Unter uns“ nicht nur in der Leitklasse 41 (Erziehung, Unterhaltung), sondern in 20 weiteren Klassen (darunter Seifenprodukte, Büromaterial und Schmuckwaren) schützen lassen.
Allein Elektro-Gigant Siemens hat über 3.000 Marken in allen möglichen Klassen angemeldet. Das Problem: Das DPMA überprüft nur die in § 8 des Markengesetzes genannten „absoluten Schutzhindernisse“, das sind solche Marken, die „ausschließlich aus Zeichen oder Angaben bestehen, die im allgemeinen Sprachgebrauch oder in den redlichen und ständigen Verkehrsgepflogenheiten zur Bezeichnung der Waren oder Dienstleistungen üblich geworden sind“. Um dies zu verdeutlichen: Die Wortmarke „Bester Regenschirm“ ist als Bezeichnung für Regenschutz gängig, besäße aber für Geldschränke (Klasse 6) durchaus die erforderliche Unterscheidungskraft.

Ist die Hürde des § 8 genommen, kann der Slogan theoretisch auf alle der 45 Klassen ausgedehnt werden. Erst wenn sich ein Mitbewerber daran stößt, dass diese Wortmarke in einer – aus seiner Sicht – falschen Klasse eingetragen ist, wird es spannend; es wird geklagt. Vor dem Bundespatentgericht kommt es jährlich zu über 2.000 Markenrechts-Prozessen über ähnlich lautende, abgewiesene oder unbenutzte Marken. Allerdings können sich kleinere Unternehmen diesen kostspieligen Rechtsweg nicht leisten, der Kampf gegen die Rechtsabteilungen großer Handelskonzerne wird gescheut.

Markenrechtsexperten wie Volker Jänich, Professor für Bürgerliches Recht und Gewerblichen Rechtschutz an der Universität Jena, weisen deshalb darauf hin, dass mit der Ausdehnung des Markenschutzes die Beschränkung des Verhaltenspielraums der Mitbewerber einhergeht. „Natürlich ist das Markenrecht auch ein Monopolisierungsrecht“, gibt Jänich zu bedenken, „und durch hohe Prozessrisiken sowie die immanente Drohfunktion eingetragener Schutzrechte droht heute eine Erlahmung der ökonomischen Entwicklung.“ Mit anderen Worten: Weil immer mehr Marken und Slogans geschützt sind, wird der Raum für die Ideen neuer Unternehmungen eng.

Die extreme Ausweitung des Schutzbereichs für Wortmarken lässt sich allerdings statistisch schwer untermauern. Beim DPMA schlüsselt man die eingetragenen Wortmarken nicht nach Slogans und normalen Wortmarken (NIVEA) auf. Über die Jahre ist die Zahl der angemeldeten Wortmarken konstant: Durchschnittlich werden im Jahr an die 60.000 dieser Marken angemeldet, beim europäischen Pendant, der HABM, noch einmal etwa 30.000. Zur Zeit sind in Deutschland rund 1 Million Marken geschützt.

Um ihren guten Namen gesichert zu sehen und Trittbrettfahrern, aber auch Wettbewerbern keine Chance zur Entfaltung zu geben, melden beispielsweise Konzerne wie der Autohersteller „Jaguar“ ihre Marke in für sie eigentlich abstrusen Markenklassen an. Der englische Fabrikant möchte vermeiden, dass ein Schokoladenhersteller auf die Idee kommt, seinen schnittigen Riegel „Jaguar“ zu nennen. Erst anmelden, dann weitersehen.

So werden ganze Branchen von der Nutzung eingängiger Produktbezeichnungen abgehalten. Auch hier muss das DPMA untätig zusehen, wie immer mehr Wortmarken das Register füllen. Das Amt sieht sich außerstande zu überprüfen, ob die angemeldete Marke überhaupt genutzt wird oder nur der präventiven Abwehr dient. Zwar wird eine Marke, wenn sie fünf Jahre lang nicht genutzt wurde, gelöscht, aber auch diesen Nachweis muss ein Konkurrent vor Gericht und nicht das DPMA führen.

Schwierig wird die juristische Interpretation des Markengesetzes auch dort, wo eine neue Wortkombination gerade erst auf dem Weg in den allgemeinen Sprachgebrauch sind. So trug das Markenamt in den euphorischen Tage der frühen Internet-Ära Marken wie „Explorer“ ein. Später löschte das DPMA einige der Eintragungen wieder, andere dieser Prosa, wie etwa „Site Promotion“, sind noch heute geschützt.

Aber nicht nur die Startups machen den Angestellten bei DPMA zu schaffen. Im September des vergangenen Jahres ließ sich die Firma Zentis die Marke „Caffe Latte“ schützen. Damit ist nun auch die Jahrzehnte alte und wohlbekannten Bezeichnung für Milchkaffee in Firmenbesitz. Der Trick bei der Anmeldung: Die Anwälte von Zentis meldete ihr Produkt in der Leitklasse 29 (Milchprodukte) an, unterließen aber in der Erläuterung die explizite Bezeichnung ihres Erzeugnis; von „Kaffee mit Milch“ oder einem Mixgetränk ist nirgendwo die Rede. Dennis Sevriens, Anwalt für Markenrecht in Berlin, spricht von „einem üblichen Vorgehen“, würden damit doch „die Prüfer beim DPMA auf die falsche Fährte gelockt werden“. Große Unternehmen würden vermehrt Trends beobachten, um aufkeimende Begrifflichkeiten gleich als Marke zu schützen.

Slogan- und Markenwahn

Letzter Höhepunkt des Sloganhypes ist die Eintragung des Gemeinplatzes „Ich liebe es“ durch McDonald’s. Das DPMA erklärte den Claim als ungewöhnlich genug zur Bezeichnung von Fast-Food und trug ihn brav ins Register ein. Die deutsche Werbeagentur Heye & Partner „erfand“ diesen Slogan und gewann einen von der Hamburger-Kette ausgeschriebenen Wettbewerb damit. Wo früher nur ausgedehnte Hirnakrobatik oder der geniale Einfall honoriert, geschützt oder patentiert wurde, landet heute jede morgendliche Eingebung unter der Dusche bereits am Nachmittag beim Markenamt. Grenzen dafür, das Sätze in den Besitz von jemand übergehen, scheint es zur Zeit kaum zu geben. Alles nach dem Motto: Geiz ist geil.

Nichts ist unmöglich. Das Markengrabbing wird durch die Arbeit des 1993 gegründeten Harmonisierungsamtes für den Binnenmarkt noch verstärkt. Hier reicht ein Eintrag und der Slogan ist für den gesamten europäischen Raum gesichert. Die im spanischen Alicante sitzende Institution hat seit Beginn ihrer Tätigkeit die Anforderungen an Reklamesprüche nicht hoch angesetzt. Sie gab den Grundsatz der bis dahin für Slogans nötigen Kürze, Prägnanz und Mehrdeutigkeit auf. 1999 gab das Amt einer Firma Recht, die den Satz „Beauty isn’t about looking young but looking good“ gesichert sehen wollte. Auch Satzungetüme wie „the best british clothing for the worst british weather“ sind mittlerweile eingetragen.

Fachanwälte wie Fottner sind überzeugt davon, dass im Zuge der europäischen Harmonisierung auch der BGH nicht mehr starr an dem Grundsatz der Slogan-Kürze festhalten wird und „zukünftig auch längere unterscheidungskräftige Wortfolgen zur Eintragung zulassen wird“.
Durch die Akzeptanz der Anglizismen werden die Werbesprüche international übergreifend. Mit dem Schuh ist auch die Nachricht vom „Just do it“ im hintersten Andendorf angekommen. Der Nike-Treter klebt am Fuß, die mit ihm vermittelte „Message“ haftet im Hirn. Heute kauft man weniger das Produkt selbst, sondern den damit verbundenen Lebensstil, der Gebrauchswert rückt merklich hinter den Symbolwert zurück. Deshalb ist die Frage für Unternehmen heute nicht „Was biete ich?“, sondern „Wie wirke ich?“. Aus der Mixtur von Vertrauen (statt Nutzen) und der Fokussierung auf die Stil-, statt die Zielgruppen wird heute das erfolgreiche Marketing-Rezept gebraut. Die Verbildlichung des Stils zum Image leistet das Logo, die Verbalisierung der Slogan.

Nicht umsonst heißt der Slogan unter Werbern auch „Claim“, ein Ausdruck aus dem Wilden Westen, der das Abstecken des eigenen Besitzes mit Grenzpfählen besagt. Slogan wiederum bedeutet soviel wie „Schlachtruf“. Das „Branding“ einer Marke lehnt sich ebenfalls an den Cowboyslang an. Damals brannte man dem Vieh sein Zeichen ein, auch heute steht der Kunde als Ochse auf der Weide der bunten Warenwelt, um von einer Firma ihren Code ins Hirn gebrannt zu kriegen.

Deutsche Kaufmänner zeigen keine Scheu vor der englischen Sprache, wohl wissend, dass die Bevölkerung sich mit den Anglizismen längst angefreundet hat. Auch hier sind es die seltsamsten Verheißungen, die ihren Eingang in die Kartei finden: „eat the best…“, „feel the best…“, „think the best…“, und natürlich auch „be the best…“ sind alle fest in deutscher Hand bei den Ämtern. Die deutsche Wirtschaft zeigt sich ohnehin äußerst markenfreudig. Rund 25% der beim europäischen HABM registrierten Marken stammen aus den USA, gleich dahinter liegen deutsche Firmen mit 17%.

Mittlerweile treibt der Eintragungswahn Blüten. Der Satz „Ich bin Christ“ ist seit einem Jahr als Wort-Bildmarke geschützt und befindet sich nicht in den heiligen Händen des Klerus, sondern in Klasse 41 (Erziehung, Unterhaltung) wieder. Ein kluger Mann aus dem Ruhrpott hat einen Trick angewendet, der unter Markenmaniacs immer beliebter wird. Da die Wortfolge „Ich bin Christ“ allein nicht schutzwürdig wäre, kombinierte er den religiösen Claim mit einem Logo und ließ sich die so entstandene Marke auch gleich für Schreibwaren und Bekleidungsstücke schützen.

