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Lahn-Wahn

HanfBlatt Nr. 71, Mai/Juni 2001

Netzwerkpartys sind nichts für Schwächlinge

Der Laden stinkt nach kaltem Rauch und Männerschweiß, das Publikum besticht durch seinen aschfahlen Teint und der Elektro-Smog-Pegel dürfte sensible Charaktere zum Kotzen anregen und. „Hier sind wir richtig“, ist denn auch der Kommentar eines Weggefährten. Gestalten hocken vor ihren Monitoren und ballern bis die virtuellen Rohre glühen, wir dringen selbstbewusst zu fünf allein stehenden Rechnern vor. Der braungebrannte Besitzer und sein bleicher Helfer haben bereits die Software unserer Träume installiert, jetzt heißt es nur noch die Lenkräder anschließen und los geht die wilde Fahrt. Wir wollen eines der letzten Abenteuer erleben, welches die Welt noch bereit hält – eine bekiffte Formel 1 Netzwerkparty.


Es wäre interessant zu hören, was der Chefredakteur einer dieser hochglänzenden Lebensart-Einrichtungs-Ich-kaufe-Alles-Zeitschriften zu dem Ambiente in diesem Tempel sagen würde. Eine kümmerliche Yucca-Palme sollte ursprünglich Leben antäuschen, hat sich aber mittlerweile dem Elektro-Smog ergeben, ansonsten herrscht Funktionalität in dem Laden: Neon-Röhren, gekachelten Boden, weiße Wände. Es erinnert an die 2001-Version des Aufenthaltsraums von „Einer flog übers Kuckucksnest“, der Vorhof zur digitalen Spielhölle, oder eben des Himmels.

Ennos Sporttasche hat seit Jahren keine Trainingsklamotten mehr gesehen, dafür hat es sein rotes Steuerinstrument warm und kuschelig. Man staunt nicht schlecht, als nicht nur er, sondern wir alle aus unseren Taschen und Tüten feinste Force-Feedback-Lenkräder zaubern. Merke (1): Gut konfiguriertes Equipment ist Voraussetzung für zügigen Spaß. Computer, Monitor und Zubehör müssen rund laufen, sonst wird aus der LAN schnell eine Lahm-Party.

„So was hatten wir hier noch nie“, erzählt der freundliche Fraggle uns. Er wird für den Rest des Abends und der Nacht um unsere Rechner herumschleichen – nicht weil er kontrollieren, sondern mit spielen will. „Ich bin selber Fan von Grand Prix 3 und gestern Nacht hier bis 2 Uhr gefahren.“ Viele Rennen hätte er dabei gewonnen, erzählt er. Wir lassen das unkommentiert, zum einen, weil wir ahnen, dass wir um 2 erst richtig heiß, zum anderen, weil wir mit der Installation der Software für die Lenkräder beschäftigt sind. Plug&Play ist eine der hartnäckigsten Lügen des Intel-Microsoft-Kartells. Der Aufbau eines lokalen Rechner-Netzwerks (LAN) über TCP/IP ist selbst unter Windows 98 eine Aufgabe für Tüftler, die Tastaturbelegung von Force-Feedback-Lenkrädern führt manche Menschen zu Nervenzusammenbrüchen. Merke (2): Eine LAN- ist immer auch eine Installations-Party.

Startaufstellung

So langsam kommt der Wahnsinn in die Gänge: Charasi fährt die ersten Proberunden in Melbourne und fordert uns auf, endlich das Rennen zu starten. Alle hacken an ihren Rechner rum, die Stimmung ist nervös wie in der Boxengasse. Ennos Steuereinheit ist mittlerweile konfiguriert, aber jetzt ruckelt bei Rudolf plötzlich die Grafik. Der gebräunte Besitzer des Techno-Schuppens beäugt unsere Aktivitäten, die mittlerweile in den Eingeweiden des Betriebssystems wühlen, mit Sorge. „Vielleicht muss am BIOS was geändert werden“, tippt Enno ins Blaue. Die Schweißperlen auf der krausen Stirn des Inhabers zeigen deutlich, was er von diesem Vorschlag hält. Der Mann hat Glück, schließlich reicht es aus im Spiel selbst die Grafikfunktionen anzupassen. Damit ist das Werk vollbracht: Auf der virtuellen Start-Ziel-Geraden des Formel 1 Kurses in Melbourne stehen 18 Wagen, fünf davon gehören uns. Die Ampeln stehen auf Rot, die Motoren brüllen so laut durch den Laden, dass sogar die Jungs an den Nebenrechnern kurz von ihrem Ausflug in die Schmuddelecken des WWW zurückgeholt werden.

 

 

Aber halt! § 23 der FIA-Reglements schreibt die Inhalation von Cannabinoid-haltigen Abgasen vor dem Einstieg ins Cockpit vor! In der Hosentasche von Rudolfs feuerfesten Rennoverall findet sich das vorgeschriebene Balsam für unsere gespannten Nerven. „Aber nicht hier drinnen, das geht gar nicht, macht das Bitte vor der Tür“, sagt der bleiche Mann, als er unsere Medikamentenwahl entdeckt. Also verlassen wir im Gänsemarsch den Laden. Draußen herrscht Glatteis, denkbar schlechte Bedingungen für ein schnelles Rennen. Egal, wir füllen unseren Tank randvoll mit bestem Treibstoff. Das muss erst einmal für rund 18 der 62 Runden halten, darum Merke (3): Verrate der Konkurrenz nie deine Boxenstrategie.

In leichten Schlangenlinien eiern wir ins Cockpit zurück. Der Start ist eine äußerst brisante Situation, hier heißt es kühlen Kopf bewahren. Enno und Rudolf beschleunigen zwar etwas langsam vor mir, ich reihe mich aber brav in die Schlange vor der ersten Kurve ein. Neben mir rast Charasi in die Rabatten, „Neeiiiinnn !!!“ – sein Fluch hallt durch den kahlen Raum wieder und verliert sich in dem Ohr der manischen Half-Life-Spieler, die unsere Eskapaden mit stoischer Ruhe begegnen. Der Hanf wühlt mich auf, ich fühle die 790 PS meines Williams-BMW FW22, der heiße Vogel läuft in jeder engen Kurve Gefahr, mir unter´m Arsch wegzurutschen. Spät bremsen, früh raus beschleunigen, ich bin gut drauf, aber die Mistzecke von Rudolf fährt wie auf Schienen vor mir. Auf der Gerade geht meine Kiste auf 320 km/h hoch, mein Puls folgt, die Kardanwelle steht kurz vor der Verabschiedung ins Datennirwana. Beim Überfahren der Randsteine rüttelt das Lenkrad meinen gesamten Körper, „May the Force be with you“, raunt Bernie Ecclestone mir zu. Im Rückspiegel nähert sich mit mächtig Überschussgeschwindigkeit schon wieder Charasi. Er hat seine Flügel auf minimalen Anpressdruck gestellt, das gibt ihm auf der Geraden viel Speed, in den Kurven viel Ärger. Mit einer wahnwitzigen Aktion rauscht er rechts an mir vorbei, damit die Reifen nicht blockieren, trampelt er irrsinnig auf dem Bremspedal rum. Irgendwie bleibt er auf der Strecke, wird aber zu weit rausgetragen, so dass ich ihn kurz vor der nächsten Kurve wieder überholen kann. Das Rennen verläuft hochtourig, erst nach einiger Zeit bemerke ich einige Zuschauer hinter uns, die kopfschüttelnd, aber doch staunend dem Rennverlauf folgen.

Boxenstopp

§ 24 des FIA-Reglements besagt, dass während eines Rennens der THC-Pegel im Blut des Piloten einen Wert von 4 Milligramm nicht unterschreiten darf. Also ran an die Boxen und nach den inneren Ludern Ausschau halten. Wieder raus aus dem Schuppen, die Luft ist frisch, aber definitiv zu kalt, also verpieseln wir uns ins Auto um die Ecke. Mittlerweile brauchen wir den Gestank von Benzin und Öl immer um uns. Die Atmosphäre im Fahrerlager ist rotz harter Konkurrenz auf der Strecke stimmig – der Joint vereinigt die erhitzten Gemüter. Ein kurzer Blick ins Regelbuch führt uns wieder einmal die harten Bedingungen des professionellen Rennsports vor Augen. § 34 besagt eindeutig, dass Dosenbier zwar während der Fahrt nicht aus dem Cockpit geworfen werden darf, in der Boxengasse aber zur Betankung herangezogen werden muss. Wir fügen uns widerwillig.

Rennstrecke
Wieder im Boliden wird die Stimmung hitzig. „Was bremst du denn da?“, pöbelt Charasi Rudolf an. „Ich bremse wo ich will, du Lappen.“ Beide amüsieren sich mit durchdrehenden Rädern im Kiesbett, während ich an ihnen vorbei ziehe – so macht Rennsport Laune. Mittlerweile hat der Laden-Fraggle eingesehen, dass wir eine andere Klasse sind als er. „Ach, ihr Fahrt ohne Bremshilfen?!“, ist sein leicht frustrierter Kommentar. In unserem Zustand brauchen wir keine Hilfe von niemanden mehr, mit roten Augen kriechen wir in den Monitor, leben den Cyborg, werden zur perfekten Man-Machine-Interface. Die rückhaltlose Beachtung des harten Regelwerk der FIA hat unsere Geist-Körper-Einheiten auf Hochleistungsmodus getunt, wir sind hart am Limit und fahren oft darüber hinaus. Merke (4): Auch in virtuellen Simulationen ist immer auf das besondere Regelwerk der FIA zu achten. Ob die Fahrtüchtigkeit dadurch erhöht oder verringert wird, ist noch nicht abschließend geklärt.

Turbo-Lader

Champagner rieselt auf mich und meinen Teamchef, da reißt mich plötzlich der Blue-Screen of Death aus meinen Siegerträumen. Eine der Transistor-Kisten ist offen sichtlich von unseren Fahrleistungen überfordert, das Rennen ist hinüber und wir fallen aus den Wolken in den Neustart. Sei´s wie es ist, denke ich, und schlage fürs Hochfahren der PCs einen erneuten Gang ins kalte Fahrerlager vor. Mittlerweile wird dem Hilfs-Chef unser Treiben zu bunt, er bittet uns, nicht unbedingt vor der Tür dem FIA-Regelwerk nachzukommen. „Kein Problem, Meister.“ Um ihn und unsere Synapsen bei Laune zu halten, erleichtern wir ihn um den gesamten Vorrat an Snickers und Mars und setzen auch dem Cola-Automaten schwer zu. Die freundlichen Türken am Nachbartisch haben sich inzwischen lange genug durch die dunklen Gängen der Quake III Arena gejagt, sie verlassen den Laden. Wir aber sind noch lange nicht am Ende.

 

LAN WAHN

Bei einem nem Mega-Event in Duisburg trafen sich 1999 über 1600 PC-Spieler um über ein LAN (Local Area Network) miteinander zu spielen. Das war die größte bis heute stattfindende LAN-Party – teilweise brach hier das Stromnetz der Fabrikhalle zusammen. Im Normalfall trifft man sich aber in kleinem Kreis und schließt mindestens zwei Rechner über ihre Netzwerkkarten zusammen. Die Hardware-Voraussetzungen sind hoch: Mindestens ein 500 Mhz Prozessor und eine schnittige Grafikkarte sollten es schon sein, um zügig im Netz fahren oder ballern zu können. Die First-Person-Shooter Unreal Tournament, Quake III Arena, Half-Life oder dem indizierten Counterstrike bieten die besten Voraussetzungen für Gruppen-Spielspaß, wer das Wochenende nicht nur in Blut baden möchte, wird von der Formel 1 Simulation Grand Prix 3 bestens bedient. In vielen Städten existieren mittlerweile Läden, in denen man Rechner stundenweise mieten und dort im Netzwerk spielen kann. Aktuelle Termine von LAN-Partys gibt’s unter www.lanparty.de.

