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Interview mit dem Philosophen Oliver Müller über chemo- und neurotechnologische Umbaumaßnahmen an Körper und Geist

telepolis, 20.08.2010

Wenn Technik Lösungen, aber keine Antworten bietet

Der Philosoph Oliver Müller arbeitet am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin in Freiburg und hat jetzt ein erhellendes Werk über den Einzug technischer Optimierungen in Lebenswelt und Körper des Menschen geschrieben. Im Interview beschreibt er, welche Auswirkungen diese Technisierungsprozesse auf Selbstsein und Selbstverständnis haben können.

Der Gegensatz von Natur und Technik ist bis heute Grundlage vieler Überlegungen zu Stellung des Menschen in der Welt. Wo liegen aus Ihrer Sicht die Grenzen dieser Dichotomie?

Oliver Müller: Auch wenn sie meiner Meinung nach nicht als völlig obsolet betrachtet werden darf, kommt die Dichotomie von Natur und Technik vor allem in anthropologischer und ethisch-normativer Hinsicht an ihre Grenzen. Epistemologisch-phänomenologisch kann man im Normalfall dann doch meist unterscheiden: Viele technische Eingriffe verändern die Natur nachhaltig, doch bleibt das veränderte „natürlich“ – sei es der Schwarzwald (den es in der heutigen Form – mit dem Fichtenbestand – Anfang des 19. Jahrhunderts noch nicht gab) oder ein durch künstliche Befruchtung auf die Welt gekommenes Kind. Selbst in der Synthetischen Biologie, deren Produkte „living machines“ genannt werden, sind es zwar synthetisierte, aber doch lebende Mikroorganismen.

Beim Menschen ist das anders: Da ist es schwer zu sagen, was ist ganz natürlich und was ist kulturell und technisch überformt. Wir nehmen Medikamente, fahren Autos und implantieren Hirnchips. Dabei können massive Anpassungsvorgänge eine Rolle spielen und es kann zu weitreichenden Eingriffen kommen – doch macht uns diese „natürliche Künstlichkeit“, die typisch für die menschliche Lebensform auch nicht zu komplett „künstlichen“ Wesen, gleichzeitig wollen wir ohne das „Künstliche“ und „Technische“ gar nicht leben, identifizieren uns mit dem hochkomplexen Kulturraum. Trotzdem empfinden wir bestimmte Techniken als „natürlich“ oder integrierbar in eine als „natürlich“ empfundene Lebensweise. Und das führt uns zu der ethisch-normativen Dimension dieser Unterscheidung.

Häufig wird dem Natürlichen ein Wert zugemessen, der respektiert werden soll und das technische Handeln wird in irgendeiner Weise als problematisch angesehen. Doch so eins-zu-eins kann man weder aus der Natur noch auch der Technik Normatives ableiten. Dazu braucht es zusätzliche Argumente, bedarf es eines anthropologisch-ethischen Rahmens, in dem die Unterscheidung von Natur und Technik überhaupt sinnvoll eingesetzt gemacht werden kann. Dann kann aus der Begrenzung der normativen Reichweite – das klingt paradox – normativ Fruchtbares gemacht werden.

Ist denn aus Sicht der Philosophie so etwas wie ein unverbauter, tiefer Einblick in natürliche Zusammenhänge überhaupt möglich? Anders formuliert: Wartet auf dem Grund philosophischer Erkenntnis eine naturgegebene Ebene, deren Erkennen Richtlinien vorgeben kann?

Oliver Müller: Da müsste man gegenfragen: Was ist ein tiefer Einblick in natürliche Zusammenhänge? Ich denke, die Philosophie kann versuchen, die verschiedenen Weisen, das Natürliche zu verstehen und mit ihm umzugehen, präsent halten. Wenn Philosophie die kritische und selbstkritische Klärung der wichtigen, der interessanten und existenziellen Begriffe und Konzepte einer Zeit zum Ziel hat, dann muss sie sich auch der Natur und dem Natürlichen annehmen: Wie kann man sinnvoll nach dem Natürlichen fragen? Und dann kann man das auffächern: wissenschaftstheoretisch (welcher Naturbegriff liegt den Naturwissenschaften zugrunde?), anthropologisch (kann man gehaltvollerweise von einer „Natur des Menschen“ reden?) oder ethisch (inwiefern kann das Natürliche Handlungsorientierung bieten?) und so weiter. Und dann muss man sich eben einer dieser Fragen annehmen und sie genau analysieren und die Antworten streng prüfen. Wenn ich Sie richtig verstehe, dann hat Ihre Frage nach dem Erkennen und den daraus folgenden Richtlinien eine ethische Zielrichtung…

Anders formuliert, würde sie lauten: Kann das, was ich als „natürlich“ erkannt habe, im Gegensatz zum Künstlichen, Technischen, Kulturellen, zu normativen Richtlinien des Handelns führen?

Oliver Müller: Hier würde ich nun sagen, dass die Philosophie moderieren kann, sie kann sagen, die Erläuterung der Funktionsweise von Peptidverbindungen als Erklärung von bestimmten natürlichen Vorgängen ist auf einer anderen Ebene anzusiedeln als die „Natürlichkeit“ einer Lebensweise. Letzterem kann man sich etwa metaphorologisch nähern und fragen: Inwieweit spielen die Vorstellungen des „Organischen“ oder des „natürlichen Gedeihenkönnens“ für die ethische Orientierung eine Rolle. Dass das eine sinnvolle Frage ist, zeigt die anhaltende Konjunktur des Aristotelismus. Doch wird man vermutlich sagen, die Richtlinien des Handelns lassen sich nicht auf diese metaphorischen Hintergrundvorstellungen reduzieren, das wäre schräg. Und dann müsste man diesen „Daseinsmetaphern“ einen Ort in der ethischen Theorie zuweisen und entwickeln, dass sie eine bestimmte Funktion ausfüllen, die vielleicht der Person-Begriff nicht mitabdecken kann.

Gleichzeitig muss man dabei aufpassen: Der direkte Verweis auf die Natur kann ja, wie Hume angemerkt hat, von einem unrechtmäßigen Schluss vom Sein auf ein Sollen führen. Gleichzeitig kann der Verweis auf die Natur zynisch oder chauvinistisch sein, etwa wenn man sexuelle Orientierungen als „widernatürlich“ bezeichnet. Das heißt, man muss sich genau anschauen, welcher Art der Begriff oder die Metapher des Natürlichen ist, den man fruchtbar machen will. Auf diese Weise würde man auch weitere für die Ethik relevante Natur- oder Natürlichkeitsbegriffe näher untersuchen, wie etwa den Körper, den Leib. Der Leib als die „Natur, die wir selbst sind“, wie Gernot Böhme das genannt hat, wird in ethischen Theoriebildungen oftmals marginalisiert. Und dann muss man fragen, warum das so ist und gegebenenfalls die leibliche Existenz anthropologisch und ethisch gehaltvoll machen. So kann die Philosophie durch eine Differenzierung der Fragestellung zu Antworten beitragen, die vielleicht präziser sind als die Antworten, die man vorher hatte.

Will man diese Methode konkret am Fall der Diskussion um die Selbstoptimierung durch chemisches oder neuro-technisches Enhancement anwenden, so könnte man beispielsweise fragen, welchen Sinngehalt „Optimierung“ heute zugemessen wird.

Oliver Müller: Genau. Die Verständigung über das, was wir in diesem Zusammenhang genau als „Optimierung“ bezeichnen, ist für die ethische Einschätzung des Enhancement von zentraler Bedeutung. Mir scheint, als würden in der Debatte immer wieder Kategorienfehler begangen. Denn von der Verbesserung des Menschen zu reden, hat eine lange kulturgeschichtliche Tradition, Menschen wollten und sollten schon immer in moralischer oder körperlicher Hinsicht verbessert werden, die Perfektibilität galt als Auszeichnung des Menschseins. Und diese als wertvoll erachteten Verbesserungstendenzen des Menschen scheinen mitgemeint zu sein, wenn von neurotechnischer „Verbesserung“ oder ähnlichem die Rede ist.

Doch ist genau an dieser Stelle eine anthropologische Reflexion von Bedeutung: Denn das, was mit einem Medikament verbessert wird, muss erst in seiner Bedeutung für die menschliche Lebensführung qualifiziert werden. Die gesteigerte Konzentrationsfähigkeit, die bei Prüfungen nützlich sein kann, oder der modulierte Stimmungshaushalt, der eine Person gesellschaftsfähiger machen mag, sind nur in bestimmter Hinsicht Optimierungen, in anderer Hinsicht können sie Verschlechterungen sein, etwa wenn die Einnahme von Medikamenten zu einer Selbstinstrumentalisierung führt, wenn sich eine Person also nur um des guten Funktionierens willen zu optimieren trachtet. Und an dieser Stelle kann es eben bedeutsam sein, sich des „Natürlichen“ oder „Organischen“ der Lebensführung als Richtwert zu erinnern.

Was die Stoa „nach der Natur leben“ nannte, hat nichts mit einem zivilisationskritischen „Walden“ zu tun. Es ging um die Etablierung von Orientierungsfiguren für die Lebensführung. Und da kann unter Umständen das Gefühl der „organischen Entwicklung“ oder des „Gedeihenkönnens“ stimmiger sein als die Logik des Enhancements, quasi auf Knopfdruck pharmakologische Lösungen für Herausforderungen in bestimmten Lebenssituationen anzubieten. Es geht also nicht darum zu sagen, die Enhancements seien „wider die Natur“. Das ist Quatsch. Aber die Reflexion über das Natürliche kann helfen, einen Rahmen zu etablieren, in dem die Beantwortung der ethischen Fragen der individuellen Lebensführung zumindest bereichert wird.

Dazu kommt die Aufgabe, Enhancement-Techniken vor dem Hintergrund ihrer historischen Entwicklung zu betrachten. Bei den Medikamenten zeigt sich hier eine Linie von den Stimulanzien, wie sie beispielsweise im 2. Weltkrieg von deutschen Fliegern benutzt wurden, bis hin zum heutigen Modafinil, das an britische Truppen verteilt wurde. Wie kommt es, dass diese Aufputschmittel, trotz mangelnder wissenschaftlicher Basis, nun als „Neuro-Enhancer“ bezeichnet werden?

Oliver Müller: Das ist eine gute Frage. Mir scheint da eine merkwürdige Allianz von wissenschaftlicher Rationalität und mythisch-magischen Praktiken bzw. Sehnsüchten eine große Rolle zu spielen. Offenbar gibt es ein menschliches Grundbedürfnis, sich mit Pharmaka selbst zu formen, andere Seelenzustände zu erkunden oder ähnliches.

Schon in der Antike dient das „pharmakon“ immer wieder als Begriff, aber auch als Metapher, um philosophische oder anthropotechnische Selbstformungen zu thematisieren und zu propagieren. Zaubertränke gibt es in der Kulturgeschichte zuhauf, bei „Tristan und Isolde“ ist es sogar so, dass die pharmakologisch induzierte Liebe als besonders „authentische“ gilt. Und diese mythisch-magische Folie der Selbsteinwirkungen wird nun in der modernen Zivilisation rationalisiert, indem die Aura, das Versprechen, sich selbst zu verbessern, als technisch generierbar, als machbar auf der Basis gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse gilt.

Es entspricht der Logik der Technik, Lösungen auf Knopfdruck anzubieten, perfektes Funktionieren zu garantieren. Dies kann sich dazu ausweiten, dass in einer Art technologischem Imperativ alles „Imperfekte“ am Menschen – oder eben am Soldaten – technisch kompensiert werden muss. Und auch wenn nicht in allen Fällen klar ist, in welcher Weise das vermeintlich Imperfekte perfektioniert wird oder welche Wirkungen und Langzeitfolgen manche Medikamente überhaupt haben, findet hier eben ein Überlagerungsvorgang statt: Der technologische Imperativ der Selbstkorrektur ist nur eine Ausdrucksform für mythische Sehnsüchte nach dem ultimativen pharmakon.