Wer nun aber glaubt, er darf auf dem nächsten Kirchentag seine Konfession nicht mehr auf dem T-Shirt zur Schau tragen, der liegt verkehrt. Das Markenrecht zielt allein auf den Geschäftsverkehr, der private Gebrauch und auch die Ironisierung von Slogans und Wortmarken ist legal. „Ich liebe es“ darf also bei Happenings auf vergammelten Burgern stehen und auch der Spruch „Die längste Praline der Welt“ darf auf einer Jeans prangen. Auf diese Steine können Sie bauen. Konfliktschwanger wird es erst, wenn ein kleiner Textilien-Fabrikant einen bekannten Slogan auf eine ganze Serie von T-Shirts druckt und diese vertreibt.

Heute reicht schon ein Buchstabendreher oder ein Akcent, damit eine ursprünglich Wortmarke zur Wort-Bildmarke aufgebläht wird. Statt „Marke“ wird dann „Márke“ reserviert, die Konkurrenz wird später bei Eintragungsversuchen von „Marke“ auf „Verwechselungsgefahr“ verklagt.

Hypertrophie der Schutzrechte

Kommunikations- und Werbeexperten wie der Hannoveraner Juniorprofessor Jannis Androutsopoulos erforschen die Kunst der Werbung sowie Lust und Frust der Kundschaft. Androutsopoulos sieht den kontinuierlich anwachsenden Schutz für Slogans schlichtweg als das Ergebnis der Evolution von Werbung: „Noch bis in die 70er Jahre hinein hätten die Normen der Werbung keine dialogische und umgangssprachliche Werbesprüche attraktiv erscheinen lassen.“

Auch die Kompetenz des Rezipienten, Lücken im Slogan zu schließen, nähme sicherlich im Laufe der Werbe-Sozialisation zu. „Insofern“, so der Fachmann für Medienkommunikation, „kann ‚Du darfst‘ nur in einer eingespielten Werbegesellschaft funktionieren“. Für die Zukunft sagt Androutsopoulos eine Werbung voraus, die immer fragmentarischer und kryptischer daherkommt.

Wohin die Okkupation der Wortfolgen führt, weiß zur Zeit keiner so genau. Androutsopoulos gibt Entwarnung. Er sieht die Alltagssprache als Fass ohne Boden, die sich ständig erneuert. Angst vor dem Ausverkauf der Worte bräuchte niemand zu haben: „Die Elemente der Sprache sind zwar finit, aber ihre Kombinationsmöglichkeiten unendlich. Und solang nur Kombinationen und nicht auch ihre Bestandteile patentiert werden, lässt mich dies doch noch hoffen.“

Juristen wie Volker Jänich sehen dagegen mit Sorge auf die Sonderrolle des Markenrechts, „dem einzigen Schutzrecht“, so Jänich, „das zeitlich unbegrenzt wirkt“. Trotz oft vergleichsweise geringer Mühen beim Entwurf eines Slogans stehe diesem ein ewiger Schutz zu. Dagegen ist die sogenannte „Schöpfungshöhe“ in anderen Bereichen des geistigen Eigentums nicht nur erheblich schwerer zu erreichen, das Urheber- und Patentrecht kennen auch zeitliche Begrenzungen, nach denen die Ergüsse des Erfinders an die Allgemeinheit fallen.

Auch die von Markengesetz und DPMA beschworene „Unterscheidungskraft“ von Slogans verkommt inzwischen zur Makulatur, ist doch selbst der Begriff, der dafür erfunden wurde eben keine Unterscheidungskraft zu besitzen, in diversen Markenklassen eingetragen: „Nichts“.

Bei den Domains geht es auch gegen Privatpersonen

Wo bislang nur Werbeagenturen und Firmen sich gegenseitig ihre Marken und saloppen Sprachfetzen streitig machten, zielen deren Rechtsabteilungen neuerdings auch auf Privatpersonen, um diese beispielsweise von dem Gebrauch von Internetadressen abzuhalten, die mit dem Firmennamen in Verbindung gebracht werden könnten. Die Registrierung einer Domain im weltweiten Netz ist Minutensache – und kostet knapp 20 Euro. Heerscharen von agilen Bürgern und Kleinunternehmern melden immer wieder Domains bei der DENIC, der deutschen Vergabestelle für die international erreichbaren Adressen, an, die als Bestandteil einen großen Namen führen. So nannte ein Autoteile-Händler seine Seite etwa www.bmw-teile.de, ein anderer seine Präsenz www.bmwwerkstatt.net.

Die Gerichte urteilen hier zumeist zugunsten der Marke. Begründung: Wo BMW draufsteht, da soll auch BMW drin sein. Es dürfe nicht, so die Richter, der Eindruck entstehen, als ob BMW die Tätigkeit der Inhaber überwachen und eine dauerhafte Vertragsbeziehung bestehen würde.

Wem dies noch klar erscheint, der wird bei den sprachlich stärker eingebundenen Domains schon eher zweifeln. Der Betreiber der Domain www.metrosexuals.de erhielt von dem Handelskonzern METRO die Aufforderung, seine Domain zügig zu löschen. Die Anwälte sehen in der Domain keinen Platz zum Austausch für gepflegt-urbane Männer a la David Beckham, sondern eine Gefahr für die Integrität der Firma.

Der Rechtsstreit läuft, der Kampf um das Eigentum an Worten und Sätzen geht in eine weitere Runde. Juristen werden zukünftig immer häufiger zu klären haben, wo der Schutzbereich einer Marke aufhört und wo die Freiheit eines anderen Unternehmen, die künstlerische Verwendung durch Künstler oder die pure Freizeitlust der Privatperson anfängt. Es droht eine rechtliche Grauzone, in der jeder Domaininhaber damit rechnen muss, Ziel der Verteidigungsstrategie großer und kleiner Wirtschaftsunternehmen zu werden. Wie würde die Metro wohl auf einen Dietmar Hamann Fanclub reagieren, der sich die „Metronomen“ nennt und eine gleichlautende .de Domain anmeldet? Oder gibt es bereits Bestrebungen bei der METRO, den Verein Namens „Pro-Bahn“ für den Begriff „Metro-Express“ abzumahnen, den dieser für die Einführung eines schnellen Zugstrecke zwischen Köln und Dortmund nutzt? Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen.

Der neueste Kniff unter Markengrabbern ist es, die Titel urheberrechtlich geschützter Werke, deren Schutz abgelaufen ist, als neue Marke eintragen zu lassen. So ist beispielsweise der Titel des Kinderbuches „Alice im Wunderland“, 1864 von Lewis Caroll veröffentlicht, in Händen einer Merchandising-Tochter der ProSiebenSat.1 Media AG. „Tom Sawyer“ wiederum haben sich verschiedene Firmen für Tabak, Wassersportgeräte und alkoholische Getränke schützen lassen. Das literarische Kulturerbe wird zur wertvollen Quelle für das Markendesign, bestehen doch beim Kunden bereits fest etablierte, positive Assoziationen zur Wortmarke.

Beliebt ist es neuerdings auch die Namen berühmter Personen als Marke anzumelden. Ob „Ludwig van Beethoven“ oder „Wolfgang Amadeus Mozart“, „John F. Kennedy“ oder „Konrad Adenauer“: Sie alle stehen mittlerweile mit ihrem Ruf für ein Produkt gerade. „Bill Clinton“ muss sogar für ein Aphrodisiaka herhalten. Um das ohnehin schon aufgeblähte Markenregister nicht zu einem Sammelsurium fragwürdiger Slogans und kulturell besetzter Bezeichnungen verkommen zu lassen, diskutieren die Juristen nun, ob solche Anmeldungen nicht den Tatbestand der „Bösgläubigkeit“ erfüllen und zukünftig vom DPMA schon im Vorwege abgelehnt werden sollten.

Was bleibt? Während es für Unternehmen zunehmend schwieriger wird eine neue Marke zu etablieren ohne in den Rechtskreis eines Mitbewerbers einzudringen, ändert die Schlacht um Worte für den Kunden wenig. Er ist weiterhin Ziel des die Marke umgebenen Marketings, seine soziale oder künstlerische Entfaltung behindert die Omnipräsenz der Marke kaum – sieht man einmal von den Verwechselungsgefahr bei Domainnamen und der juristisch schwer anfechtbaren mentalen Verschmutzung durch den alltäglichen Werbemüll ab.

Schon vor Jahren holte deshalb die Satire-Zeitschrift „Titanic“ zum polit-ökonomischen Gegenschlag aus. Ihre Antwort auf den mit einer Kampagne unterstützten Namenwechsel des Knusperriegels „Raider“ auf das heute bekannte „Twix“ hieß: „Haider heißt jetzt Wix, sonst ändert sich nix“.

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telepolis01.11.2004

Das Markenregister wird mit immer abstruseren Werbe-Slogans zugemüllt, der Markenschutz zur Allzweckwaffe gegen die Mitbewerber

Nicht immer, aber immer öfter melden Global Player und kleine Klitschen ihre Werbe-Slogans beim Deutschen Patent- und Markenamt ( DPMA [1]) oder dem europäischen Harmonisierungsamt   HABM [2]) an. Die Einordnung aller möglichen Slogans als schützenswertes Gut nimmt groteske Formen an, das DPMA-Register gilt als verstopft und mit ungenutzten und unnützen Marken zugemüllt. „Heul doch!“, „Ich bin da“, „Du kannst“ – selbst Floskeln wie „Unter uns“ sind inzwischen in privater Hand und genießen den Schutz des Markengesetzes. Ist es nur noch eine Sache der Zeit bis die Hardware-Hersteller gleich neben das €-Zeichen das © auf die Tastatur legen?

Es ist bekannt: Die Eroberung der Käuferherzen erfolgt heute nicht mehr über die Güte der Ware, sondern deren Prestige. Dass Unternehmen ihre Slogans, neudeutsch „Claims“, rechtlich sichern, ist Resultat der Entwicklung von der Qualität des Produkts zu dessen Image. Heute sind die Artikel-Assoziationen im Kopf des Kunden wertvoller als das Produkt selbst. Die Macht der Marke beruht weithin auf ihrem immateriellen Wert.