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Ottensen III

Veröffentlicht unter www.ottensen.de (Echolot 10/2000)

Rundgang in Ottensen III

Ottensener Hauptstrasse, Bahnhof und Stuhlmann-Brunnen

Spät Abends spielt Ottensen seine Vorteile aus. Die hektischen Renner sind in ihre Wohnwaben zurück gehastet, die Waren der Händler und Höker liegen schwach erleuchtet im Schaufenster, eine leichte Mattigkeit liegt über dem Viertel. Ein weiterer Tag im sonnigen Spätkapitalismus ist vorüber und die Gewinner und Verlierer dieses Spiels um Geld und Ruhm sortieren sich. Wer nicht vor der Glotze hängen bleibt und lieber das Kopfsteinpflaster spürt, will sich amüsieren. Die Nachtarmada rüstet sich zum Kampf gegen Langeweile. Und los geht´s.

Was lässt die ausländischen Imbiss-Besitzer bei der Einrichtung ihres Ladens mit sicheren Griff zur Neon-Röhre greifen? Wollen sie ihre weißhäutigen Gäste besser sehen? Oder ihre Köfte? Sie sollten doch wissen, dass selbst in Ottensen nur die Simulationsräume urdeutscher Gemütlichkeit die Kasse zum rattern bringen. Das hintergründige Summen dieser Operationssaal-Illumination scheint den Türken im weißen Kittel heute in eine Art Kontemplation zu versetzen. Mit verträumten Blick wetzt er seine Giros-Machete. Woran denkt er? Hüpfende Lämmer, wackelnde Hüften oder The Green, Green Grass of Home? Egal. Mit sicherem Schnitt trennt er das Pressfleisch vom Giros-Spieß. Ich freue mich: Gleich wird die brennende Würze den Faden Geschmack des Schlachthof-Abfallprodukts übertünchen und mit dem Krautsalat tue ich mir auch noch was Gutes. Jedenfalls dann, wenn nicht die Hälfte auf dem T-Shirt landet. Irgendwie wahrt mein ausländischer Freund gerne den Abstand. Lächeln ist selten, aber seine Frage „Mit alles?“ ist mir ans Herz gewachsen. Und deswegen antworte ich seit Jahren zärtlich mit „Ja, nur kein Rotkohl bitte“. Die Psychoanalyse hat die Kunst der Übertragung ja leider ins Pathologische abgeschoben, aber dieser Mann hier ist für mich nach einem Tag am Schreibtisch der erste Beweis für die Widerlegung der Einsamkeit. Ich zahle.

Der Musikant sitzt auf seinem Gitarrenkoffer und dreht sich eine Zigarette. Er hat den ganzen Tag gearbeitet und deswegen gibt es zum Tabak ein Holsten. Er sieht traurig aus und seine Lieder klingen so. Sehnsucht – aber wonach? Wünscht er sich eine Frau, die ihm abends die vorgewärmten Puschen an den Fernsehsessel bringt? Oder hat er genau diese Szenerie satt gehabt? Verdammte Anonymität der Großstadt – würde ich auf dem Land wohnen wüsste ich wahrscheinlich sogar seine Schuhgröße. Auch deswegen muss man doch öfter auf eine allzu einnehmende Arbeitswelt motzen: Die Leute haben keine Zeit füreinander – sie werden mitgerissen im Fluss von Information (die morgen nix mehr wert ist), von Aufträgen (die morgen storniert werden), vom Glauben der Unersetzbarkeit (und morgen wird ihnen gekündigt). Und die Werbeindustrie impft ihnen täglich neu den Wunsch nach Mehr ein. Proteste gegen Konsumtempel, wie zum Beispiel damals gegen das Mercado, sind eben nicht nur letzte punkig-anarchische Zuckungen gegen das Kapital, sondern auch die Angst vor dem Verlust von Solidarität unter Bewohnern eines Viertels. Wenn nur noch geldgesteuerte Mutanten durch die Straßen hetzen, dann reißt das unsichtbare Band, welches Nachbarn, Mitmenschen und Gleich-Tickende zusammen hält.

Eine Ecke weiter höre ich das schnelle Klackern hochhackicker Damenschuhe. Eine blonde, etwa 45 Jahre alte Frau klackert an mir vorbei und der Duft ihres Parfums weht in meine Nase. Der zügige Auftritt erinnert mich an meine Mutter und ihr Bild erscheint vor mir. Wie oft sah ich sie vom Bahnhof kommen, die Handtasche links, den Einkaufsbeutel rechts. Um ihren Sohn nicht nur zu versorgen, sondern auch zu sehen, arbeitete sie nur halbtags. Fünf nach halb zwei kam die Bahn an der Station Mundsburg an und ich holte sie ab. Kleine, schnelle Schritte machte diese Frau, oft gestresst, aber meist gut gelaunt. Die italienische Mutteranbetung hat ihr Gutes, erweist sie doch den Schöpferinnen allen menschlichen Lebens die nötige Ehre. Wie viele Menschen knüpfen ihre Liebe an Bedingungen – nicht so meine Mutter. Sie glaubte immer an ihren leicht missratenen Sohn, leitete ihn mit leichter Hand durch alle Widerstände. „Du hast ein sonniges Gemüt“, sagte sie oft – ahnte sie, dass sich dies aus der Zweisamkeit mit ihr speiste? Und so liefen wir von der U-Bahn-Station Richtung Wohnung und später trug ich die Taschen.

Der Altonaer Bahnhof liegt unter einer Dunstglocke von Bier und Rauch. An dieser Relaisstation flitzen die humanen Elektroimpulse mit Höchstgeschwindigkeit, nirgends wo sonst wird so schnell gegangen wie im und rund um den Bahnhof. Die Geschwindigkeit bringt es mit sich: Hier kennt wirklich keiner mehr den anderen und der Kopf wird ungern zum Blickkontakt gehoben. Wer hier langsam geht ist verdächtig. Wie dieser Mann mit der Bierdose. Ist das sein lang ersehnter und gepflegter Feierabenddrink? Oder hält er sich an der Dose fest? Ohne soziales Ritual scheint mir (s)ein Alkoholkonsum nicht ganz unproblematisch, aber wer will den Wust der legalen und illegalen Süchte der modernen Zeit moralisch ordnen? Der Bahnhof spuckt mich am vor dem Stuhlmann-Brunnen aus. Viel Geld wurde für die Restauration der speienden Monstranz berappt, das Knäuel aus Tier und Mensch erinnert an den zusammengefegten Bodenbelag einer Wurstfabrik. Ich denke kurz an eine Petition an das Bezirksamt: Man möge das Kunstwerk doch bitte in „Stuhlgang-Brunnen“ umbenennen, verwerfe den Plan aber schnell wieder und trolle mich nach Hause.

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Ja, Mann, heute ist Hanffest

Das grüne Band der Sympathie

Mit einem Fan auf dem Hamburger Hanffest

Hanfblatt, 30.07.2000

Ja, Mann, heute ist Hanffest und nichts in der Welt wird mich vom Besuch dieses Mega-Events abhalten. Leute anschauen, Fotos schießen, 20 Hanfburger in mich reinfuttern. Zunächst trage ich aber erst mal für Freunde Möbel von einer Wohnung in die andere und bin damit schon Teilnehmer eines Umzugs. So verpasse ich den anderen, Mann. Egal, das Samstags-Fest im Schanzenpark ist ohnehin der Höhepunkt der dreitägigen Feier – jedenfalls für mich. Ok, Mann, ich hätte mir auch den honorigen, aus der Versenkung auftauchenden Günther Amendt reinziehen können, der keine Zukunft ohne Pharma-Drogen sieht. Hui! Oder den Anwalt des Rechts, Uwe Maeffert heißt er glaube ich, der die Strafverfolgung beäugt. Der Info-Kiffer kommt auf seine Kosten dieses Jahr. Da darf sich niemand beschwerden, Mann, von wegen „was soll ich denn auf dem Fest?“. Gesundheitskräuter der besonderen Art erfreuen meine Einheit als ich dies denke und der Sternschanzenbahnhof spuckt aus seinem Rot-Klinker-Maul stetig neue Fans aus.

Der letzte Wagen der Hanf-Parade biegt um die Ecke, yes, Mann, ich bin noch rechtzeitig. Das rhythmische Grunzen von Papa Bär klingt aus der Ferne und gibt die Richtung vor. Vier Keulen, Mann, der Typ wirft vier Keulen in die Luft und fängt sie sogar wieder. Welch ein luftiger Einlass und ich friemel die Kamera aus der Tasche. Kein Film im Apparat. Eine sich im Gras wälzende Oma hilft weiter und zaubert einen Kodak 200 ASA aus der Kunstkroko-Tasche. Hey, genau das was ich brauche und ich knipse was das Zeugt hält. Der Jongleur möchtet ein Exemplar der Zeitschrift, wenn denn sein Foto erscheint. Ich verspreche ihm das Blaue vom Himmel herunter.

Und dieser Himmel zeigt endlich Gnade und lässt das Fest in trockenen Tücher. Wieder inhaliere ich die vietnamesischen Gesundheitskräuter. Liebliche Stimmung umhüllt das Festchen, mich und auch die Hunde. Das scheint auch Christian Rätsch, Kenner vieler Kräuter, zu spüren als er sagt: „Fragt die Pflanzen!“ Wow, echter Heidenspruch, könnten sie es hören, würde dem Sprengelvorstand der nordelbischen Gemeinde ganz anders werden. Kein schlechter Trick, und ich frage die asiatischen Highflyer in meinem Jute-Beutel „Wohin jetzt?“ Die Antwort: „Und so soll er sich zum Hot-Dog Stand begeben, um toten Darm in sich zu schlingen!“ Wow, es funktioniert, Mann, und der Hot-Dog Stand ist keine zehn Schritte entfernt. Dieser Schanzenpark eignet sich vortrefflich zur Etablierung einer temporär autonomen Zone. Hier, wo die Gesetze außer Kraft sind und doch ein innerer Zusammenhang die Ordnung erhält. Deswegen fehlen trotzdem die Röstzwiebeln auf der Schweine-Wurst. Voll krass, Hot-Dog ohne Röstzwiebeln. Ich esse nur drei.

Das Völlegefühl schubst mich kurz Richtung Paranoia: Gleich kommen die Bullen und sacken alle Leute ein. Gut, dass ich Jan treffe, ein nicht ganz so größenwahnsinniger Obrigkeitsanbeter wie ich. Aber bei bester Laune ist er auch nicht: „Kein Haschisch hier am Start, ich habe zehn Leute gefragt, aber keiner kann mir was verkaufen.“ Die Rettung naht wie so oft als Frau. Sie baut aus indischen Gewürzen eine befriedende Zuckertüte und die Augen des Jan leuchten. Ich ziehe meinen Fan aus der Tasche und mit sanftem Brummen fächel ich mir etwas Atmosphäre zu.

„Ich sehe keine Bewegung“, an diesen Satz erinnere ich Hans-Georg Behr, den Mediziner, bekennenden Kiffer und Autor des 2001-Klassikers „Von Hanf ist die Rede“. Er zeigt sich trotzig und sieht auch weiterhin keine Bewegung in der Cannabis-Politik, läuft aber trotzdem über das Fest. Nun gut, hier bewegt sich doch aber was, das Hanffest ist so gut besucht wie nie, die Leute knutschen, Seifeblasen fliegen durch die Luft, Mann. Die laute Musik macht ein Gespräch schwierig, wir verabreden uns für später. Yeah, Mann, nicht nur ein gutes Fest, auch einen weiterer Auftrag eingeheimst. Das bedeutet bald gute Laune und neue Talerchen.

