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Mixed Rezensionen

Gastronomie Tip Restaurant Cuore Mio

Prinz Top Guide 2004

Restaurant „Cuore Mio“ CUORE MIO
Rothestraße 38
22765 Hamburg
Telefon 040 – 39 90 60 29

Dienstags bis Sonntags 18:00-24:00
Hauptgerichte 12-20 Euro
Karten: Keine
Bus 187, 250, Grosse Brunnenstraße

Der Weidenkorb mit den gesammelten Korken steht am kleinen Tresen, die Buntstiftzeichnungen der Enkelkinder hängen an der Wand, dazwischen wieselt Manuela de Bilio durch ihr Weltenreich. Von ihr wird jeder Gast konsequent geduzt, dazu wandert die Schiefer-Speisekarte ständig durch die pastellfarbigen Räume. „Gut gewählt“, sagt sie mit milder Strenge lächelnd, kurz darauf bestätigen das Kaninchenragout auf Fusilli ihr Lob. Die Miesmuscheln duften nach Meer, die Entenbrust meiner Begleiterin ist feurig scharf aufs Gratin gebettet, der Mangold knackig frisch. Manuela reibt derweil parlierend den Parmesan persönlich über die Pasta am Nachbartisch, ein Sänger erscheint und summt italienische Weisen. Wir sind glücklich, denn so muss ein Kurztrip ins Land der Freude sein.
FAZIT: Alles wie bei Mama: Temperamentvolles Ambiente, redliche Speisen. An diesem fairgepreisten Busen darf man labend sich ergehen.

Jörg Auf dem Hövel

 

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Mixed

Tief in den Darmverschlingungen des Dr. Frankenstein

hanfblatt, Januar 2004

Die anatomische Ausstellung „Körperwelten“ wandert durch die Republik. Die Diskussion um Sinn und Unsinn der Fleischbeschau bricht nicht ab. Wir beenden sie.

Ein etwa 12-jährige Mädchen steht am Schaukasten, in dem eine sauber präparierte Hüfte einer alten Frau liegt. Der Oberschenkelknochen ist bis zur Hälfte seines inneren Marks ausgefräst, mittig in dem zylindrischen Loch steckt eine massive Schraube, die allein einen Golf III-Motorblock am Chassis halten würde. Auf der Schraube steckt eine strahlend verchromte Kugel. Sie schmiegt sich perfekt in das rosig-glänzende Hüftgelenk der Verstorbenen ein. Das Mädchen ruft: „Schau mal, Mutti, sowas hat Omi doch auch.“ Mutti kommt geeilt, sagt, „oh, ja, recht hast du“.

Es ist Montag Morgen und hunderte von Menschen wandern durch die Ausstellung „Körperwelten“. Der Plastinator himself, Gunther von Hagens, stellt hier seine Exponate aus. Es sind menschliche und tierische Leichen, die der Mann mittels eines speziellen Verfahrens haltbar gemacht hat. Einfach gesagt: Das Wasser im Gewebe wird durch Kunststoff ersetzt. Die biologischen Präparate werden durch diese Plastination geruchsfrei und behalten ihre natürliche Oberflächenstruktur, mehr noch, sie sind bis in den mikroskopischen Bereich hinein identisch mit ihrem Zustand vor der Konservierung. Damit aber nicht genug: Die Biomasse wird durch die Plastination nahezu beliebig formbar.

Wahrscheinlich fangen hier die Probleme an, denn von der Flexibilität seiner Objekte macht von Hagens mächtig Gebrauch. Er dehnt und zieht die Sehnen, faltet und staucht die Muskeln, lässt sie fliegen, hängen und baumeln, er versetzt die Organe, öffnet das Rückgrat und arrangiert die Aterien und Venen. Das könnte Kunst sein, aber von Hagens versichert, dass seine Arbeiten „weder Kunst sind, noch Wissenschaft vermitteln, sondern aufklären“ wollen. Das ist, gelinde gesagt, Schwachsinn. Spätestens nach der Inhalation von ein paar getrockneten portugiesischen Seetangblättern sieht man in den Ausstellungsstücken den Gestaltungswillen von Hagens durchschimmern. Der Mann verwirklicht hier offen sichtlich mit Fetischen seinen Kindheitstraum. Er veranstaltet, da hat DIE ZEIT schon Recht, eine „Olympiade der Leichen“, mit welcher von Hagens gerne den Sieg über den Tod davon tragen möchte.

Immer neue Leichen müssen herhalten, immer grandioser müssen die Objekte werden. Mit dieser Unmäßigkeit will auch das Publikum nicht mithalten. Während die ersten Räume der Ausstellung das Interesse an Körperbau, Adernverlauf und Organbeschaffenheit so groß ist, dass manche Betrachter sich bis auf wenige Millimeter Milz und Leber nähern, stirbt die Lust an dieser Erfahrung von Raum zu Raum. Spätestens wenn der Kenner dem plastinierten Kamel und dem riesigen Pferd mit Reiter oben drauf gegenüber steht, fragt er sich: „Was will der Künstler uns damit sagen?“ So kippt das zunächst didaktisch aufgebauete Körper-Museum in eine Kadaver-Sammlung, eine monströse Fleischbeschau um. Hauptsächlich wegen dieser Monstranzen wird von Hagens seit Beginn vorgeworfen, er spiele mit der Würde der Toten, er wolle „Todes-Touristen“ anlocken wollen, er würde, so gab beispielsweise die Ärtzekammer Hamburg kurz vor der Ausstellungseröffnung zu Protokoll, „unter dem Deckmantel der Wissenschaft Tabubruch, Voyeurismus, Gruseleffekt und unwürdige Objektmachung“ in Kauf nehmen.

Seltsamerweise zeigen die Besucher nicht die Phänomene einer sensationslüsternden Menge. Sie sind sichtlich fasziniert vom Aufbau des menschlichen und damit ihres eigenen Körpers. Vor den Schaukästen mit dem Athroseknie versammeln sich die über 50-Jährigen in stiller Trauer und vor der tiefgrauen Raucherlunge die leise hustenden Männer. So ergab denn auch eine unabhängige Umfrage unter über 2000 Besuchern, dass 46% den Rundgang „sehr gut“, 45% als „gut“ bewerten. Fast 30 % der Befragten waren zudem Mediziner oder Biologen. Wie sie den Geisteszustand des präparierenden Professors einschätzen, danach wurde zwar niemand befragt, es ist aber anzunehmen, dass sie ob seiner Passion ahnen: Er seziert und kassiert halt gerne.

Das ist so neu nicht. Schon in den deutschen und europäischen Universitätsstädten des 17. Jahrhunderts werkelten die Mediziner bei öffentlichen Sektionen an (oft illegal beschafften) Leichen herum. Nur nebenbei: Auch Gunther von Hagens sieht sich Vorwürfen der unlauteren Objektbeschaffung gegenüber. Die russische Staatsanwaltschaft in Novosibirsk ermittelt und ein 2,40 Meter großer Basketballriese aus St. Petersburg wedelt mit einem Wisch auf dem „G.v.H.“ prangt. Der Professor soll ihm laut MDR viel Geld für die postmortale Verwendung seines Hühnenkörpers geboten haben. Schon damals waren solche Veranstaltungen eine Mischung aus Lehre, Theaterschauspiel, Sensationslust und eben auch Selbstdarstellung des Anatomen. Die Schelte von der Kanzel folgte postwendend, sah man doch den Menschen auf seine natürliche Leiblichkeit reduziert. Nach christlicher Lehre aber sind wir Gottes Ebenbilder. Aber viel geistig enthoben Göttliches war in den Gedärmen nicht mehr zu entdecken.

Die Kritik der Kirche klingt heute noch genauso abstrus wie damals, spürt sie doch, dass es das weitere Absterben ihrer Institution bedeuten könnte, wenn die Menschen erkennen, dass zwischen ihnen und dem faszinierenden Werk der Natur keine Würdenträger zur Vermittlung nötig sein müssen. Dieser Vorteil des Spektakels ist zugleich der größte Nachteil. Die Erfahrung der eigenen Leiblichkeit, der Umstand, dass man „nur“ eine süßduftende Note der Natur ist, diese Erfahrung ist für viele Besucher noch immer neu. Soweit, so gut, von Hagens bleibt hier aber nicht stehen, ihm ist der aufklärerische Auftrag nicht genug. Natürlichkeit, das heißt immer auch Endlichkeit und diese wird durch die Plastination überwunden.

Nicht zufällig haben sich schon über 6000 Menschen beim Plastinator gemeldet, um später einmal Epoxidharz oder Polyester in den Körper gespritzt zu bekommen. Sie haben die Botschaft verstanden: „Werdet unsterblich!“ Damit ist auch die Frage beantwortet, wie diese Ausstellung sich in das Gefüge des seit Jahren medial omnipräsenten Körperkults einfügt. Die Antwort: Sie ist sie ein weiteres Exempel der Perfektionierung des Menschen, eine weitere Bildpropaganda des gestylten Körpers und des Jugendwahns, da sie auf die Überwindung des Altern und schließlich des Todes hindeutet. Während die Gesellschaft immer älter wird, will die Menge in das Paradies des ewig-jugendlichen Körpers einziehen. Geht es nach den Machern von „Körperwelten“ ist der Körper nicht mehr nur durch Fitness-Studio, Schönheits-Chirurgie und Reproduktionsmedizin formbar, sondern es besteht auch nach dem Tod die Chance auf eine idealisierte Präsenz im Raum.


 

Körperwelten

Die Wanderung der Leichen ist die weltweit erfolgreichste Ausstellung aller Zeiten. Über 12 Millionen Besucher sahen die Präparate von Gunther von Hagens, 58, unter anderem in Japan, London, Brüssel, München und Hamburg. Vom 16. Januar bis 18. April 2004 sind die Körper nun in Frankfurt zu sehen. Die Kritik an der Ausstellung reißt nicht ab, dabei ist der Besuch nach wie vor freiwillig. Von Hagens ist begeistert, Kritiker werfen ihm vor, für den Erfolg über Leichen zu gehen.

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Cannabis Mixed Reisen

Golfplatz-Einweihung mit Manni Kaltz

HanfBlatt, November 2003

Im Buschbrand der gegenseitigen Abhängigkeiten von Freizeit-Fabriken, Promis und Journalisten.