Wer muss bei dem Satzfragment „Nichts ist unmöglich…“ nicht automatisch an den japanischen Automobilhersteller denken? Wem es gelingt seine Werbe-Kampagne auf die sprachliche Essenz eines knackigen Slogans einzudampfen, der ist dem Herz des Kunden schon ein Stück näher gekommen. Jede noch so ausgebuffte Produkt- oder Dienstleistungsstrategie bleibt luftleer, wenn sie nicht mithilfe der Werbung mit den Wünschen und Vorstellungen des Kunden spielt. Geht das Kalkül auf, verselbstständigt sich der Slogan und ist in aller Munde; im Bewusstsein des Kunden verbindet dann stets ein dünner Bewusstseinsfaden den Slogan mit dem Produkt.

Unternehmen suchten schon früher ihre Kundenbindungssprüche rechtlich abzusichern. Nur stand dem Jahrzehnte lang die Eintragungspraxis des DPMA und die Rechtsprechung der Patentgerichte entgegen. Aber über die Jahrzehnte wurde die Schutzfähigkeit von Slogans immer mehr ausgeweitet und ein Ende ist nicht in Sicht.

Ein Blick zurück in die Geschichte der Slogans in Deutschland zeigt das Ausmaß der Veränderung. In der Zeit vor der Einführung des Markengesetzes im Jahre 1995 wurden nur solche Werbesprüche eingetragen, die auf einen spezifischen Geschäftsbetrieb hinwiesen. So erschien meist der Firmenname des Herstellers oder eine bereits als Marke geschützte Bezeichnung im Reklamespruch: „Genießer trinken Doornkaat.“-Slogans, die weder Firmenname noch eine Marke enthielten, wurden damals regelmäßig als eintragungsunfähig angesehen. DPMA, Bundespatentgericht und Bundesgerichtshof (BGH) stellten mehrmals fest, dass solche Spruchfolgen als „allgemein reklamehaft“ zu gelten haben, weil sie dem allgemeinen Sprachgebrauch entnommen wären.

„Phantasievoller Überschuss“ ist der Zauberstab

Zu einer ersten Aufweichung dieser Praxis kam es nach Inkrafttreten des Markengesetzes. Das Bundespatentgericht gab Klagen von Firmen statt, die ihren Slogan unbedingt geschützt sehen wollten. Ab jetzt reichte es aus, Worte ungewöhnlich miteinander zu kombinieren oder sie in einen neuen Zusammenhang zu stellen. Das neue Zauberwort hieß „phantasievoller Überschuss“, und dieser war schon gegeben, wenn der Slogan mit seinem Wiedererkennungswert eine betriebliche Hinweiswirkung verband. Einfacher gesagt: Wenn der Slogan ungewöhnlich klang und keine im Sprachraum gebräuchliche Wortfolge für den Artikel darstellte, dann war er eintragungswürdig. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Ein Beispiel: So erstritten ein Hersteller einer Margarine die Eintragung der Wortmarke „Du darfst“ ins Markenregister und eine Firma für Haushaltsgeräte den Begriff „Zisch & Frisch“. Die Richter waren der Meinung, dass „Du darfst“ eine unvollständige Aufforderung darstellte, deren gedankliche Ergänzung durch den Kunden den Kriterien des „phantasievollen Überschusses“ entsprach. Im Urteil zu den Küchenmaschinen machte die Lautmalerei des „Zisch“ in Zusammenhang mit dem „Frisch“ bei den Richtern Eindruck. Im selben Jahr (1997) hatten der 26. Senat des hohen Gerichts allerdings den Slogan „IS EGAL“ abgeschmettert. Da fragte sich der abgewiesene Getränkeabfüller, wenn „Du darfst“, warum „IS“ das dann nicht „EGAL“?

Zisch&Frisch öffnete die Schleuse, es folgte eine Flut von Klagen, die von den Gerichten mit immer spitzfindigeren Jurisdiktionen beantwortet wurden. Die Branchen bemühen sich um kurze, originelle und möglichst witzige Wortfolgen, um die begehrte Eintragung beim Markenamt zu erhalten. Diese gilt zunächst für zehn Jahre, ist aber beliebig oft verlängerbar und damit unsterblich.

Die Rechtsprechung des Bundespatengerichts wurde nahezu unberechenbar. Die Patenanwältin Alexandra Fottner spricht vorsichtig von einer „sehr subjektiven Auffassung“ des Gerichts hinsichtlich der Schutzfähigkeit von Werbeslogans. So wurde „Energie mit Esprit“ als eintragungsfähig angesehen, während „Partner with the Best“ diese Ehre nicht zuteil wurde. Einem Badener Radiosender wurde das zu bunt, er zog vor den BGH um seine kreative Wortfolge „Radio von hier, Radio wie wir“ durchzuboxen. Mit dem dann folgenden richtungsweisenden Beschluss des BGH trat die rechtliche Absicherung der Slogans in die dritte Phase ein.

Der BGH stellte in dem wegweisenden Urteil am 8. Dezember 1999 fest, dass an Slogans keine höheren Anforderungen als an andere Wortmarken (wie „IKEA“) gestellt werden dürfen. Seither können flotte Wortkombinationen für eine oder gar mehrere der 45  Produktklassen [3] immer dann angemeldet werden, wenn sie eine deutliche Unterscheidungskraft besitzen.

Erst anmelden, dann weitersehen

Heute ist es nur noch die vermeintliche Originalität und Prägnanz des Slogans, die zur Entscheidung über die Eintragung herangezogen werden. So hob der BGH einen Beschluss des Bundespatentgerichts aus dem Jahre 1997 auf, der den Begriff „Unter uns“ noch als lexikalisch nachweisbare Redensart und allgemein gebräuchliche Redewendung angesehen hatte.

Dem entgegen sah der BGH in „Unter uns“ eine originelle Verkürzung des Satzes „unter uns gesagt“. Aus der Verkürzung resultiere, so der BGH, eine Mehrdeutigkeit, die der Kunde auflösen muss. Mehr noch, der Slogan könne auch in einem sozialen Sinne interpretiert werden, wonach der Kunde mit dem Erwerb des Produktes zu einer Gemeinschaft gehöre, wobei diese Gruppe unklar bliebe. Angesichts dieses juristischen Feinstricks murmelten einige Anwälte dann doch: „Ich bin doch nicht blöd.“

Die  UFA [4] nahm das Urteil dankbar an, sie hat sich den Titel ihrer Soap „Unter uns“ nicht nur in der Leitklasse 41 (Erziehung, Unterhaltung), sondern in 20 weiteren Klassen (darunter Seifenprodukte, Büromaterial und Schmuckwaren) schützen lassen.

Allein Elektro-Gigant Siemens hat über 3.000 Marken in allen möglichen Klassen angemeldet. Das Problem: Das DPMA überprüft nur die in § 8 des Markengesetzes genannten „absoluten Schutzhindernisse“, das sind solche Marken, die „ausschließlich aus Zeichen oder Angaben bestehen, die im allgemeinen Sprachgebrauch oder in den redlichen und ständigen Verkehrsgepflogenheiten zur Bezeichnung der Waren oder Dienstleistungen üblich geworden sind“. Um dies zu verdeutlichen: Die Wortmarke „Bester Regenschirm“ ist als Bezeichnung für Regenschutz gängig, besäße aber für Geldschränke (Klasse 6) durchaus die erforderliche Unterscheidungskraft.

Ist die Hürde des § 8 genommen, kann der Slogan theoretisch auf alle der 45 Klassen ausgedehnt werden. Erst wenn sich ein Mitbewerber daran stößt, dass diese Wortmarke in einer – aus seiner Sicht – falschen Klasse eingetragen ist, wird es spannend; es wird geklagt. Vor dem Bundespatentgericht kommt es jährlich zu über 2.000 Markenrechts-Prozessen über ähnlich lautende, abgewiesene oder unbenutzte Marken. Allerdings können sich kleinere Unternehmen diesen kostspieligen Rechtsweg nicht leisten, der Kampf gegen die Rechtsabteilungen großer Handelskonzerne wird gescheut.

Markenrechtsexperten wie Volker Jänich, Professor für Bürgerliches Recht und Gewerblichen Rechtschutz an der Universität Jena, weisen deshalb darauf hin, dass mit der Ausdehnung des Markenschutzes die Beschränkung des Verhaltenspielraums der Mitbewerber einhergeht. „Natürlich ist das Markenrecht auch ein Monopolisierungsrecht“, gibt Jänich zu bedenken, „und durch hohe Prozessrisiken sowie die immanente Drohfunktion eingetragener Schutzrechte droht heute eine Erlahmung der ökonomischen Entwicklung.“ Mit anderen Worten: Weil immer mehr Marken und Slogans geschützt sind, wird der Raum für die Ideen neuer Unternehmungen eng.

Die extreme Ausweitung des Schutzbereichs für Wortmarken lässt sich allerdings statistisch schwer untermauern. Beim DPMA schlüsselt man die eingetragenen Wortmarken nicht nach Slogans und normalen Wortmarken (NIVEA) auf. Über die Jahre ist die Zahl der angemeldeten Wortmarken konstant: Durchschnittlich werden im Jahr an die 60.000 dieser Marken angemeldet, beim europäischen Pendant, der HABM, noch einmal etwa 30.000. Zur Zeit sind in Deutschland rund 1 Million Marken geschützt.

Um ihren guten Namen gesichert zu sehen und Trittbrettfahrern, aber auch Wettbewerbern keine Chance zur Entfaltung zu geben, melden beispielsweise Konzerne wie der Autohersteller „Jaguar“ ihre Marke in für sie eigentlich abstrusen Markenklassen an. Der englische Fabrikant möchte vermeiden, dass ein Schokoladenhersteller auf die Idee kommt, seinen schnittigen Riegel „Jaguar“ zu nennen. Erst anmelden, dann weitersehen.