Strahlende Gesichter auch am Stand von den Grünen. Eine mutige Splittergruppe der Partei setzt sich für eine neue Drogenpolitik ein und verteilt Safer-Use Broschüre wie warme Semmeln. Cool.

Mittlerweile heizen Hippie-House der Menge ein. Auch hier ist Psy-Trance das Mittel für Bewusstseinkapriolen. Mann, hoffentlich spaltet das die Menge nicht und irgendwann kommen nur noch Goa-Fraggles aufs Hanffest. Hanf-Punk am Hafenrand, dass ist auch der Vorschlag von Sven Meyer, dem Organisator des Festes.

Es ist 20 Uhr und viele verlassen das Fest um die Tagesschau zu sehen. Ok, Irrtum, die Party geht weiter. Das bunte Völkchen ist inzwischen bei bester Polit-Laune und man sieht ihnen die fortgeschrittene Agitation für ihre Rechte an. Mann, denn trotz aller Harmonie hat das Fest einen ernsten Hintergrund über den man durchaus schwadronieren sollte: Es ist, jawohl, Symbol des Widerstands gegen eine Drogenpolitik, die ihre Zielgruppe zu unmündigen und kranken Menschen macht. Selbst wenn man den Damen und Herren in Berlin und Bonn keine böse Absicht unterstellt – das kommt dabei hinten raus. Uncool. Nun, Mann, der bester Weg um Ärger darüber zu verdeutlichen ist in Zeiten der Spätmoderne nicht mehr der gezielte Wurf mit dem Pflasterstein, sondern die freudig-trotzige Beharrlichkeit auf Einräumung der Grundfreiheiten des Menschen. Yeah, Mann, so schwer ist das doch nun wirklich nicht.

Genug Gedanken, Mann, ich will die Ziehung der Lotto-Zahlen nicht verpassen, löse mich vom grünen Band der Sympathie und stolpere aus dem Park.

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Rundgang in Ottensen

Veröffentlicht unter www.ottensen.de
Echolot 4/2000 Einkauf für´s Mittagessen

Die Mark schwingt locker in der Hosentasche, klötert zusammen mit dem Feuerzeug den groovigen Rhythmus des flotten Einkaufbummels. Ja, Mann, heute ist im wollenden Swinger-Club wieder Filzlaus-Party. Gut, daß die Marktfrau keine Männer mit Sackjucken erkennt, sonst dürfte ich mir die Möhren kaum selber raussuchen. „Bei uns heißt das Wurzeln und nicht Möhren“, blafft es aus der Öffnung zwischen ihren Schlabberbacken. Hui, die Dame schwingt sich auf den Trecker der derben Lauterkeit. „Sonst noch?“ fragt sie zackig und ich werde hastig. So richtig kommt der bäuerliche Charme nicht an, die Dame nächtigt garantiert in Barmbek und nicht neben dem Acker. Egal, jetzt heißt es Stärke zeigen und ich bestelle Frutti bis zum Abwinken. Unbeeindruckt schaufeln die Hände in den mitgebrachten Jute-Beutel. Vielleicht ist es dieses Öko-Relikt, welches den Respekt ins Wanken bringt. Da hat das Wandeln auf dem Öko-Markt vor drei Tagen mehr Spaß gemacht. Aber da konnte ich auch mit fettigen Bratwurstfingern auf die Petersilie zeigen und mein geblümtes Hippie-Hemd hat mächtig Eindruck gemacht. Aber an diesem Koloß hier prallt das gesamte Instrumentarium zwischenmenschlicher Feinfühligkeiten genauso ab wie mein buntes Jäckchen, welches mein jugendliches Appeal unterstreichen soll. Etwas zu gut gemeint, sie behandelt mich wie einen zehnjährigen, der von seiner Mutter zum Einkaufen geschickt wurde. „Für dreißig Pfennig von denen da.“ Zahlen und fröhlich sein, denke ich und trolle mich zum Eiermann, Klingellingelling.

Liebe ist mein Gefühl für den Mann mit der Mütze, denn bei ihm bricht nie die entbehrliche Äußerung in sein Geschäftsgebahren. „Zwei Mark und Vier“, sagt er immer und sechs braune Eier wechseln den Besitzer. „Danke, Tschüs“, sage ich. Das ist ehrlich-hanseatisches Miteinander, nicht so ein aufgemotzes Mähdreschergehabe. Das tat gut. Jetzt weiter Richtung Fischhöker. Gebrüll empfängt mich an der Kachelbude, der Bartmann denkt mittlerweile bei jedem Kunden, daß eine schwerhörige Alte vor ihm steht. Ich brülle zurück, „Ja, es darf ruhig ein bischen mehr sein.“ Beruhigt gleitet der Rotbarsch in sein letztes Infotainment, die Zeitung von gestern. Da fällt mir prompt was ein.

Richtig dufte ist´s im Zeitungsladen. Umarmungen über den Tresen hinweg, die gezähmte Anarchoszene verkauft jetzt Springer-Ware, aber die autonomen Zellen dürfen weiterhin ihren PKK-Plakate draußen an die Wand babben. „Die TAZ ist ausverkauft“, sagt die Dame freundlich zu mir bevor ich den Mund aufgemacht habe. „Ich will das Gegenteil“, raunze ich zurück, angewidert von der guten Stimmung in dem Laden, und kaufe die FAZ. Ha, der hab ich´s gegeben. Typisch Ottensen, da fliegen auf irgendeinem Parteitag der Grünen Farbbeutel und am nächsten Tag ist die Hofberichterstattung ausverkauft.

Langsam komme ich in Fahrt, drum wackel ich zum Bäcker rüber. Die von Beruf Vollgekrümelte ist die Einzige im Viertel, die meiner Person gerecht wird: Meine Erscheinung belustigt sie. Das kann an der Pudelmütze liegen, die auch im Frühjahr meinen Kopf ziert, oder aber auch an meinen immer frisch formulierten Brotbestellungen.

Mittlerweile ist mein Jute-Sack prall, höchstens noch Platz für ein paar Rauchwaren. In den Fabrikhallen der indischen Nippesproduktion dürften seit Jahren die Maschinen heißlaufen. Ich möchte mich aus rein ethischen Gründen nicht an der weiteren Ausbeutung des Kontinents beteiligen und kaufe im Hippie-Laden nur politisch korrekte Räucherstäbchen. Geballte Liebenswürdigkeit schlägt mir beim betreten des Geschäfts ins Gesicht und ich fühle mich sofort mißbraucht. Kaum noch Herr meiner Sinne stolper ich von Regal zu Regal und drohe mich in dem Goa-Tempel zu verlieren. Im Hintergrund streichelt der Meister die Sitar und ich flüstere mir beruhigende Mantren zu. Heimatmelodien. Mir entfährt ein heftiges „Jippiiieeee“, und ich stampfe drei mal mit dem Fuß auf, bevor ich den Tanzreigen um den Batic-Shirt-Ständer beginne. Um mich rum auf einmal eine Partymeute mit Kulleraugen, wildes Getanze, Glöckchen um anmutige Fußgelenke versprechen zarte Berührungen, in der Ecke dampft das Chillum. Ein Strom ergreift mich und wirbelt meinen Körper zwanzig Meter in die Luft: Das UFO mit Namen Tanzfläche ist gestartet und ich bin mit an Bord. Yeahhh! Meine Nase reißt mich aus dem Traum und wieder beruhigt stehe ich vor den Rauchwaren und schnupper an den Stäbchen. Plötzlich meldet sich mein Sack wieder und damit fällt Licht auf die andere Seite des Mondes. Geistesabwesend zahle ich, draußen locken Sonne und Unterschiede. Mark und Feuerzeug grooven wieder im Schritttempo, von Schuhsohlen zermanschten Kirschblüten entströmt der Grundstoff den ich atme und mit Respekt wieder ausfurze. Mahlzeit.

Jörg Auf dem Hövel

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Des Apfelmanns knorrige Hände packen den Boskop

Veröffentlicht unter www.ottensen.de
Echolot 1/2000

 Auf grillenhafter Einkaufstour in Ottensen

Des Apfelmanns knorrige Hände packen den Boskop. Wahrscheinlich ist er nach dem Punk mit einem Selbsthilfeprojekt für durchgeknallte Acid-Heads aufs Land gezogen und erntet nun Äpfel für die Stadtbevölkerung. Seine Sorgfalt bei der Auswahl besticht, seine Früchte stärken nachweislich mein System. Ich möchte ihn bitten, das Schild mit dem Druck „Erdbeer-Schalen nehmen wir gerne zurück“ von seinem Stand verschwinden zu lassen, traue mich aber nicht. Er lächelt mild. Die unter 60jährigen Tanten vor seinem Stand schmelzen dahin bei soviel geerdeter Anarchie, die sogar rot-befleckte Schalen mit zermanschten Erdbeerresten in den natürlichen Kreislauf reintegriert. Die Frau neben mir in der Warteschlange gehört hier nicht her. Sie sabbert fast so schlimm wie der Rollstuhlfahrer, den ich eben noch angepöbelt habe, weil er mit seiner Karre den Wurststand blockierte. Außerdem fehlt ihrer Kleidung der gerupfte Touch, die ewig hängenden Strickwaren, die den Brustkasten so widerwärtig glattbügeln. Sie faselt was von „leckeren, großen Erdbeeren“, wobei ihre Speichelbläschen den Herpes tanzen. „Die kleinen schmecken fast noch besser“, lüge ich. Sie stimmt mir zu. Die Dame ist noch leichter zu irritieren als ich. Der Apfelmann kratzt das alles nicht, er freut sich schon auf sein Acid-Hof während er meine Erdbeeren in den Jute-Beutel packt. Immerhin ist der Typ nicht so weichgespült wie der Brotmann, an dem meine Brotbestellung jedes mal abzugleiten scheint.

Freundlich ist die Gemüsedame, während sie ihren Kaffee schlürft. Gerne wechsle ich mit ihr Worte, die über pure Warenbestellung hinausgehen. Unsere letzte Diskussion darüber, ob der Radikale Konstruktivismus notwendigerweise im Solipsimus endet, ging Not gegen Armut, 0 zu 0 aus, sorgte aber für Mordsstimmung am Stand. Heute steht ihr nicht der Sinn nach Abgründen, sie macht auf gut Freund. Will sie, dass ich ab jetzt ewig ihre Früchtchen mampfe? Weitgefehlt, Kanaille, morgen kaufe ich beim Türken. Gerne erinnere ich mich an die Zeit zurück, als das saftige Obst von einer jungen Frau vom Land sehr zärtlich in die Papiertüten gelegt wurde. Leckere rote Wangen. Professor Unrat schoß in mich und eine Blase öffnete sich: Betört würde ich dichten, während durch die Resthofküche mit Holzfußboden der Duft von frisch gebackenen Brot schwebt, deren Teig von ihren kräftigen, aber einfühlsamen Fingern stundenlang durchgeknetet worden war.

Plötzlich stehe ich in der Mieder-Abteilung von H&M. Wenn mich jetzt meine Jungs vom Fußball treffen, ist es mit meiner Karriere vorbei. Ich verwerfe die Paranoia, verlasse aber trotzdem schnellstens den Laden. Draußen fällt mir ein, dass ich mir Schlüpfer aus Seide kaufen wollte, vielleicht aber auch nur Unterhosen, die mich dem Ideal der knackigen Men´s Health Titelmacker ein Stück näher bringen sollten. Na ja, die Bundeswehr-Liebestöter sind ja erst zwölf Jahre alt.