Es ist sicherlich so, dass die Pharma-Industrie von diesem Vorgang profitiert. Inwieweit sie bei der Lancierung des Begriffs „Enhancement“ eine Rolle spielt, weiß ich nicht zu sagen, doch es ist jedenfalls so, dass manche Ethiker vorschlagen, statt „Hirndoping“ den Begriff „Enhancement“ zu verwenden, weil er „neutral“ sei – aber genau das ist nicht der Fall. Dadurch dass Enhancement „Steigerung“ oder „Verbesserung“ bedeutet, liegt auch in diesem Ausdruck schon etwas Tendenziöses. Oder anders gesagt: Im Enhancement feiert die mythisch-magische Sehnsucht nach pharmakologischer Selbsttranszendierung im Gewand des Sachlich-Rationalen fröhliche Urständ…

Das menschliche Grundbedürfnis seine Umwelt und sich selbst mittels Technik zu perfektionieren, braucht Richtwerte. Sind uns diese in den westlichen Industriegesellschaften im Rahmen der von ihnen „Selbstinstrumentalisierung“ und „Selbstverdinglichung“ genannten Prozesse verloren gegangen?

Oliver Müller: Selbstinstrumentalisierung und Selbstverdinglichung sind nach meinem Verständnis Deutungsmuster, mit denen man Grenzen von Technisierungsprozessen ermitteln kann. Ich verstehe Technisierungsprozesse als in ihrer Grundstruktur ambivalent: Die Technik erschließt uns unsere Wirklichkeit, kann sie aber auch verarmen, in dem Sinne, dass andere Wirklichkeitsbereiche durch die Technik dominiert werden. Die Technik hilft uns, die Wirklichkeit zu kontrollieren, kann aber sie auch beherrschen, Technisierung ist immer auch Ersparnis von Zeit, kann aber auch zu Beschleunigungsvorgängen führen, mit denen wir nur noch schwer zurechtkommen können. Mir geht es nicht darum, die Technik zu verteufeln, das wäre unsinnig, denn der Mensch ist ganz wesentlich Techniker. Ich will vielmehr zeigen, dass wir kritischer Deutungsmuster bedürfen, um sensibel zu sein für negative Auswirkungen von Technik.

Was bedeutet das für das Enhancement-Beispiel?

Oliver Müller: Die moderne Medizintechnologie wird uns immer mehr Präparate und Techniken zu Verfügung stellen, nicht mehr nur therapeutisch, sondern optimierend auf uns einzuwirken. Zu Selbstinstrumentalisierung wird der Einsatz dieser Technik, wenn die Selbstbezugnahme einseitig wird, wenn alternative Selbstverbesserungsmöglichkeiten verloren gehen oder marginalisiert werden. Zur Selbstverdinglichung wird das Enhancement, wenn ich mein Leben nach Maßgabe dieser Techniken ausrichte und etwa defiziente Erfahrungen im Kontext leistungsgesellschaftlicher Anpassungsvorgänge chemisch ausgleiche. Wenn ich die pharmakologische Nachbesserung an meinem Selbst für gerechtfertigt halte, dann interpretiere mich schon, als wäre ich eine Maschine.

Und welche Richtwerte schlägt die Philosophie vor?

Oliver Müller: Richtwerte würden in den Aufgabenbereich der philosophischen Ethik fallen. Dabei sind unterschiedliche Ebenen zu betrachten: Erstens muss die Ethik, müssen Ethiker angesichts weitreichender Handlungsmöglichkeiten des Menschen – der Mensch ist immerhin das einzige Tier, das böse sein kann – diejenigen unverrückbaren Grenzen und Normen formulieren, die das Rückgrat unserer Kultur bilden, die menschliches Leben überhaupt garantieren können. Beispiele hierfür sind die Menschenwürde oder die Respektierung individueller Autonomie.

Zweitens geht es in der Ethik aber auch darum, die Zumutungen der conditio human in Lebenspraxis umzusetzen. Hierunter verstehe ich nicht nur die Tradition des Nachdenkens über das „gute Leben“ oder die „Sorge um sich“, sondern überhaupt den Umgang mit der eigenen Endlichkeit, Gebrechlichkeit, Fragilität. Um mit den Unbilden des Lebens umgehen lernen zu können, bedarf es grundsätzlicher anthropologischer und sozialer Reflexionen über die Eigenarten der humanen Lebensform. Und dazu gehört auch eine Verständigung über die Rolle der Technik in unserem Leben.

Welche Aspekte unseres Dasein wollen wir in den Verfügungsbereich der Technologien rücken und welche nicht? Also geht es in der Ethik immer auch um die Selbstverortung in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation. Die Normen und Lebensregeln, die aus solchen Überlegungen gezogen werden können, sind natürlich anderer Art als der Rekurs auf die Würde. Hier spreche ich eher von Orientierungsnormen, Maßstäben oder Richtwerten, die eine andere Art von Verbindlichkeit haben – die aber helfen, das individuelle Leben zu strukturieren. Was von großer Bedeutung ist, denn es ist charakteristisch für Menschen, dass sie sich in einem Netz von normativen Vorstellungen bewegen und unzählige Meinungen darüber haben, wie etwas sein soll, wie ein Leben geführt werden soll, was gar nicht „geht“ – derartige kryptonormative Vorstellungen gilt es explizit zu machen, zu bündeln, zu hinterfragen.

Wenn es gut läuft, dann schiebt die Enhancement-Debatte doch die öffentliche Thematisierung der menschlichen Selbstdeutung an. Ab wann führen technische Einflussnahmen auf den Körper zur Mechanisierung menschlicher Selbstdeutung? Ein Problem dabei ist doch sicherlich, dass die Definition des Selbst so schwierig und hoch individuell ist.

Oliver Müller: Die Definition des Selbst ist schwierig, ist eine große philosophische Herausforderung. Das werde ich hier nicht versuchen. Was hier jedoch wichtig ist: Der Mensch ist das sich selbst interpretierende Wesen, wie Charles Taylor sagt. Das heißt: Wie man sich selbst deutet – in einer anderen Sprache: Welches Menschenbild man hat –, wirkt sich auf die Bewertung von Handlungen und Einschätzung von Lebensweise aus. Daher sind Veränderungen in der Selbstdeutung ein herausragendes Thema der Ethik. Diese sind natürlich schwer zu protokollieren, doch ich bin davon überzeugt, dass hier einer der Knackpunkte in der Bewertung von Technisierungsprozessen im Allgemeinen und des Enhancement im Speziellen liegt.

Um ein extremes Beispiel zu verwenden: Wenn sich Menschen als im Prinzip unfreie, fremdgesteuerte Wesen verstehen, dann wird sich dies auch auf ihre Begriffe von Verantwortlichkeit und Schuld auswirken, falls sie diese überhaupt noch im ethischen Repertoire haben. Im Enhancement-Kontext heißt das: Wenn die vorherrschende Selbstdeutung diejenige ist, dass Menschen physiologisch imperfekte Maschinen sind, die man pharmakologisch und technologisch verbessern kann und sollte – dies ist übrigens eine der Grundüberzeugungen des Transhumanismus –, dann wird man die entsprechenden Medikamente und Techniken nicht nur sorgloser einsetzen, sondern diesen Einsatz auch fordern… Wenn die Selbstdeutung derartige Auswirkungen auf die individuelle und gesellschaftliche Praxis hat, dann kann man in der Tat von einer „Mechanisierung menschlicher Selbstdeutung“ reden.

Es ist eine Illusion, dass wir unsere Beschränkungen jemals vollständig überwinden können, weil ja hinter jeder überwundenen Schranke eine neue wartet. Sollte man zu mehr Bescheidenheit aufrufen?

Oliver Müller: Ob Bescheidenheit hier die richtige Tugend ist, weiß ich nicht, ich würde vielleicht sagen, dass dies eine Sache der Klugheit ist, der phronesis, also der Fähigkeit, Situationen nüchtern einzuschätzen und ausgewogene Urteile zu fällen, auf deren Basis man dann handelt. Und dann kann es in der Tat hilfreich sein, Enhancement-Maßnahmen auf ihre Kurzsichtigkeit hin zu untersuchen.

Wenn mit einem verbessernden Eingriff auch ein bestimmtes Lebensgefühl des Erfolgs, der „Unschlagbarkeit“ oder der souveränen Lebensgestaltung verbunden ist, dann ist es eben klug abzumessen, ob das entsprechende Medikament denn auch wirklich die Grundsituation verändert oder ob es nicht nur auf Symptome reagiert. Und wenn man zum dem Schluss kommt, dass sich die Lebenssituation durch Enhancement-Einnahmen nicht wesentlich und nur kurzfristig ändert, dann kann man den Einsatz von Enhancements vor diesem Hintergrund ethisch beurteilen.

Sind wir automatisch in der technischen Logik gefangen, sobald wir eine Technik anwenden, um unsere Denken oder Fühlen zu verändern, man denke an Meditationstechniken?

Oliver Müller: Ich denke nicht, dass wir automatisch in einer technischen Logik „gefangen“ sind, wenn wir Technik anwenden. Denn wir können als Menschen gar nicht umhin, Technik anzuwenden, Technik gehört, wie schon gesagt, zum Menschsein dazu. Aber es kann eben sein, dass die Anwendung von Techniken andere Erfahrungsbereiche oder Rationalitätstypen dominiert – das war übrigens eines der Hauptargumente von Ernst Cassirer -, und dann kann die Technik, die den menschlichen Freiheitsspielraum erweitert, in ihr Gegenteil umschlagen und Freiheiten unterbinden, etwa wenn mit der Technisierung Normierungs- und Standardisierungsprozesse verbunden sind, die ein spezifisches Repertoire an Handlungen nahelegen oder nur noch diese ermöglichen.

Ich finde es sehr interessant, dass Sie in diesem Kontext Meditationstechniken erwähnen. Denn zur Zeit gibt es ja viele Annäherungsversuche zwischen Neurowissenschaftlern und Buddhisten oder anderen Meditationstechnikern. Ich bin sehr gespannt, was bei diesen Begegnungen längerfristig herauskommt. Wir können zum einen sicher sehr viel lernen, wie neurobiologische Prozesse mit meditativen Bewusstseinszuständen korrelieren. Das finde ich spannend. Doch es kann eben auch sein, dass das Bedürfnis entsteht, die Meditationstechniken auf der Basis neurobiologischer Erkenntnisse zu „verbessern“. Es ist nicht schwierig, sich eine Welt vorzustellen, in der sich Meditationstechniken als Anthropotechniken etablieren – Meditationstechniken dienen ja auch heute schon dazu, groteske, scheinbar systembedingte Arbeitsbelastungen zu kompensieren -, und in der dann Meditationstechniken medikamentös oder vielleicht neurotechnologisch „unterstützt“ werden.

Eine solche chemische Unterstützung von Meditationstechniken wäre für mich ein Beispiel dafür, wie die technologische Logik zu einer Entfremdungssituation im Sinne einer Selbstverdinglichung führt. Es ist ein Charakteristikum der technologischen Zivilisation, dass Wissen (fast) immer eine „Umsetzung“ verlangt. Auch hier wird es nicht bei dem neurobiologischen Wissen bleiben, sondern es wird in Umsetzbares, Machbares transformiert. Aber es ist eben fraglich, so drückt das Günther Anders aus, ob das Gekonnte gleichzeitig auch das Gesollte ist.

 

Literatur:
Oliver Müller: Zwischen Mensch und Maschine – Vom Glück und Unglück des Homo faber. 214 Seiten, edition unseld, 12 Euro.

 

 

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Das spezielle Yoga des Inders Bellur Iyengar stärkt das körperliche und geistige Befinden

„Beobachte ohne zu Bewerten“

Das spezielle Yoga des Inders Bellur Iyengar stärkt das körperliche und geistige Befinden

Die Welt steht Kopf seit einer Minute. „Etwas mehr nach Links mit den Beinen“, sagt Babette Rincke, „ja, so stehst du gerade“. Das Blut läuft mir in den Kopf, ohne das dies besonders unangenehm ist. Die Arme fangen unter der Anstrengung an zu zittern, aber ich will noch etwas länger durchhalten. „Lass den Kopf hängen und kneif die Pobacken zusammen.“ Ich versuche zu gehorchen, bin aber mit der Aufrechterhaltung des Handstands so beschäftigt, dass ich kaum folgen kann. Schließlich lasse ich mich zurück gleiten, gehe zurück zu meiner Matte und ruhe mich aus. Seit drei Jahren praktiziere ich das Yoga von Bellur Iyengar, einem heute 85-jährigen Inder, der das klassische Körpertraining des indischen Kontinents auf westliche Bedürfnisse zugeschnitten hat.