Der dunkle Anzug ist zu warm, schwitzend wanke ich in den Fahrstuhl. Abfahrt zum Bussi-Bussi. Ich weiß nicht, was mich auf der Terrasse des verbrauchten Strandhotels erwartet. Nun gut, den offiziellen Anlass habe ich erfahren: es geht um das Stopfen von nahe gelegenen 18 Löcher im Rasen – ein Golfplatz wird eröffnet. Dafür müsste man sich nur eine halbe Stunde nehmen, hier aber haben sich für die nächsten drei Tage A- und B-Promis aus der gesamten Republik angekündigt. Dazu sind Vertreter aus den Hochglanzmedien und PR-Berater angerauscht. Sie alle wollen in einem norddeutschen Seebad den Knospen ihrer Zunge folgen, Sonne anzapfen und ihren Hüftschwung justieren, kurz, sich auf Nass verlustieren, vulgo: die Eier schaukeln lassen.

Um der Situation gewachsen zu sein, habe ich meinen Kahn mächtig mit marokkanischen Pfefferminzblüten vollgeladen und meine liebliche Begleiterin sitzt im gleichen Boot. Gleißend brennt daher die Abendsonne auf die Kieselsteinplatten, auf denen 50 Paar schwarze Schuhe scharren. Eine Sonnenbrille wäre kommod, wohl aber ein zu deutliches Zeichen gewollt-cooler Distanz. Die PR-Dame kommt auf uns zugewieselt, „ahh, die Hamburger, hier rüber, kommen sie hier rüber, zur Hamburger Gruppe“. Flugs haben wir einen Sekt in der Hand, perlendes Gold, das Fraktale auf das Kleid meiner Muse wirft, und werden zu sechs Stehgeigern bugsiert, die in Plauderhaltung im Kreise stehen. Dieser öffnet sich den Fremdlingen, aber aus dem Auge des Zyklons weht kalter Wind uns entgegen. Man gibt sich vornehm, eine probates Mittel die eigene Unsicherheit zu tarnen. Von Hochlandgemüse innerlich aufgewühlt auf unbekannte Mitbürger zu treffen, birgt immer die Gefahr unfunky drauf zu kommen. Mund und Magen wollen rülpsend tief empfundenen Dünnsinn von sich geben, während der innere, rationale Obermufti und Bedenkenträger Befehle der sozialen Normen brüllt. Rechnen kann man nicht mehr, aber zurechnungsfähig will man sein. Anders ausgedrückt: Kiffen kann unsicher machen. Objektiv betrachtet eine drollige Zwickmühle, in der konkreten Situation ein Abenteuer, was schon für manchen Horrortrip sorgte.

Erfahrung tut hier Not, so weiß ich, dass ich mich zwar wie Fidel Castro fühle, aber nicht so aussehe. Mein Sektglas wirkt dabei wie eine rettende Rehling im Sturm. Smalltalk. Ein Blick in die Runde und plötzlich nimmt eine innere, alte Kraft von mir Besitz. Entgegen aller ungeschriebenen Gesellschaftsverträge spüre ich Begeisterung aufwallen, ein Gefühl von Jugend, eine Erinnerung an sportliche Ekstase, an Männerschweiß, an den von meiner Oma gestrickten Fanschal; dazu jucken ausnahmsweise nur meine Füße. Zusätzlich bin ich erleichtert über den alsbald folgenden, hoffentlich entkrampfenden Integrationsakt in die illustre Runde. Viel zu laut platzt es feucht aus mit heraus: „Das ist doch Manni Kaltz!“ Köpfe drehen sich, Aufmerksamkeit ist gesichert. Ich merke das nicht, überbrücke mit einem Ausfallschritt das Auge des Zyklons und stoße mein Glas an das meines überraschten Gegenübers. Ein klicken, ein sprudeln, ich fahre fort: „Wie geil, Manni Kaltz, ich glaub´ das nicht.“ Der Mann mit dem sauber gekürzten Vokuhila bleibt ruhig, denn „der Manni redet nicht so gerne“, wie ich später erfahre.

Schweigen, leichtes Entsetzen sogar, aber mein Verzücken kommt weiter in Rage. Ich stoße meiner schönen Begleiterin mit dem Ellbogen in die Seite, zeige mit dem Glas auf den Fußball-Heroen und fahre fort: „Ahh, das waren noch Zeiten, sie auf Rechtsaußen, dann Banane, und dann das Fußballungeheuer, hach, so wird heute gar nicht mehr gespielt. Unvergesslich, das 5:1 gegen Real Madrid. Zwei Dinger haben sie da reingesemmelt, oh Mann, wie geil.“ Doch der Flankengott, der 69fache Nationalbuffer, die Legende vom HSV, dieser Manfred Kaltz, brummelt nur einige undeutliche Worte und so langsam komme ich von meiner Wolke runter. Die Menschen um mich sind verstört, peinlich berührt. Sollte man einen dieser Fußball-Proleten im Nest hocken haben?

Ehrliche Begeisterung, so steht nach zehn Minuten fest, ist hier nicht gern gesehen. Und was noch wichtiger ist: Promis – und solche, die es sein wollen – spricht man nicht an. Sie sind froh sich mit Ihresgleichen zu sonnen, im Saft ihrer Erfolge zu schmoren. Wohlgemerkt gilt dies nicht für Manni, der Mann will einfach nur seine Ruhe haben, ihm ist Radau um seine Bananenflanken lästig.

Der Ausbruch war kurze Raserei, ich trete einen Schritt zurück. Die Augen meiner Begleitung liegen verträumt-ironisch auf mir, der Halbkreis aus Frührentner schließt sich wieder und wir stehen außen vor. O.k., das war´s erst einmal. Nebenbei hat der Direktor seine Rede an die golfende Nation begonnen, er preist die knöcherne Eichenkultur der Hotelkette. Die verdiente Vor- und Mitten-im-Kriegsgeneration ist in den Häusern hängen geblieben, dazu passt eigentlich nicht der Porno-Kanal, der auf unserem Zimmer nach jedem dritten Schaltvorgang erscheint. Wahrscheinlich wichst Opi sich den Wicht, während Omi bei der Pediküre weilt.

Wie gerufen wackelt plötzlich Elke S. ins Bild, blonder Star der 70er. Die spielt auch Golf? Nein, sie ist Schmuck, soll der prüden Rasenweihe Glamour und damit Nennung in den bundesweiten Magazinen garantieren. So ergibt sich der Sinn der Geselligkeit: Die Freizeit-Fabrik schiebt sich ins Bewusstsein der Kunden und die Prominenten bleiben im Gespräch, denn davon leben sie. Die anwesenden Journalisten salbadern Gutes über die Melange und übermitteln im Nebensatz die Koordinaten des Geschehens. Die Public-Relation-Dompteure behalten die Käfigtür im Auge. Und der Clou: Alle zusammen verbringen ein weiteres preiswertes Wochenende.

An diesem Kuchen will auch ich nagen, aber mein fußballhistorischer Ausfall hat uns schon nach zehn Minuten zu Parias werden lassen. Egal, gleich gibt es Diner. Der freundliche Direx lädt ein. Die Stimmung ist gut, man kennt sich von vielen anderen Jubelfeiern. Es ist die gemeinsame Leidenschaft aller derer, denen beim Tennis zu viele Rohlinge rumlaufen. „Haben sie noch Sex oder golfen sie schon?“ Wir sitzen am selben Tisch wie Manni, der aber lässt mir, seinem getreuen Fan, keinen Blick zukommen. In mir spielen die beiden Mannschaften von FC Bekifft-Ergötzlich und der Spielvereinigung Peinigend-Stoned einen harten Ball gegeneinander. Noch steht es 1:1, aber Peinigend-Stoned übt enormen Druck auf die Verteidigung von Bekifft-Ergötzlich aus.

Das Essen beruhigt unsere Gemüter, auch meine Begleitung erlangt so langsam ihre Fassung wieder. Meine Tischnachbarin, die Redakteurin einer TV-Zeitschrift, parliert zutraulich, schon fühle ich mich besser. Aber ich bin getäuscht worden, übel sogar. Denn der Mann der Dame, irgendeine Schauspielgröße, dessen Name ich vergaß, fragt sie, was denn das Thema unser noblen Unterredung sei. Nicht wissend, dass ich der Szenerie lausche, winkt sie mit der Gabel ab, zieht die schmalen Brauen hoch und sagt: „Ach nix, völlig uninteressant“. Nun will ich nicht eitel erscheinen, aber das scheint mir doch ein äußerst dünkelhafter und ungebührlicher Reflex auf meine wohl nicht klugen, doch aber warmen Worte zu sein. O.k., das war´s endgültig.

Schade, gerne hätte ich noch weitere Skizzen aus den nun folgenden Tagen gezeichnet. Ich hätte noch berichten können, von nicht geouteten Eiskunstläufern, die beleidigt sind, wenn man sie an den falschen Ecktisch des Festzelts setzt, vom Streit um kühle Austern und von Menschen, die nur (!) über Golf reden können. Aber diese Worte wären dunkel vor Häme, ohne das Licht des freudig-neugierigen Umgangs untereinander. Was also tun? Den Versuch beenden, und vorher noch erwähnen, dass wir lieber am Strand den Wellen folgten, als dort zu sein, wo man sich gegenseitig nur als Spiegel der eigenen Großartigkeit dient.

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Mixed

Öffentlicher Raum und Shopping-Malls

telepolis, 28.11.2003

Auf dem Weg in die privat organisierte Öffentlichkeit?

Shopping-Malls werden zu neuen Mittelpunkten des sozialen Lebens. Über die Auswirkungen auf den öffentlichen Raum wird gestritten.

Klagen über die Entwicklung des für jedermann öffentliches Raumes, vor allem aber Kritik an der Expansion der Shopping-Malls sind unter Stadtplanern, Soziologen und Sozialpolitikern weit verbreitet. Zwei Vorwürfe werden formuliert: Der öffentliche Raum würde zunehmend für kurzzeitige Inszenierungen genutzt. Diese „Events“ wären ein Zeichen einer alles durchdringenden Kommerzialisierung, die nur noch Zeichen statt Inhalte setzt. Damit einhergehend würde der frei zugängliche Raum durch die Expansion der Shopping Malls verkleinert und die Meinungsfreiheit eingeschränkt. Über Beobachtungen des Einzelfalls kamen diese Analysen aber nie hinaus. Eine vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung ( BBR [1]) in Auftrag gegebene Studie suchte nun genauer zu ermitteln, ob und wie der öffentliche Raum Tendenzen der zunehmenden Privatisierung und Kommerzialisierung unterliegt. 