Im Reformhaus riecht es wie beim Antroposophen im Schritt. Die fetten Eso-Spießer scheint der Muff nicht zu interessieren, sie kaufen zum Tofu neuerdings noch angegammelten Pu-Erh-Tee, um später im orangenen Schein ihrer Salzkristalllampe Pfunde zu verlieren. Dazu plätschert im Hintergrund die neue Hildegard von Bingen CD, während der Sohn im Kinderzimmer Ethno-Pornos gucken darf. Verdammt aber auch, dass mir diese Soja-Creme besser als Schlagsahne schmeckt und bekommt. Bin ich schon mehr in den Fängen dieser Eso-Spießer als ich wahrhaben will oder sollte ich mir diese schmerzhaften Konstruktionen besser abgewöhnen?

Im Zoohaus riecht es nur eine Nuance bissiger, auf alle Fälle erinnert der Laden schwer an Tierquälerei. Ob wohl endlich mal einer dieser autoritären Punker mit Hund reinkommt, um seiner verlausten Fellhure ´nen Quietschball zu klauen? Triumphierend würde ich ihn verpetzen, die Verkäuferin würde mein Haupt streicheln, und endlich wären die gewaltsamen Übergriffe auf mein Ohr („Haste mal zehn Mark?“) gerächt. Da sind mit die Penner vor Aldi lieber. Die sind am Mittag schon immer so breit, dass sie meinen Peseta-Beschiß nicht bemerken. Unsinn, natürlich lege ich meinen Anteil am Sozialstaat jede Woche brav in Deutschmark in ihren Becher.

Großer Aldi, Bewahrer des sozialen Friedens in Deutschland. Ehrliches Gedrängel an der Kasse, hier trifft sich die Creme des Proletariats. Den Kassiererinnen macht niemand mehr was vor, sie pfeffern das Waren-Trennhölzchen mit zehnjähriger Erfahrung in die Edelstahlschiene. Genau diese Damen sollten man in die nächste TV-Diskussion-Runde um die „Zukunft der Arbeit in der Informationsgesellschaft“ einladen. Da würden die geleckten Schlaumeier aus der Cyber-Branche mal an der Basis der Werktätigen riechen. Der Türke vor mir furzt mit Würde in seinen grauen Anzug, während er zwanzig Dosen Hering in Tomatensoße aufs Band legt.

Auf dem Rückweg schweben Klänge in mein Ohr, locken mich. Nur ein östlicher Europäer ist fähig, Bach auf dem Akkordeon zu feiern. Meine Eile schwindet, zu zart und exakt ertasten seine Finger die Töne. Schwingende Schleifen dringen in mich ein, durchwuseln meinen Körper und gehen wieder ins Ganze zurück. Der Klang formt ein Gemälde von Escher, mein Blick ruht auf der abgewetzten Cordhose des Musikanten. Seine Augen geschlossen folgt er seinen eigenen Tönen, die schon da sind, bevor er sie gespielt hat. Goethe fällt später mir ein:

Es soll sich regen, schaffend handeln,

Erst sich gestalten, dann verwandeln;

Nur scheinbar steht’s Momente still.

Das Ew’ge regt sich fort in allen;

Denn alles muß in Nichts zerfallen,

Wenn es im Sein beharren will.

Aber was wußte Bach von den Zwängen der Konsums? Heute würde der Typ doch mampfend bei McDonalds sitzen, unfähig, das C an die richtige Stelle auf der Notenlinie zu setzen. Mit der Rolltreppe runter zu Schaulandt, dort, wo der Mensch der Technik die Seele einhaucht. Wenn es Elektro-Smog gibt, dann hier. Die sich eben noch in Ordnung befindlichen Atome in meinem Hirn zerfallen zurück ins Chaos. Juhuu, Freiheit des ungebundenen Seins. Wahnsinn, die Haare des Mädchens in der Musik-Abteilung. Ich greife zu und habe weder Hair noch Bach, sondern CD-Rohlinge in der Hand. Damit brenne ich mir heute abend kräftig einen rein.

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Urlaub und Cannabispolitik in Australien

HanfBlatt 12/98

 Down under geht es aufwärts

Aktivisten diskutieren, Bürger protestieren, Politiker lamentieren: Australien erwägt die Legalisierung von Cannabis.

Das sollte doch mal in Deutschland passieren: Hanfaktivisten demonstrieren vor einem Polizeirevier, dringen schließlich sogar in das Gebäude ein und lassen dort die Joints wandern. Nach kurzer Zeit lassen sie die Beamten im Nebel stehen und ziehen friedlich und unbehelligt weiter. Undenkbar? In einer obrigkeitsgläubigen Republik vielleicht, nicht aber auf dem kleinsten Erdteil des Globus´, in Australien. Hier geschah genau dies während einer Demonstration in Adelaide, Hauptstadt des Distrikts „South Australia“, an der mehrere Tausend Menschen teilnahmen. Mit ihrem Ruf „It´s not wrong to bong“, erschütterten sie das Glaubenssysteme der Bevölkerung, welche Marihuana oft noch für ein Kraut aus des Teufels Küche hält. Die Kundgebung war Ausdruck eines neuen Selbstbewußtseins der Hanfaktivisten, denn der Kontinent diskutiert seit einiger Zeit intensiv die Dekriminalisierung von Cannabis. Neben den Legalisierungs-Organisationen treten mittlerweile gewichtige Personen für ein Ende der Prohibition ein. Der oberste Staatsanwalt in Süd-Australien, Paul Rofe, schlug unlängst vor, den Anbau und Vertrieb von Marihuana in staatliche Hände zu legen. „Wir haben sowieso keine Chance den Drogenkonsum zu stoppen“, erzählte der Chefankläger, „wir müssen etwas drastisches versuchen.“ Wie es beim Verkauf von Alkohol und Tabak bereits praktiziert wird, müsse ein Regulierungssystem gefunden werden, welches es den Bürgern möglich macht, Marihuana über den Ladentisch gereicht zu bekommen.

Diese Ideen stehen nicht isoliert. Mehrere vom Parlament eingesetzte Kommissionen unterstrichen über die Jahre die Forderungen nach einer Änderung der bestehenden Gesetze, die den Konsum von Marihuana und seinen Produkten unter Strafe stellen. Schon 1979 setzte die damalige an der Regierung befindliche Arbeiterpartei in Süd-Australien ein Gremium zusammen, welches die Leitlinie für die zukünftige Gesetzgebung in Sachen Cannabis festlegen sollte. Die klugen Köpfen schälten fünf Alternativen heraus, wie der Staat mit dem pflanzlichen Rauschmittel umgehen kann:

  • Totale Prohibition. Der Staat führt den aus den USA bekannten „War on Drugs“.
  • Prohibition mit gemäßigten Geldstrafen.
  • Teilweise Prohibition, die aber Konsum und Besitz nicht mehr unter Strafe stellt.
  • Regulierte Zugangsmöglichkeit, wie im holländischen Coffee-Shop-Modell und in Alaska von 1975-1986.
  • Legalisierung ohne Qualitätskontrolle, Altersbeschränkung und Steuern.

Das Komitee empfahl die partielle Prohibition oder das Coffee-Shop-Modell. Dies wurde vom Lokalparlament abgelehnt. Als Reaktion auf die starre Haltung der Volksvertreter gründeten sich etliche Pro-Cannabis-Clubs, wie „Help End Marihuana Prohibition“ (HEMP) 1982, die „Cannabis Reform Foundation“ und ein Ableger der amerikanischen „National Organization for the Reform of the Marihuana Law“ (NORML). Der Arbeit dieser Gruppen ist es zuzuschreiben, daß 1986 dem Parlament die sogenannte „Cannabis-Buße-Note“ vorgelegt wurde. Marihuana blieb zwar weiterhin verboten, unter besonderen Umständen können die Behörden aber seither von einer Strafverfolgung absehen und ein Bußgeld ausstellen. Bei einem Anbau von bis zu zehn Pflanzen entgeht der Bauer ebenfalls den schwedischen Gardinen. Von einigen als Dekriminalisierung gefeiert, sieht die Realität düster aus: Während die Gesetzeshüter 1987 „nur“ vier Tausend Fälle von Cannabis-Konsum oder Anbau entdeckten, hat sich diese Zahl derweil vervierfacht. 1994 griffen die australischen Beamten 50 mal am Tag auf Kiffer zu, 17.700 Menschen mit Vorliebe für ein Genußmittel wurden so im gesamten Jahr behelligt. Über neun Tausend Beschuldigte weigerten sich, daß fällige Bußgeld zu zahlen und gingen vor Gericht. Mit einem Eintrag ins Strafregister oder einer Verurteilung aufgrund eines Rauschgiftdelikts ist es im Land der hüpfenden Beuteltiere nicht möglich in den Staatsdienst einzutreten, weder als Lehrer, Doktorin oder Krankenbruder. Auslandsreisen nach Japan oder die USA sind dann ebenfalls nicht mehr realisierbar. Die von so manchen Bürger als quasi-Freigabe eingeordnete Novelle stellte sich in der Praxis als restriktive Verschärfung heraus.

Der Landtag des Bundesstaates Victoria setzte Anfang diesen Jahres eine Kreis von Experten zusammen, die erneut über eine Reform der Drogengesetze beraten sollte. Deren Vorsitzender, Professor David Pennington, empfahl den Politikern Marihuana so schnell als möglich zu legalisieren. Dies wäre der effektivste Weg um Individuen davon abzuhalten harte Drogen zu konsumieren. „Der Anbau und Konsum muß freigestellt werden“, faßten die Wissenschaftler ihre Vorschläge zusammen. Solch ein Schritt zerstöre, so auch Staatsanwalt Rofe, nicht nur die illegalen Profite aus dem Schwarzmarktverkauf, sondern würde zudem bei jüngeren Menschen die „Attraktivität des Verbotenen“ reduzieren.

Wohl die Angst vor der eigenen Courage führte Regierungschef Jeff Kennett wieder ins Dunkle: „Bevor wir die Dekriminalisierung von Cannabis näher erwägen, wollen wir eine besser koordinierte, besser ausgestattete, mehr innovative und vorsichtig konzentrierte Erziehung und Aufklärung betreiben“, klang es in einer Pressemitteilung aus dem Kabinett. Die Reaktionen auf diesen Beschluß waren vernichtend: „Wie viele Menschen müssen noch unter der Prohibition beschuldigt und verurteilt werden, bevor das richtige Signal gesendet wird“, fragte Jamnes Dannenberg von HEMP, Sprecher der mittlerweile größten Initiative für die Reform der Cannabisgesetze. Zu einer wesentlichen Änderung der Drogengesetze kam es jetzt aber doch. In Zukunft werden Benutzer von Drogen nicht in erster Linie als Kriminelle, sondern als Kranke gesehen. „Wir überprüfen die bisherigen Strafmittel um sicherzustellen, daß Behandlung sowie Heilung und nicht Bestrafung an erster Stelle steht“, heißt es aus dem Ministerrat.

Die Querelen um die umfassende Umgestaltung der Richtlinien über die sogenannten Betäubungsmittel bestärken die Aktivisten nur in ihrem Bemühen. Schon 1994 feierten sie an der Flinders Universität in Adelaide die „Hemp Week“, ein Fest über eine Woche mit Ausstellungen, Vorträgen, Filmen, Debatten und „Smoke-ins“. Die „Hempster“ verbuchen es als ihren Erfolg, daß 1995 das Abgeordnetenhaus die ausgedehnte Erforschung von Hanf als Nutzpflanze beschloß – in Süd-Australien und Queensland wächst heute THC-armer Hanf.