Iyengar (sprich: Eijengar) entwickelte bereits in den 40er Jahren neue Formen der Körperhaltungen und Bewegungsfolgen, welche die individuell unterschiedlichen, anatomischen Strukturen des menschlichen Körpers berücksichtigen. Dabei lag sein Augenmerk auf der Entwicklung einer Yoga-Form, die auch von Menschen mit körperlichen Schwächen und Behinderungen geübt werden kann. Für die eigenen Übungspraxis und den Unterricht erkannte er den Wert von Hilfsmitteln für die Ausführung der Übungen: Gürtel, Holzklötze, Stühle, feste Kissen und Gewichte werden so angewandt, dass die Anstrengung wesentlich verringert wird um das längere Verweilen in einer Übung zu ermöglichen. Dies wiederum ermöglicht eine tiefere Erfahrung und damit bessere Wirkung. So ist Iyengar-Yoga zwar eine Form des eher bekannten Hatha-Yoga, geht aber mehr als dieses auf die anatomischen Besondheriten des jeweiligen Schülers ein.

Bestätigt wird dieses Prinzip bei den Standstellungen, die uns Babette am heutigen Nachmittag zum wiederholten Male zeigt. Hierbei stehen wir mit gespreizten Beinen fest auf dem Boden, beugen den Körper nach Links, verstärken aber den Druck auf den rechten Fuß. „Nach Links verlängern, nach Rechts den Druck gleichzeitig erhöhen“, weist unsere 45-jährige Yoga-Lehrerin an, die zudem ausgebildete Krankengymnastin ist. Zunächst wusste ich bei dieser wie bei vielen anderen Stellungen nicht, welchen Zweck sie haben sollten, dass Einnehmen der vorgegebenen äußeren Form schien mir ohne Sinn. Natürlich wurden dabei die hinteren Sehnen der Beine gedehnt, aber sollte darin die Bestimmung dieses Asanas liegen? Erst im Laufe von zwei Jahren erkannte und erspürte ich die innere Dynamik, durch die jede Übung zu einem Ganzen wird, in das alle Körperteile auf sinnvolle Weise integriert sind. So ist es eben durchaus möglich, den Oberkörper weit zu einer Seite zu legen, dabei aber das Gewicht auszubalancieren und so beide Füßen gleichmäßig zu belasten. Babette: „Der Körper ist keine Block, sondern besteht aus vielen Elementen, die sich völlig unterschiedlich zueinander bewegen können. Ein Ziel des Iyengar-Yoga ist es, die Kontrolle kleinster Körperbereiche immer weiter zu verfeinern.“

Was ist das besondere an der Methode des Bellur Krishnamachar Sundararaya Iyengar, wie der Mann mit vollen Namen heißt? Mit Yoga assoziieren viele entweder asketische Yogis mit hinter dem Kopf verschränkten Beinen oder esoterische Wünschelrutengänger auf Abwegen. Um Yoga zu verstehen und nachzuvollziehen, muss es dreifach gedacht werden. Die zahlreichen Posen dienen nicht nur der körperlichen Ertüchtigung, Geschicklichkeit, Dehnung und Balance, sondern zugleich der Persönlichkeitsbildung. Immer wieder muss beim Üben selbst beobachtet werden, was während der Stellung mit dem eigenen Körper und der Aufmerksamkeit geschieht. Wird ein Teil überdehnt, fehlt die Balance oder kommt es zu einer gemeinsamen Ausrichtung der Körperteile? Schweifen die Gedanken ab, flüchten sie vor der Anstrengung?

Die Theorie des Yoga besagt, dass aus einer in sich stimmigen Haltung ein Geschehen entsteht, welches die Gesamtheit des Körpers nachhaltig umfasst. Als dritten Faktor hat jedes Asana immer auch eine medizinische Wirkung. So belebt der Handstand durch die Umkehrung alle inneren Organe, während die Drehlage im Liegen, bei welcher die Wirbelsäule wie ein aufgedrehtes Handtuch gewrungen wird, das Rückgrat und die Bandscheiben nährt. Das korrekte Vorwärtsbeugen, gerade für Männer eine schwierige Übung des sich Gehen-Lassen, Nichts-Leisten-müssen und weicher werden, kräftigt Leber, Milz und Nieren in ihren Funktionen.

 

Das dies nicht nur Theorie ist, sondern in der Übungspraxis nach vollzogen werden kann, beweist Thomas Gärtner.* Durch seine Tätigkeit als Krankenpfleger und eine Jahre währende schlechte Körperhaltung hatte sich der 36-jährige den Rücken ruiniert. Angefangen beim „Scheuermann“, über Sklerose bis hin zum Gleitwirbel plagten ihn chronische Verspannungen und Schmerzen, die durch die vom Arzt verordnete Krankengymnastik kaum gelindert wurden. Durch eine Freundin bekam er den Tipp und seit einem halben Jahr übt er nun Iyengar-Yoga. „Meine Rückenprobleme haben sich enorm verbessert“, freut er sich, um anzufügen, „ich müsste zu Hause viel häufiger trainieren, dann würde es garantiert noch besser werden“. Gärtner geht es auch um den Beweis, dass Körper und Geist keine getrennte Einheiten, sondern auf vielfältige Weise untrennbar miteinander verbunden sind. Diese verschütteten, blockierten oder abgestorbenen Verbindungen sollte eine Methode wiederbeleben, die sowohl den physischen Körper als auch die Psyche stärkt und entspannt. „Ich möchte Körper und Geist zusammen bringen“, fasst Gärtner zusammen. Gar als „phänomenal“ bezeichnet er die Aufdeckung der Zusammenhänge zwischen innerer und äußerer Verspannung durch die Übungen. Dabei geht es ihm nicht so sehr um eine strikte Leistungsorientierung, als um eine Erweckung der Sensibilität für körpereigene Vorgänge. „Ich habe begriffen, dass ich hier nichts leisten, sondern beobachten und wahrnehmen muss. Weniger ist mehr.“

Mittlerweile sind wir bei der „Großen Drehlage“ angelangt. Hierbei liegen wir rücklings auf dem Boden, haben die Arme in Schulterhöhe ausgestreckt, ziehen die Beine an die Brust und drehen dann die Beine nach rechts und den Kopf nach links. „Langsam und mit Kontrolle“, erinnert Babette uns, „und wenn die Beine den Boden berühren, streckt ihr sie aus.“ Es ist drei Jahre her, dass ich diese Übung zum ersten Mal ausführte; damals verlor ich die Orientierung und wusste nicht mehr, wo meine Körperteile lagen. Heute bin ich tatsächlich in der Lage mich „in die Lage fallen zu lassen“, wie Babette es nennt. „Das Einatmen schafft Raum und mit der Ausatmung sinkst du in den Raum hinein“, muntert uns die Yoga-Lehrerin auf. Im Gegensatz zu den sehr dynamischen Standstellungen sind die Entspannungslagen ruhig und von geringer Anstrengung getragen. Dies bedeutet aber nicht die Abwesenheit von Aufmerksamkeit – diese sollte alle Übungen begleiten – nur nimmt diese eine rein beobachtende Rolle ein. Das größte Problem ist ohnehin das Abschweifen der Gedanken, die sich in manchen Entspannungsstellungen gerne den Ereignissen des Tages, den Plänen der nahen Zukunft oder noch öfter dem Essen zuwenden. „Wenn du dies bemerkst“, sagt die Yoga-Lehrerin, „hole den Gedanken sanft wie ein unartiges Kind zurück zu der Stellung.“ Einfacher gesagt, als getan, denke ich und verscheuche die Pasta mit Käse-Sahnesoße aus meinen Kopf. Nach der Drehlage fühlen sich die linke und rechte Körperhälften unterschiedlich an. Die rechte schwerer und wärmer, die linke volumiger. Auch hier gilt es, so weiß ich mittlerweile, über die Zeit die Beobachtung zu verfeinern und eventuell noch weitere Unterschiede wahrzunehmen.

Ralf Schütt, langjähriges Mitglied im Vorstand der Vereinigung der deutschen Iyengar-Lehrer, schätzt die Zahl der Aktiven Yoga-Schüler in Deutschland auf etwa fünf Tausend. Er bestätigt, dass ein großer Anteil davon aufgrund von Probleme mit dem Rücken, den Gelenken oder schlicht zum Stressabbau zum Iyengar-Yoga gekommen ist. „Viele wechseln aus dem Fitness-Bereich zu Iyengar, weil es neben dem Muskulaturaufbau auch ein hervorragendes mentales Training ist.“ Der 1999 verstorbene Geiger Yehudi Menuhin und Pop-Ikone Madonna -sie alle waren und sind begeisterte Anhänger des Iyengar-Yogas. Menhuin schrieb in einem Vorwort zu einem Buch von Bellur Iyengar: „Die Übung des Yoga gibt ein entscheidendes Gefühl für Maß und Proportion. Auf unseren Körper bezogen, bedeutet dies, dass wir unser wichtigstes Instrument zu spielen und die größte Resonanz und Harmonie daraus zu ziehen lernen. Mit unermüdlicher Geduld verfeinern und beseelen wir jede Zelle.“ Ähnlich blumig wie der Meister der Musik drückt es der Meister des Yoga aus: „Das Selbst füllt den Körper bis in die Zellen, wie Wasser, das in einem Gefäß ruht. Die Aufmerksamkeit muss ebenfalls den ganzen Körper füllen, so gleichmäßig und lückenlos wie Wasser, das sich in einem Gefäß verteilt.“ Seit nunmehr über 60 Jahren übt der heute 82-jährige alte Mann bis zu zehn Stunden am Tag, gemäß seiner Devise „Der Körper dein Tempel, die Pose das Gebet.“ Diese Kontinuität hat ihm den Ruf des besten aller lebenden Yoga-Meister eingebracht.
Die zweistündige Yoga-Sitzung mit Babette Rincke geht zu Ende. In dieser Zeit habe ich meine durch das viele Sitzen am Schreibtisch verkürzten hinteren Sehnen der Beine wieder ein Stück gedehnt, den Brustkorb geweitet und die eingesunkenen Wirbelsäule ausgerichtet. Schweiß ist geflossen, Körperspannung ist auf- und wieder abgebaut worden. Die kleine Gruppe von sechs Leuten liegt auf dem Boden und spürt noch einmal in die verschiedenen Körperteile hinein. Im Idealfall ist man fähig kleinste Körperbereiche voneinander zu unterscheiden – für mich und die anderen ein noch langer Weg.

* Name von der Redaktion geändert.

 


Yoga
Der Ausdruck Yoga stammt aus der indischen Sanskrit-Silbe „Yui“, was soviel wie zusammenbinden bedeutet. Zusammengebracht werden sollen Intellekt und Körper. Der Vermittler zwischen diesen Instanzen ist aus Sicht der alten Yoga-Sutras die Seele. Belur Iyengars Yoga-System fußt auf diesen von Patanjali ungefähr 200 v. Chr. nieder geschriebenen Sutras. Mit jeder korrekt ausgeführten Übung soll sich der Mensch nicht nur physiologisch und neurologisch, sondern auch emotional, ethisch und nicht zuletzt spirituell weiter entwickeln.