So werden ganze Branchen von der Nutzung eingängiger Produktbezeichnungen abgehalten. Auch hier muss das DPMA untätig zusehen, wie immer mehr Wortmarken das Register füllen. Das Amt sieht sich außerstande zu überprüfen, ob die angemeldete Marke überhaupt genutzt wird oder nur der präventiven Abwehr dient. Zwar wird eine Marke, wenn sie fünf Jahre lang nicht genutzt wurde, gelöscht, aber auch diesen Nachweis muss ein Konkurrent vor Gericht und nicht das DPMA führen.

Schwierig wird die juristische Interpretation des Markengesetzes auch dort, wo eine neue Wortkombination gerade erst auf dem Weg in den allgemeinen Sprachgebrauch sind. So trug das Markenamt in den euphorischen Tage der frühen Internet-Ära Marken wie „Explorer“ ein. Später löschte das DPMA einige der Eintragungen wieder, andere dieser Prosa, wie etwa „Site Promotion“, sind noch heute geschützt.

Aber nicht nur die Startups machen den Angestellten bei DPMA zu schaffen. Im September des vergangenen Jahres ließ sich die Firma Zentis die Marke „Caffe Latte“ schützen. Damit ist nun auch die Jahrzehnte alte und wohlbekannten Bezeichnung für Milchkaffee in Firmenbesitz. Der Trick bei der Anmeldung: Die Anwälte von Zentis meldete ihr Produkt in der Leitklasse 29 (Milchprodukte) an, unterließen aber in der Erläuterung die explizite Bezeichnung ihres Erzeugnis; von „Kaffee mit Milch“ oder einem Mixgetränk ist nirgendwo die Rede. Dennis Sevriens, Anwalt für Markenrecht in Berlin, spricht von „einem üblichen Vorgehen“, würden damit doch „die Prüfer beim DPMA auf die falsche Fährte gelockt werden“. Große Unternehmen würden vermehrt Trends beobachten, um aufkeimende Begrifflichkeiten gleich als Marke zu schützen.

„Ich liebe es“: Slogan- und Markenwahn

Letzter Höhepunkt des Sloganhypes ist die Eintragung des Gemeinplatzes „Ich liebe es“ durch McDonald’s. Das DPMA erklärte den Claim als ungewöhnlich genug zur Bezeichnung von Fast-Food und trug ihn brav ins Register ein. Die deutsche Werbeagentur Heye & Partner „erfand“ diesen Slogan und gewann einen von der Hamburger-Kette ausgeschriebenen Wettbewerb damit. Wo früher nur ausgedehnte Hirnakrobatik oder der geniale Einfall honoriert, geschützt oder patentiert wurde, landet heute jede morgendliche Eingebung unter der Dusche bereits am Nachmittag beim Markenamt. Grenzen dafür, das Sätze in den Besitz von jemand übergehen, scheint es zur Zeit kaum zu geben. Alles nach dem Motto: Geiz ist geil.

Nichts ist unmöglich. Das Markengrabbing wird durch die Arbeit des 1993 gegründeten Harmonisierungsamtes für den Binnenmarkt noch verstärkt. Hier reicht ein Eintrag und der Slogan ist für den gesamten europäischen Raum gesichert. Die im spanischen Alicante sitzende Institution hat seit Beginn ihrer Tätigkeit die Anforderungen an Reklamesprüche nicht hoch angesetzt. Sie gab den Grundsatz der bis dahin für Slogans nötigen Kürze, Prägnanz und Mehrdeutigkeit auf. 1999 gab das Amt einer Firma Recht, die den Satz „Beauty isn’t about looking young but looking good“ gesichert sehen wollte. Auch Satzungetüme wie „the best british clothing for the worst british weather“ sind mittlerweile eingetragen.

Fachanwälte wie Fottner sind überzeugt davon, dass im Zuge der europäischen Harmonisierung auch der BGH nicht mehr starr an dem Grundsatz der Slogan-Kürze festhalten wird und „zukünftig auch längere unterscheidungskräftige Wortfolgen zur Eintragung zulassen wird“.

Durch die Akzeptanz der Anglizismen werden die Werbesprüche international übergreifend. Mit dem Schuh ist auch die Nachricht vom „Just do it“ im hintersten Andendorf angekommen. Der Nike-Treter klebt am Fuß, die mit ihm vermittelte „Message“ haftet im Hirn. Heute kauft man weniger das Produkt selbst, sondern den damit verbundenen Lebensstil, der Gebrauchswert rückt merklich hinter den Symbolwert zurück. Deshalb ist die Frage für Unternehmen heute nicht „Was biete ich?“, sondern „Wie wirke ich?“. Aus der Mixtur von Vertrauen (statt Nutzen) und der Fokussierung auf die Stil-, statt die Zielgruppen wird heute das erfolgreiche Marketing-Rezept gebraut. Die Verbildlichung des Stils zum Image leistet das Logo, die Verbalisierung der Slogan.

Nicht umsonst heißt der Slogan unter Werbern auch „Claim“, ein Ausdruck aus dem Wilden Westen, der das Abstecken des eigenen Besitzes mit Grenzpfählen besagt. Slogan wiederum bedeutet soviel wie „Schlachtruf“. Das „Branding“ einer Marke lehnt sich ebenfalls an den Cowboyslang an. Damals brannte man dem Vieh sein Zeichen ein, auch heute steht der Kunde als Ochse auf der Weide der bunten Warenwelt, um von einer Firma ihren Code ins Hirn gebrannt zu kriegen.

Deutsche Kaufmänner zeigen keine Scheu vor der englischen Sprache, wohl wissend, dass die Bevölkerung sich mit den Anglizismen längst angefreundet hat. Auch hier sind es die seltsamsten Verheißungen, die ihren Eingang in die Kartei finden: „eat the best…“, „feel the best…“, „think the best…“, und natürlich auch „be the best…“ sind alle fest in deutscher Hand bei den Ämtern. Die deutsche Wirtschaft zeigt sich ohnehin äußerst markenfreudig. Rund 25% der beim europäischen HABM registrierten Marken stammen aus den USA, gleich dahinter liegen deutsche Firmen mit 17%.

Mittlerweile treibt der Eintragungswahn Blüten. Der Satz „Ich bin Christ“ ist seit einem Jahr als Wort-Bildmarke geschützt und befindet sich nicht in den heiligen Händen des Klerus, sondern in Klasse 41 (Erziehung, Unterhaltung) wieder. Ein kluger Mann aus dem Ruhrpott hat einen Trick angewendet, der unter Markenmaniacs immer beliebter wird. Da die Wortfolge „Ich bin Christ“ allein nicht schutzwürdig wäre, kombinierte er den religiösen Claim mit einem Logo und ließ sich die so entstandene Marke auch gleich für Schreibwaren und Bekleidungsstücke schützen.

Wer nun aber glaubt, er darf auf dem nächsten Kirchentag seine Konfession nicht mehr auf dem T-Shirt zur Schau tragen, der liegt verkehrt. Das Markenrecht zielt allein auf den Geschäftsverkehr, der private Gebrauch und auch die Ironisierung von Slogans und Wortmarken ist legal. „Ich liebe es“ darf also bei Happenings auf vergammelten Burgern stehen und auch der Spruch „Die längste Praline der Welt“ darf auf einer Jeans prangen. Auf diese Steine können Sie bauen. Konfliktschwanger wird es erst, wenn ein kleiner Textilien-Fabrikant einen bekannten Slogan auf eine ganze Serie von T-Shirts druckt und diese vertreibt.

Heute reicht schon ein Buchstabendreher oder ein Akcent, damit eine ursprünglich Wortmarke zur Wort-Bildmarke aufgebläht wird. Statt „Marke“ wird dann „Márke“ reserviert, die Konkurrenz wird später bei Eintragungsversuchen von „Marke“ auf „Verwechselungsgefahr“ verklagt.

Hypertrophie der Schutzrechte

Kommunikations- und Werbeexperten wie der Hannoveraner Juniorprofessor Jannis Androutsopoulos erforschen die Kunst der Werbung sowie Lust und Frust der Kundschaft. Androutsopoulos sieht den kontinuierlich anwachsenden Schutz für Slogans schlichtweg als das Ergebnis der Evolution von Werbung: „Noch bis in die 70er Jahre hinein hätten die Normen der Werbung keine dialogische und umgangssprachliche Werbesprüche attraktiv erscheinen lassen.“

Auch die Kompetenz des Rezipienten, Lücken im Slogan zu schließen, nähme sicherlich im Laufe der Werbe-Sozialisation zu. „Insofern“, so der Fachmann für Medienkommunikation, „kann ‚Du darfst‘ nur in einer eingespielten Werbegesellschaft funktionieren“. Für die Zukunft sagt Androutsopoulos eine Werbung voraus, die immer fragmentarischer und kryptischer daherkommt.

Wohin die Okkupation der Wortfolgen führt, weiß zur Zeit keiner so genau. Androutsopoulos gibt Entwarnung. Er sieht die Alltagssprache als Fass ohne Boden, die sich ständig erneuert. Angst vor dem Ausverkauf der Worte bräuchte niemand zu haben: „Die Elemente der Sprache sind zwar finit, aber ihre Kombinationsmöglichkeiten unendlich. Und solang nur Kombinationen und nicht auch ihre Bestandteile patentiert werden, lässt mich dies doch noch hoffen.“

Juristen wie Volker Jänich sehen dagegen mit Sorge auf die Sonderrolle des Markenrechts, „dem einzigen Schutzrecht“, so Jänich, „das zeitlich unbegrenzt wirkt“. Trotz oft vergleichsweise geringer Mühen beim Entwurf eines Slogans stehe diesem ein ewiger Schutz zu. Dagegen ist die sogenannte „Schöpfungshöhe“ in anderen Bereichen des geistigen Eigentums nicht nur erheblich schwerer zu erreichen, das Urheber- und Patentrecht kennen auch zeitliche Begrenzungen, nach denen die Ergüsse des Erfinders an die Allgemeinheit fallen.