Der Verkauf von öffentlichem Grund an private Unternehmen stellt nach wie vor eine Ausnahme dar. „Privatisierung“ meint vielmehr, dass private Räume wie Malls und Passagen zunehmend Funktionen des öffentlichen Raumes übernehmen. Diese Tendenz ist unter den vom BBR befragten Experten in den Städten und Gemeinden unstrittig. Strittig hingegen sind die Folgen. Während auf der einen Seite behauptet wird, dass privat geplante Räume Qualitätsstandards setzen und Denkanstöße geben können, sieht die andere Seite mehr Nachteile: Das Kernstück des öffentlichen Raumes, seine freie Zugänglichkeit für jeden zu jederzeit, sei in diesen Passagen und Malls nicht gegeben.

Mit 74 innerstädtischen Shopping-Centern ist die Firma ECE [2] Marktführer in Europa. Insgesamt verwaltet die ECE zwei Millionen Quadratmeter Verkaufsfläche. In Wolfsburg beispielsweise bietet die „City-Gallerie“ auf 25.000 qm etwa 90 Läden, die täglich von 80.000, am Wochenende sogar von bis zu 150.000 Menschen frequentiert wird. Rechnet man dies auf die gesamten Liegenschaften von ECE hoch, wandeln täglich Millionen Menschen unter dem Hausrecht der ECE – die meisten Besucher mit dem Gefühl, sich im öffentlichen Raum zu bewegen.

Beliebtes Beispiel der Kritiker der Durchmengung von öffentlichem und privatem Raum ist das Sony-Center [3] am Potsdamer Platz in Berlin. Das Hausrecht des Centers verbietet das Verteilen von politischen oder Werbematerial. Sogar das Sammeln von Spenden ist karikativen Organisationen nur nach schriftlicher Genehmigung gestattet. Statt einem Markenzeichen für die Stadt sei „eher eine Corporate Identity für die Investoren“ entstanden, wie der Publizist Uwe Rada annimmt [4].

In den Hauptbahnhöfen der großen Städte übernehmen ebenfalls Center-Manager die Regie. Mit durchaus gravierenden Folgen. In Hannover dürfen die Anbieter der Zeitung „Asphalt“, einem Obdachlosenprojekt, ihre Zeitungen nicht mehr im Bahnhof verkaufen. Von den Passanten unbemerkt findet hier nach Aussage von Walter Lampe, Leiter des Diakonischen Werkes der evangelischen Kirche in Hannover, eine „Selektion der Nutzer zuungunsten der Schwachen“ statt.

Aus den Website Nutzungsbedingungen des SONY-Center:
HYPERTEXT-LINKS ZU UND VON DIESER WEBSITE
Sie sind verpflichtet, die schriftliche Genehmigung des Betreibers dieser Website zu beantragen und einzuholen, bevor Sie ein Link zu ihr herstellen können. Sog. „Deep Linking“ ist streng untersagt. Alle Links zu dieser Website müssen zur Startseite der Website führen, sie müssen verdeutlichen, dass diese Website und der Website-Content von der Website, welchen den Link enthält, getrennt zu betrachten sind, und sie müssen weiterhin verdeutlichen, dass Sony der Eigentümer und/oder Betreiber dieser Website ist.
Auch was die Öffentlichkeit des virtuellen Raums betrifft, ist man beim Sony-Center streng

Die Malls treten in Deutschland und Europa immer offensichtlicher in Konkurrenz zu den in die Jahre gekommenen Fußgängerzonen. Dies wird in Hamburg-Altona exemplarisch deutlich. Während westlich des Bahnhofs die Shopping-Mall Mercado [5] seit Jahren mit Besucherrekorden glänzt, versinkt die Fußgängerzone östlich des Bahnhofs trotz diverser Reanimierungsversuche in der Tristesse. Hier die saubere, kontrollierte Atmosphäre des urbanen Entertainment, dort ein Sammelpunkt für Mitmenschen, die ihr erstes Bier gerne vor 10 Uhr morgens trinken. Die Diskussion ist alt: Von vielen werden Obdachlose und Bettler als mindestens störend, wenn nicht gar bedrohlich empfunden. Andere sind sich dagegen sicher, dass diese Gruppen unabdingbar zum Bild des öffentlichen Raumes gehören, wenn er denn weiter „öffentlich“ genannt werden soll.

In den Carées und Centern herrschen dagegen nahezu paradiesische Zustände. Keine Punks, keine Prospektverteiler, kein Schmutz, kein Regen. Aber eben auch keine politische Meinungsäußerung. So verbot das Management in einem Erfurter Einkaufszentrum Gewerkschaftsmitgliedern das Verteilen von Handzetteln. Es kam zu Handgreiflichkeiten mit dem Sicherheitspersonal, ein Verfahren ist anhängig.

Aus Sicht des Managements deutscher Center sind, das wurde aus der Studie des BBR deutlich, politische oder persönliche Meinungsäußerungen nur bedingt möglich, um die „reibungslose Abwicklung der Geschäftsprozesse“ zu gewährleisten. Mit Randgruppen gäbe es kein Problem, weil diese sich durch das gehobene Niveau der Center ohnehin abgeschreckt fühlten. Die vom BBR befragten Betreiber von Shopping-Centern sehen ihre Malls ganz selbstverständlich als Teil des öffentlichen Raumes an.

In den USA wollen Bürgerrechtsgruppen und Politiker in einer Reihe Gerichtsverfahren ein Recht auf politische Betätigung in den Shopping-Centern einklagen. Ihr Argument: Die Malls wären Zentren des sozialen Lebens und wichtige Orte, um andere Bürger zu erreichen. In sechs Bundesstaaten folgten die Gerichte bisher dieser Argumentation.

In Deutschland richtet sich die Aufmerksamkeit erst langsam auf das Problemfeld. Die entpolitisierte Gesellschaft will sich nicht so recht an dem Problem reiben, hat der öffentliche Raum seine politische Funktion doch weitgehend verloren. Versammlungen finden heute eher im Zusammenhang mit Beachvolleyball-Turnieren und Konzerten statt. Die politische Meinungsbildung hat sich in die (virtuellen) Medien zurück gezogen, der Wochenmarkt in die geschlossenen Gebäude. Vordergründig hat das öffentliche Leben durch Mega-Malls keinen Schaden genommen. Es gibt genügend Trubel und Entertainment im urbanen Leben, die Städte werden durch Skateboarder genutzt, Innenstädte für Rollerskater-Aufläufe gesperrt. Für Essayisten wie Hanno Rauterberg steht sogar fest, dass „keine Demonstration wegen der neuen Einkaufszentren nicht hätte organisiert werden können“. Dies ist vielleicht wahr, von Demonstrationen in einem der neuen Einkaufszentren ist indes ebenfalls nichts bekannt.

 Markenbashing

Die Kritik reibt sich aber nicht nur an den modernen Konsumstätten, denen Uniformität und Monostruktur vorgeworfen werden, oder an der Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern sie zielt auf die gänzliche Durchdringung der Gesellschaft mit Werbung und deren Botschaften, an der aus dieser Sicht totalen Ausrichtung der öffentlichen Sphären nach wirtschaftlichen Bedürfnissen.

Nach der Lektüre von Naomi Kleins No Logo [6] scheint klar, dass auch in Deutschland die großen Marken das Bild der Welt prägen. Tatsächlich ist es heute kaum noch möglich durch die Straßen einer Stadt zu wandeln, ohne den omnipräsenten Werbebotschaften zu begegnen. Das Problem: Für die einen sind das die vielleicht nicht immer adretten, sicher aber notwendigen Partikel der „Marktwirtschaft“, für die anderen ist es die längste Manipulationspraline der „kapitalistischen“ oder „neoliberalen Welt“.

Widerstand regt sich. Bewegungen wie die lose organisierte Gruppe der Adbuster [7] karikierten die Symbole der Marken, andere suchen die Straße zurück zu erobern. Aber Reclaim the Streets [8] schaffte als primär britische Initiative den Sprung über den Kanal kaum [9]. Auf dem Kontinent wurde der Faden zur anarchischen Wiederaneignung öffentlicher Räume am ehesten noch von der Techno-Bewegung aufgenommen, die die industriellen „Nicht-Orte“ (Marc Augé) für ihre Tanzkultur entdeckten.

Soziales Durcheinander anstatt Ausgrenzung

Aber selbst wer sich nicht in die Diskussion um Wirtschaftssysteme verstricken will, dem fällt auf, dass aus dem früher eher als mühsames Tütengeschleppe verachteten Einkaufsvorgang ein weiteres „Event“ geworden ist. Ob das Shopping die „letzte verbliebende Form öffentlicher Betätigung“ sein könnte, wie Rem Koolhaas [10] überspitzt formulierte, sei dahingestellt, fest steht bislang, dass die Verbannung so genannter „Randgruppen“ nach dem Motto „Aus den Augen aus dem Sinn“ vor allem dort praktiziert wird, wo das Einkaufen weniger am Gebrauchswert als vielmehr am Erlebniswert orientiert ist. Diese Ausgrenzung, so stellte nun auch das BBR fest, wird aber nicht nur von privaten Geschäftsleuten betrieben, auch die Kommunen sind darum bemüht, die zentralen (Einkaufs-) Bereiche von Punks, Bettlern und Obdachlosen frei zu halten.

Was soll also, was kann der öffentliche Raum heute leisten? Schon die von Le Corbusier maßgeblich beeinflusste Charta von Athen [11] aus den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts legte die Trennung der verschiedenen Funktionsbereiche Arbeit, Wohnen, Freizeit und Verkehr fest. Diese Maxime galt lange als weltweites Dogma der Städteplanung. Der öffentliche Raum wurde zum Verkehrsraum degradiert, der primär der Verbindung der verstreuten Funktionsbereiche dient. Glaubt man den Apologeten der Stadterneuerung, leiden die urbanen Räume noch heute darunter.