Zu Iyengar
Seit nunmehr 65 Jahren übt der Mann bis zu acht Stunden am Tag, gemäß seiner Devise „Der Körper dein Tempel, die Pose das Gebet.“ Diese Kontinuität hat ihm den Ruf des besten aller lebenden Yoga-Meister eingebracht. Bei fernöstlichen Weisheiten bleibt Iynegar nicht stehen, seine von ihm geleiteten Übungseinheiten stehen im dem Ruf äußerst anstrengend zu sein. „Schmerz ist dein Meister“, ist denn auch ein oft zitierter Ausspruch von Iyengar. Dies kommt allerdings zum einen immer auf den Lehrer, zum anderen auf den Praktizierenden selbst an. Die Methode ist zwar intensiv, aber nicht aggressiv. Unbewusste Blockaden im Körper benötigen jedoch oft einen deutlichen Hinweis von Außen um durchbrochen zu werden. Iyengar: „Wenn du dein Hemd aufhängen willst, brauchst du einen Bügel. Genauso ist es, wenn du einen geordneten Körper und einen geordneten Geist haben willst.“

 

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Amand Freiherr von Schweiger-Lerchenfeld: Schach matt! mit dem Höllenkraut Haschisch

Schach matt! mit dem Höllenkraut Haschisch

Eine Skizze von Amand Freiherr von Schweiger-Lerchenfeld (1879)

Amand Freiherr von Schweiger-Lerchenfeld (1846-1910) war ein vielschreibender österreichischer Journalist, der Südosteuropa und den Orient bereiste. Sein kurzer ungetitelt in dem Buch „Zwischen Pontus und Adria“ (1879) erschienener von typischen Vorurteilen, Kenntnisdefiziten und damit zusammenhängend beängstigenden subjektiven Erfahrungen geprägter Bericht aus (I-)Stambul gibt ein heute geradezu amüsantes Beispiel für eine insgesamt negative Bewertung des Exotikums „Haschisch“:

„Ist der Kaffee in Folge seiner belebenden Eigenschaften eine Himmelsgabe, so muß das nicht weniger beliebte orientalische Reizmittel – das Haschisch – vorweg als ein wahrhaftiges Höllenkraut bezeichnet werden. Als der fromme Scheich Birazdan zuerst das Hanf-Präparat den Gläubigen zum Genuße vorsetzte, da dürfte er wohl kaum geahnt haben, daß nach wenigen Jahrhunderten der fünfte Theil aller Menschen des Erdballes diesem entsetzlichen Laster fröhnen werde. Und ein Laster ist der Genuß des Haschischs so gut wie jener des Opiums. Zwar wirkt das Haschisch-Essen, – Trinken und -Rauchen auf den Organismus des Orientalen in keineswegs so hohem Grade wie bei Europäern, die dergleichen an sich experimentiren. Immerhin aber zerstört das Präparat Körper und Seele und frühes Siechthum ist der Lohn für die durchträumten Wonnestunden, welche dem Haschisch-Genuße folgen.
Welche Bewandtniß es im Uebrigen mit dem berückenden Scheinleben hat, das ist nicht ganz leicht zu ergründen. Der Orientale, welcher durch den Haschisch-Genuß eine farbenglühende Welt um sich sieht und alle Paradiesesfreuden in stufenweiser Aufeinanderfolge durchkostet, kennt nichts, was diesem Behagen im Leben gleichkäme. Nicht-Orientalen wissen hingegen von keineswegs wonnigen Empfindungen zu berichten, und was meine persönliche Erfahrung betrifft, so muß ich solcher Negation vollkommen beistimmen.

Es war in dem spießbürgerlich-occidentalen „Cafe Flamm“ in der Grande Rue de Pera, wo ich zuerst die Wirkungen des Haschischs an mir erproben sollte. Ich saß da mit einem guten Freunde beim königlichen Spiel, beim Schach. Einige Tage vorher hatte ich mir von einem ungarischen Emigranten ein Stück zwei Jahre alten egyptischen Haschischs verschafft, und mehr aus Uebermuth als aus irgend welch` anderen Gründen schabte ich eine Dosis von der Größe eines halben Malzbonbons in die Tasse schwarzen Kaffees. Es dürfte ein Uhr nach Mittag gewesen sein.

Ueber zwei Stunden liefen die Figuren über das Brett, der Sieg wechselte wiederholt und noch immer blieb die Wirkung aus. Da plötzlich brach ich, trotz der ernsten Situation inmitten des Spieles, in convulsivisches Lachen aus; ich sprang auf und wies, bei sonst volkommenem Bewußtsein – auf ein prächtiges, berückendes Landschaftsbild, das sich vor meinen Blicken entfaltete. Mein Genosse, der wohl wußte, um was es sich handelte, ergriff mich gewaltsam am Arme und drückte mich auf den Sitz nieder….

Die Farben begannen zu wechseln, aus hellen Blüthenbeeten tauchte phantastisches Gewächs, unförmliche Baumstrunke mit langen gespenstischen Armen, die nach mir langten. Ich meinte zu ersticken und griff hastig nach einem bereitstehenden Glase Wasser, um die trockene Kehle zu befeuchten. Die Vision schwand und über die Augen glitten helle Flocken, wie Blüthenregen, während das Ohr entzückt gedämpften Melodien lauschte, die wie Geisterchoral auszitterten. In diesem Momente schien sich der gestörte Organismus zu beruhigen, aber unmittelbar hierauf taumelte ich noch einmal in die Höhe und klammerte mich entsetzt an die Tischkante…. Ich sah einen Feuerball vor mir kreisen, der in ein flammendes Gesicht überging und mir die wohlbekannten Züge eines perotischen Mädchens wies.

Dann bemeisterte sich des Körpers eine unbeschreibliche Schlaffheit und mein Freund benützte die Gelegenheit, um mich in meine Wohnung zu transportiren, wo mich ein sechzehnstündiger Schlaf überfiel. Noch ein zweites Mal übermannte mich die Versuchung, aber eine erklärliche Aengstlichkeit gebot diesmal Maß zu halten; die ganze Wirkung beschränkte sich auf ein ausgesprochenes Gefühl der Behaglichkeit.

Zu derselben Zeit machten auch zwei meiner Orientgefährten, selbstverständlich vor nüchternen Zeugen, um jedem Unfalle vorzubeugen, ihr Debut im Haschisch-Genuße. Ein junger ungarischer Cavalier hatte eine gehörige Dosis unter das blonde Kraut Smyrnas gestreut und begann bald unruhig hin- und herzuschwanken. Seine Augen sahen stier, und indem er das Rohr halb aus seiner zitternden rechten Hand gleiten ließ, vollführte er mit der linken Hand Bewegungen, als wollte er zu einer Orchestral-Musik den Tact markiren. Plötzlich kauerte er sich zusammen und begann sich wie ein Kreisel zu drehen… „Ich schwimme!“ stotterte er… „Der Tigris um mich, drüben goldene Kuppeln… Musa`s Moschee – der Korb ist toll und schwingt wie ein Rad“… Da stieß er einen Schrei aus` und brach zusammen.

Bela war kurz vorher in Bagdad gewesen. Er erzählte uns oft von den dortigen eigenthümlichen Stromfähren, kreisrunde, gehörig verpichte Körbe, die mittelst Löffelruder in rotirende Bewegung gesetzt werden. Die Vision bewegte sich sonach in einer Erinnerung… Mittlerweile war der andere Gefährte, ein deutscher Techniker, von seinem Sitze aufgesprungen und rannte wie toll zwei-, dreimal durch`s Zimmer, bis er in einer Ecke zusammenbrach. Hier begann er bitterlich zu weinen, aber nach wenigen Minuten verklärte sich sein Auge, und um seine Mundwinkel spielte ein seliges Lächeln… „Marie!“ flüsterte er, „ich komme!… Die Höhen nahen mir,… tief unter mir ein Lichtermeer,… goldene Turmspitzen… Der Himmel hellt sich auf und die Sterne thauen auf mich herab“… Er fiel zurück und begann zu schlummern.

Im Allgemeinen beweisen diese schwachen Versuche, daß das Gefühl des Wohlbehagens vorherrscht. Bei anderen Europäern, die das Experiment des Haschisch-Genußes ausführten, bestand die Wirkung der Hauptsache nach in denselben Erscheinungen, nur traten mitunter Beklemmungen und Blutandränge ein, die ein unbeschreibliches Angstgefühl hervorriefen. Die ersten Symptome sind in der Regel beschleunigte Pulsthätigkeit und das Gefühl totaler Unbeholfenheit, verbunden mit Schwindelanfällen. Bei allen Haschischtollen stellt sich aber das Schwebegefühl ein; der Körper fällt gleichsam stückweise ab, und mehr und mehr fühlt man sich emporgetragen, so daß die Hand ängstlich nach etwas tappt, woran sie sich zu klammern vermöchte. Gänzliche Bewußtlosigkeit tritt selten ein.

Vor wenigen Jahren noch machte in Constantinopel unter allen Europäern, die je dem Haschisch vollends zum Opfer fielen, namentlich der ungarische Emigrant Baron Splenyi gerechtes Aufsehen. Er gab sich anfangs heimlich der Teufelsgabe hin, indem er seine Einkäufe bei den Derwischen besorgte, bis diese selbst die Initiative ergriffen und auf die Person des würdigen Jüngers Beschlag legten. Splenyi war damals, wie man mir erzählte, noch ein vermöglicher Mann; die Diener des Propheten aber wußten es zu arrangiren, daß er ihnen seine ganze Habe auslieferte, zum Islam übertrat und schließlich dem Orden der Mewlewi (Dreh-Derwische) sich einreihen ließ.

Von hier ab ging es mit dem Unglücklichen ganz entsetzlich rapid herab. Er wurde viele Tage hindurch nicht mehr nüchtern, übernachtete unter den Cypressen des sogenannten „Piccolo Campo“ in Pera, und lief zuletzt nur mehr mit einem Felle bekleidet am hellen Tage durch das Frankenquartier, was die Polizei zu beanständen nicht für nöthig fand. Der damalige italienische Gesandte sah einst den halb Irrsinnigen unter den Fenstern seines Palais und ließ ihn zu sich kommen und gehörig ankleiden, nicht ohne ihm zum Schluße noch eine tüchtige Moralpredigt zu halten. Splenyi aber ging directe von der Wohnung des Gesandten auf den Missr Tscharschy (Egyptischen Markt) in Stambul, um sein Habit für eine Dosis Haschisch einzutauschen, und lief nach wie vor in seinem Thierfelle umher.

Einmal traf ihn einer meiner Bekannten in höchst seltsamem Aufzuge unweit Damascus. Mit himmelwärts gewendetem Blicke, auf einem Esel reitend, kam er daher; in seinem Gefolge befanden sich einige Araber mit – Spaten. Als jener Bekannte die Leute frug, was dieser Aufzug zu bedeuten habe, antworteten sie: Der Weli (Heilige) da, habe ihnen befohlen, ihn zu begraben. Orientalen nehmen es mit dem Wunsche eines Weli (sehr häufig identisch mit einem Verrückten) meist sehr ernst, und so mußte mein Gewährsmann die abenteuerliche Gesellschaft mit Waffengewalt auseinandersprengen… Splenyi starb in den besten Mannesjahren an – Entkräftung.“

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Interview with Michael A. Rinella about Plato and the Pharmakon

telepolis, 28.04.2010

„It is a contest between philosophy and its rivals
to speak with the power of truth.“

Interview with Michael A. Rinella about Plato, drug culture, ecstasy
and philosophy in ancient greece

Platon
Platon

Dr. Rinella, what significance, what weight did the Greeks of the Classical Period attach to intoxication?

Let us consider the question of significance or awareness first. It surprises me that there are many analysts who believe that intoxication was not a condition subjected to a constant, regular, and on-going ethical inquiry in ancient Greece, simply because ancient thought lacked, to give one example, something like our contemporary theory of addiction. In other words they argue that the ancient Greeks had no “drug problem” and were in a sense oblivious about drugs. Well of course that is true if by “drug problem” you are thinking of the specific set of responses to recreational drug use in play since roughly the beginning of the Industrial Revolution. But if you consider Greek thought on intoxication in its own terms you’ll find a discourse as rich and complex as the ancient discussion of food and sex.

And the emphasis?

The question of weight or emphasis is equally important. In contemporary market economies non-productive drug use has been problematized as a disease condition to be subjected to a juridical intervention by a criminal justice system, a medico-therapeutic intervention by a drug-abuse system, or both because these systems tend to operate in loose conjunction or alliance with one another (each having a normalizing role within late-capitalist society). In ancient Greece intoxication was problematized largely on aesthetic grounds. At least until Plato, who was considerably more sophisticated than his peers in terms of understanding human psychology.

What were the parameters of an aesthetic appraisal of intoxication? And what did Plato change?

The central idea within the symposia of the elite was to drink well, and wisely. And by “drink well” they meant becoming intoxicated. If you met this goal your peers considered you properly aristocratic, refined, and a truly attractive human being. The ancient Greek poets speak of this constantly. To allow the mind to be completely unseated by a substance such as wine was considered boorish, ugly, and unattractive for several reasons. On the one hand it was considered unmanly; it made the warrior emotional and feminine. On another it led to hubristic behavior, something that was, in a culture heavily based on honor and shame rather than responsibility and guilt, about as taboo as you could get. The ugly side of intoxication was seen as a primary cause of discord in the social body politic, what the Greeks called stasis. In the politically charged atmosphere following the end of the Peloponnesian War and the trial and execution of Socrates Plato comes along and introduces a new way to think about social discord. For instance in the Republic he uses the term stasiazonta, or “stasis within” and this allows him to begin to question the value of intoxicated states from a new perspective.

Was the most common choice of intoxication at that time, wine, comparable with our wine today?