Aber nicht erst die jüngere Zeit bringt der ehemaligen Strafkolonie des Commonwealth eine rege Legalisierungsbewegung. Den Ruf des „Hippie-Mekka“ erwarb ein kleiner Ort im Nordosten des Landes schon in den 70er Jahren. 1973 fand in inmitten des Regenwalds das „Aquarius-Festival“ statt, ein Woodstock ähnliches Happening mit viel Liebe und Dope. Seit damals pilgern zivilisationsmüde Bürger in den Ort und proben das alternative Leben. Es geht die Sage, daß Marihuana hier zu den Grundnahrungsmitteln zählt… Alljährlich am ersten Mai feiert die Kommune das „Mardi Grass“-Fest, welches immer dann besonders ausgelassen ausfällt, wenn die Ernte gut war und die Schober prall gefüllt sind (der urbane Markt fordert zunehmend gutes Gras). In den letzten zwei Jahren stieg allerdings auch in Queensland die Rate der Polizeieinsätze um ein vielfaches. Die konservativen Kräfte im Staat versuchen durch die neue Aggressivität den Befürwortern der Legalisierung die Lust am Anbau und am Protest zu nehmen. In Nimbin wie in den anderen Bundesstaaten verliert man gleichwohl das Ziel nicht aus den Augen. „Noch in diesem Jahrhundert wird die Prohibition fallen“, hofft man in Nimbin.

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Bungee Sprung vom Hamburger Fernsehturm

Asphalt, bitte, küsse mich!

Angst: Bungee-Sprung vom Hamburger Fernsehturm

 

Der Standort präsentiert einen weitreichenden Ausblick über Hamburg, links die Alster, rechts der Hafen, oben eine Wolkendecke, unten der Asphalt, aber ich in der Mitte des Geschehens. „Mitten in der Scheiße“, rumort es in meinem Kopf. „Niemand hat dich gezwungen, also warum stehst Du hier?“ Ich schaue an mir runter und sehe einen dünnen Körper in einem weißen Overall stecken. Lächerlich, ich fungiere auch noch als Werbeträger für diesen Schwachsinn. Das Team von Hamburgs Bunjee-Guru Jochen Schweizer will mich nötigen, als fliegende Litfaßsäule zu agieren. Nur in weiß gekleidete Flieger sind offizielle Flieger, wissen die Gaffer am Fuße des Fernsehturms. Bei andersfarbigen Flugsubjekten lohnt es sich genauer hinzuschauen.

Ich blicke nach rechts. Eine japanische Familie steht lachend am Fenster und bannt meine Angst auf Zelluloid. Besser gesagt VHS. Voller Hacken Schuß. Mein Hirn reagiert zunehmend wirrer, der Überlebensschaltkreis wehrt sich gegen diese Mutprobe. Mut ist doch nur der Sieg der Unvernunft über den Verstand. Durch einen Nebel dringt ein akustisches Signal. „Du mußt schon bis nach vorne gehen, wenn Du springen willst“, sagt mir ein Mann mit Bart. Versteckt sich hinter diesem W ollknäuel auch ein Gesicht? Der Bartmann erklärt mir die Regeln: Bis an den Rand des Stahlbalkons gehen, auf die weiß markierten Fußabdrücke stellen, warten bis das Seil an den Füßen befestigt wurde. Ok? Mit ganz kleinen Schritten tippel ich voran, halte mich dabei am Geländer fest, sehr fest. Die fünf Meter bis zum Absatz dauern lange, der Witzbold hinter mir beweist Geduld. Vorne erwartet mich ein zweiter Bartmann. Auch ihm fallen lockere Sprüche ein, die ich nicht wahrnehme, meine Aufmerksamkeit liegt voll und ganz auf der Kontrolle meiner Körperbewegungen. Ich blicke geradeaus. Mein Hamburg, mein schönes Hamburg. Warum?

Planten un Blomen taucht auf, so nah wie nie zuvor. Gleich wird es noch näher kommen. Die Augen wandern weiter nach unten, der Kopf will nicht hinterher. Der Blick trifft auf Asphalt, der von Autos berollt wird. Das Ziel am Ende meiner Sprungstrecke, mein Ziel in ein paar Sekunden ist diese Straße. Schon Balzac wußte, daß die Menschen umso mehr nach Ausschweifungen trachten, umso weniger der Alltag ihre körperliche Anstrengung fordert. Dieses Wissen schützt nicht, im Gegenteil, trotzdem stehe ich hier, ängstlich. Meine Knie waren das letzte mal so weich, als ich meinen Direktor erklären sollte, warum ich einem Verkehrserziehungspolizisten die Mütze geklaut hatte. Irgendeiner der Bartmänner nestelt an meinen Fußgelenken rum. Das Seil wird befestigt, äußerst dehnbar soll es sein, aber nicht zu dehnbar. Eben so, daß ich weit falle, aber kurz vor dem Aufschlag wieder nach oben zurückschnelle. Keine Unfälle sind bislang bekannt geworden, rede ich mir ein. Doch, da war doch der panische Japaner, der einen Bartmann mit in die Tiefe gerissen hat. War das in Hamburg? Nein.

geruest
Die Hände krallen sich um die Stahlrohre, der Abgrund scheint sich zu bewegen. Plötzlich ruckt es an den Knöcheln, und eine Kraft zieht in Richtung Globus. Die Hände packen noch fester zu. „Das ist das Seil, was wir heruntergelassen haben“, tönt es durch den Nebel. Ich stehe noch auf dem Balkon. Langsam dreht sich mein Kopf, aus einer dunklen Höhle im Bart schweben wiederum Signale. Anweisungen folgen, rät das Stammhirn. „Wenn Du bereit bist Hände in den Nacken legen und einfach langsam nach vorne fallen lassen“, fusselt es aus dem Mund des Bartmanns. Bereit sein? Alles andere als das, ich bin vielmehr drauf und dran die gesamte Suizid-Party Hier und Jetzt zu sprengen, den ganzen Kram hinzuschmeißen. Lieber in warmen Pantoffeln vorm Fernseher einen Bericht über Extremsportarten reinziehen. Aber diese Blöße gönne ich dem Bartvolk nicht. Trotzdem ist Eitelkeit nicht der eigentliche Trieb, der mich näher an den Rand zieht. Eher konsequente Neugier. Lust auf mehr. Noch mehr. Zwei mal fünf Finger greifen hinter dem Kopf ineinander, Haut und Haar spüren sich, steife Nackenhaare kitzeln die Kuppe des kleinen Fingers. Ohne zu wissen warum, schaue ich gen Himmel und lasse mich nach vorne fallen.

sprungbild
Der innere Druck entlädt sich durch Lunge und Mund, die Stimmbänder vibrieren: Ich schreie den Schrei meines Lebens. Laut und ungehemt, orgiastisch geradezu findet meine Angst ihren Ausdruck. Mit viel hatte ich gerechnet, aber nicht mit diesere enormen Geschwindigkeit des Falls. Mein Körper rast, nur durch die Schwerkraft gesogen, auf die Erde zu. Asphalt, bitte, küsse mich! Bin das tatsächlich ich, der diesen Lärm verursacht? Die Windgeräusche sind infernal, ein Krach als wenn man auf der Autobahn bei 160 den Kopf aus dem Seitenfenster legt. Tränende Augen, verzerrte Gesichtszüge. Alles so schnell, aber die Zeit vergeht langsam. Das Leben geht nicht in einem Film an mir vorüber, aber es ist ein Sprung in den Tod, die Todesangst stürzt mit. Mit jedem Meter rückt der Ende des Daseins näher, denn es bleibt bis zum letzten Augenblick völlig unklar, ob das Seil hält. Nicht mal bewußt ist mir, ob überhaupt ein Seil existiert. Senkrecht fliege ich weiter und weiter, nein, ich fliege nicht, ich falle. Der nicht enden wollenden Schrei hallt im Kopf, führt zu Rückkopplungen, ich schreie weiter. Die Augen verweigern ihren Dienst, nichts ist zu erkennen, weder Planten un Blomen noch der Asphalt, auch nicht das riesige Luftkissen, welches später zum abseilen dient. Mittlerweile droht meinem Körper der Überschlag, die Drehung ist soweit fortgeschritten, daß ich auf dem Rücken landen werde. Die Wirbelsäule zermanscht auf schwarzem Teer, was für ein häßlicher Tod. Aus dem Augenwinkel sehe ich plötzlich doch das Luftkissen, zum greifen nah, der Fuß des Heinrich-Herz-Turmes taucht ebenfalls deutlich vor mir auf. Gleich ist es soweit, Operation gelungen, Patient tot.

Gänzlich unerwartet spüre ich einen Zug an den Beinen, der schnell an Kraft gewinnt. Das Seil! Kautschuk-Bäume aller Länder, ich liebe und bewundere euch. Noch immer saugt Mutter Erde aber bestimmend an mir, möchte den fallenden Körper zu sich nehmen. Doch das Gummi gewinnt zunehmend an Einfluß, und reißt mich aus der Rückenlage zurück in die Senkrechte und darüber hinaus. Für einen Moment stehe ich bewegungslos in der Luft, sprachlos, am Nullpunkt des Augenblicks angelangt, Hamburg zehn Meter unter mir, das neue Leben über mir. Am Umkehrpunkt des Körpers wechselt auch die Stimmung, die Todesangst weicht dem Glücksgefühl, denn nun steht fest: Das Seil hält, ich bin ein Held. Ein tiefes Raunen entfleucht der Lunge, der Bauch gluckst. Für einen Moment hat das Nervensystem Ruhe, der enorme Streß fällt ab, ab jetzt kann es nur noch aufwärts gehen im neugewonnenen Leben. „Rebirthing“ nennt dies die Esoterikgemeinde wohl. Mit kaum vorstellbarer Beschleunigung geht es nun aufwärts zu meinem nächsten Reiseziel, dem Himmelreich. Der Hölle knapp entkommen, werde ich gleich Gott in seinem Vorgarten die Hand schütteln. In Rückenlage schießt der katapultierte Körper empor. Ein dröhnendes, animalisches „Jaaa“ entreißt sich den Stimmbändern, ich balle die Faust, „Juhuuu“. Ich schwinge mich auf, lasse die Erde unter mir, hebe ab, mit jedem gewonnenen Meter steigt die Laune. „Higher, baby, Higher“. Gefallen bin ich schon öfters, aber wann fliegt man schon mal nach oben? Schnell kommt die Sprungplattform auf mich zu, ach ja, ich hatte einem Bartmann meine Kamera in die Hand gedrückt, jetzt drückt er ab, es blitzt. Das Seil kräuselt sich ein paar Meter neben mir, dahinter die Turmwand. Mein Körper fühlt sich seltsam leicht an, schwebend nähert er sich dem nächsten Umkehrpunkt, wieder stehe ich f ür einen Wimpernschlag still in der Luft, die Selbstmordrampe 30 Meter über, die Autos 100 Meter unter mir, drehe mich mit einem Ruck in die Bauchlage und bin wieder auf dem Weg hinab. Dieses mal freue ich mich, nehme sogar die Arme nach vorne und schraube mich um die Längsachse. Spielend leicht nehme ich den nächsten Umkehrpunkt und federe wieder himmelan. Einem Flummi gleich wiederholt sich dieses Spiel fünf bis sechs mal, die Intervalle werden kürzer, die zurückgelegten Flugstrecken auch. Beruhigen kann ich mich immer noch nicht, gluckse weiter vor mich hin, lebe mein Heldentum. Gewagt und geschafft, eine nur eingebildete Schwäche überwunden. Großartig.

hoch

Allmählich aber fällt das Blut zu Kopf, staut sich, wie ein Seemann an der Rah dümpel ich nur noch mit minimalen Auschlägen in der Luft. Unter mir staut sich dagegen der Nachmittagsverkehr, ich erkenne einzelne Zuschauer auf dem Fußweg.