Boris Podrecca, Professor für Raumgestaltung [12] an der Universität Stuttgart, nimmt an, dass die Gegebenheiten der modernen Gesellschaft mit ihrem Singletum, der steigenden Lebenserwartung, der Anpassung beider Geschlechter an den Arbeitsmarkt und dem inhaltslosen Medienschauspiel das Vagabundieren im städtischen Raum beeinflussen und zur Orientierungslosigkeit beitragen. Doch:

„Wir als Architekten können Gesellschaft kaum ändern, man kann ihr nur gute Passepartouts, in denen sich ihre Schicksalshaftigkeit und Dramaturgie abspielen, bieten. Man kann lediglich Hintergrund- und Rahmenhandlungen gestalten, wenn nötig auch in einer subversiven Einstellung dem Ist-Zustand gegenüber. Dem Architekten muss es genügen, dass Menschen in seinem Stadtraum die Zusammenhänge wahrnehmen und verstehen, auch wenn sie auf Widersprüchen beruhen.“

Einig sind sich die Experten über die Notwendigkeit der Durchmischung der Lebensstile. Je mehr soziales Durcheinander in den Straßen und auf den Plätzen herrscht, umso sicherer fühlten sich die Bürger und umso eher würde Akzeptanz trainiert. Ohne das idealisierte Bild der griechischen Agora herauf zu beschwören, dem Platz, auf dem alle friedlich diskutierten (außer Frauen und Sklaven), muss es ihrer Ansicht nach möglich sein, Räume zu schaffen, wo sich Menschen unterschiedlichster Prägung an einem lokalen Ort aufhalten. Sollten die „Urban Entertainment Center“ und Malls weiterhin und immer deutlicher zu sozialen Lebensmittelpunkten werden, würde allerdings nicht das öffentliche Recht, sondern deren Hausrecht und Hausdesign zu einem Teil der verbindlichen Umgangsnormen der Gesellschaft werden.

Links

[1] http://www.bbr.bund.de/
[2] http://www.ece.de/
[3] http://www.sonycenter.de/
[4] http://www.uwe-rada.de/
[5] http://www.mercado-hh.de/
[6]
[7] http://www.adbusters.org/
[8] http://rts.gn.apc.org/
[9] http://rts.squat.net/
[10] http://www.oma.nl
[11]
[12]

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Mixed

Das Wunder von Lengede

Berliner Zeitung v. 8. November 2003

Geschichtsträchtiges Klaustrophobie-Drama

Vor 40 Jahren ereignete sich „Das Wunder von Lengede“. SAT 1 erinnert mit einem technisch aufwendigen Zweiteiler an das Bergwerkunglück, bei dem elf Kumpel nach zwei Wochen doch noch gerettet wurden.

Ein schmuckes Messingschild musste sein, schließlich ist man stolz auf das Geschaffene. „Water Studios“ ist eingraviert, es hängt an einer schmuddeligen Halle im niedersächsischen Goslar. Nicht weit von hier kam es in den feucht-nebligen Wochen des November 1963 zu einer Rettungsaktion, welche später als das „Wunder von Lengede“ in die deutsche Geschichte einging: Durch einen neu gebohrten Schacht wurden elf Arbeiter aus der Erzgrube „Mathilde“ gerettet, nachdem sie fast zwei Wochen vom Wasser eingesperrt in völliger Dunkelheit ausgeharrt hatten. Mit einem Zweiteiler will SAT 1 am 9. und 10. November zur Prime Time an das Bergwerkunglück erinnern – und zugleich an den Erfolg des ähnlich gestrickten Klaustrophobie-Dramas „Der Tunnel“ anknüpfen.
Stollen
Für die Dreharbeiten musste nicht nur die beklemmende Situation in 60 Meter Tiefe, sondern auch die einstürzenden Wassermassen simuliert werden – ein Leckerbissen für Filmarchitekten. So auch für eine der Größen der Branche, Götz Weidner („Das Boot“). Das Team um den Münchener Filmarchitekten und der Produktions-Firma „Zeitsprung“ schuf in dreimonatiger Arbeit für rund eine Million Euro in der Haupthalle der ehemaligen Erzwäscherei Goslar ein Studio mit deutschlandweit einmaligen Möglichkeiten. Das Set-Design ist so ausgefeilt, dass die Film-Branche bereits Interesse an einem Erhalt angemeldet hat, stehen hier doch gut erprobte Fazilitäten zur Verfügung, um Über- und Unterwasseraufnahmen im Studio abzudrehen. So entstand auf der unteren Ebene der Halle ein Becken, aus dem 280.000 Liter Wasser innerhalb von einer halben Stunde in den zweiten Stock des Gebäudes hochgepumpt werden können. Hier formten die Designer den stillgelegten Stollen nach, in welchen sich die Kumpel 1963 vor Wassermassen und einstürzenden Wänden in trügerische Sicherheit gebracht hatten. In dem bergmännisch so genannten „Alten Mann“ steht den Schauspielern wie Heino Ferch, Axel Prahl, Jürgen Schornagel und Jan Josef Liefers das Wasser bis zum Hals. Ihnen steht die diffizile Aufgabe zu, den halluzinativen Irrsinn eines Gruben-Gefängnis zu mimen – mit milder Strenge geführt von Regisseur Kaspar Heidelbach, der nie „Action“, sondern immer „Bitte“ ruft.
Stollen
Dieser erlebte das Unglück – wie viele andere auch – als eine der ersten Live-Übertragungen der deutschen Fernseh-Geschichte mit. Der NDR dirigierte damals nicht nur 460 Radio- und TV-Mitarbeiter auf den Rübenacker über der Grube, er stellte sogar die Mikrofone, die in das Bohrloch geführt wurde, um den Kontakt mit den Eingeschlossenen zu ermöglichen. Es entstand die moderne Krisen- und Katastrophenberichterstattung. Heidelbach saß währenddessen bei „Sinalco und Salzstangen in der Kneipe, in die mein Vater mich mitgenommen hatte“. Regisseur wie Schauspieler sind begeistert von dem detailgetreuen Nachbau des Bergwerks in der Hallen. Von der zweiten Etage aus können die Wassermassen durch zwei dicke Fallrohre innerhalb von nur 60 Sekunden in die darunter liegende Halle strömen, um hier mit enormen Schub ein weiteres nachgeformtes Stollensystem zu fluten. Um die Sicherheit des Teams zu gewährleisten wurde der 100 Meter umfassende, aus Metall geschweißte Unter-Tage-Irrgarten zunächst von der Münchener Firma Magic FX als Holz-Modell gebaut und einer Strömungsanalyse unterzogen. Gleichwohl rissen die ungestümen Fluten gleich bei der Premiere im Studio einen der handgeschälten Kiefern-Stützen im Stollen mit. Schotten wurden eingebaut, um die Gewalt des Wassers zu bändigen. Heidelbach selbst steig in die Fluten, zum einen aus Interesse an der Kraft des Mediums, zum anderen „um den Schauspielern von vornherein das Argument zu nehmen, dass die Szene zu gefährlich sei“, wie er lächelnd sagt. Im Film spült das Wasser nun effektvoll einen Bergmann aus dem Bild – ohne ihn wirklich zu gefährden.
Drehpause
Die „Schullandheimatmosphäre“ (Heidelbach) am Set wurde durch die ausgefeilte Technik und die verschworene Männergemeinschaft der Schauspieler verstärkt. Einmal aber, da wurde es still bei den Dreharbeiten zu dem Eventfilm. Da betraten die realen Überlebenden des Unglücks zusammen mit ihren Ehefrauen das Gebäude. Schweigend sahen sie die Simulation ihrer Tragödie. Manche wollten den Ort, an dem ihre Kollegen und Freunde gestorben waren nicht näher betrachten, andere weinten. Kein Wunder, das Trauma ist verständlich: Während über Tage die Rettungsarbeiten bereits abgeschlossen und der Trauergottesdienst abgehalten war, tranken die Männer im „Alten Mann“ das faule Wasser aus den Pfützen. Mergelplatten stürzen immer wieder in den alten Stollen. Neben ihnen erkalteten die erschlagenen Kollegen, Bernhard Wolter, gespielt von Heino Ferch, schläft aufgrund der Enge sogar auf den Toten. Wahn griff um sich. Einige Ehefrauen wollen nicht an den Tod der Männer glauben und veranlassten eine letzte Bohrung. Diese trifft tatsächlich auf die Gefangenen. Zunächst wird Karottenbrei herab gelassen, später können die Überlebenden durch ein dünnes Bohrloch gerettet werden. Wolter erblickt als erster der Männer wieder das Licht der Welt. Zum 40. Jahrestag des Wunders hofft SAT 1 auf hohe Quoten und Anerkennung. Den Sendetermin hat man so nah wie möglich an den Tag Tag der Bergung (7. November) gelegt. Trotz der Rettung blieben die Fahnen in Lengede damals auf Halbmast, denn 29 Bergleute kehrten nicht aus der Grube zurück.

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Mixed Reisen

Das Inferno Rennen in Mürren

Snowboarder 11/2003

Zu faul für den Langlauf, zu feige für den Skisprung

Im Inferno-Rennen wird die Geburt des alpinen Abfahrtslauf gefeiert. Der 87-jährige Sohn des Erfinders, Sir Peter Lunn, fährt jedes Jahr mit.

Es war der 29. Januar 1928, ein denkwürdiger Tag, denn er begründete den alpinen Massensport. Ein gemeinsamer Start war geplant, aber einige der 18 Teilnehmer des ersten Inferno-Rennens waren noch beim Wachsen ihrer Skier, als Sir Arnold Lunn rief: „Come on, we´re off.“ Dieses Wochenende (25.01.2003) feiert das Schweizer Bergdorf Mürren das spleenige Rennen zum 60. Mal. Aus der Idee einiger skiverrückter Briten ist der größte Amateurwettkampf des weltweiten Skisports geworden.