Auch die von Markengesetz und DPMA beschworene „Unterscheidungskraft“ von Slogans verkommt inzwischen zur Makulatur, ist doch selbst der Begriff, der dafür erfunden wurde eben keine Unterscheidungskraft zu besitzen, in diversen Markenklassen eingetragen: „Nichts“.

Bei den Domains geht es auch gegen Privatpersonen

Wo bislang nur Werbeagenturen und Firmen sich gegenseitig ihre Marken und saloppen Sprachfetzen streitig machten, zielen deren Rechtsabteilungen neuerdings auch auf Privatpersonen, um diese beispielsweise von dem Gebrauch von Internetadressen abzuhalten, die mit dem Firmennamen in Verbindung gebracht werden könnten. Die Registrierung einer Domain im weltweiten Netz ist Minutensache – und kostet knapp 20 Euro. Heerscharen von agilen Bürgern und Kleinunternehmern melden immer wieder Domains bei der DENIC, der deutschen Vergabestelle für die international erreichbaren Adressen, an, die als Bestandteil einen großen Namen führen. So nannte ein Autoteile-Händler seine Seite etwa www.bmw-teile.de, ein anderer seine Präsenz www.bmwwerkstatt.net.

Die Gerichte urteilen hier zumeist zugunsten der Marke. Begründung: Wo BMW draufsteht, da soll auch BMW drin sein. Es dürfe nicht, so die Richter, der Eindruck entstehen, als ob BMW die Tätigkeit der Inhaber überwachen und eine dauerhafte Vertragsbeziehung bestehen würde.

Wem dies noch klar erscheint, der wird bei den sprachlich stärker eingebundenen Domains schon eher zweifeln. Der Betreiber der Domain www.metrosexuals.de erhielt von dem Handelskonzern METRO die Aufforderung, seine Domain zügig zu löschen. Die Anwälte sehen in der Domain keinen Platz zum Austausch für gepflegt-urbane Männer a la David Beckham, sondern eine Gefahr für die Integrität der Firma.

Der Rechtsstreit läuft, der Kampf um das Eigentum an Worten und Sätzen geht in eine weitere Runde. Juristen werden zukünftig immer häufiger zu klären haben, wo der Schutzbereich einer Marke aufhört und wo die Freiheit eines anderen Unternehmen, die künstlerische Verwendung durch Künstler oder die pure Freizeitlust der Privatperson anfängt. Es droht eine rechtliche Grauzone, in der jeder Domaininhaber damit rechnen muss, Ziel der Verteidigungsstrategie großer und kleiner Wirtschaftsunternehmen zu werden. Wie würde die Metro wohl auf einen Dietmar Hamann Fanclub reagieren, der sich die „Metronomen“ nennt und eine gleichlautende .de Domain anmeldet? Oder gibt es bereits Bestrebungen bei der METRO, den Verein Namens „Pro-Bahn“ für den Begriff „Metro-Express“ abzumahnen, den dieser für die Einführung eines schnellen Zugstrecke zwischen Köln und Dortmund nutzt? Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen.

Der neueste Kniff unter Markengrabbern ist es, die Titel urheberrechtlich geschützter Werke, deren Schutz abgelaufen ist, als neue Marke eintragen zu lassen. So ist beispielsweise der Titel des Kinderbuches „Alice im Wunderland“, 1864 von Lewis Caroll veröffentlicht, in Händen einer Merchandising-Tochter der ProSiebenSat.1 Media AG. „Tom Sawyer“ wiederum haben sich verschiedene Firmen für Tabak, Wassersportgeräte und alkoholische Getränke schützen lassen. Das literarische Kulturerbe wird zur wertvollen Quelle für das Markendesign, bestehen doch beim Kunden bereits fest etablierte, positive Assoziationen zur Wortmarke.

Beliebt ist es neuerdings auch die Namen berühmter Personen als Marke anzumelden. Ob „Ludwig van Beethoven“ oder „Wolfgang Amadeus Mozart“, „John F. Kennedy“ oder „Konrad Adenauer“: Sie alle stehen mittlerweile mit ihrem Ruf für ein Produkt gerade. „Bill Clinton“ muss sogar für ein Aphrodisiaka herhalten. Um das ohnehin schon aufgeblähte Markenregister nicht zu einem Sammelsurium fragwürdiger Slogans und kulturell besetzter Bezeichnungen verkommen zu lassen, diskutieren die Juristen nun, ob solche Anmeldungen nicht den Tatbestand der „Bösgläubigkeit“ erfüllen und zukünftig vom DPMA schon im Vorwege abgelehnt werden sollten.

Was bleibt? Während es für Unternehmen zunehmend schwieriger wird eine neue Marke zu etablieren ohne in den Rechtskreis eines Mitbewerbers einzudringen, ändert die Schlacht um Worte für den Kunden wenig. Er ist weiterhin Ziel des die Marke umgebenen Marketings, seine soziale oder künstlerische Entfaltung behindert die Omnipräsenz der Marke kaum – sieht man einmal von den Verwechselungsgefahr bei Domainnamen und der juristisch schwer anfechtbaren mentalen Verschmutzung durch den alltäglichen Werbemüll ab.

Schon vor Jahren holte deshalb die Satire-Zeitschrift „Titanic“ zum polit-ökonomischen Gegenschlag aus. Ihre Antwort auf den mit einer Kampagne unterstützten Namenwechsel des Knusperriegels „Raider“ auf das heute bekannte „Twix“ hieß: „Haider heißt jetzt Wix, sonst ändert sich nix“.

Links

[1] http://www.dpma.de/
[2]
[3] http://www.dpma.de/
[4] http://www.ufa.de/

Telepolis Artikel-URL: http://www.telepolis.de/deutsch/special/eco/18689/1.html

 

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Gastronomie Tip Restaurant Roma

Prinz Top Guide 2004

Restaurant Roma ROMA
Hofweg 7
22085 Hamburg
Tel. 040 – 220 25 54
Montags bis Donnerstags 12.00 – 15.00 Uhr, 18.30 – 23.00 Uhr
Freitags 12.00 – 15.00 Uhr, 18.30 – 24.00 Uhr
Samstags 18.30 – 24.00 Uhr
Sonntags 18.30 – 23.00 Uhr
Hauptgerichte 16-26 Euro
AmEx, Visa, EC, Eurocard
Bus 6 Mundsburger Brücke oder Bus 8 Hofweg

Meine Mutter sagt: „Das Roma war mal gut.“ Das klingt nach Vorvergangenheit, aber wie ist es heute? Die Räume atmen Anstand und Zahmheit des rechten Alsterufers. Fresken in Ockertönen, dazwischen schreitet der Ober, der – gut geschult – einen Chardonnay empfiehlt: ein karamelliger Volltreffer. Der passt tatsächlich zum auf den Punkt gegrillten Pulpo. Der Wein hebt uns, die Pasta mit Pfifferlingen in Sahnesoße drücken uns, so bleiben wir in der Mitte und genießen unseren Platz am Fenster. Die Küche im Roma lebt von einfachen, aber hochwertigen Zutaten. So wie bei der Kalbsleber mit Zwiebeln – Genuss ohne viel Schnickschnack. Das abschließende Panna Cotto mit frischen Früchten rundet das Menü ab. „Mutter, du darfst wieder im Präsens sprechen.“
FAZIT: Stilvoll, aber bodenständig, kostspielig, aber den Preis wert.

Jörg Auf dem Hövel

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Portrait des Künstlers und Rock’n’Rollers Helmut Wenske

Portrait des Künstlers und Rock’n’Rollers Helmut Wenske

Der musikalische Entertainer Götz Alsmann titulierte ihn liebevoll als Kauz, doch wo Käuze in die Nacht rufen, da ist der außergewöhnliche (Lebens-)Künstler, Autor und Rock’n’Roller Helmut Wenske dann wohl eher ein frei fliegender Uhu. 1940 während des Zweiten Weltkriegs wurde er im hessischen Hanau bei Frankfurt am Main geboren. Sein Vater starb 1941 als 22-jähriger Soldat an der Ost-Front. Als Kind erlebte Wenske die Bombardierungen durch die Alliierten kurz vor Kriegsende 1945 und litt unter der Willkürherrschaft einer brutalen manisch-depressiv gestörten Mutter und ihrer wechselnden Partner. Aus einer beschissenen aber im nachhinein betrachtet eine interessante Persönlichkeit prägenden Kindheit in einem der für die im Wiederaufbau befindlichen Städte der Nachkriegszeit typischen Wohnghettos emanzipierte er sich mittels seines künstlerischen Talents und Rock´n´Roll.

Mitte der Fünfziger sieht er im Kino den Film „Saat der Gewalt“ und ist von der neuen Musik darin mit ihrem knallharten Sound begeistert. Bald geht er auf sein erstes Konzert und ist von da an vom Rock´n´Roll infiziert. In Zusammenhang mit der durch die Stationierung US-amerikanischer Truppen bestehenden Bar- und Club-Szene wurde Hanau eine der Hochburgen dieser gegen den Mief der Fünfziger rebellierenden musikalisch aufgepeitschten Abfeierkultur. Helmut Wenske war als party-wütiger „Halbstarker“ mitten drin und voll dabei. Rückblickend gesehen war der Startschuss für die kommenden musikalisch geprägten mehr oder weniger rebellischen im Kern hedonistischen Jugendbewegungen gefallen.

Wenske machte sich schnell auf Grund seines Talents einen Namen als Szene-Maler. Nach Lehren als Porzellanmaler und Schaufensterdekorateur verdingte er sich vielfältig, u.a. für das Kaufhaus Hertie, als Groschenheftchentitelgestalter, Plakat- und Stripteasekulissenmaler und Porno-Illustrateur. Horror-Filme und -Literatur inspirierten ihn. Gleichzeitig verfolgte er die musikalische Entwicklung vom Rock´n´Roll über die eher weniger innovative Beat-Zeit bis zur psychedelischen Hippie-Ära.