Langsam läßt die Winde mich abwärts, auf dem Luftkissen wartet ein Bartmann ohne Bart auf meine Ankunft. Er redet mit mir, ich verstehe ihn nicht. Das Seil löst sich schwer von den Füßen, mehrere Verschlüsse müssen überwunden werden. Ich schau mich um: Zwischen benebelt und high stelle ich meinen Zustand fest, die großen Büsche nebenan leuchten jedenfalls merkwürdig grün, erheblich klarer als sonst. Mein Ego ist aber stark, bärenstark. Ich gleite vom Kissen und gehe Richtung Fahrstuhl. Etwas unsicher ist der Gang, schnell ist er aber unter Kontrolle und als ich am Rand eine gutaussehenden Frau entdecke, schalte ich auf John Wayne. Das weibliche Wesen kommt auf mich zu, sucht meinen Blick, fordert Kontaktaufnahme. Pure Neugier spricht aus ihrem Blick, als sie fragt: „Na, wie war´s?“ Perplex über diese Frage antworte ich ohne nachzudenken: „Können Sie mir erklären, wie sie sich beim Kacken fühlen?“ und gehe weiter. Was habe ich getan? Nach ein paar Metern murmel ich eine innere Entschuldigung und verfluche meine schlagfertige Arroganz. Aber bitteschön, was auch für eine blöde Frage.

 

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Trotz offener Fragen: Die Steuer fürs Internet wird kommen

Trotz offener Fragen: Die Steuer fürs Internet wird kommen

Der Fiskus will im Internet mitverdienen

Die Zahlen sprechen für sich: Im Jahr 2002 werden voraussichtlich Waren und Dienstleistungen im Wert von 300 Milliarden US-Dollar im Internet umgesetzt werden. Dies sagte jüngst das Marktforschungsinstitut Forrester Research voraus. Der Online-Buchhandel amazon.com, Paradebeispiel für lukratives E-Commerce, meldete für 1997 Buchverkäufe in der Höhe von 148 Millionen US-Dollar. Angesichts solcher Umsätze erwachen nun auch die nationalen und internationalen Finanzverwaltungen aus ihrem Dornröschenschlaf und denken über die Besteuerung der gewaltigen Transaktionsmengen nach. Das Bonner Finanzministerium will in Zusammenarbeit mit den Industrieverbänden bis zum Herbst Pläne erarbeiten, welche die Wirtschaftsaktivitäten im Netz regeln sollen. Im Gegensatz zu anders lautenden Meldungen betont man aber, daß es keinen nationalen Alleingang in dieser Frage geben wird. Karl-Heinz Selling, Leiter der Steuerabteilung im Bundesfinanzministerium, stellt klar: „Das Problem kann nur auf globaler Ebene gelöst werden. Wir setzen auf eine internationale Zusammenarbeit.“ Völlig unklar ist allerdings bislang, wie der Staat an seinen Anteil vom Kuchen des elektronischen Handels gelangen will. Die Liste der Fragen ist lang und Antworten sind rar. Kommt es beispielsweise zu einem Download von Software von einem außereuropäischen Land nach Deutschland, stellt sich die Frage nach dem Ort der Steuerpflicht. Glaubt man den Experten, wird es durch den Online-Handel zu einer langsamen Aushöhlung des bislang herrschenden Ursprungslandprinzip kommen. Danach werden Steuern in dem Land erhoben, in welchen die Güter oder Dienstleistungen erstellt werden. Lutz Fischer, Professor am Institut für ausländisches und Internationales Finanz- und Steuerweisen der Universität Hamburg, nimmt an, daß zukünftig die Umsatzsteuern dort eingetrieben werden, wo das Produkt genutzt wird. „Es gibt eine eindeutige Tendenz in Richtung einer Ve rbrauchsortbesteuerung“, nimmt Fischer an. Das Bundesfinanzministerium hält sich in dieser Frage bedeckt, widerspricht den Aussagen von Fischer aber nicht.

Das wohl größte Problem der Besteuerung des E-Commerce ist die zweifelsfreie Feststellung der Betriebsstätte. In den wissenschaftlichen Fachmagazinen herrscht Streit darüber, ob eine Homepage als feste Geschäftseinrichtung gilt. Im Zeitalter des mobilen Computing kann ein findiger Unternehmer leicht mit der auf seinem Notebook befindlichen Homepage durch die Welt reisen. Auch können die Server in unterschiedlichen Ländern stehen. Die Fälle zeigen deutlich: Wie außerhalb des Cyberspace suchen die Steuerpflichtigen immer die günstigste Form einer Einkommensart. Und das Internet lädt hier zu den abenteuerlichsten Konstruktionen ein.

Deswegen haben die wichtigen internationalen Organisationen bereits Ansätze für die Regelung der Steuererhebung im Internet ausgearbeitet. Das „US Department of the Treasury“ plädiert dabei für eine vorsichtige Weiterentwicklung entlang des bislang geltenden internationalen Steuerrechts. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) ist dagegen eher bereit von den bisherigen Wegen abzuweichen. Steuerfachmann Fischer nimmt an, daß sich die USA durchsetzen werden und es zu keiner Rundumerneuerung des global geltenden Steuerrechts kommen wird.

Die extrem hohe Mobilität und Anonymität der Beteiligten jagt den Finanzverwaltungen aller Länder Schrecken ein. Dies gilt zudem für die Anonymität der Transaktionsinhalte. Jeden einzelnen Steuerpflichtigen zu erfassen, könne demnach auch nicht, so hört man aus dem Finanzministerium, das Ziel sein. Wohl aber die Erfassung des endgeltlichen Vorgangs. An dieser Stelle will das Ministerium nun die Banken und Kreditinstitute in die Pflicht nehmen. Sie sollen ein automatisches Steuerabzugsverfahren in ihre Zahlungssysteme implementieren, ein Vorschlag, der auf wenig Gegenliebe bei den Fiskalunternehmen stößt. Sie zeigen wenig Lust für Theo Waigel die Internet-Umsatzsteuer einzutreiben. Der Deutsche Industrie – und Handelstag (DIHT) erteilte den Plänen ebenfalls eine Absage. In einer Stellungnahme wurde von „gravierenden steuersystematischen und praktischen Bedenken“ gesprochen, sogar von „willkürlichen und umsatzsteuerlich völlig systemfremden“ Plänen.

Bündig kürzt Regierungsdirektor Heinz-Jürgen Selling die Diskussionen ab: „Niemand kann erwarten, daß die Steuerverwaltung sich aus dem Internet raushält.“ Zugleich gäbe es aber durchaus eine Meßlatte für die massiven Überprüfung des E-Commerce. „Die Frage ist, ob die Aufwendungen für die Steuererhebung zu hoch sind.“

 

Jörg Auf dem Hövel

 

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Unter den Talaren Muff von 30 Jahren

Highlife 6/98, „Wer zweimal mit derselben pennt…“

Elektrogeräte und Emanzipation. Die „sexuelle Revolution“ und ihre Folgen

Die Protestbewegung der 60er Jahre (II)

Der revolutionäre Trieb kam nicht zum Ziel, gleichwohl haben die Träume und Aktionen dieser Generation die Gesellschaft verändert. Das Jahr 1968 ist ein Symbol der Jugend- und Protestbewegung. Wie und warum entstand sie, wie verlief diese Bewegung – und was bleibt aus dieser Zeit?

Wo will man die sexuelle Revolution orten? Als Mann vielleicht am liebsten am Mini-Rock. 1960 noch lag die Schallgrenze des Damenrocks bei fünf Zentimeter über dem Knie. Nicht nur an den Schulen herrschte Kleiderordnung, im Berufsalltag wurde die junge Sekretärin schon zum Chef zitiert, wenn sie sich erlaubte in Hosen statt im Kostüm zu erscheinen. Meist blieb die persönliche Entfaltung einer jungen Frau auf Familie, Küche, Kirche und Kind beschränkt. Die Pforten der Universität blieben dem weiblichen Geschlecht oft verschlossen, eine Berufsausbildung hatte -wenn überhaupt in Angriff genommen- nur Alibifunktion. „Unsere Tochter heiratet sowieso über kurz oder lang“, dachten viele Eltern. Im Sommer 1962 gab es in der gesamten Bundesrepublik gerade 60 Tausend Studentinnen, im Sommer 1967 machte der Anteil immerhin schon ein Viertel aller Studierenden aus. Bis dahin hatten die Mütter der Nation schlaflose Nächte überstehen müssen, weil ihre Töchter in harten Kämpfen den Saum ihrer Röcke immer weiter nach oben diskutiert hatten.

Das Schweigen wurde in den sechziger Jahren endlich gebrochen. Wo bis dahin die sprachlose Familie der Adenauer-Zeit den ungezwungenen Umgang miteinander schon im Ansatz erstickt hatte, brachen nun die lange unterdrückten Triebe und Bedürfnisse aus. Ab jetzt sprach man über alles. Es war von „System“ die Rede, von „hinterfragen“, „reflektieren“ und eben „artikulieren“. Es wurde „thematisiert“, was vorher „tabuisiert“ war. Parallel zu der politische Ansicht, daß Privates immer auch Öffentliches ist, wurde ein anderer Zusammenhang konstruiert: Wer nicht miteinander redet, kann auch nicht miteinander schlafen. So war es in vielen Ehen. Eifrige überzogen diesen Ansatz und dann wurde schlagartig klar: Wer nur noch miteinander redet, schlief auch nicht miteinander.

Welche Vorstellungen eine Gesellschaft von Sexualität hat, wird nicht zuletzt durch die Bestrafung von „abweichenden Sexualverhalten“ deutlich. Nicht nur das enge Korsett des Zwangs der Doppelmoral schnürte die Lust nach körperlicher Nähe, Berührung, Zärtlichkeit und Liebe ab, auch die damals geltenden Gesetze sanktionierten das Anders sein. Das aus der Zeit der Jahrhundertwende übernommene Sexualstrafrecht ächtete in 31 Paragraphen mit 190 Tatbeständen jegliche Art von „Unzucht“: Jedweder Sex außerhalb der Ehe war strafbar. Und nicht nur das: Der Vorwurf der „Kuppelei“, also das Dulden oder Fördern von Sex unter Nichtverheirateten, brachte so manches liberale Elternpaar vor Gericht. Selbst das „Ausstellen“ und „Anpreisen“ von Mitteln zur Empfängnisverhütung und Schutz vor Geschlechtskrankheiten sowie die Abtreibung stand unter Strafe. Unnötig zu erwähnen, daß „unzüchtige“ Schriften und Bilder ebenfalls verboten waren. Die heute als komisch konsumierten Aufklärungsartikel und Filme der späten 60er Jahren waren ein Versuch dem Käfig der Spießbürger-Moral zu entfliehen. Der Vergleich zu den Drogen liegt nah: Gerade wegen der zahlreichen Verbote galt es als „emanzipiert“, der Vielweiberei und des häufigen Männerwechsels das Wort zu reden. Und wer sich ganz weit aus dem Fenster lehnen wollte, der sprach sogar von den befreienden Vorzügen des Gruppensex. Die Kunst ritt voran: Das zeigen von nackten Hintern, Penissen und Busen gehörte seit den Anfängen der Aktionskünste zu deren Provokationsrepertoire. Nur das Thema der Liebe und Sexualität unter Menschen mit dem gleichen Geschlecht blieb weiterhin ausgespart.