Mürren

Annähernd 1800 Wagemutige werden sich auf die über 15 Kilometer lange Abfahrt vom Schilthorn ins Tal begeben. Selbst gute Skifahrer benötigen für den Rutsch eine ¾ Stunde, der Sieger rauscht in weniger als 15 Minuten ins Tal. Der Clou: Es sind nur zehn Tore zu passieren, ansonsten ist die Streckenführung frei. Schon 1928 ging es den Briten in erste Linie darum, das Erreichen des Ziels möglichst individuell zu gestalten. Knochenbrüche, Schürfwunden und Platzwunden waren bei der Abfahrt über verwehte Hänge, vereiste Partien und die bewaldete Talfahrt üblich. Aber nicht nur wegen der unpräparierten Piste waren die Strapazen damals bedeutend höher.

Wer die ersten Jahre am Inferno-Rennen teilnehmen wollte, musste einen fünfstündigen Aufstieg bewältigen, im Rucksack Verpflegung und die Rennausrüstung. Zum fast 3000 Meter hoch gelegenen Schilthorn führte noch keine Seilbahn, Seehundfelle unter den Skiern gaben den nötigen Halt. Nach kurzer Erholung ging es dann los. Bei der nun folgenden Tour mussten die Läufer das Fahren im Tiefschnee ebenso beherrschen wie Langlauftechniken. Der Parcours wartete nämlich mit zwei Gegensteigungen auf – einige Rennen wurden eher durch Armkraft und Schlittschuhschritt entschieden, als durch die tiefe Abfahrtshocke. Auch der Umgang mit öffentlichen Verkehrsmittel wurde geprüft: Die ersten Rennen führten an der Trasse der Bergbahnverbindung zwischen Mürren und Grütschalp entlang. Sodann schlängelte sich ein schmaler Sommerpfad ins Tal nach Lauterbrunnen, die geübtesten Skifahrer aber nahmen den direkten Weg durch den dichten Wald.

Den vierten Platz in dem historischen Rennen von 1928 belegte Doreen Elliott, obwohl sie unterwegs eine verunglückte Kollegin versorgt hatte. Nichts ungewöhnliches in dieser Zeit, wie Sir Peter Lunn, 87, versichert. „Ich stützte in einem Rennen vier Mal und wurde trotzdem noch neunter.“ Der Sohn des Inferno-Schöpfers fährt noch heute jedes Jahr beim skurrilen Rennen mit. Die Holzski der damaligen Zeit, so Lunn, brachen leicht und bargen ein stetes Verletzungspotential. „Da das Auswechseln der Skier daher erlaubt war, hatte ein ganz gewitzter Teilnehmer unterwegs seine langen Abfahrtsski gegen kürzere und frisch gewachste Ski ausgetauscht. Sicherlich ein Vorteil für die harte Abfahrt ins Tal und nicht sehr sportsmännisch.“

Sir Peters Vater, Arnold Lunn, gilt als einer der Pioniere des europäischen Skisports. Er war es, der 1924 in Mürren den noch heute bestehende „Kandahar Skiclub“ gründete, zwei Jahre vorher hatte er im Ort eines der ersten Slalomrennen der Alpen veranstaltet. Lunn war es auch, der sich gegen zahlreiche Widerstände beim Weltskiverband FIS dafür einsetzte, dass der Abfahrtslauf als alpine Disziplin mitaufgenommen wird. Unter Schneesport-Experten galt das schnelle und kontrollierte Abrutschen vom Berg als wertlos, Skifahrer gemeinhin als „zu faul für den Langlauf und zu feige für den Skisprung“, wie Sir Peter sich lächelnd erinnert. Vor allem die Skandinavier wollten den klassischen Langlauf schützen und so beauftragte die FIS erst 1930 denkwürdigerweise den „Ski Club of Great Britain“ und damit Arnold Lunn mit der Durchführung des ersten FIS-Wettbewerbs in den Disziplinen Abfahrt und Slalom. Es entstand der professionelle Skizirkus.

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es vor allem Gebirgssoldaten aus Frankreich und den USA, die das Inferno-Rennen für sich entscheiden konnten. Seit den 60er Jahren sind es aber meist die Einheimischen, die die lange Abfahrt gewinnen. Dank einer gut präparierten Piste erreichen von den 1800 Abfahrern nur rund 15 Personen das Ziel nicht. Auch Sir Peter Lunn wird das Rennen weiterhin bestreiten, und zwar nach eigener Aussage „so lange, wie ich mindestens zehn andere Läufer hinter mir lasse“.

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Wie mich jede Frau rumkriegt

Petra 12/2002

Wie mich jede Frau rumkriegt

Sie leben kommod in ihrer Welt und fühlen recht genau, wen sie in diese Sphäre herein lassen. Sie sitzen im Cafe, ins Buch vertieft, oder im Waschsalon, die T-Shirts faltend, oder am Strand, das Meer schauend. Frauen in Sphären. Aus einem unerfindlich Grund habe ich die Ehre, diese Blase für einen Moment zu betreten. Damit ist schon der Wunsch nach Privatheit angedeutet. Klar, am Anfang war das optische Feuer, dann aber folgt das Wort. Der erste Blick zu mir geht nicht fahrig nach Sekunden zum nächsten Objekt, die ersten Worte fallen nicht hastig, und durchs Haar wird sich dabei schon mal gar nicht gestrichen.

Um was geht es beim rumkriegen? Oberflächlich betrachtet wohl tatsächlich darum, mich möglichst schnell zum Knutschen anzustiften. Bei feinerer Auflösung zeigt sich mehr. Es geht um die vollständige Bekehrung meiner Person, darum, in naher Zukunft der Dame alle Wünsche zu erfüllen. Und das auch noch mit müheloser Freude. Die ersten Schritte dazu sollten gut überlegt sein – das Problem ist nur, dass sie dabei nicht überlegt wirken dürfen. Der erste Kontakt muss wie ein kosmischer Postbote völlig überraschend meine innere Klingel drücken.

Männer sind vielleicht alle gleich, wollen aber etwas Besonderes sein. Wenn ich schon in den ersten Momenten ihr persönlicher Brad Pitt bin, gibt das enorm Punkte auf dem Einwickel-Konto. Schon nach den ersten Worten muss klar sein, das ich nicht Teil der uns umgebenden Öffentlichkeit bin, sondern ein privates Stück Neuland, das vorsichtig beschritten wird – vielleicht aber auch im Sturm genommen.

Nichts gegen Komplimente, aber welcher wirklich starke Mann wird schon gerne angehimmelt? Und nichts gegen devote Spielchen, volle Ergebenheit aber ist ein Zeichen von Unselbständigkeit. Wo ein ewiger Macher ist, da ist die, die es „mit sich machen lässt“ nicht weit.

Womit wir bei dem Problemsäckchen der überstandenen „Beziehungen“ sind, das anscheinend jeder im Alter über 25 mit sich rumträgt. Zum wirklichen schwerwiegenden Problem wird dies nur dann, wenn darüber die Neuanbahnung von Leidenschaft leidet. Probleme haben wir alle, diese allerdings gleich in den ersten Tagen, geschweige denn ersten Minuten und Stunden durch den Fleischwolf der Analyse drehen zu wollen, ist unklug. Denn dann bleibt oft nicht viel mehr als eine Träne in der Morgendämmerung, die vergeblich darauf wartet von jemanden weggeküsst zu werden.

Welcher Mann hat nicht schon einige Wochen damit verbracht festzustellen, dass hinter einem vermeintlich weiblichen Tiefsinn nur eine andauernde Krisenstimmung steckte? Frohsinn kann man kaum üben, wohl aber die naive, dass heißt unschuldige Sicht auf die neuen Dinge. Die Wissbegier turnt an.

Wer meint, alle Schubladen in seinem Kabinettschränkchen schon mustergültig fertig gezimmert zu haben, der braucht erst gar nicht die Kerzen im Zimmer anzünden. Will man es dermaßen passiv wenden, sind wir Herren natürlich abgewatschte Kinder der Emanzipations-Bewegung, die heute vor dem Problem stehen, geschmeidig zwischen Abwasch und Alpha-Tier-Dasein unser Selbst zu definieren. Aber wer will schon eine solche leidende Männlichkeit für sich konstruieren? Als stets aktiv-riemiger Akteur sind wir arteigen eher darum bemüht, den Damen unsere wahres Ich vor Augen zu führen: Und diese Gesamtperson besteht aus einem Körper, der bis in die letzte Faser romantisch ist – und dem Hirn eines Zuchtbullen.

Womit wir beim Sex wären. Um es abzukürzen: Es muss vom ersten Moment klar sein, dass diese Frau in der Lage sein wird, aus meinem alltagserschlafften Körper eine ausdauernde Fickmaschine zu machen. Weil hier halt Magie wirkt, sind die ultimativen Flachleg-Signale leider nicht genau kategorisierbar; es bleiben nur zwei Tipps. Kein Mann mit Stil will mit der Breitseite aus Zigarettenqualm und Prosecco überwältigt zu werden. Daher darf die Zunge erst nach einer zehnminütigen Vorspiel ins Kusskriegen eingreifen. Was überhaupt nicht geht, ist Oralverkehr in der ersten Nacht. Zwei Stunden nach dem Erstkontakt einen geblasen zu bekommen, dies lässt auf niedere Beweggründe der Dame schließen. Es muss die stete Hoffung im Raum schweben, dass aus der einen Nacht ein Onelifestand wird. Es sei in aller Deutlichkeit formuliert: Artistische Verrenkungen, schlimmstenfalls noch verbunden mit brutalem Präorgasmusgeächz, sind kontraproduktiv. Deuten sie doch auf einen allzu professionell interpretierten Akt hin, der mehr an Arbeit als denn an den sanften Schmelz der Zärtlichkeit erinnert. Nichts, aber auch gar nichts darf darauf erinnern, dass es vor uns einen anderen ernst zu nehmenden Mann gegeben hat.

Nein, schlaue Frauen machen uns Männern keine Angst. Intelligenz sollte sich eben nur nicht im Abruf von Wissen manifestieren, eher in der gewitzten Improvisation des Geistes. Die Fähigkeit flexibel zu reagieren beinhaltet das Überraschungsmoment. Nachts aufgeweckt zu werden und unmissverständlich zu einer Fahrt ins Spielcasino aufgefordert zu werden – das ist sinnlich. Vielleicht ist auch das eine Folge der 68er, aber wir Männer sehen schon lange keinen Grund mehr ständig die Aktionsagenda in der Hand halten zu müssen.