Über Johnnie Dee vom Edelhippie-Pop-Duo Adam and Eve, dem er seinen Cadillac psychedelisch anmalte, kam er 1967 zu Bellaphone Records mit Sitz in Frankfurt. Für diese als kreativer Kopf arbeitend erlangte er schließlich Berühmtheit durch seine Cover- und Poster-Illustrationen für Bands, die ihm persönlich zusagten. Durch den zeitgemäßen Einstieg in den täglichen Cannabiskonsum erlebte er einen ungeheuren kreativen Schub. Darum bemüht, sein Ego abzuschalten und hochkommen zu lassen, was innen drin ist, entstanden auf Grund seines vorhandenen Talents beeindruckende durch seine Erfahrungen geprägte psychedelisch-phantastische Bilder mit ineinander verwobenen albtraumhaften Motiven, die heute gleichzeitig Zeitdokumente, Psychogramme von Wenske und zeitlose originelle Einblicke in die menschliche Seele darstellen. Wenskes meisterhafte für ihn damals überlebenswichtige Kunst prägte das visuelle Image auf Plattencovern von Bands wie Creedance Clearwater Revival, Jeronimo, Steel Mill, Dzyan, Canned Heat, Tina Turner, Jimmy Hendrix und vor allem Nektar, zu denen eine sich gegenseitig befruchtende geradezu synergistische Beziehung bestand. Wenske fühlte sich unter den zeitgenössischen Künstlern am ehesten noch von dem ihm in mancher Hinsicht verwandten HR Giger angeregt. Wenskes Werke selbst wurden auf Vernissagen bewundert, mit Dali verglichen und hochgelobt. Er zählte zu den künstlerischen Risingstars. Zu Recht: Seine Bilder sind nicht mit einem Blick erfassbar, auf morbide Weise schön und drücken jenseits von mit Sehnsüchten nach Ganzheit und heiler Elfenwelt überfrachtetem psychedelischem Kitsch Ängste und Qualen des in eine grausame absurde Welt geworfenen erotisch penetrierten Seins aus, oder so ähnlich. Aber genau diese Art von Geschwafel und die dazugehörige aufgeblasene schmarotzerhafte Kunstszene gingen ihm schließlich auf die Nerven.

Seine Werke dienten noch als Titelbilder auf Buchumschlägen zahlreicher anspruchsvoller Fantasy- und Science Fiction-Romane, u.a. auch von Lem und Philip K. Dick. Mit Ausnahme des Meisters der Paranoia interessierte Wenske sich jedoch selbst gar nicht für dieses zum Hirnwichs tendierende Genre. Optisch versteinerte Wenske in seiner künstlerischen Hoch-Zeit zum dauerbekifften verzottelten Freak. Nach einem Lungenriss im Alter von 35 Jahren und zusätzlich noch von Kreislaufproblemen gebeutelt sah er sich nach zwölf Jahren des Exzesses Ende der Siebziger schlussendlich gezwungen den Cannabiskonsum einzustellen, den letzten Haschklumpen im Klo zu versenken, und hörte prompt auch auf wie besessen zu malen. Er hatte ohnehin praktisch alles rausgelaasen, was er rauslassen wollte. „Die Dämonen waren besiegt.“ („Shakin´all over.“) Ein neuer klarerer Trip begann. Dass sein Talent nicht gleichzeitig mit dem Cannabiskonsum flöten gegangen war, beweisen vereinzelt in der Folge entstandene Werke. Dem Alkohol gegenüber blieb Wenske weiterhin zugeneigt.

Anfang der Achtziger erlebte Rock´n´Roll ein verklärtes Revival. Man erinnere sich an die Teds, Rock´n´Roll-Tanzkurse, den fetten Elvis und schnulzige Schmalztypen wie Peter Kraus. Das stank Wenske gewaltig: „Nee, Leute! Rock´´n´Roll war wild, ungezügelt, roh und vulgär. Der gehörte auf die Straße, auf den Rummelplatz und in die versifften, alkoholgeschwängerten, nach Schweiß stinkenden, verräucherten Rockschuppen, wo die Amis mit den Nutten ihren Sold verjubelten, sich mit den Halbstarken rumprügelten, Tische und Stühle zu Bruch gingen, Köpfe blutig geschlagen wurden und junge Typen mit ölglänzenden Haartollen und gefährlich langen Koteletten verbissen auf ihre Gitarren eindroschen, bis nur noch der Beat durch den Raum donnerte, durch die spastisch zuckenden Glieder peitschte und alles vergessen ließ, was jenseits der vier Wände existierte!“ („Scheiß drauf“, S.178)

Er fing an zu Schreiben und lieferte 1983 unter dem Pseudonym Chris Hyde mit dem Werk „Rock´n´Roll Tripper (1)“ einen bukowski-esken im Straßenslang geschriebenen Meilenstein an Stories ab, der heute als authentisches Werk zum Eintunen in die damalige Zeit gefeiert wird. Auch auf das heute kaum noch bekannte Phänomen der zwischen 1956 und 1965 besonders aktiven aus den Niederlanden tourenden indonesischen Rock´n´Roll, Dance- und Show-Bands richtete er das Augenmerk mit einem Buch.

Als literarischen Nachschlag gab es dann 1988 den „Tripper 2“. Er liefert u.a. interessante Einblicke in die Scheinheiligkeiten des Rock-Geschäftes, das sich ab Ende der Sechziger Jahre der Vermarktung der modischen „Love and Peace“-Attitüde der Hippies und der von diesen geprägten musikalischen Verschwurbelungen widmete und erinnert auch daran, dass für viele Protagonisten der damaligen naiv durchgestarteten Drogen-„Scene“ am Ende Sucht, Psychosen und frühzeitiger Tod standen, während sich die zunächst innovative psychedelisch inspirierte Musik in technoidem Bombast und Glamgewittern verlor. Erst mit Punk gelang vorübergehend ein musikalischer und subkultureller Befreiungsschlag, back to the Roots, wenn man so will. Das galt auch für Wenske. Er kehrte zum ursprünglichen Rock´n´Roll-Feeling zurück.
Ein besonderes Steckenpferd des Autors sind die Bands, mit denen er auf Konzerten abgefeiert und zu denen er abgetanzt hat und die er egal wie alt weiterhin gerne selbst erlebt. So wird er zum lebendigen Musikkriker und zum Chronisten der Hanauer und mit Hanau verbundenen Rock(´n´Roll)-Szene. Wenskes 2003 erschienenes Werk „Scheiss drauf!“, zunächst einmal eine gelungene unterhaltsame Selbstdarstellung in Bildern, ist demzufolge gleichzeitig eine Hommage an den in Hanau erlebten Rock´n´Roll und seine Protagonisten.

Zwischenzeitig wurde Wenske in interessanten Fernsehdokumentationen als Zeitzeuge und Persönlichkeit gewürdigt. Und auch wenn Kunst für ihn selbst nicht mehr das Ding ist, so bietet doch das jüngste Werk aus dem CoCon-Verlag (2009) einen sehr attraktiven farbigen Einblick in sein vergangenes kreatives Schaffen, gepimpt mit Würdigungen künstlerischer Weggefährten.
Was trieb Wenske in den letzten Jahren? Seinen Lebensunterhalt verdiente er seit Anfang der Neunziger mit harter körperlicher Arbeit. Wenn möglich, reiste er mit Erika, seiner Frau und langjährigen hübschen Lebensgefährtin (seit 1959 zusammen!) nach Nordafrika und Südostasien. Dort reitet er dann gerne Araberhengste, Kamele oder Elefanten. Und er macht selbst als Gast-Sänger mit befreundeten Bands, na was wohl?! Rock´n´Roll!

az

Info und Contact Helmut Wenske:
www.wenske-hyde.com

Die Bücher:

Wenske
Rock`n `Roll Junkie.
Psychedelic Maler.
Underground Autor.
120 S., Kunst- und Fotoband (mit mehr als 100 zumeist farbigen und teils ganzseitigen Abb.)
mit Textbeiträgen diverser Autoren
CoCon Verlag, Hanau 2009
www.cocon-verlag.de
ISBN 978-3-937774-64-0
19,80 Euro

Chris Hyde
Rock`n`Roll-Tripper
168 S., Tripper 1 (1983) und 2 (1988) mit 44 teils ganzseitigen Abb. auf 24 Fotoseiten
archiv der jugendkulturen e.V., Berlin 2003
ISBN 3-936068-45-3
18,- Euro

Wenske/Hyde
Scheiss drauf! Eine Rock`n´Roll-Bio in Bildern, ein Leben gegen den Strich.
276 S. mit über 400 teils ganzseitigen SW-Abb.
archiv der jugendkulturen e.V., Berlin 2003
ISBN 3-936068-69-0
22,- Euro

 

Der Film:

Daniel Siebert/ Axel Czarnecki
Shakin´ all over. Helmut Wenske – ein Leben gegen den Strich.
DVD, 60 minütige Doku mit musikalischen Beiträgen
2006 amigofilm productions e.k.
www.amigofilm.com


 

 

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Inselhopping auf den Kykladen

PETRA, Februar 2004

Inselhopping auf den Kykladen

Wenn der Weg das Ziel ist

Ich erinnere mich nicht, jemals an einem so stillen Ort gewesen zu sein. 300 Meter hoch sitzen wir, direkt an der Steilküste, die weiß getünchten Zimmer im Hintergrund, vor uns die Ägäis. Den Kopf von links nach rechts wendend nur Meer. Kein Vogelgezwitscher, kein Insekt, nur ab und zu lässt der Wind ein vertrocknetes Blatt über den Boden rascheln. Es könnte diesig sein, ist es aber nicht; das Licht ist so hell, dass Himmel und Wasser sich in einem weißen Kranz vermischen. Oder ist es anders? Steuert Helio, der Sonnengott, freudig erregt, seinen Wagen gen Meer, vielleicht um sein Mütchen zu kühlen? Sein Palast steht im Osten, früh morgens treibt er seine flammenden, glühenden Rösser aus dem Tor und reitet durch den Tag, um Abends hinab ins westliche Meer zu tauchen. Dort ruht er sich aus und badet. In der Nacht setzt er sich in eine riesige Muschel und treibt auf dem Okenasstrom, der die Welt im Kreislauf umfließt, zurück in den Osten in seinen Palast. Ja, so reimten die Griechen und unser Herbergsvater auf der Kykladeninsel Anafi kommt wie zur Bestätigung um die Ecke geschlurft und blinzelt mürrisch in den letzten orangenen Zipfel von Helios´ Wagenspur.