No, it really wasn’t, and this is a continuing source of misunderstanding. Ancient wine was frequently combined with other substances, including what we would today call “recreational drugs.” The surviving textual record offers ample proof of this but, as classicist Carl A. P. Ruck and a handful of others discovered, purely textual evidence was easy to dismiss or, worse, simply ignore. Now, however, the latest techniques of archeological analysis have confirmed the presence of other intoxicants in Greek wine, to the point it is simply incontrovertible. I’m thinking specifically of anthropologist Patrick E. McGovern’s works, like Ancient Wine.

On which occasions and how often were which people drinking wine?

The occasions were many. Drinking might be done in public, or private, in a religious context, or a recreational context. And the ethics of consumption would have varied depending on the situation. For example the festival of the new wine, the Anthesteria, would have been a public and religious setting for drinking, while the wine drinking and sacrifices that took place before the theatrical performances, the City Dionysia, would have been primarily public and recreational, though of course the high priest of Dionysus was seated in the front row during performances. The drinking party of the wealthy during the Classical era may be thought of as private and recreational drinking, but at the same time the ritual libation s of wine that commenced this drinking in private were themselves religious in character. The question how often or how deeply people were drinking wine is difficult to assess over the gulf of time but I suspect it was on an order different than we are accustomed too. In Plato’s Laws, for example, the Spartan Megillus mentions having seen the entire city of Tarentum drunk during the Dionysia.

And Plato’s new perspective on intoxicated states led to a new view on ecstasy as well?

Closer to the reverse. Many of Plato’s dialogues dissect claims to knowledge and authority that are based on non-rational methods, and this leads him to new insights on the value of both intoxication and ecstasy. The ancient Greeks had a saying that translates to, approximately, “truth comes from wine and children,” and this view was extolled by many poets – whose cultural authority was great – and Plato’s contemporaries in the Athenian upper class. If the project of philosophy was to know the truth through rigorous intellectual training that led to contemplation of the eternal forms, as it was for Plato, you can see how an ecstasy-based path to wisdom was going to be a problem. It is a contest between philosophy and its rivals to speak with the power of truth.

So Plato sees no place for ecstasy in the civil society?

I would distinguish between his views of civil society and the politics. On the one hand Plato is careful not to tread too heavily on ground ordinarily reserved for religion, such the cult of Dionysus or the Eleusinian Mysteries. An accusation of impiety was something you avoided if you had any sense. On the other hand he is quite hostile to social intoxication and wants to cordon that off from as many people as possible. In the political realm he sees, at most, a place for the use of dialectic to perceive, almost like a religious revelation, the eternal and unchanging forms. At the same time he appears quite pessimistic about more than a handful of individuals ever reaching such a stage of enlightenment. All in all, he has very little use for ecstasy. He may borrow some of the linguistic trappings of, for example, religious ecstasy but in the end ecstasy winds up being replaced by philosophy.

Is it correct to say that Plato’s ideas about intoxication constitute the ground for the western „drug politics“ today?

In a certain sense, yes. Michel Foucault correctly identifies Plato’s dialogues as the soil, the leaven, the climate and the environment from which a number of spiritual and intellectual movements will germinate, rise, and grow over the next two millennia. Plato’s general distrust of, and hostility toward, the pharmakon, the drug, reappears in many ancient texts. Dio Chrysosotom and Clement of Alexandria, for example. Look at Immanuel Kant’s Metaphysics of Morals. Like Plato, he allows for moderate use of wine to promote friendly conversation, but for the drugs that produce what he calls “dream euphoria” there is zero tolerance. The individuals who use these drugs are, Kant writes, less than beasts, and may be denied treatment as human beings. And Kant’s influence on moral philosophy over the last two hundred years is undeniable. If you look at the arguments against “drug abuse” in early twentieth-century publications, like the American Journal of Mental Hygiene, the perspective on drug use is distinctly Kantian.

What are the disadvantages of this perspective on drug use?

The perspective is questionable for two reasons. First, it fails to see that the arguments it advances are historically situated. Said another way, during the Industrial Revolution a set of strategies arose to address the question of ecstasy and identity – including recreational drug use – that were unique to that time period. The response to the question of recreational drug use will be as different in the post-industrial age as our present policies are from the pre-industrial age. To give a very simple example, what would be the purpose of “driving while intoxicated” laws if your vehicle is intelligent enough to drive itself? Given the growth of artificial intelligence, this could happen within a century. Second, these discourses of “drug abuse” can hide behind the veneer of “science” but at their core they are rhetorical, polemics. They do not engage in dialogue, they speak in monologues, encase themselves in privileges they alone possess and will never agree to critically examine. The recreational drug user is denied as a subject having the right to speak. He or she is reduced to a data point in a problem of epidemiology. You do not have a dialogue with an epidemic. It is a threat, an enemy, against whom any action is just and capable of being justified.

Is there a need for re-integrating ecstasy into our culture?

There is. First, because there is some evidence suggesting that taking a “break from identity” is not a disease condition to be subjected to criminal or medico-therapeutic “intervention,” it is actually common in the natural world, and ought to be something we view as both rational and healthy. Second, because the consequences of drug prohibition are both too costly in a monetary sense and too odious in a democratic and human rights sense to tolerate any longer.

Why should we use chemical intoxication instead of other forms of reaching ecstasy?

If marijuana products were legalized, for example, I really don’t think you would see them replacing “the runner’s high,” or organized religion, or artistic creation. People will still enjoy running a marathon for its own sake, attending religious rites for spiritual consolation, and the thrill of performing music and the rush of dancing. The techniques or paths for reaching ecstasy should not be seen as mutually exclusive, but rather complimentary. Seen this way, recreational intoxication is simply a single facet of a very ordinary, common, and natural human behavior.

 

About the Author

Michael A. Rinella is instructor of political theory at Empire State College in New York, and former senior editor at the State University of New York Press. In his forthcoming book Pharmakon: Plato, Drug Culture, and Identity in Ancient Athens (Lexington Books) he examines emerging concern s for controlling state s of ecstasy in ancient Greece, focusing on the dialogues of Plato.

 

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Interview mit Michael A. Rinella über Plato, das Symposion und die philosophischen Ursprünge moderner Drogenpolitik

telepolis, 28.04.2010

„Für einen auf Ekstase beruhenden Pfad zur Weisheit war kein Platz mehr“

Interview mit Michael A. Rinella über Ekstase und Philosophie im Altertum und Plato als Ahnherrn der Drogenpolitik

Platon

 

Der us-amerikanische Autor Michael A. Rinella hat eine detailreiche Studie über die Ethik des Rausches in der griechische Philosophie und Gesellschaft veröffentlicht. Er beschreibt dabei den Sieg der Rationalität über die Ekstase während der klassische Periode zwischen 500 und 336 v. Chr. anhand von Material aus poetischer Literatur, medizinischen Dokumenten und Gesetzestexten, vor allem aber den Dialogen von Plato (427 – 347 v. Chr.). Im Interview mit der Telepolis spricht Rinella über angereicherten Wein, gepflegte Saufgelage und die Auswirkungen der griechischen Philosophie auf die heutige Beurteilung ekstatischer Zustände.

Dr. Rinella, welche Bedeutung, welches Gewicht, maßen die Griechen der klassischen Periode dem Alkohol- und Drogenrausch bei?

Lassen Sie uns zunächst die Frage der Bedeutung betrachten. Es hat mich überrascht, dass viele Wissenschaftler/Analysten glauben, dass der Rausch kein Gegenstand regelmäßiger und geordneter ethischer Diskussionen war, nur weil das damalige Denken keine Theorie der Sucht kannte. Es wird teilweise argumentiert, dass die Griechen kein „Drogenproblem“ und in gewisser Weise keine bewusste Einstellung gegenüber Drogen hatten. Nun, das stimmt natürlich nur, wenn man in den Kategorien spezifischer Reaktionen auf freizeit- und genussorientierten Drogenkonsum denkt, die aber erst seit der industriellen Revolution etabliert sind. Analysiert man das griechische Denken allerdings in seinen originären Ausdrücken, so findet sich ein reicher Diskurs, der ähnlich komplex ist wie die antike Diskussion über Ernährung und Sex.

Und die Gewichtung?

Die ist genauso bedeutend. In der zeitgenössischen Marktwirtschaft wird nicht-produktiver Drogenkonsum als Krankheit problematisiert und ist Ziel juristischer Interventionen durch das Rechtssystem und medizinisch-therapeutischer Interventionen durch das Suchthilfesystem. Oder die beiden intervenieren gemeinsam, nicht zuletzt, weil sie beide eine Normalisierungsfunktion in der spätkapitalistischen Gesellschaft haben. Im antiken Griechenland wurde der substanzgebundene Rausch in erster Linie als ästhetisches Problem behandelt. Zumindest bis Plato, der die menschliche Psyche wesentlich besser durchschaute.

Was waren denn die Parameter, um den Rausch unter ästhetischen Gesichtspunkten zu betrachten? Und was hat Plato geändert?

Die zentrale Idee der Elite war es, im Rahmen der Symposien gebührend und weise zu trinken. Und mit „gebührend“ meinte man damals, sich einen Rausch anzutrinken. Erreichte man dies galt man unter seinesgleichen als aristokratisch, anständig und als ansprechendes menschliches Wesen. Die antiken Poeten sprechen ständig davon. Sich allerdings völlig von einer Substanz wie Wein davontragen zu lassen galt als flegelhaft, hässlich und unattraktiv. Und zwar aus folgenden Gründen: Auf der einen Seite galt es als unmännlich, es drohte den Krieger weichlich und weibisch zu machen. Auf der anderen Seite führte es zu anmaßendem Verhalten, zur Hybris, etwas, das in einer Kultur, die extrem auf Ehre und Schande und weniger auf Verantwortung und Schuld beruhte, als absolutes Tabu galt. Die hässliche Seite des Rausches wurde darin gesehen, der primäre Grund für Zerwürfnisse in der sozialen Gemeinschaft zu sein, die die Griechen als „stasis” ansahen. In der politisch aufgeladenen Atmosphäre nach dem Ende des peloponnesisches Krieges und dem Prozess und der Exekution von Sokrates führte Plato ein neues Denken über die Gründe für Zerwürfnisse und soziale Uneinigkeit ein. Beispielsweise nutzt er in seiner Schrift „Der Staat“ den Begriff „stasiazonta“ oder „im Rahmen der stasis“. Dies erlaubt es ihm, die Fragen nach dem Wert des Rausches neu zu stellen.

War denn das verbreiteste Rauschmittel der damaligen Zeit, der Wein, überhaupt mit unserem Wein vergleichbar?

Nein, überhaupt nicht, und das ist eine Quelle fortwährender Missverständnisse. Antiker Wein war häufig mit anderen Substanzen versetzt, eingeschlossen dem, was wir heute Freizeit- beziehungsweise Partydrogen nennen würden. Die überlieferten Aufzeichnungen geben ausreichend Zeugnis davon. Wie Carl A. P. Ruck und Andere entdeckten wurden diese Aufzeichnungen aber übersehen oder gar ignoriert. Mit den neuesten archeologischen Analysetechniken konnte mittlerweile die Existenz von anderen, psychoaktiven Substanzen im griechischen Wein nachgewiesen werden, so das dies heute unbestreitbar ist. Ich denke da speziell an die Werke des Anthropologen Patrick E. McGovern, wie beispielsweise „Ancient Wine“ (http://press.princeton.edu/titles/7591.html).

Zu welchen Gelegenheiten und wie oft tranken die Menschen Wein?

Viele Gelegenheiten wurden genutzt. Getrunken wurde in der Öffentlichkeit oder privat, in religiösen Kontext oder um sich zu erholen. Die begleitenden ethischen Regeln für den Konsum variierten mit der Situation. Beispielsweise war das Festival für den neuen Wein, das Anthesteria, ein öffentliches und religiöses Setting für das Trinken. Der Weinkonsum und die Opferriten vor den Theraterauführungen der städtischen Dionysien waren eher öffentlich und freizeitorientiert. Obwohl hier der Hohepriester von Dionysos in der ersten Reihe saß. Die Trinkgelage der Wohlhabenden während der klassischen Ära waren eher privat und erhohlungsorientiert, obwohl die dabei praktizierten [http://de.wikipedia.org/wiki/Trankopfer Trankopfer] einen religiösen Charakter hatten. Die Frage wie oft und wie stark die Menschen Wein tranken ist nach so langer Zeit schwer zu beantworten. Ich vermute aber, dass es anders ablief, als wir uns vorstellen. In Platos „Nomoi“ erwähnt der Spartaner Megillus beispielsweise, er habe die gesamte Einwohnerschaft von Tarentum während der Dionysien betrunken erlebt.