Und nun zur schwierigsten und zugleich unwichtigsten aller Fragen: Wie muss sie aussehen? Um es mal im Bild auszudrücken: Der leicht fettige Glanz, den die von mir kredenzten Bratkartoffeln auf ihren Lippen hinterlassen, der muss ihr gut stehen. Als grobe Faustregel gilt: Wer lustlos im Salat rumstochert, bleibt allein. Auch der neue Trend, ständig Wasserflaschen mit sich rumzutragen, um einen stets optimalen Wasserhaushalt zu gewährleisten, ist anzuprangern. In Gegenwart von Männern trinkt Frau Bier – und eben gut gebrannten Kaffee, um einen leicht hysterischen Koffeinpegel zu gewährleisten.

Um es endlich abzukürzen: Dreifach aufgehoben will ich sein. Aufgehoben im Sinne einer Wärme, die durch die Frau mich umgibt, aufgehoben im Sinne einer Erhöhung, die ich mit ihr zusammen erleben will und aufgehoben im Sinne einer Auflösung, die unsere Personen in etwas Neues, Großes transformiert. Große Worte, sicher, vielleicht ist es daher auch eher die Aufgehobenheit im vierten Sinne des Wortes, nämlich die, das sie sich nicht zu schade war, mich aus dem dunklen Gully der Einsamkeit aufzuheben.

 

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Dieter Bohlen seine Wahrheit

Telepolis v. 29.11.2002

Nichts, auch nicht die Wahrheit

Wenn man das Buch von unserem Dieter nicht als *.pdf saugt, dann würdigt man zugleich Heinz von Foerster.

An der „Wahrheit“ hat sich schon so mancher Philosoph den Zeh verrenkt. Nach Jahrtausende lang schwelender Diskussion fand sich nun ein diplomierter Betriebswirt diese Kernfrage der Menschheit ihrer endgültigen Lösung zuzuführen. Die Wahrheit, so sein Credo, ist das was Dieter sagt.

Wir erinnern uns: Kulturpessimisten sahen schon durch das Geträller der Pop-Engel von „Modern Talking“ den Untergang des Abendlandes bevorstehen. Sie mutmaßten, dass es tiefer nicht mehr gehen könne, aber sie mussten sich eines besseren belehren lassen. Nun diagnostizieren sie einen neuen Tiefstand auf der nach unten offenen Verblödungsskala. Von Dieter Bohlens Erinnerungen an „Nichts als die Wahrheit“ sind bereits 500.000 Tausend Exemplare verkauft und auf KaZaA kursiert die Biografie als pdf-Dokument. Der Bohlen-Virus hat die Republik erfasst, die Symptome: zunächst schwach-schüchternes Hüsteln, später vehementes Gekicher, begleitet von akuter Bestürzung.

Der Virus lässt die Rezipienten taumeln, sie sind hin- und hergeworfen zwischen peinlicher Berührung und der Begeisterung über die Courage, von Penisbrüchen und Teppichludern zu klönen. Lange Zeit herrschte pures Entsetzen über den vulgären Dummbatz, der alle seine Peinlichkeiten zu Markte trägt – bis bemerkt wurde, dass er uns damit alle erleichtert. Da war er, ein Sündenbock, der sich nicht einmal daran störte, dass die Republik ihren Hohn auf ihn lädt, mehr noch, der sich sichtlich wohl im kollektiven Tratsch-Gedächtnis der Gesellschaft fühlte.

Respekt wird „dem Dieda“ vor allem deshalb gezollt, weil es ihm egal zu sein scheint zum Gespött der Leute zu werden. Damit ist er vorläufiges Endprodukt einer Gesellschaft, in der jeder Vorstadt-Honk allein dafür Anerkennung erheischen will, dass er bereit ist, seine privaten Befindlichkeiten in einer Talkshow zur Schau zu stellen. Sicher, Bohlen, 48, ist erfolgreicher Produzent von Billig-Pop, aber seine musikalische Kunst stand schon vor Veröffentlichung des Buches völlig im Schatten seiner Lendenkunst. Denn, wenn man ehrlich ist, wirklich erlebt, etwas durchgemacht, von dem es sich zu erzählen lohnt, hat der Mann nicht.

Was auf den Inhalt seines Trieb-Werks deutet. Der Literat erzählt Anekdoten aus seinem Leben, auf der Strecke bleiben bei dieser Jagd nach Amüsement vor allem die „Pistenhühner“ und seine ehemaligen Weggefährtinnen. Ein Beispiel? Mit unverhüllter Häme lässt er sich über die vermeintliche Scheusslichkeit der Wohnung seiner Ex-Frau Verona Feldbusch aus, ausgerechnet er, dessen Inneneinrichtung seines Hauses in Tostedt bei Hamburg, ein um Ikea-Elemente bereichertes Gelsenkirchener-Barock, kaum mit makellosen Worten zu würdigen ist, ausgerechnet er, der ein paar Seiten vorher noch von seiner „megageilen Flicken-Jacke aus fünfundzwanzig verschiedenen Jeans-Stoffen“ schwärmt.

Noch ein Beispiel? En detail berichtet er vom -aus seiner Sicht- gefährlichen Umgang seiner anderen Ex, die auf den Namen „Naddel“ hört, mit Alkohol. So wollte er, sagte das Alpha-Männchen jetzt in einem Interview, sie dazu anregen, „darüber nachzudenken, ob man das nicht ändern“ könne. Klar, die Bild-Zeitung berichtet bekanntlich ja auch über die Homosexualität einer Tatort-Kommissarin, um sie von ihrem Irrweg abzubringen.

„Hallo McFly, jemand zu Hause?“

Das ist Bohlens Umgang mit der Wahrheit. Dass seine subjektive Wahrheit nicht die Wahrheit der anderen ist, nicht sein kann, das interessiert den Dieter nicht. Kognitionswissenschaftler und Kybernetik-Legenden, wie der kürzlich verstorbene Heinz von Foerster, weisen darauf hin, wie beobachterabhängig, wie subjektiv die wahr genommene Realität ist. „Wahrheit“, so gab von Foerster zu bedenken, „ist die Erfindung eines Lügners“. Wer von sich behauptet im Besitz der Wahrheit zu sein, der stempele damit andere zum Lügner ab.

Bohlen ist sicher Meister darin, seine ganz persönliche Wahrheit für sich so zu gestalten, dass er schmerzfrei – andere sagen merkbefreit – durch das Leben gleitet. Was er sich überhaupt nicht vorstellen kann, ist, dass gerade der intime Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen eben nicht von Wahrheit, sondern durch Wahrhaftigkeit lebt. Als ob es eine Wahrheit darüber geben würde, ob die von Dieter so heiß geliebten Kissen fürwahr, tatsächlich und faktisch richtig auf dem Sofa liegen.

Zugegeben: Fast jeder muss beim Überfliegen von Bohlens Schabernack-Machwerk lächeln, zugleich möchte man dem Fahrer von Geronimo´s-Cadillac einen Schirm leihen, damit es oben nicht rein regnet. Bohlens Geseier kann man als erfrischend schnoddrig, als proletarische Antwort auf die „political correctness“ abfeiern oder im gepflegten Ton als „Schnörkellosigkeit und Lakonie“ (FAZ) bezeichnen. Es bleibt die Einsicht, dass Typen wie Bohlen das Betriebssystem der Spaßgesellschaft sind. Die sollte ja eigentlich nach dem 11. September begraben werden, „aber Pustkuchen“, wie Dieter wohl sagen würde.

Es ängstigt, aber es gibt kaum einen Lichtblick für ein Leben nach Bohlen: Er bedient den Kulturbetrieb einer Republik, in der schnöde Pop-Literaten wie Christian Kracht und Florian Illies („Generation Golf“) deutlich herausstellen, dass die richtige CD im Schrank wichtiger ist als soziale Schieflagen. Zugleich ist die Halbwertszeit von medial aufbereiteten und konstruierten Hypes noch nie so kurz gewesen. Vorgestern Essig-Diät, gestern Rinderwahnsinn, heute 80er Revival, morgen klaut der Strunz dem Effe die Frau zurück. Bohlen, die „gusseiserne Geldvisage“ (Wiglaf Droste), weiß von der Flüchtigkeit dieses Geschäfts, damit er weiterhin seine Kohle aus diesem Voyeurismus-Betrieb ziehen kann ist bereits eine Fortsetzung seiner Lebensbeichte angekündigt.

 

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Beste Trompete in der deutschen Blaskapelle

blond, Juli 2002

Beste Trompete in der deutschen Blaskapelle

Warum das TV von blonden Durchlauferhitzern nie genug kriegen kann

Original PDF aus der blond

Es ist Foto-Shooting Termin, das Studio ist schäbig, der Rand der Jagdwurst auf den halben Brötchen biegt sich. Auf einem Bock räkelt sich feinste Katalogware, der Fleisch gewordene Traum aller Onanisten. Name: Kelly Trump, Alter: 31, Beruf: Porno-Darstellerin, Entschuldigung, ehemalige Porno-Darstellerin, aber das will hier eigentlich niemand hören. Klar, ab sofort ist Kelly (sie wird von allen geduzt) Moderatorin, vielleicht sogar Schauspielerin. Denn seit Mai moderiert sie „La Notte“ und begleitet schlaflose Männer mit Hand im Schritt durch die Nacht. Der TV-Sender Neun Live verspricht sich von Kelly und ihren „Erotik-Sketchen“ glühende Schwänze, was gleichbedeutend mit hohen Einschaltquoten ist.

Und deswegen sind sie gekommen, die Fotografen und Journalisten von „Blitz Illu“, „Coupe“ und den anderen Blättern. Vordergründig, also vom Verstand her, geht es darum, dass mal wieder eine Dame den Ausstieg aus der Hardcore-Branche und den Einstieg in die Erotik-Szene sucht, wie dass schon Dolly Buster und Gina Wild erfolgreich taten. Untergründig, also vom Becken her, stellen sich natürlich andere Fragen: Wie sieht die Frau aus, die in über sieben Jahren Hunderte, ja vielleicht Tausende von Lunten ausgeblasen hat, eine Frau, die sich beruflich literweise Sperma ins Haar hat spritzen lassen? So schroff würde das hier niemand formulieren, aber irgendwas zwischen Vorurteil und Fantasie nimmt jeder mit in den Raum und Kelly weiß das auch.