Auf der Insel gibt es vier schöne Strände, wobei der letzte 700 Meter lang und total einsam ist. Wild zelten ist hier geduldet, leider sind meine Fußbänder gedehnt, der „Doktor“ auf der Insel faselte was von „five days“, aber ich fühle mich auch zwei Wochen später noch unmobil. Die Hängematte wird zu meinem Zuhause. Am Strand ist es Mittags fast unerträglich, obwohl wir erst Juni haben. Wir hocken im Schatten, muffeln den Salat und trinken lauwarmes Wasser. Das Badewasser ist dagegen herrlich kühl und pool-sonnenklar.

Santorin

Eine Mopedfahrt über die Insel zeigt uns die drei K. Es ist karg, knarzig, karstig. Grober Schotter, Gesteinsbrocken, manche faustgroß liegen im Weg. 45 Minuten gurken wir schon rum, Claudia presst sich an mich, der Wind umweht uns. Wir sehen keinen Menschen, auf der Insel scheint es mehr Kapellen als Menschen zu geben. Ab und zu steht ein Hühnerstall in der Pampa. Wir kommen über eine Kuppe, kühler Wind kündigt das Meer an. Wir halten, gehen zu Fuß weiter. Wachholderbüsche, wilder Thymian und andere stachelige Gewächse. Alles duckt sich, vor Wind und vor allem Sonne. Im August ist hier alles verbrannt, jetzt duftet es noch wundervoll. Aus der Ferne bräunlich-ocker wirkend, zeigen sich aus der Nähe doch viele Farben. Gerade in den kleinen Schluchten, durch die der seltene Regen abläuft, wachsen rhododrendronartige Pflanzen, Palmen sogar. Ein herrlicher Meerblick tut sich auf, wieder steht eine kleine, weiße Kapelle im Weg. Wir treten ein, drinnen ist es dunkel. Eine Kerze brennt seit Tagen, Räucherkohle und Weihrauch stehen bereit. Der Raum ist nur drei Meter lang und zwei Meter breit, schmucklos, nur Ikonen hängen an den Wänden. Die Atmosphäre ist spannend, aber wirkt auf mich nicht spirituell. Ich frage mich schon, was Menschen dazu brachte, an dieser Stelle Gott zu loben. Oder hatten sie Angst? Draußen ist es hell und schön.

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Wir verleben erholsame Tage auf Anafi, fahren nach fünf Tagen weiter nach Naxos. Die größte Kykladeninsel ist im Westen gut erschlossen. Kein Wundern, hier gibt es kilometerlange Strände. Aber der Tourismus hat das Ambiente zerrissen. Nur vereinzelte Appartment-Anlagen, nichts gewachsenes. Unser Zimmer hat gleichwohl einen tollen Ausblick auf die Ägäis. In der Nachbarschaft wird gebaut – nichts ungewöhnliches auf allen Insel. Überall stehen halbfertige Häuser, aus vielen ragen Stahlstreben gen Himmel. Späte Blitze des Zeus. Für ein nicht fertig gestelltes Haus zahlt der Grieche keine Steuern, zudem scheinen die Leute eh ein anderes Verhältnis zum Rumstehen von Dingen zu haben. Meine These: Auch die altertümlichen Ruinen in Knossos und die Akropolis sind keineswegs Zeugen einer untergegangenen Hochkultur, sondern waren schon damals nicht fertig gestellte Bauversuche. Sorry for that.

Dimitri Kakianaiki, ein Mitfünfziger in stattlich Figur, breitem Grinsen und kleinen Augen lässt die Bernsteinkette Kugel für Kugel durch seine Hand laufen und schaut in die Ferne. „Ja, ja, Anfang der 70er Jahre wurde hier viel und wild gebaut. Außer Affenbrot gab es hier praktisch nichts. Dann kam der Tourismus“. Klick, Klick, der Rosenkranz klackert. „Aber jetzt schließen sogar Hotels hier auf Kreta wieder, weil die Touristen fehlen,“ Dimitri wirkt nur am Rande von der Krise betroffen, denn obwohl die Gäste ausbleiben – die Baulust der Griechen ist ungebrochen. Überall auf Kreta, überall auf den Kykladen stehen die bekannten halbfertige Villen, Appartements und Häuser in der Landschaft. Wieder klickert das Kettchen. Dimitri grinst. Er hat Ingenieurwesen in München studiert und ist jetzt Baulöwe, sogar einer der größten auf Kreta. Seine Frau Anna spricht im gewohnten Komisston, nein, eher wie die Vorsitzende eines Universitätsprüfungsausschusses im Deutschland der 30er Jahre. . „Tell me your plans!“ Jawoll! „Was ist los in Deutschland? Was macht der Schröder?“, fragen sie sich, fragen sie uns. Wir sagen: Entschuldigung, Entschleunigung. Zeus sei Dank kommt jetzt Olympia und die Griechen hoffen auf gute Spiele, „auf welche mit Kultur“, sagt Dimitri und Anna nickt.

Santorin ist eine unfassbare Weide für die Augen. Die Insel liegt am Rande eines Vulkans, der zum letzten Mal in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhundert ausgebrochen ist. Das Hauptdorf, die Chora, klebt weiß an der Steilwand in 500 Meter Höhe. Ein Bild für die Götter. Der riesige Kratersee ist die Ägäis selbst. Der Sonnenuntergang legt sich wie ein sanftes Tuch über das Dorf und unseren Seelen. Aber: Zu viele Touris, wir wollen weiter.

 

Koufonissi, ja! Buchten, Sandstrände, Wasser in türkisblau. Ruhiger Übergang in den wirren Tourismus gesucht. Die Fischer sitzen und warten. Ich lese Henry Millers Hohelied auf das Land und seine Bevölkerung und kann nicht recht folgen. Was er Stolz nennt ist für mich Arroganz. Pimpf Miller tauchte in den 30er Jahren in Griechenland auf und wurde natürlich gleich in die Künstlerkreise eingeführt, die vor wild fabulierenden und gestikulierenden Griechen nur so strotzten. Meine Gespräche mit den Griechen verlaufen zwar in fröhlicher Stimmung, wir bauen eine Ebene des Verstehens auf, reden oft lang und kompliziert in radebrechenden Englisch, man lacht sogar, und am Ende kommt raus, dass wir von unterschiedlichen Dingen gesprochen haben. Macht nix, ist ja Urlaub. Frieden im Herzen fordert Henry Miller. Jeder muss bei sich selbst Anfangen, große Pläne nutzen wenig, sagt er. Mmh.

Die Natur entschädigt für das Essen, gleichwohl bleibt es dabei: Nur eine tote Mücke ist eine gute Mücke. Haben Mücken eigentlich Augen? Ich empfinde es als so hell wie nirgendswo sonst auf der Welt zuvor. Die Sonnebrille ist defekt, macht auch nix, denn die würde mir eh Teile des Spektralspektakels (was für ein Wort) rausfiltern. Das Wasser ist durchleuchtet, so hell, dass meine Muse ihren blassen Nagellack im Wasser erkennt. Fauna und Flora fehlen aber, Folgen der Überfischung. Bis vor zehn Jahren wurde hier noch mit Dynamit gefischt. Im diesem Himmel möchte man baden. Im Zenit schon hellblau wird er zum Horizont weiß, mischt sich mit dem Dunst des Meeres zu einem unendlichen, weich gezeichneten Übergang,

Es wird heißer von Tag zu Tag. Eine träge Stimmung breitet sich aus, mein Fuß steckt mit Bänderdehnung im Verband, ich in der Hängematte. Das letzte Quentchen Hirn fließt in Sand und Kiesel. Übrig bleibt Entspannung, sorry, Entschleunigung. Dieser Atmosphäre entsprangen die Mythen, oder waren sie sogar zuerst da, die Sagen? Aber wo sind die unterirdischen Linien der philosophischen Grundlagenforschung, die hier vor unser Zeitrechnung schon betrieben wurde? Wo sind sie heute noch zu sehen im Land? Ich fühle mich ein wenig wie am Anfang der Zeit. Alles hier und bald auch wir sind wesentlich. Reduziert auf Erde, Luft, Wasser, Licht. Nackt, völlig enthüllt. Das Gute, das Schöne, das Wahre. Vielleicht wehren sich die Griechen im Innersten gegen den technische Fortschritt. Er passt nicht hierher. Die Vorfahren haben schon vor 2. Jahrtausenden das Wichtigste gesagt und gedacht. Weiter braucht der Grieche nicht. „Hier, nehmt und macht was draus.“

Tage später. Angekündigt ist George Tromaras. Vom Hafen her dudelt Musik, von einer krächzenden Stimme unterbrochen. Auf der Mole bietet sich ein merkwürdiges Bild: Ein altes Campingmobil steht quer, davor auf blankem Zement ein paar Bänke. Auf dem Wagen ist das Konterfei von Tromaras gemalt, darunter sein Name mit dem Zusatz „Champion Greece and Europe“. Worin?, könnte man fragen. Der Mann ist gottkräftiger Eisenbieger. Auf der Motorhaube eines alten Ford-Transit ist mit einem Tau ein Megaphon befestigt, daraus tönt die Stimme des Herrn. Im Hafenbecken daneben liegt ein Frachter, ein wahrer Seelenverkäufer, dessen Heck bis zur Reling im Wasser versinkt, dessen Bug aber unbelastet aller Sorgen in den Himmel ragt. Drei Seemänner in weißen Unterhemden wollen sich das kommende Schauspiel nicht entgehen lassen und lungern an der Rehling rum. Die Fischerboote im nahen nachtschwarzen Wasser sind weiß getüncht. So wie tagsüber der Himmel ins Wasser fließt, so fließt Nachts das Wasser horizontlos in den Himmel über. Die Boote schweben.