Führten Platos neue Ansichten zum Rausch zu einer neuen Sicht auf die Legitimität der Ekstase?

Sie wurden nahezu ins Gegenteil verkehrt. Viele von Platos Dialogen analysieren die hergebrachten, nicht-rationalen Methoden zur Wissens- und Autoritätserlangung. Das führte ihn zu neuen Einsichten bezüglich des Wertes von Rausch und Ekstase. Die antiken Griechen hatten ein Sprichwort das ungefährt lautete: „Im Wein und den Kindern liegt die Wahrheit“. Diese Sicht wurde von vielen Poeten hoch gehalten und gelobt, und deren kulturelle Autorität war groß, ebenso wie die von Platos Zeitgenossen aus der Oberschicht von Athen. Das Projekt der Philosophie war für Plato die Wahrheitsfindung durch rigorose intellektuelle Anstrengung, die zu Einsichten in das ewig Seiende führt. Für einen auf Ekstase, also auf dem Aus-sich-Heraustreten, beruhenden Pfad zur Weisheit war da kein Platz mehr. Es ist ein Wettbewerb zwischen der Philosophie und ihren Rivalen um die Vorherrschaft über den richtigen Weg zur Wahrheit.

Also sah Plato keinen Platz für die Ekstase in der zivilen Gesellschaft?

Da würde ich zwischen seiner Sicht auf die zivile Gesellschaft und die Politik unterscheiden. Auf der einen Seite ist Plato bedacht darauf nicht in den Gefilden zu wildern, die der Religion vorbehalten sind, so wie der Dionysos-Kult oder die Eleusinischen Mysterien. Den Vorwurf der Pietätlosigkeit wollte er vermeiden. Auf der anderen Seite steht er Rauschmitteln und Rausch recht skeptisch gegenüber und möchte diesen von so vielen Menschen wie möglich fern halten. In der politischen Sphäre sieht er zwar die Chance durch Dialektik, quasi wie eine religiöse Offenbarung, das ewig Seiende zu erkennen. Zugleich ist er skeptisch, das mehr als eine Handvoll von Auserwählten diese Stufe der Erleuchtung erreichen. Insgesamt sieht er wenig Nutzen für Ekstase, am Ende wird sie durch die Philosophie ersetzt.

Kann man behaupten, dass Platos Ansätze den Rausch zu domestizieren, die Grundlage für die westliche Drogenpolitik bilden?

Unbedingt, ja. Michael Foucault identifiziert Platos Dialoge korrekterweise als das Erdreich, das Treibmittel, das Klima und das Milieu, in dem eine Anzahl von spirituellen und intellektuellen Bewegungen keimten, wuchsen und über die nächsten zwei Jahrtausende gedeihten. Platos generelles Misstrauen und seine Ablehnung gegenüber dem Pharmakon, der Droge, erscheint in vielen historischen Texten wieder, so zum Beispiel bei Dion Chrysostomos und Clemens von Alexandria. Oder schauen Sie auf Immanuel Kants Metaphysik der Sitten. Wie Plato lässt er moderaten Weinkonsum zum Fördern gepfleger Konversation zu, aber für Rauschmittel, die das evozieren, was er „geträumtes Wohlbefinden“ nennt, hat er keine Toleranz. Die Individuen, die diese Drogen benutzen, schreibt Kant, sind weniger wert als Tiere, ihnen könnte die Anerkennung als Menschen aberkannt werden. Nun, Kants Einfluss auf die Moralphilosophie der letzten zwei Jahrhunderte ist unbestritten. Schaut man auf die Argumente gegen „Drogenmissbrauch“ in den Publikationen des frühen 20. Jahrhunderts, wie dem „American Journal of Mental Hygiene“, fällt die Übereinstimmung mit den Ansichten von Kant ins Auge.

Was sind die Nachteile dieser Sicht auf den Drogengebrauch?

Diese Sicht ist aus zwei Gründen fragwürdig. Erstens übersieht sie die historische Bedingtheit der Argumentation. Mit anderen Worten: Während der industriellen Revolution kamen Strategien zur Beantwortung der Fragen nach Ekstase und Identität auf, auch in Zusammenhang mit freizeitorientierten Konsum, die zur damaligen Zeit passten. Die Antwort auf die Fragen zu freizeitorientiertem Drogengebrauch werden in der post-industriellen Ära anders zu beantworten sein. Unsere heutige Drogenpolitik stammt allerdings noch aus der prä-industriellen Zeit. Um ein einfaches Beispiel zu geben: Wie wäre der Inhalt von Gesetzen zu „Fahren unter Drogeneinfluss“, wenn das Auto intellgent genug ist sich selbst sicher zu steuern? Durch die Fortschritte der KI ist das noch in diesem Jahrhundert möglich. Zweitens verstecken sich die Diskurse um „Drogenmissbrauch“ hinter wissenschaftlicher Fassade, in ihrem Kern sind sie aber phrasenhaft und polemisch. Sie agieren nicht im Dialog, sondern im Monolog, sie kapseln sich in Privilegien ein, deren Grundlagen sie nie kritisch hinterfragen lassen. Dem Drogenkonsumenten wird dabei das Recht aberkannt, für sich zu sprechen. Er oder sie wird zu einem Datensatz in der epidemiologischen Problemanalyse reduziert. Aber Mit einem Seuchenherd kann man keinen Dialog führen. Er ist eine Gefahr, ein Gegner, gegen den jede Maßnahme gerechtfertigt ist.

Gibt es Bedarf, die Ekstase in die Kultur zu reintegrieren?

Ja. Zum einen, weil es durchaus Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Wunsch, eine kurzzeitige Pause von der persönlichen Identität zu nehmen, keine Krankheit ist, die durch eine juristische oder therapeutische Intervention behandelt werden muss. Es ist vielmehr gebräuchlich in der Natur und sollte von uns als etwas angesehen werden, das vernünftig und gesund ist. Zweitens sind die Konsequenzen des Drogenverbots kostspielig, sowohl in monetärer als auch in humanitärer und demokratischer Hinsicht.

Warum sollte man psychoaktive Substanzen nutzen, es gibt doch genug andere Wege in den ekstatischen Zustand?

Würde man beispielsweise Cannabisprodukte legalisieren, so würden diese doch nicht die organisierten Religionen, das „Runners High“ oder das künstlerische Schaffen ersetzen. Die Menschen würden ihren Marathonlauf weiterhin genießen, religiöse Riten durchführen, um sich spirituell aufzuladen, den Nervenkitzel beim Musizieren erleben oder den Sturm beim Tanzen. Die Techniken zum Erreichen der Ekstase schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich. Sieht man das auf diese Weise, wird der genussorientierte Drogengebrauch zu einer weiteren Facette des ganz alltäglichen und normalen menschlichen Verhaltens.

 

Michael A. Rinella

Michael A. Rinella ist Dozent für Politische Theorie am Empire State College in New York und ehemaliger Cheflektor am Universitätsverlag State University of New York Press. Sein im Mai bei Lexington erscheinendes Buch „Plato, Drug Culture, and Identity in Ancient Athens“ examiniert die im antiken Griechenland aufkommenden Bestrebungen, ekstatische Zustände zu bändigen. Der Fokus des Buches liegt dabei auf den Dialogen von Plato.

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Klippel – Haschisch und Haschaschin aus den „Aegyptische Skizzen“

Haschisch und Haschaschin

Ägyptische Skizzen von Ernst Klippel (1910)

Ernst Klippel war ein großartiger Kenner der arabischen Welt, der diese jahrelang bereiste. Natürlich wußte er auch vom Haschisch zu berichten:

„Die türkische Regierung sowohl als die ägyptische haben nämlich in ihrer bekannten Sorge um das Wohl ihrer Untertanen den Anbau und den Verkauf des gesundheitsschädlichen Narkotikums strenge verboten.
Die selbstverständliche Folge des Verbotes war die Entwicklung eines grossartigen Schmuggelsystems. Die Pfiffe und Kniffe griechischer Händler, wenn es sich um einen Geldgewinn handelt, sind von jeher berühmt, und die ägyptischen Zöllner wissen ein Lied davon zu singen. Bald trifft eine Schiffsladung Brennholz in Alexandrien ein, und die findigen Beamten machen die betrübende Entdeckung, dass jedes Scheit ausgebohrt und mit dem verfehmten Genussmittel gefüllt ist, bald werfen harmlose Schiffer auf ihrer Fahrt durch den Suezkanal ganze Fässer voll der verbotenen Ware über Bord, die dann von unternehmenden Armeniern aufgefischt und geborgen werden. Doch sind seit der englischen Besatzung die Beamten wunderbar wachsam und abgefeimt; wohl an achtzig Prozent aller Schmuggeleien werden entdeckt. In jedem Falle wird das Haschisch beschlagnahmt und dazu noch eine hohe Geldstrafe auferlegt. Die konfiszierte Ware wird schliesslich gestempelt und dann – öffentlich meistbietend ins Ausland verkauft. Offenbar hat das vorher so gesundheitsschädliche Haschisch durch die Stempelung seine giftigen Eigenschaften verloren. Und auch der Fiskus profitiert alljährlich ein hübsches Sümmchen durch diese Konfiskationen, sowie durch die Razzias auf die Kaffeehäuser, wo dem verbotenen Genusse gehuldigt wird.

Was nun die gesundheitsschädliche Wirkung des narkotischen Krautes anlangt, so lässt sich allerdings nicht leugnen, dass ein übertriebener Genuss, namentlich bei unzureichender Ernährung, geradezu verheerend auf den Körper wirkt. Ich habe neulich die grosse Staatsirrenanstalt in Abbassieh bei Kairo besucht. Dort waren vier grosse Säle, angefüllt mit lauter Prinzen, Königen und Kalifen – wenigstens hielten sich die Leute selbst dafür -, alles frühere Handwerker, Arbeiter, Eseltreiber, welche sich durch übermässiges Haschischrauchen um ihren Verstand gebracht hatten. Indessen beweist mir jahrelange Beobachtung, dass ein mässiger und geregelter Genuss bei guter Ernährung nicht im geringsten schädlich wirkt. Die schlimmste Folge eines einmaligen Zuviel ist eine gewisse Trägheit und Abspannung am nächsten Tage. Viel kommt auch auf die Qualität des Narkotikums an. Das sogenannte yunany – griechische – ist viel schwerer und unzuträglicher als das feine aromatische schamy oder syrische. Früher war das balady oder einheimische ägyptische Haschisch berühmt, doch hat das Verbot des Anbaues, das seit mehr denn fünfundzwanzig Jahren im Nillande besteht, dem gewöhnlichen Sterblichen diesen Genuss unmöglich gemacht. Höchstens einige einheimische Granden und Feinschmecker dürfen es wagen, ein kleines Eckchen ihrer hermetisch abgeschlossenen Gärten mit diesem Zauberkraute zu bepflanzen.

Wie allgemein verbreitet der Haschischgenuss trotz aller Verbote heutzutage doch noch ist, lässt sich daraus ermessen, dass es in Kairo nicht weniger als mindestens dreihundert Kaffeehäuser gibt, in denen der Unsitte gefröhnt wird. Und zwar sind alle Schattierungen vertreten, von der elenden, schmutzigen Spelunke bis zum grossen Kaffeehause mit Garten, Springbrunnen und in sauberes Weiss gekleideten Dienern.

Haschisch ist eine Gottheit, der meist bei Nacht gehuldigt wird. Erst wenn der letzte Schein der Abendröte vom Himmel verschwunden ist und nachdem die mahnende Stimme des Muedsin die Gläubigen zum Nachtgebete gerufen hat, schleichen die Liebhaber des narkotischen Rausches der Stätte ihrer nächtlichen Vergnügungen zu. Vorsichtig verhüllt der ägyptische Grosskaufmann sein Haupt, ängstlich hält sich der Bey oder Pascha ein Taschentuch vors Gesicht, sobald sie hastig durch einen Nebeneingang ihr Lieblingskaffeehaus betreten. Es könnte ja jemand sie erkennen und dann würde ihnen der Name eines Haschasch ihr Lebenlang anhaften, ein Titel, der für orientalische Ohren etwa dasselbe bedeutet, wie Trunkenbold für die unsrigen. Bald herrscht dann ein reges Leben und Treiben im Gärtchen des Kaffeehauses. Die Gäste sitzen auf breiten, mit persischen Teppichen belegten Bänken, für den Kahwagy (Kaffeehauswirt) hat man noch ein Schaffell ausgebreitet, dessen Wolle mit der beliebten Hennah schreiend rot gefärbt ist. Mit untergeschlagenen Beinen sitzt er da, an eine Truhe von sorgfältig eingelegter Damaszener Arbeit gelehnt, der grosse Gafaw, dessen Kaffeehaus als das beste von ganz Kairo gilt. Ein kleiner Mann mit klugen, braunen Augen. Die zahllosen Falten und Fältchen seines pergamentenen Gesichtes bekunden, wie sehr er gelebt, geliebt, genossen das irdische Glück.