Scheu sitzt sie auf dem schwarzen Ledersofa und raucht eine Zigarette nach der anderen. In die Augen schaut ihr kaum mal jemand, dabei sind diese wunderschön- so grün, so tiefleuchtend grün. Sind das Kontaktlinsen? Die Tür muss schnell geschlossen werden, denn Kelly ist stets kalt. Schmale Taille, blonde Haare und ein riesiger Kunstbusen, einer, der das Rückgrat verbiegt. „Ich suche mir ein Wolf, wenn ich Dessous kaufen will“, sagt Kelly und die Kollegin von Blitz Illu nickt eifrig. Die beiden tauschen E-Mail Adressen aus und wollen demnächst zusammen suchen gehen.

Gesangs- und Sprechunterricht hat sie genommen, um auch in Filmen mit Sprechakt mitwirken zu können. Im neuen Streifen von Ralf König hat sie eine Nebenrolle – sie spielt sich selbst und muss es mal wieder mit einem Typen treiben. Aber egal, es ist ein Anfang.

Lockeres Gesprächsgeplänkel, dann die erste knallhart-journalistische Frage der Dame von Coupe: „Ist man als Porno-Star besser im Bett?“ Hui, gefährlich, aber Kelly, nicht mundfaul, retourniert: „Nein.“ Damit ist der Reigen eröffnet, endlich darf über Sex geredet werden. Und Kelly packt aus, denn sie steht nicht mehr unter Vertrag und muss nicht versichern, dass ihr das wütende Gerammel „enorm viel Spaß bringt“ oder, wie sie dass auf der Webseite ihres Produzenten ausdrückt, „die Kamera mir eigentlich einen zusätzliche Kick gab“. Heute klingt das etwas anders: „Kein normaler Mensch würde das zu Hause machen, was wir vor der Kamera veranstalten.“

Dass Frauen in den Porno-Filmen als immergeile Luder dargestellt werden ist Fakt. Nicht nur FeministInnen nehmen daran Anstoß, dass die Frau dabei zur bloßen Fickmaschine erniedrigt wird. Dadurch, so die berechtigte Annahme, wird dem Dauerkonsumenten ein reichlich schiefes Frauenbild eingebläut. Männer dient der Porno als Wichs-, Paaren eher als Inspirationsvorlage, beiden Gruppen ist aber meist klar, dass das fiese Löcherstopfen kein Abbild der Realität, sondern geiler Traum ist. Und alleinstehende Frauen? Die sind entsetzt über den gefühls- und phantasielosen Geschlechtsakt, sehen sich aber nicht in der Opferrolle, in die sie die alternde Emanzipationsbewegung stecken will.

Wie würde ein Porno aussehen, indem Kelly Regie hätte? „Viele weniger, na, du weißt schon, und viel mehr Erotik.“ Eigentlich ist Kelly schüchtern und die Hardcore-Jahre haben das nicht ändern können. Immer wenn sie ein Igitt-Wort in den Mund nehmen muss, flüchtet sie sich in Umschreibungen. Aber zunächst folgt die nächste höchst investigative Frage der Dame von Coupe: „Hast du einen Dildo zu Hause?“ „Nein“, sagt Kelly.

Aufgrund ihrer kinematisch dokumentierten, tiefgehenden Erfahrungen dient sie ihren Fans immer wieder als Beichtmutter. Freudig erzählt Kelly von einer unglücklichen Frau, deren Mann schwer abgetörnt davon war, dass die Frau, wie Kelly es ausdrückt, „beim Oralverkehr nicht…, na ja, du weißt schon, die wollte nicht…, na, halt das ganze Programm, du weißt schon…“ Leichte Unruhe in der Sofarunde bis jemand den Satz beendet: „…schlucken wollte?“ Erleichterung ringsum, Kelly errötet.

Der Deutsche Bürger ist von allen Europäern am meisten an Porno-Seiten im Internet interessiert, im Monat klicken rund 5 Millionen Lustbolzen zwischen Nordsee und Alpen auf triefende Webseiten. Die deutsche Hardcore-Film-Branche wirft monatlich mindestens 600 neue Produktionen auf den Markt, auch damit ist man europaweit führend. Und noch eine Zahl zeigt das Ausmaß der Katastrophe für Süßmuth, Schwarzer & Co.: Die braven Deutschen sind nach den USA zum weltweit zweitgrößten Verbraucher von Erotikartikeln aufgestiegen.

Allgegenwärtiger Sex, das ist weniger Zeichen für „Gewalt gegen Frauen“, wie dies die Emma-Fraktion annimmt, die Sexualisierung der Gesellschaft ist zum einem Zeichen ihrer Trivialisierung, zum anderen Nebenschauplatz eines ausgedehnten Körperkults. Voyeurismus und Selbstdarstellung halten diverse TV-Talkshows am Leben, und am lautesten johlt die Menge, wenn es um Ficken, Lecken, Blasen geht. Eine ganze Reihe von Fitness-Männerzeitschriften lebt nur vom Wunsch der Leser nach Oberkörperverbreiterung und Schwanzverlängerung.

Für Kelly Trump sind dies dagegen Zeichen dafür, „dass alles viel offener geworden ist und die Leute viel lockerer mit Sex umgehen“. Wo früher noch „alte Opas mit Fotoapparaten“ auf den Sex-Messen rumgerannt seien, wären dort heute vor allem Paare zu sehen. So oder so, das Wort „Moral“ ist heute keine Grundlage mehr für die Bewertung, ob etwas noch Erotik oder schon Pornographie ist. Höchstens die Ästhetik wird zur Abwehr herangezogen, ansonsten gilt der postmoderne Schlachtruf des „Erlaubt ist, was gefällt“.

Sicher ist: Die Arbeit mit halberigierten Penissen in Big-Mac-Stellungen ist anstrengend, vielleicht sogar aufzehrend. Auch Fußballer wechseln später, dann, wenn die Knochen nicht mehr mitspielen, gerne auf die Trainerbank oder in den Vorstand. Oder sie übernehmen eine Lotto-Toto-Annahmestelle. Auch Kelly Trump muss ein paar Gänge zurück schalten. Aber sie bleibt blinder Zeuge der Einsamkeit in deutschen Wohnzimmer und wird wenige, aber dankbare Abnehmer finden.
Jörg Auf dem Hövel

 

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Ein Schritt vorwärts – und zwei zurück

 

HanfBlatt Nr.79

Ein Schritt vorwärts – und zwei zurück

Was ist gewachsen und was blüht uns? Vier Jahre rot-grüne Politik zeigen vor allem die Angst vor Veränderung.

Erinnern wir uns: Damals, 1998, versprach die SPD „Innovation und Gerechtigkeit“ und das sollte auch für die Drogenpolitik gelten. Daraus ist wenig geworden. Es sollte ein Aufbruch in eine Ära nach Kohl werden, schließlich saßen nun die 68er in den Ledersesseln des Kanzleramts. Was kam war nur ein weiterer Rückfall. Um es gleich auf den Punkt zu bringen: Zwar setzte die Koalition Fixerräume und die lange aufgeschobenen Abgabe von Opiaten an Schwerstabhängige durch, ansonsten stagnierte die Politik. Denn „gerecht“ ist es auf keinen Fall, dass Menschen aufgrund des Besitzes von ein paar Krümeln Haschisch den Führerschein oder Arbeitsplatz verloren. Es musste erst wieder richterliche Rauchzeichen aus Karlsruhe geben, um diesen gebührlichen Zustand zu beenden.

Eine gewisse Kontinuität lässt sich in der Drogenpolitik der SPD durchaus erkennen: Unter ihrer Ägide kam es bereits 1982 zu einschneidenden Verschärfungen im Betäubungsmittelgesetz und nun zu Samenverbot und der Praxis, Kifferinnen den Führerschein zu entziehen, obwohl diese gar nicht akut berauscht gefahren waren. Die Grünen haben sich, wenn überhaupt, nur zaghaft gegen diese eiskalte Repressionspolitik gewehrt. Ist es tatsächlich so, dass, wie Hans-Georg Behr es einmal so schön ausdrückte, „die Bundesregierung, egal welche gerade herrscht, fest entschlossen ist, den nun einmal eingeschlagenen Holzweg bis zum bitteren Ende weiterzugehen“?

Innenminister Schily laviert seit geraumer Zeit, mal will er die Legalisierung prüfen lassen, im nächsten Moment dementiert er dies. Würde er tatsächlich eine Kommission einberufen, dann würde er wohl sein grünes Wunder erleben. Selbst den verbohrtesten Sachverständigen ist nämlich mittlerweile klar, dass es in Deutschland eine Hanfkultur gibt, welche eben nicht aus rumhängenden, verelendeten Luschen besteht, sondern die wirtschaftlich und kulturell zu Tragen beginnt. Die vernebelten Video-Strips von Stefan Raab und Kiffer-Scherze von Harald Schmidt sind mediales Zeichen dieser Entwicklung. Nur ist es leider halt immer noch so: Wer seinen Kopf zu weit raus streckt, der kriegt was zwischen die Hörner; das musste nicht nur Xavier Naidoo erfahren. Die Boulevard-Medien sind Teil der Verlogenheit in der Drogenkultur des Landes.

Es ist ein Wunder, wie sehr sich die Grünen von ihren Wurzeln aus den 68er gelöst haben. Es kann doch kein Mensch, der die damalige Zeit mitgelebt hat glaubhaft versichern, dass die Kifferei in seinem Umfeld nur süchtige und sozial abgewrackte Typen hervorgebracht hat. Ist nicht vielleicht sogar das Gegenteil richtig? War diese böse Droge nicht vielleicht sogar Bestandteil des Antriebsstoffs, der den Motor der ideologischen Innovation antrieb, blumiges Versprechen auf eine bessere Welt? War die Revolte von 1968, die radikale Infragestellung der deutschen Nachkriegsgeschichte, nicht auch durch die gelebten Utopien der „Blumenkinder“ getragen? Wo sind sie denn, die Verweise auf die stilleren Vertreter einer Generation, die nicht nur im proklamativen Weg nach außen, sondern auch in der Introspektion den Weg zur Verbesserung der Lebensumstände einer Gesellschaft suchten?