Sei 1961 kursierte die Pille auf dem Markt. Sie nahm den Frauen zwar die Angst vor unerwünschter Schwangerschaft, zugleich dürfte sie aber zur sexuellen Befreiung der Frau soviel beigetragen haben wie die Geschirrspülmaschine – wunderbare Erfindungen, die den Mann weiterhin in der Funktion des bequemen Patriarchen beließen. Geändert wurde der Haushalt der Hormone, nicht aber die Haushaltsrolle der Frau. Der Austritt der Frau aus ihrer Unmündigkeit nahm nur langsam seinen Lauf.

Die Werbung zeigte mehr und mehr das Fleisch der Damen und das spindeldürre Super-Modell „Twiggy“ fungierte als Vorbild einer ganzen Generation. TV-Spots und Bilder in den Hochglanzmagazinen prägten ein Körperideal, welches von Männern in den Redaktionen bestimmt wurde. Währenddessen befehligte Commander Dietmar Schönherr im durch und durch preußischen „Raumschiff Orion“ seine Truppe wie ein gut gescheitelter Wehrmachtsoffizier.

Psycho-Kommunen

Ob das Aufwärmen der Psychoanalyse einen positiven Beitrag leistete, bleibt strittig. Auf alle Fälle erlebte der Freudsche Ansatz -vor allem in seiner Modifikation durch Wilhelm Reich- in den sechziger Jahren eine Renaissance. Sein Werk von 1936, „Die sexuelle Revolution“ gab den Jahrzehnt seinen Namen. Reich analysierte in seinem Buch die „bürgerliche Sexualmoral“ mit ihren „bewährten Unterdrückungsmechanismen Ehe und Familie“ als Grundlage des „kapitalistischen Herrschaftssystems“. Die Linke griff dies auf und entdeckte den Zusammenhang von Triebunterdrückung und Herrschaft in Deutschland. In den Zeiten von Hans Meiser und Ilona Christen der ganz normale Wahnsinn – damals ein Skandal: Dieter Kunzelmann, Kommunarde der ersten Stunde, läßt in einem Spiegel-Interview die Hosen runter. „Ich habe Orgasmus-Schwierigkeiten, und ich will, daß dies der Öffentlichkeit vermittelt wird.“ Gerade in den Anfang 1967 frisch gegründeten Kommunen wird über alles, muß über alles diskutiert werden. Mit Begeisterung wühlt man in den psychischen Eingeweiden dee anderen, Sensibilität ist selten. Mal jemanden in den Arm nehmen? Fehlanzeige. Aber dafür wird der Diskurs gepflegt über Reichs „Funktion des Orgasmus.“

Wie konnte Frau sich aus der Umklammerung des Patriarchat befreien? Es hätte den frühen Kommunardinnen eine Warnung sein sollen, daß sich Polit-Clowns wie Langhans und Teufel nicht so recht für die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem „herrschenden System“ begeistern konnten. Sie wollten sich lieber an „Fuck for Peace“ Aktionen erwärmen. In den endlosen Diskussionen wurde Sexualität oft bis zur Trivialität einer Debatte über den Energie-Haushalt eines Dampkessels eingekocht: Jeder braucht Sex, um ausgeglichen zu sein und der Orgasmus ist nötig, damit sich nichts in einem anstaut. Denn sonst sind weder Mann noch Frau als Person nicht brauchbar und damit auch politisch unbrauchbar. So einfach war das. Aber: Die Bindungs-Bedürfnisse saßen tief und homoerotische Wünsche wurden nicht ausgelebt, blieben sogar in den vermeidlich radikalen Gruppen tabu. Für die Feministinnen ist in der Nachbetrachtung die Kommune nur eine weitere Institution zur Unterdrückung der Frau gewesen.

Und die Studentenbewegung? Der intellektuelle Kern des 68er-Bündnis´ brüllte sich auf den Straßen die Wut aus dem Leib. Die Wut über eine unbewältigte Nazi-Vergangenheit, die Wut über den Aggressor USA, der in Vietnam einen Krieg vom Zaun gebrochen hatte, die Wut über die als verlogen empfundene Moral der Gesellschaft. Die Journalistin Ulrike Meinhof schrieb schon 1962 in Konkret: „So dünn ist in Deutschland die Decke der Republik, daß dem Volk aufs Maul geschaut soviel heißt, wie: Der Obrigkeit zustimmen, noch eh sie es fordert; den Angeklagten schuldig sprechen, eh das Gericht soweit ist, jedem Laffen von der Polizei eher Recht geben, als dem unschuldigsten Verhafteten.“ Die Frauen hatten sich in den politischen Parteien noch nie zu Hause gefühlt und standen auch hier außen vor. 1964 lag der Anteil weiblicher Mitglieder in der CDU bei 13.3 Prozent, in der SPD 1966 bei 17.4 Prozent.

Weiberrat

In der Studentenbewegung spielten sie seit Beginn nur eine untergeordnete Rolle: Die Chef-Ideologen waren männlich. Erst auf dem Höhepunkt des Protests, im Januar 1968, bildeten eine Handvoll Frauen aus den Reihen der SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) einen Arbeitskreis, zu dem Männer nicht zugelassen waren. Eine der ersten Aktivitäten der Gruppe bestand in der Bildung eines improvisierten Kindergartens für die Dauer des großen Vietnam-Kongresses im Februar des Jahres einzurichten. Aus dieser Initiative entstand einerseits die Kinderladen-Bewegung, die bis heute Einfluß auf die Betreuung kleiner Kinder hat, andererseits eine Gruppe mit dem Namen „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“. Innerhalb der studentischen Revolution war es zur Revolte gekommen. Auf einer Frankfurter Konferenz des SDS wollte „Polit-Macker“ Hans-Jürgen Krahl nicht auf feministische Argumente eingehen – es folgte der berühmte Tomatenwurf von Helke Sanders auf das Podium. Der „Weiberrat“ entstand.

Unabhängig voneinander, aber im gleichen Zeitraum formierte sich auch in den USA der Widerstand der Frauen. Mit einem Unterschied: Im Juni 1969 war auf dem Kongreß des amerikanischen SDS (Students for a Democratic Society) die Gruppe der Feministinnen bereits so stark, daß die Anführerin der radikalen „Weathermen“, Bernadine Dohrn, den Bund spalten konnte. Ihre Behauptung: Alle friedlichen Methoden gegen Krieg und Elend hätten nichts gebracht – jetzt helfe nur noch Gewalt. In Deutschland entstand aus ähnlichen Überlegungen heraus die RAF. Die „Weathermen“ beschränkten sich darauf, nachts verlassene Gebäude in die Luft zu sprengen. Bei ihren Aktionen kam nie ein Menschen ums Leben.

Ob in den USA oder der Bundesrepublik, in vielen westlichen Ländern wuchs unter den Frauen die Einsicht, daß der „kleine“ biologische Unterschied zwischen Frau und Mann von der männlich orientierten Gesellschaft nur als Vorwand genutzt wird, um die Frau auszubeuten. Wer als Frau solche Ansichten vertritt, muß bis heute mit Beschimpfungen wie „frustrierte Tucke“ und „penisneidische Emanze“ rechnen. Alice Schwarzer entwickelte sich später zur Galionsfigur der Feministinnen – sie war und ist damit Ziel männlicher Gegenattacken. Die Bild-Zeitung sprach von der „Hexe mit dem stechenden Blick.“ Eine Hexenjagd begann. Es war wohl weniger der stechende Blick als der stechende Schmerz, den Schwarzer in den Wunden des Männlichkeitswahns hinterließ. Sie brachte 1977 über zehn Jahre Emanzipationsbewegung auf den Punkt, indem sie deutlich herausstellte, daß nicht der „kleine Unterschied“, wohl aber seine kulturellen Folgen abgeschafft gehören. „Männlichkeit und Weiblichkeit sind nicht Natur, sondern Kultur.“

Was nicht zu lösen scheint, ist die biologische Bindung der Frauen an Fortpflanzung und primäre Kinderbetreuung. Und das führe, so behaupten die streitbaren Frauen noch heute, zu ungleicher Arbeit und „Klassenbildung“. Daß sie die Kinder gebären, diene den Männern nur als Alibi, um sie auch für die Erziehung derselben allein verantwortlich zu machen.

Die 68er hatten Marx gelesen und glaubten fest: Das Sein bestimmt das Bewußtsein. Konkret heißt das: Die politschen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der bundesdeutschen Gesellschaft bedingen die Rolle des Bürgers, die er in dieser Gesellschaft spielt. Der überwiegende Teil der Studentenbewegung blieb unfähig, diese Erkenntnis auf die eigene Bewegung anzuwenden. Die sogenannte sexuelle Revolution führte daher nie zu einer Änderung der zentralen Position der Hausfrau- und Mutterrolle. Und dies gilt bis heute.

 

Aus dem Flugblatt des Weiberrats von 1968

wir machen das maul nicht auf!
wenn wir es doch aufmachen, kommt nichts raus!
wenn wir es auflassen, wird es uns gestopft: mit kleinbürgerlichen schwänzen, sozialistischem bumszwang, sozialistischen kindern, liebe, sozialistischer geworfenheit, schwulst, sozialistischer potenter geilheit, sozialistischem intellektuellen pathos, sozialistischen lebenshilfen, revolutionärem gefummel. Sexualrevolutionären argumenten, gesamtgesellschaftlichen orgasmus, sozialistischem emanzipationsgeseich – GELABER!

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Zauberflöte und draußen knüppelte die Polizei

Highlife 4/98, Die Protestbewegung der 60er Jahre (I)

Der revolutionäre Trieb kam nicht zum Ziel, gleichwohl haben die Träume und Aktionen dieser Generation die Gesellschaft verändert. Das Jahr 1968 ist ein Symbol der Jugend- und Protestbewegung. Wie und warum entstand sie, wie verlief diese Bewegung – und was bleibt aus dieser Zeit?

Witzig, die Sprüche der 68er Zeit. „Wenn’s der Wahrheitsfindung dient“, nuschelte der Kommunarde Fritz Teufel, als der Richter ihn zum ehrerbietenden Aufstehen aufforderte. Und Abbie Hoffmann, der Yippie-Häuptling aus Amerika, lag wohl dem chauvinistisch-anarchischen Wunschdenken von Teufel und Langhans sehr nah, wenn er sagte: „Wir glauben, daß die Menschen zu jeder Zeit und an jedem Ort –auch auf den Straßen- bumsen sollten, mit wem immer sie wünschen.“ Politik betrieben Yippies und Chaos-Kommunarden nur als Travestie. Andere meinten es ernst und wünschten die ganze Gesellschaft der Bundesrepublik, ja, der ganzen Welt umzukrempeln. Und es wurde ernst.