Wie aus anderen Welt steht der Utensilienkoffer des Bären vor seiner rollenden Höhle, groß wie ein ledriger Sarg mit Griff. Aus dem Koffer lugen Eisenfedern, eine Stange steht daneben. Kinder wollen den Körperkünstler sehen, dazu ein paar Opas und halbstarke Griechen in Muskelshirts. Er wird biegen und brechen. Schüchtern betrachtet ein Mädchen den Koffer als plötzlich der Herkules, der neue Herkules , mit zwei polternden Sätzen aus dem Mobil auf den Platz springt. Das Mädchen nur halb erschrocken, der Auftritt leicht vermasselt. Da steht er nun mit schwarzem Ringeranzug, die kurzen Beine stecken in dunkelbraunen Ringerschuhen, die ihm fast bis zu den Knien reichen. Bandagen schützen die Gelenke. Schwer atmend steht er da, der legitime Erbe vom Herakles und beginnt seine Rede. Was sagt er? Er spricht von seinen Heldentaten, berichtet von mehrköpfigen Schlangen, die er besiegte, von Riesen, die er bezwang.

Mit kurzer Geste bringt er die am Eingang stehenden Unentschlossenen zum Schweigen – Gehen oder bleiben, aber nicht dumm Rumsabbeln, ihr Ignoranten. Ja, vielleicht ist er nur ein Jahrmarktclown, aber er weiß von seiner Kraft, seinem Stolz und er muss niemanden fürchten hier. Ja, vielleicht steht er kurz vor der Abhalfterung, aber über diese entscheidet er selbst. Sein kleiner Helfer schlägt ihm zum warm werden die Eisenstange drei, sogar vier Mal auf die gewölbte Brust. Herakles schreibt bei jedem Schlag, so laut, dass sich die Stange verbiegt. Zwei Männer hebt er hoch, nur mit dem Nacken, einen Nagel treibt er mit purer Muskelkraft durchs dicke Holz. Gar 18 Männer, 9 auf jeder Seite, zerren an ihm, versuchen ihn zu zerreisen, er brüllt, er schwitz, die Reihe wankt, die Kinder kreischen, die Oma zittert gar vor Furcht, aber er trotzt allen Kräften.

Ganz außer Atem schöpf er Luft aus warmen Himmel, kündigt von der nächsten oder alten Tat. Wir wissen es nicht, zu fremd ist seine Sprache. Einen Knoten nimmt er in den Mund, daran ein Band, zehn Meter lang an dem blauen Transit gut befestigt. Es wackelt nun das Megaphon, der riesenhafte Zwerg zieht nicht nur den einen, nein, auch die dahinter stehende über die Mole; fast bis ins schwarze Hafenbecken. Stühle rücken, verwunderte Gesichter: Wohin will er? Wozu das Alles? Die Menge johlt, die Menge klatscht. Ja, Herakles ist stark, ein Heros, ein Mann aus alter, voralter Zeit sogar, als die Menschen und Götter noch wild zusammen lebten, sich schlugen und bumsten.

Jetzt kommt ein Auto auf die Bühne, Vati sitzt am Steuer, die Kinder auf den Bänken. Der alte Japaner hat bessere Tage erlebt, der Kofferraum ist zugebunden, die Kotflügel verrostet. Einige Worte im harrschen Ton des Kraftmeiers, dann gibt der Vater Gas, doch Herakles hält gegen, hebt den Wagen ganz vorne an, Entlastung wird den Reifen zuteil und aus lauter Dankbarkeit hüllen sie den Platz in Gummiqualm. Nun ist kein halten mehr, die Kinder stehen auf den Bänken, rechts hinten brennt eine rote Fackel, die Show ist aus. Der Gesandte, späte Sohn des Zeus packt seinen Koffer, Schweiß perlt in seine dunkeln Augen, die gütig blinzeln. Pure Kraft ist göttlich wohl.

Jörg Auf dem Hövel

P.S. Deutschland ist so grün aus der Luft. Hamburg ist es auch auf der Erde. Bäume, herrliche Bäume, Sträucher, Gras. Ich möchte reinbeißen. Sonne über der Stadt, die Elbe erinnert mich an das Meer. Der Mann im Elbcafe neben mir setzt sich einen Schuss – Willkommen in der Hochzivilisation. Hier frisst man Scheiße und hängt vor der Glotze ab, Bayer hilft mit Insulin.

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Hamburger Dialog 2003

telepolis v. 30.01.2003

Gute Stimmung im Tal der Tränen

Der Online-Journalismus der großen Verlage arbeitet stark defizitär – und das wird so bleiben. Auf dem Kongress „Hamburger Dialog“ übte man trotzdem die Gelassenheit und hofft auf Einnahmen in anderen Bereichen des Web.

Noch immer ist die Medien-Branche mit der prüfenden Durchsicht ihrer Aktivitäten im Netz beschäftigt. Besonders akribisch gehen dabei die Tageszeitungen und Wochenzeitschriften bei der Revision ihrer Online-Angebote vor. Die Frage ist mal wieder: Was spült Geld in die Kassen? Die Antwort: Journalistische Inhalte nicht. Auf dem diesjährigen „hamburger dialog“ wurde deutlich, dass sich Bezahlinhalte, sogenannter „Paid-Content“, in naher Zukunft nicht durchsetzen werden. Denn am Kiosk muss immer bezahlen werden, im Netz geht jeder dahin, wo es gratis ist. Was für die einen die genauso originäre wie wünschenswerte Eigenschaft des Netzes ist, bleibt für die anderen die bitterste Praline der Welt: Für die meisten kostenpflichtigen Angebote existiert eine Gratis-Alternative.

Jörg Bueroße von der „Tomorrow Focus AG“ bestätigte, dass nur schwer erhältliche oder gar exklusive Inhalte zum monetären Erfolg führen. So verzeichnet beispielsweise der Online-Scheidungsrechner des FOCUS munteren Zuspruch seitens der User, obwohl dessen Nutzung satte 4,99 Euro kostet. Ähnlich sieht es bei der Datenbank mit Terminen zur Zwangsversteigerung aus. Diese hat nach Angaben von Bueroße knapp 3000 Nutzer, die „nicht preissensibel“ reagieren würden. Mit anderen Worten: Ist die Brauchbarkeit hoch, dann zahlt der Surfer gerne.

Das bloße Publizieren im Web von Artikeln aus der Print-Ausgabe reicht dagegen bei weitem nicht aus, um die Kosten der schmucken Online-Auftritte der Verlage zu egalisieren. Arndt Rautenberg, von der Beratungsfirma „Sapient“ widersprach der oft gehörten Behauptung von der Beliebtheit von Online-Archiven. „Dies honoriert der User zwar, aber eben nur so lange, wie das Angebot kostenfrei bleibt.“ Und tatsächlich bestätigte Jörg Bueroße, dass die kostenpflichtige Archiv-Nutzung des „Focus“ ebenso wie die des „Spiegel“ „unterirdisch schlecht“ sei. Bei optimistischer Schätzung wird die Branche in vier bis fünf Jahren maximal zehn Prozent mit Paid Content umsetzen.

Glaubt man den Experten dient die Online-Präsenz der überregionalen Tageszeitungen wie FAZ oder Süddeutsche Zeitung damit weiterhin rein der Kundenbindung. Der Massenmarkt, den die Verlage in der Offline-Welt bedienen, sei im Internet für sie nicht erreichbar, behauptet Henrik Hörning vom Management-Beratungsunternehmen „detecon“. Die Folge sei eine Entwicklung wie man sie schon vom Privat-Fernsehen kenne: Umsonst und nur durch Werbung finanziert.

Freibier für Alle!

Von dem Ziel, mit ihren Internet-Auftritten rentabel zu wirtschaften, sind deutsche Medienhäuser also auch künftig weit entfernt. Daran wird wohl auch der „dernier cri“ der Branche, die Abonnements, die für ein monatliches Entgelt freien Zugriff auf Datenbanken erlauben, nichts ändern. Das Wall Street Journal, galt lange Zeit als gutes Beispiel für ein etabliertes und funktionierendes Abo-System. Es strotze mit mindestens 500.000 zahlenden Gästen. Das Problem war nur: Ein mit über 100 Leuten besetztes Call-Center, welches die Anfragen der Online-Abonnenten rund um die Uhr beantworten musste, verschlang über Jahre die eingefahrenen Umsätze. Erst heute schreibt der Netzsektor des Wirtschaftsblatts schwarze Zahlen. Nach dem Goldrausch herrscht weiterhin banges Fragen für welche Inhalte die Web-Gemeinde Geld ausgeben würde.

Der Verband der deutschen Zeitschriftenverleger (VDZ) präsentierte auf dem Kongress den Zwischenstand einer neuen Untersuchung, die Netzuser nach ihrer Zahlungswilligkeit befragt hat. Ob Zeitschriften-Artikel, mp3-Download oder Teilnahme an einem Adventure-Spiel: Die User sind nicht bereit viel mehr als 100 Cents auszugeben. Die magische Grenze für sogenannte „Pay-per-Use-Angebote“ sei ein Preis von rund einem Euro, erklärte Alexander von Reibnitz vom VDZ. Video- und Musik-Download haben nach wie vor das größte Potential. Bedingung für ein florierendes Download-Geschäft in diesem Sektor ist allerdings das breitbandige Internet. Kaum jemand ist gewillt Stunden auf einen Song von den White Stripes zu warten, geschweige denn für das lange Warten auch noch erhöhte Gebühren an den Provider zu entrichten. Ohne flächendeckende DSL-Flatrates stehen die Chancen auf Entertainment-Einnahmen denkbar schlecht.

Aber egal ob Artikel-Abruf oder Download eines Videos: Bezahlinhalte sind auch deshalb unbeliebt, weil der Weg der Tilgung meist kompliziert ist. Elektronisches Geld hat sich nicht durchsetzen können, aufwendige Registrierungen überfordern die Nutzer und führen zu Abbruchraten von über 80 Prozent. Hier funktionieren die klassischen Wege über die verpönten 0190-Nummer oder Fax-Polling wegen der Einfachheit und Anonymität noch immer besser als alle anderen Systeme. Ein klassischer Medienbruch, dessen Ende zur Zeit nicht in Sicht ist.