Es scheint fast so, als ob diese Menschen heute nur noch aus dem esoterischen Untergrund heraus wirken, dabei haben sie das Lebensgefühl einer Generation mitbestimmt. Dies mag heute kaum einer der wortgewaltigen Weisenräte zugeben. Hier liegt vielleicht eine Ursache für die konstante Abschiebung von Nutzern psychoaktiver Pflanzen und Substanzen in den pathologischen Bereich. „Drogenkonsumenten“, dass sind aus dieser Sicht immer Menschen, die der Hilfe von außen bedürfen. Was für ein Blödsinn! Es ist oft genug formuliert worden, sei aber hier noch einmal zu mitsingen formuliert: Der Mehrheit aller Genießer von psychoaktiven Spurenelementen nimmt sozial integriert und autonom am sozialen Leben teil und ist auf keines der Hilfesysteme angewiesen. Die neuen Untersuchungen zeigen darum eben auch, dass für die meisten Frauen und Männern der Cannabiskonsum eine Phänomen der Jugendzeit ist.

Merkwürdig ist daher, dass Rot-Grün es tatsächlich für einen Verdienst hält, dass der Sektor „Drogenpolitik“ vom Innen- zum Gesundheitsministerium verlagert wurde. Abgesehen davon, dass damit nur der Zustand vor der Schreckensherrschaft von Kohl wieder hergestellt wurde, kann man nur sagen: „Ja, Wahnsinn, Danke, Kifferinnen sind jetzt nicht mehr kriminell, nur noch krank!“ Das durften die Schwulen und Lesben auch lange Zeit von sich behaupten. Wann wird eingesehen, dass der geregelte Genuss von Hanfprodukten ein Stück Lebensart ist, nicht mehr, nicht weniger? Das große Tabu ist nach wie vor, dass der Genuss von Cannabis, LSD und Kokain seine Gefahren birgt, aber eben auch mächtig Spaß bringt.

Seltsamerweise kommen die Grünen erst mit dem näher rückenden Wahltermin wieder in Fahrt: Ihr rechtspolitischer Sprecher Volker Beck, Mitglied im Fraktionsvorstand des Bundestages, will die Diskussion mit der SPD nach einer Wiederwahl neu aufnehmen: „Der Krankheitsdiskurs führt bei Cannabis nicht weiter. Hier geht es um das Verhältnis von Bürger und Staat beim Drogengebrauch“, sagt er und fährt fort, „diesmal muss die Entkriminalisierung von Haschisch in der Koalitionsvereinbarung stehen.“ Wie sagte meine Oma in solchen Fällen gerne: „Wer es glaubt, wird selig.“ Die glattgebügelten Ökologen versprachen schon vor vier Jahren die Legalisierung des Hanfs – dass sie an diesem Punkt so sang- und klanglos kapitulierten hat ihnen gerade unter ihren jungen Wählern eine Menge Sympathie gekostet. Fest steht und das weiß auch Volker Beck: Der drogenpolitische Neubeginn wäre nicht nur an die Legalisierung des Konsums geknüpft, innerhalb staatlich kontrollierter Rahmenbedingungen müssten auch Anbau und Handel freigegeben werden. Angesichts solcher Schritte kneifen SPD und Grüne. Schröder will die Legalisierung von Cannabis partout verhindern, das war schon vor vier Jahren so und wird so bleiben.

Es ist kein Zufall, dass nach Christa Nickels nun wieder eine SPD-Dame den Posten der Drogenbeauftragten der Bundesregierung einnimmt. Die SPD-Rechte Marion Caspers-Merk antwortete im Kölner-Stadt-Anzeiger auf die Frage, was sie denn für das neue Amt qualifiziere: „Die neue Gesundheitsminsterin hat mich gefragt und mich reizte das neue Tätigkeitsfeld.“ Danke, Frau Casper-Merk, dass reicht uns schon. Dabei gab es durchaus Ansätze zu kollektiven Erleuchtung der Sozialdemokraten: Die SPD-Bundestagsfraktion setzte sich 1992 für eine Straflosstellung aller Drogenkonsumenten ein und warb auf zwei Parteitagen (1993 und 1996) für den legalen Zugang zu Cannabisprodukten zum Eigenverbrauch. Auch Bedingungen eines kontrollierten Verkaufs sollten geschaffen werden. Aber auch diese Blase zerplatzte, übrig geblieben ist eine Politik, welche die ewige Leier der Prävention spielt und nicht einsieht, dass es die Illegalität ist, welche die meisten Probleme erst schafft.

Und der kreidefressende Stoiber? Die Verwandlung von Hardcore-Ede zum milden Mann der Mitte darf man getrost als taktischen Manöver abtun. Von ihm und seinen Mannen ist im Falle eines Wahlsiegs ein Rückfall in dunkelste Zeiten zu erwarten. Die CDU/CSU präsentiert sich in der Drogenpolitik seit Jahrzehnten genauso kompetenz- wie innovationslos. Kurzum: Stoiber & Co. gehen gar nicht.

Schon ohne einen Kanzler Stoiber ist die Republik von Visionen weit entfernt. Schröders Pragmatismus lässt in der Regierungspolitik keinen Platz für Ideen um aus den „geistig-moralischen Schrebergärten“ (Gerd Koenen) auszubrechen. „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Dieser Satz Erich Kästners wird nur allzu gerne von unserem Brioni-Kanzler zitiert – mittlerweile klingt dies wie die endgültige Verabschiedung des ideellen Untergrunds, auf welchem jedwede Handlung ja nun mal beruht. Aber für was macht Rot-Grün heute noch den Rücken gerade?

Die Schröder-Chor schmettert im Tenor einer Republik, in der schnöde Pop-Literaten wie Christian Kracht und Florian Illies („Generation Golf“) deutlich herausstellen, dass die richtigen CDs im Schrank wichtiger sind als soziale Schieflagen. Stichwort: Spaßgesellschaft. Deren Ende ist auch nach dem 11. September nicht in Sicht. Noch nie war die Halbwertszeit von medial aufbereiteten und konstruierten Hypes so kurz. Vorgestern Essig-Diät, gestern Rinderwahnsinn, heute 80er Revival, morgen klaut Strunz Effe die Frau zurück. Alles begleitet von einer Talkshow-Tyrannei, deren Intimität von der eigenen Gefühlsunfähigkeit ablenken soll. Statt Visionen zu leben werden halbschlaffe Erektionen von platten Oberflächen gesogen. Von daher ist der Stillstand der von Schröder beschwörten „Neuen Mitte“ nur Teil einer Gesellschaft, die sich stets auf der Suche nach dem nächsten Event in narzisstischer Anmut vor dem Spiegel dreht.

Noch steht der Beweis aus, dass ein nennenswerter Anteil von Anwendern psychoaktiven Substanzen deren Potential zur vielbeschworenen „Bewusstseinserweiterung“ dazu nutzt aus diesem egozentrischen Reigen auszubrechen. Die Leute, die abseits der legalen Mainstream-Drogen Lust auf „better living through chemistry“ haben, sind zudem zu einem großen Teil völlig desinteressiert an der politischen Durchsetzung ihrer Vorlieben. Sie kiffen sowieso, und wenn es passt fliegt auch mal ´ne Pillen in den Rachen. Legal – illegal – scheißegal.

Niemand müsste die Ideale von der Selbstbestimmung des Individuums bemühen, um zu einem Wandel in der Drogenpolitik zu kommen. Nein, es würde vollkommen reichen einen analytisch sauberen Blick auf die Realität zu werfen, um die Auswüchse einer fehlgeleiteten Politik gegenüber Substanzbenutzern aller Art einzusehen. Am augenfälligsten ist das seit jeher bei Cannabis, einer Pflanze, deren Wirkstoffe vergleichsweise harmlos auf den Menschen wirken.

Zukünftig kann es also nur darum gehen, dass die gesellschaftlichen Institutionen wie Schule und Elternhaus tabulos über Drogengebrauch aufklären und auch dazu anleiten. Dazu sind sie bislang nicht in der Lage, zum einen, weil Unwissen herrscht, zum anderen, weil ihnen Gesetze im Wege stehen, zum dritten, weil die eigene Abhängigkeiten und Süchte (Alkohol, Zigaretten, Fernsehen) selten thematisiert werden. Hier liegt ein weiteres markantes Problem der Diskussion: „Drogenkonsumenten“, dass sind immer die anderen. Damit wird der Komplex aus dem eigenen Verantwortungsbereich geschoben und als abhandelbares Objekt interpretiert. Nicht umsonst gab es größere Anschübe zu Reformen immer dann, wenn Familienmitglieder oder Menschen im Bekanntenkreis von Politikern Drogen konsumierten. Das Apothekenmodell von Heide Moser und der nachhaltige Einsatz von Henning Voscherau für die Heroinvergabe sind Beispiele hierfür.

Also alles wie gehabt? Nein, wohl nicht. Trotz Samenverbot und anderen verschärfenden Maßnahmen, die wohlgemerkt alle während der Legislaturperiode von Rot-Grün durchgesetzt wurden, floriert die Hanfszene. Hanf ist heute mehr denn je Mode, Ernährung, Droge, Kult, Musik, Schmuck, Weltanschauung. Kiffen und alles rund ums Kiffen ist normaler denn je, das Geseier von der „kulturfremden Droge“ schon lange widerlegt. In den Bars und Clubs des Landes wird munter eingerollt und der eine zieht an der Sportzigarette, der andere halt nicht. Früher wurde die Tüte noch mit verschwörerischen Blick weitergereicht, dass tut heute nicht mehr Not. Eine wenig erwähnte Tatsache ist zudem, dass Kiffen nach wie vor eine Kultur des Teilens ist. Der Eine besorgt oder baut an, die Nächste baut, geraucht wird zusammen. Und auch die ideologischen Fehden innerhalb der ökonomisch orientierten Hanf-Szene nehmen ab. Mittelfristig wird die Null-Bock-80er Generation in die Institutionen tanzen und es bleibt abzuwarten, ob sie ihre rauchgeschwängerten Wurzeln nicht verleugnet. Die vielen Cannabis-Connaisseure werden bis dahin weiterhin vor allem eines haben (müssen): Ausdauer.