Von den drei Kugeln, die der 23jährige Josef Bachmann am Gründonnerstag, dem 11. April 1968 in Berlin abfeuerte, erholte sich Rudi Dutschke nie wieder. Genau eine Woche zuvor war in Memphis Martin Luther King ermordet worden, Bachmann hatte die Nachricht mit Genugtuung aufgenommen, fühlte sich angestoßen. Was in beiden Ländern folgte war Aufruhr, rüttelte für eine Augenblick an den Grundfesten der Staatsmacht, ließ die Quengeleien von Intellektuellen zu einer Bewegung der Massen werden. Noch am Abend nach dem Dutschke-Anschlag kam es vor dem Springer-Verlagshaus zu Straßenschlachten zwischen Polizei und einer aufgebrachten Menge. Für sie war der Fall klar: Vor allem die Hetzkampagne der Springer-Presse gegen die Studentenbewegung hatte den Nährboden für das Attentat geschaffen und ihr Zorn richtete sich gegen das symbolträchtig hohe Gebäude des Medienmoguls. Fünf Tage lang versuchte man, die Auslieferung der Zeitungen zu verhindern, blockierte die Druckereien des Konzerns. Beachtlich war der hohe Anteil der Nicht-Studenten, Lehrlinge und Arbeiter beteiligen sich am Klassenkampf. In Frankreich begann der „Pariser Mai“, Zehntausende demonstrierten gegen die Schließung der Universität. Im Quartier Latin entstanden aus Angst vor den Übergriffen der Polizei Barrikaden, der Versuch der Räumung geschah unter dem Einsatz von Tränengas und Gummiknüppeln. Die Gewerkschaften riefen zum Generalstreik auf, am 13. Mai formierte sich in Paris der bis dahin größte Demonstrationszug der französischen Geschichte. In Deutschland verhallte der vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund, SDS, an die Gewerkschaften gerichtete Ruf nach dem Generalstreik ungehört. Der Regierungsapparat in Bonn sah sich durch die gewaltigen wie gewaltsamen Demonstrationen bedrängt und beschließt mit den Stimmen der SPD-Fraktion die umstrittenen Notstandsgesetze. Innerhalb kurzer Zeit war in dem Nachtwächter staat eine Keimzelle basisdemokratischen Aufbruchs entstanden. Was war geschehen?

Wohl kaum eine andere Institution in Deutschland widersetzte sich in diesem Jahrhundert dem Wandel heftiger und erfolgreicher als die Universitäten. Den Hauptwiderstand gegen Veränderungen leistete die Professorenschaft, die im Durchschnitt erst im Alter von 53.6 Jahren ihren Lehrstuhl besetzt hatten und dazu neigte, den Status quo erhalten zu wollen. Auf Vorstellungen, daß eine demokratische Struktur unabdingbar sei, wenn die Universitäten mit dem Wandel der Zeit Schritt halten wollten, und daß diese notwendig sei, um die Demokratie im Land zu stärken, gingen sie im allgemeinen nicht ein. Die Studentenbewegung der 60er war die fällige Antwort auf diesen Konservatismus. Bereits 1960 forderte der SDS, der ursprünglich aus der SPD entstanden war, diese Bindung aber löste, als die Sozialdemokraten ihre marxistische gänzlich Tradition aufgaben, die Demokratisierung der Lehranstalt: Statt der hierarchisch strukturierten Seminare und Institute sollten Abteilungen gebildet, Lesegruppen und Arbeitsgemeinschaften statt der großen Vorlesungen das Lernen und Forschen verbessern, ein gleiches Stimmrecht in den Gremien eingeführt werden. Die Besonderheit: Universitäts- und Staatsreform sollten Hand in Hand gehen. Viele Studenten waren sicher, daß es Pflicht der Universität sei, aktuelle soziale und politische Probleme nicht nur zu erforschen, sondern auch Ansätze zur Lösung dieser anzubieten. Die legendären Sit-ins begannen. Endlose Diskussionen über die Apartheid in Südafrika, den Vietnamkrieg und die Unterdrückung im Iran, über die Macht des Kapitals, die Ohnmacht der Arbeiterklasse und den Kampf gegen das System.

„Schafft Alles ab“

Der Wunsch nach Neuerung reifte seit geraumer Zeit in der deutschen Jugend. Das Wirtschaftswunder hatte konform und innerlich träge gemacht, die Fragen der Söhne und Töchter nach der nationalsozialistischen Vergangenheit stießen auf unwilliges Grunzen oder schlechte Ausreden, der Frauen Glück lag in Persil´s reiner Kraft. Die Enge der Konventionen schnürte am atmenden Organ der Jugend, der Veränderung. Spätestens mit der Großen Koalition von 1966 fand die Progressive keine Heimat in der SPD mehr, in ihren Augen glich sie der CDU. Die ältere Generation wälzte sich genüßlich im eigenen Selbstverständnis, welches am erreichten materiellen Wohlstand orientierte war: „Wir sind wieder Wer.“ In der Mensa der FU Berlin stand das ebenso kurze Kontra-Pamphlet: „Schafft Alles ab“, war dort auf einen Tisch gekritzelt. Hätte sich der SDS und die Intellektuellen an solch platte, aber schlichte Formen gehalten, wäre ihm eine breitere Basis in der eigenen sozialen Gruppe, der Studentenschaft, garantiert gewesen. So aber bedienten sich Dutschke und Konsorten der Geheimsprache von Herbert Marcuse und anderer Cheftheoretiker der „Kritischen Theorie“, die versuchte, einen Zusammenhang zwischen politische-wirtschaftlicher und psychologischer Unterdrückung herzustellen. Marcuses Buch „Der eindimensionale Mensch“ zufolge lassen sich Menschen in kapitalistischen Gesellschaften widerstandslos, weil der eigenen Unfreiheit nicht bewußt, in eine riesige Maschinerie von Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Kulturindustrie einbeziehen. Marcuse nannte diese Maschinerie in einem neuen Sinne totalitär. Denn „totalitär“ ist, so Marcuse, nicht nur eine terroristische politische Gleichschaltung der Gesellschaft, sondern auch eine ökonomisch-technische Gleichschaltung, die sich in der Manipulation von Bedürfnissen geltend macht. Nicht nur eine besondere Regierungsform bewirke Totalitarismus, sondern auch ein besonderes Produktio ns- und Verteilungssystem. Dem Menschen bleibt nur dumpfer Konsum. Fein beobachtet, doch die Werke der „Kritischen Theorie“ blieben für die meisten praxisferne Lehrgebäude.

Auch aus diesem Grund blieben die oppositionellen Studentengruppen bis Mitte der 60er Jahre relativ isoliert, dies änderte sich –zunächst in Berlin- rasch aufgrund der übertriebenen Reaktionen universitärer wie staatlicher Organe auf eher zaghafte Bestrebungen, gegen veröffentlichte Meinungen demonstrativ vorzugehen. In erschreckender Weise wurde deutlich, daß weder Bevölkerung noch Politik in der Lage waren, sich konstruktiv mit der Kritik der Studenten auseinanderzusetzen. Angeheizt durch die (Springer-) Presse, stieß die junge, neue Opposition auf breiten Widerstand in der Gesellschaft. Die meisten Mitbürger wollten nicht bemerken, daß sich die Jugend nur ihres Grundrechts auf Demonstrationsfreiheit bediente, eines Grundrechts, welches angesichts fast gleichgeschalteter Massenkommunikationsmittel nicht hätte in Frage gestellt werden dürfen.

Ihren ersten Höhepunkt erreichte die studentische Protestbewegung anläßlich des Schah-Besuchs am 2. Juni 1967 in Berlin. Die Honoratioren der Stadt empfingen den iranischen Diktator mit Pomp – während Resa Pahlewi nebst Gattin Farah Diba in der Deutschen Oper den Klängen der „Zauberflöte“ lauschten, knüppelte draußen die Polizei.

In einer Seitenstraße spielte sich eine folgenschwere Szene ab: Unter nie ganz geklärten Umständen schießt ein Kriminalbeamter namens Kurras den 26jährigen Benno Ohnesorg in den Hinterkopf. Die Nachricht verbreitet sich schnell, die junge Generation ist schockiert. Die Entrüstung kanalisiert sich in spontanen Demonstrationen, viele bis dahin Abseitsstehende solidarisieren sich mit den Studenten. Der Soziologe Detlev Claussen, damals Mitglied im SDS, meint, daß man erst mit dem Tod von Benno Ohnesorg von der studentischen Bewegung sprechen kann. Immer mehr Studenten und Schüler kamen zu dem Schluß, daß der Staat tatsächlich -wie vom SDS behauptet- auf Gewalt beruhe, statt auf Recht und Demokratie. Von jetzt an expandierte die Bewegung nicht nur, sie radikalisierte sich auch.

Radikal

Vor allem für die kompromißlosen Studenten schien klar, daß nur mit einer radikalen Opposition Änderungen herbeizuführen waren. Rudi Dutschke brachte es auf den Punkt, indem er den „Spielregeln dieser unvernünftigen Demokratie“ eine Absage erteilte und feststellte: „Ausgangspunkt der Politisierung der Studentenschaft (ist) die bewußte Durchbrechung dieser etablierten Spielregeln.“ Das Ziel dieser außerparlamentarischen Opposition? Dutschke wußte auch hier Antwort und sagte in einem Spiegel-Interview, veröffentlicht eine Woche nach den tödlichen Schüssen auf Benno Ohnesorg: „Wenn wir sagen außerparlamentarisch, soll daß heißen, daß wir ein System von direkter Demokratie anzielen – und zwar von Rätedemokratie, die es den Menschen erlaubt, ihre zeitweiligen Vertreter direkt zu wählen und abzuwählen, wie sie es auf der Grundalge eines gegen jedwede Form von Herrschaft kritischen Bewußtseins für erforderlich halten.“

Rätedemokratie? „Dann geht doch nach drüben“, brüllte die Volksseele vor den Fernsehkameras. Für sie waren die engagierten Studenten bestenfalls „Schwätzer“, „akademische Gammler“ oder sogar „Linksmob“, Begriffe, die die Springer-Presse geprägt hatte und die bereitwillig aufgenommen worden waren. Daß markante Unterschiede zwischen dem Sozialismus der DDR und den Gedanken von Marx existierten, dies nahm man nicht wahr. Der SDS geriet in Vorreiterrolle für die Bewegung und suchte die Verbindung zur Arbeiterschaft. Der Brückenschlag gelang nie, die Arbeiter sahen in demonstrierenden Studenten randalierende Nichtstuer auf Staatskosten. Auch hier hatte „Bild“ ganze Arbeit geleistet. Im Gegensatz zu den Protesten in Frankreich und den USA blieb die bewußt betonte „proletarische Kultur“ der deutschen Studenten aufs Seminar beschränkt.

Auf den Straßen der Großstädte verhärteten sich inzwischen die Fronten, die Bereitschaft zur Gewalt auf beiden Seiten wuchs und wurde ausgelebt, oft endeten die Auseinandersetzungen mit hunderten von Verletzten, sogar Toten. In diesem Zeitraum ist auch die Geburtsstätte der terroristischen Vereinigungen zu orten, die zunächst mit Gewalt gegen Sachen, später auch gegen Menschen ihre Ziele durchsetzen wollten. Andreas Baader und Gudrun Ensslin legten Feuer in einem Frankfurter Kaufhaus, um, wie sie sagten, gegen die Verbrauchergesellschaft und die Wirklichkeit des Vietnamkriegs zu protestieren. Ulrike Meinhof und zwei Helfer befreiten Baader aus der Haft, ein Beamter wurde dabei lebensgefährlich verletzt. Die RAF entstand.

Politiker der Rechten, einige Vertreter der Kirche und die Presse forderten Maßnahmen gegen die Unruhe im Land, die SPD gab dem Druck nach. Der „Radikalenerlaß“ sollte vermeintlich verfassungsfeindliche Kräfte aus dem Staatsdienst fern halten, eine Schnüffelkampagne setzte an, Demagogenverfolgung vergiftete die Atmosphäre. Die Bundesrepublik war auf dem (Rück-) Weg zum autoritären Staat, der seine Bürger vor allem als Sicherheitsrisiko begriff.

Im nächsten Heft:

„Wer zweimal mit derselben pennt…“ Die sexuelle Revolution.