Um ihn und neben ihm gruppiert sich der Kreis der Stammgäste: Da ist Sid Fatih, der Aelteste der Gewürzkrämer des Bazars, eine Art ägyptischer Beau-Brummel in prachtvollen Seidengewändern, da ist ferner Ibrahim Bey, der einmal in Konstantinopel war und dessen eifrigstes Bemühen es seitdem ist, die steife Grandezza und erkünstelte Würde der grossen türkischen Seigneurs täuschend nachzuahmen. Da ist Abu el-Fadl, ein Europäer, der aber mit dreissig Jahren die reformierte Kirche verlassen und sich zum Islam „bekehrt“ hat; ein Sonderling, der die Sitten und Gebräuche des Ostens praktisch studiert, sich einen bescheidenen Harem hält und bereits zum Grabe Alys gepilgert ist. Da hockt der Pilger Yaha, ein frommer Schneider, der dreimal schon zum „Hause Gottes“ nach Mekka gewallt ist. Jedesmal schwor er sich, nach seiner Rückkehr dem verbotenen Kraute zu entsagen, und jedesmal brach er seinen Schwur. Da ist ferner der feiste Ferid Effendi, ein schlimmer Jüngling aus alter Familie, ein Wüstling, dem man böse Laster nachsagt. Einige geschwätzige Kopten, ein schäbiger Schriftgelehrter mit mächtigem Turbane, der Possenreisser des Kreises und einige Orientalen niederer Bedeutung vervollständigen die Gesellschaft.

Jeder Gast erwirbt bei seinem Eintritte vom Wirte einige Stücke (tamyrah) des schokoladenfarbigen Harzes, von denen je eines zur Füllung einer Pfeife ausreicht. Diese Pfeife (gosah) besteht aus einer halb mit Wasser gefüllten Kokosnussschale, in die ein, etwa eineinhalb Meter langes, ausgehöhltes Zuckerrohr gesteckt ist, ein zweites, ganz kurzes Ebenholzrohr trägt senkrecht den Pfeifenkopf aus gebrannter Tonerde. Seines strengen Geruches wegen raucht man Haschisch nie allein, sondern auf einer Unterlage, bestehend aus einem Gemisch von Honig und einem schwarzen, schweren Tabak, dem Hassan Kef. Auf diese Unterlage wird ein Würfelchen des hartgetrockneten Harzes gelegt, einige glühende Holzkohlen darauf getan und die Pfeife ist bereit. Ein Diener – in der Regel wählt man dazu schöne Knaben, schlohweisse Tunesier oder Türken – reicht die brennende Pfeife im Kreise herum, jeder Gast tut zwei oder drei tiefe Züge, den kühlen, aromatischen Rauch dabei in die Lungen einziehend und dann eine gewaltige Rauchwolke durch die Nase ausstossend. So folgt Runde auf Runde und bald beginnt sich die Wirkung des betäubenden Genussmittels in dem Benehmen und auf den Gesichtern der Raucher zu zeigen.

Der Einfluss des Narkotikums ist je nach Temperament des Rauchers und der Grösse der genossenen Dose und der Art ihrer Zubereitung ein ganz verschiedener. Nach den ersten Zügen schon bemächtigt sich ein angenehmes Wohlgefühl des ganzen Körpers, eine Art süsser, wollüstiger Müdigkeit, dabei steigert sich die Tätigkeit des Gehirns, ganze Gedankenreihen werden blitzschnell durchdacht, geistige Bilder von seltener Schärfe und Lebhaftigkeit wechseln in kaleidoskopischen Reigen. Bei vorgeschrittenem Stadium des narkotischen Rausches stellt sich eine gewisse Geschwächtheit ein, das Bedürfnis zu reden um jeden Preis, dazu eine Neigung zu unmotiviertem Lachen. Es ist das der risus sardonicus, das kalte, rein körperliche Lachen, ohne seeelische Ursache.
In diesem Stadium lieben es die Raucher, sich an den berüchtigten schlüpfrigen Erzählungen des Orients zu ergötzen, Erzählungen, im Vergleich zu denen die Anekdötchen des Pester Caviar eine elende Spielerei sind.

Aber auch auf das Sexualsystem hat der Haschischgenuss eine belebende Wirkung. Frauen ziehen das Geniessen des Haschisch dem Rauchen fast immer vor, denn es gibt davon auch in Form von harmlos aussehenden Kuchen, Zuckerbohnen, Pillen und Getränken. Auch als dünne Stäbchen, die man in Zigaretten steckt, verschmähen die listigen Haremsschönen seinen Genuss nicht. Sie sind es ja auch nur allzu häufig, die ihre Männer dazu ermuntern.

Wird aber das Rauchen zu weit getrieben, so stellen sich leichte Vergiftungserscheinungen ein: der Blick wird starr und ausdruckslos, die Sprache schwer und lallend, im Gegensatz zur Alkoholvergiftung sinkt der Pulsschlag beträchtlich, und der Berauschte verfällt in einen bleiernen Schlaf.
Der erste Zustand ist der verführerischste, der Geist scheint gleichsam vom Körper losgelöst, wir empfinden ein Gefühl der Leichtigkeit und Unkörperlichkeit, welcher unwillkürlich die Illusion des Fliegens und Schwebens, wie auf purpurnen Aetherwellen, hervorruft. Erhaben ob Raum und Zeit empfinden wir die im Fluge verstreichenden Stunden wie ebensoviele Minuten. Regungslos, sprachlos sitzt der Raucher da, im stummen Glücke. So tief ist er in sich selbst versunken, dass er bei jeder Berührung durch die Aussenwelt wie in tötlichem Schrecke auffährt: Der übertriebene Haschischgenuss erzeugt ein unheimliches Angst- und Furchtgefühl.

Dem schon genannten Abu el-Fadl fiel einmal inmitten seiner Träumereien eine grosse schwarze Bohne aus dem geheimnisvoll rauschenden Blättergewirr in den Schoss. Der Träumer schaute die harmlose Frucht einen Augenblick verstört an, dann stiess er einen grauenvollen Angstschrei aus, rannte taumelnd einige Schritte und brach dann zusammen. Man brachte ihn bald wieder zur Besinnung und seine erste Frage war: „Der Skorpion, ist er tot?“ Er hatte in seinem narkotischen Rausche die Bohne für einen jener totbringenden Skorpione gehalten, die gelegentlich in menschliche Wohnungen dringen.
Man wandelt eben nicht ungestraft unter Palmen, und das Glück ist ein flüchtiger Schatten, es lässt sich nicht für ein paar Piaster kaufen.“

 

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Rezensionen

Rezension Korf: Cannabis in Europe

HanfBlatt Nr. 118

Cannabis in Europa

Die vorliegende vom niederländischen Kriminologie-Professor Dirk Korf zusammengestellte Sammlung wissenschaftlicher Studien zum Thema Cannabis ist der erste Band einer geplanten Reihe der „European Society for Social Drug Research“. Diese wurde 1990 gegründet und trifft sich jährlich zu Kongressen. Im Oktober 2007 beschäftigte man sich in Warschau mit Cannabis-Fragen. „Cannabis in Europe“ versammelt interessante Arbeiten der Teilnehmer.
Korf und Vuillaume bieten einen Einstieg in die Geschichte und Schwerpunkte der Cannabis-Forschung. Demnach sind immer noch sehr viele Fragen offen.

Eine Autorengruppe berichtet vom Umgang mit Cannabiskonsumenten in dänischen Gefängnissen. In Dänemark hat man in den letzten Jahren eine Kehrtwende weg von einer eher liberalen Drogenpolitik zu einer repressiven Gangart gemacht. In den Gefängnissen versucht man im Rahmen einer „Null Toleranz“-Politik die Insassen durch Drogentests zu kontrollieren. Cannabiskonsumenten haben wie Drogenabhängige Anspruch auf eine therapeutische Behandlung. Sie selbst zeigen sich meist wenig einsichtig bezüglich ihres Konsumverhaltens. Bei chronischen Langzeitkonsumenten, die bereits jung angefangen haben täglich zu konsumieren, meint man Reifungsverzögerungen, Schwarz-Weiss-Denken und paranoide Züge erkennen zu können. Allerdings scheint es den reinen Kiffer kaum zu geben. Fast alle regelmäßigen Cannabis-Konsumenten konsumieren demnach auch andere Drogen, mit denen sie meist mehr Schwierigkeiten haben. Man bietet im Knast Verhaltenstherapie an und setzt auf Psychopharmaka zur Linderung der vermeintlichen Symptome eines Cannabisentzugs.

Auch in den Niederlanden hat man sich für eine härtere Gangart in Sachen Hanf entschieden, was Marije Wouters dokumentiert. In den Jahren 2005 und 2006 wurden jeweils 6000 Cannabis-Zuchtanlagen ausgehoben und 2,7 bzw. 2,8 Millionen Hanfplanzen vernichtet. Der Kilopreis von Gras mittlerer Qualität stieg von etwa 2800 Euro auf 3500 Euro. Der Abbau von Pflanzanlagen, für den sich die Polizei zu Schade ist, ist für einige Privatunternehmen zu einem lukrativen Geschäft geworden. Auch die Elektrizitätsunternehmen arbeiten an der Lokalisierung von Zuchtanlagen mit, weil in vielen Fällen illegal Strom abgezweigt wird. Den Überführten flattern dann zusätzlich zu den durch Beschlagnahmungen, Geldstrafen und Steuerforderungen entstehenden Kosten auch noch hohe Stromnachforderungen ins Haus bzw. in den Knast. Eine kostenlose anonyme Denunzianten-Hotline wurde von staatlicher Seite aus eingerichtet. Hier haben Nachbarn Gelegenheit ihre Streitigkeiten auszutragen. Konkurrenten auf dem Cannabis-Markt erhalten die Möglichkeit ihre Gegner ganz legal auszuschalten. Immerhin wurden 2006 infolge der eingegangen Tips 753 Menschen verhaftet und 210.000 Pflanzen beschlagnahmt. Die Hotline mit der massenhaften Denunziation von Prohibitionisten zu beschäftigen, auf die Idee scheint dort noch niemand gekommen zu sein.

Diese Politik spielt natürlich skrupellosen Geschäftemachern, wie den Vertreibern von am Menschen ungetesteten Chemikalien als Cannabisersatz, und insbesondere dem organisierten Verbrechen in die Hände. Nur dieses verfügt über das entsprechende Kapital und die Logistik auf den Verfolgungsdruck zu reagieren, indem es die von Strohmänern betriebenen aufgeflogenen Anlagen abschreibt oder die Produktion ins benachbarte Ausland verlagert.

Über den Cannabisanbau-Boom in Belgien berichtet Decorte. Dort produzieren Selbstversorger ihr eigenes Gras, weil sie nur so sicher sein können, welche Qualität das von ihnen und ihrem Umfeld konsumierte Produkt hat. Auf der anderen Seite stehen die Zulieferer für den holländischen Coffeeshop-Markt. So manch eine Blüte wird auf diesem Umweg wieder zurück nach Belgien transportiert.

Auch in Großbritannien, wo man in Sachen Cannabis ebenfalls vor Kurzem eine Kehrtwende in Richtung Repression gemacht hat, boomt der Anbau unter Lampen, worüber Potter schreibt („Garry“ wohlgemerkt). Das heimische Produkt beginnt die klassische Importware sukzessive zu ersetzen. Gemessen an der Zahl der beschlagnahmten Pflanzen (für 2005 etwa 208.000) hinkt der Anbau noch weit hinter den holländischen Unternehmungen hinterher.

Werse hat in Frankfurt am Main Untersuchungen zum Cannabismarkt angestellt. Demnach läuft die Versorgung größtenteils im privaten Bereich über Freunde oder vornehmlich ihren eigenen Konsum finanzierende Wohnungsdealer. Über den mit qualitativ minderwertigerer und teurer Ware sowie mit Abziehrisiken assoziierten Strassenhandel durch türkischstämmige oder nordafrikanische Dealer versorgen sich dagegen eher Ortsfremde oder Kunden ähnlicher Herkunft.

Stevenson hat sich den Cannabishandel in Nordirland aus Konsumentenperspektive angeschaut. Dort sind Dealer und Konsumenten neben dem Risiko strafrechtlicher Verfolgung auch noch der Willkür katholischer und protestantischer Paramilitärs ausgesetzt, die zwar selbst in alle möglichen Arten krimineller Aktivitäten involviert sind, sich aber in ihren Wohnvierteln gegenüber sozialen Abweichlern als Richter und Vollstrecker mittels Knieschüssen und Morddrohungen aufspielen.

Freya Vander Laenen und Eveline De Wree haben analysiert, warum die Drogenprävention in Sachen Cannabis bei gefährdeten Jugendlichen so uneffektiv ist. Besonders auf Angst vor der Sucht basierende Anti-Drogen-Botschaften gehen bei den Betroffenen nach hinten los. Drogenprävention ist bekanntlich bei Politikern beliebt, weil sie sich damit den Mantel scheinbarer Aktivität überwerfen können. Die bereitgestellten Pfründe locken wiederum akademische Theoretiker, die sich immer neue Konzepte von fragwürdigem Nutzen ausdenken können, sowie SozialarbeiterInnen, die von der frustrierenden Frontarbeit mit Suchtkranken unter den realen Bedingungen der Prohibition genug haben und sich lieber auf dem Abenteuerspielplatz der Drogenprävention tummeln.

Sarosi und Demetrovics erzählen von der Situation in Ungarn, einem traditionellen Anbauland für Faserhanf und Mohn, das in den 90er Jahren einen gewissen Rauschhanfboom erlebte, drogenpolitisch aber zur Jahrtausendwende unter die Hardliner geriet. Man versuchte sogar Konsumenten, die sich blauäugig gegenüber den Behörden zu ihrem Konsum bekannt hatten, wegen eines hochgerechneten Lebensverbrauchs an Cannabis zu bestrafen. Es gibt zwar eine mutige aktive Opposition von Bürgerrechtlern (die HCLU), die mit einer Reihe von Aktionen (z.B. Urinprobe an den Premierminister) auf das drogenpolitische Elend aufmerksam machte, doch Großrazzien auf Tanzclubs mit zwangsweisen Drogentests in den vergangenen Jahren sprechen nach wie vor die Sprache der Repression. Die protestierenden Stimmen nicht nur von Bürgerrechtlern, sondern auch von mit den Folgen der Prohibition unmittelbar konfrontierten Gesundheitsarbeitern wären dort wie hier dringend gefragt.

az

Dirk J. Korf (ed.)
„Cannabis in Europe:
Dynamics in Perception, Policy and Markets.“
Lengerich 2008
www.pabst-publishers.com
174 S., in Englisch
ISBN 978-3-89967-512-2

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Historische Texte

Ein Haschischrausch im Sommerloch

Ein Haschischrausch im Sommerloch

von Philipp Berges (ca. 1895)

Philipp Berges war ein 1863 in Lübeck geborener deutsch-jüdischer Journalist und Redakteur, der zeitweise in den USA arbeitete und später in Hamburg lebte. Ende des 19. Jahrhunderts schrieb er die „humoristische Skizze aus dem amerikanischen Leben“ „Ein Haschischrausch“ über einen hanebüchenen Trip mit einer Rauschhanf-Tinktur.

„In den weiten Räumen der Redaktionsoffice war es still geworden. Drückend lastete die Schwüle der Hundstage auf allen Gemütern und verwandelte die „verantwortlich-redaktionellen“ Gehirne in ebenso viele Treibhäuser voll strahlender, exotischer Gewächse, welche die tollsten Blüten trieben.“

Burn-out bei den Redakteuren – da erschien der Chefredakteur, der „Häuptling“, mit einer genialen Idee:

„Sie sollen dem Blatt ein Opfer bringen, ein Rauchopfer…fort, sage ich, in eine Opiumhöhle, damit wir morgen die Wirkungen dieses Giftes auf den Raucher schildern, seine Träume, seine Illusionen, seinen Katzenjammer-…“…
„Aber finden Sie nicht, daß das Opium denn doch ein etwas, nun, sagen wir, „abgedroschener“ Stoff ist?! Wie wär`s mit einem Rausch in dem berühmten indischen Ha-“
„Ha-?“
„Ha-sch-“
„Haschisch???“ schrie der Häuptling.
„Jawohl, Haschisch!“
„Ah! Großartig, herrlich, immens, kolossal, unbezahlbar!…Eilen, laufen, fliegen Sie, opfern Sie sich auf dem Altar des Tagesschrifttums…““

Und los ging`s:

„Nur noch wenige Minuten trennten mich von dem großen, weltgeschichtlichen Augenblicke, der mich – ein unschuldiges Opferlamm auf dem Altar des Tagesschrifttums – in den Rachen des grauen Moloch „Haschisch“ verschwinden sehen sollte.
Nach endlosen Irrfahrten durch New York und Brooklyn war es mir gelungen, den aus den Blütenschwänzen des indischen Hanfs gewonnenen Zaubertrank zu erlangen – gerade genug, wie der Apotheker sagte, um damit einen kapitalen Rausch anzustiften, mit dem man sehr vorsichtig umgehen müsse. Vorsichtig? Jawohl, denn die Wirkung sei in Bezug auf den Zeitpunkt ihres Eintritts ganz unberechenbar und verleite überdies nicht selten zu allerhand tollen Unternehmungen. Ich hatte also dementsprechend meine Vorbereitungen getroffen.
Nun saß ich in einer Sofaecke meines eigenen trauten Junggesellenheims und überschaute noch einmal mit erzwungener Kaltblütigkeit das Schlachtfeld. Die Thüre hatte ich zugeschlossen und den Schlüssel stecken lassen. Im Zimmer herrschte angenehme Dämmerung… Vor mir auf dem Tische stand in hellem Glase das berauschende Gift, daneben eine Flasche frischen Wassers; zur Rechten lag ein Kästchen mit Zündhölzern, zwei Bleistifte und einige Blatt Papier, zur Linken ein verschlossenes Couvert mit Briefen, Notizen und letztwilligen Verfügungen. Alles überragend aber stand in der Mitte des Tisches eine aufs genaueste geregelte Uhr…Wie würde die Wirkung sein? Würde es mich ohnmächtig niederwerfen – ?…Mit einer hastigen Bewegung der Hand gieße ich den Trank in mein Inneres herab – – – –
Ein süßlicher Geschmack verbreitet sich in meinem Munde, über die Zunge, den Gaumen, und steigt prickelnd in das Geruchsorgan empor. Gleich einem Strome flüssigen Feuers scheint der Zaubertrank in mein Inneres herabzurinnen. Der Zaubertrank?! – – – Alles bleibt still und unverändert. Keine Wirkung. Nicht die leiseste.“

Schließlich fing er an zu deklamieren, erst den neunten Gesang der „Odyssee“, dann in freier Rede seine Betrachtungen zu einem „Rückblick aus dem Jahre 2000“. Ob seiner geistigen Klarheit kam er zu dem Schluss:

„Ich bin das Opfer eines Betruges, der Apotheker hat, um den ungestümen Dränger loszuwerden, harmloses Zuckerwasser, Brausepulver oder, ich weiß nicht was sonst, in die Flasche gegossen und ich, der Angemeiertste aller Staubgeborenen, habe es für Haschisch getrunken – – -“

Eine volle Stunde war verflossen. Er zog sich an und verließ das Haus:

„Hm, und wenn die Wirkung später doch noch eintritt, auf offener Straße etwa?! – – Pah! Hatte ich nicht meine Legitimation und eine Reihe blinkender Dollars, ganz abgesehen von den papierenen, in der Tasche?! Vorwärts!!
Im nächsten Augenblick wurde die Thüre geräuschvoll verschlossen und die Treppe hinab schritt pfeifend ein ansehnlicher junger Mensch.
Dieser ansehnliche junge Mensch war ich. Ich – haha! der haschisch-vergiftete Redakteur!“

Mit der Hochbahn fuhr er „downtown“ um doch noch etwas Berichtenswerteres als „Stoff“ für sein Blatt zu erleben „als den elenden Haschischrausch“. Da erfasste ihn „ein gewaltiger Hunger“, den er „als eine Folge des verschluckten Giftmischerproduktes betrachtete“ und trat ins nächstbeste Restaurant um Steak und Kaffee zu bestellen. Plötzlich wurde die Frau in einem Reklamebild lebendig:

„Entsetzt sprang ich auf und blickte in die Höhe. Täuschung! Nichts regte sich, das blanke BIld schaute lächelnd zwar, doch unbeweglich, starr auf mich nieder. Langsam glitt ich zurück in meinen Sessel und stützte den Kopf in die Hand, um noch einmal in fieberhafter Anstrengung hinabzuhorchen in mein Inneres. Ja, jetzt regte es sich; wie mit Geisterhänden begann es mich zu umspinnen. Langsam schien eine fremde Gewalt auf mich niederzusinken – – es war, als ob ich selbst bescheiden zurücktrete, ganz zurück in den schattigen Hintergrund, und ein anderer Besitz nehme von dem Gebilde aus Fleisch und Blut, das meinen Namen trug. Und dieser andere war stark, wild, launenhaft, kampfesmutig – – auf und ab rollte und zuckte es durch meine Nerven. Mein Hunger schien plötzlich verschwunden; die Leere in meinem Magen, die sich eben noch zum Abgrund erweitern zu wollen schien, war bis zum Rande ausgefüllt.
Und während diese seltsame Verwandlung in meinem Wesen vor sich ging, stand mein altes, eigenes Selbst immer noch still im Hintergrund, geistesscharf beobachtend, nachdenkend; erfreut und ängstlich zugleich, und der Dinge harrend, die da kommen sollten. O, heiliger Apotheker, erhabener Freund der Gerechtigkeit, verzeihe mir die übereilten Anklagen! Dein Trank wirkt gut. Schon bin ich nicht mehr ich selbst, bin berauscht, behext, mein Wesen hat sich in zwei geteilt. O, wäre ich zu Hause geblieben, zu Hause in der sicheren Sofaecke.“

Er brach spontan auf:

„Wohin jetzt?! Gleichviel – nur vorwärts! Hurra! Die ganze Welt liegt offen. Nur vorwärts!
Summend, trällernd, pfeifend schritt ich den Broadway aufwärts, und meine Tritte hallten donnernd von den Wänden zurück. Jetzt bog ich in eine westliche Seitenstraße ein. Ein baumlanger Kerl von rowdymäßigem Aussehen, der (mit Recht) glauben mochte, ich befände mich unter dem Einfluß eines berauschenden Getränkes, stellte sich mir in den Weg. Ich prügelte ihn weidlich durch und schritt trällernd weiter, während am anderen Ende der Straße einige durch das Geräusch des Kampfes angelockte Blaujacken erschienen.
Ohne zu wissen, wie ich eigentlich hingekommen, fand ich mich nach einer Weile am „Abfahrtspeer“ der Hobokener Fährdampfer.“

Impulsgesteuert beschloss er nach Europa zu fahren, kaufte einen Fahrschein und enterte das Schiff. Dort nahm er sich eine Kabine und verfiel in Schlaf. Doch beim Erwachen stellte er erschüttert fest, dass er sich in einem Zug auf dem Weg zu den Niagarafällen befand:

„Aber trug denn ich die Schuld? Nein, es war ja die fremde Macht, die diese Verwirrungen angestiftet hatte, die starke Gewalt, die jetzt für mich dachte und handelte, der Geist des Haschisch, der mich fest in seinen Krallen hielt.
Allein der eigentliche Rausch war vorüber, das fühlte ich wohl. Zwar leitete der fremde, ungestüme Geist noch meine Handlungen, aber ich sah, hörte mit offenen Augen und Ohren, begriff, urteilte klar und scharf, lebte wieder in der Wirklichkeit.“

Die folgenden Wochen verweilte er bei den Fällen:

„Der besorgten Redaktion meiner Zeitung hatte ich schon wenige Tage nach meiner Ankunft über die Haschischirrfahrt Bericht erstattet und an meinen Brief das Ersuchen geknüpft, die kommenden Wochen als meine Sommerferien betrachten zu dürfen, da ich wider Willen nun doch einmal unterwegs sei.“

Dies wurde ihm zugestanden. Unterdessen hatte er sich bereits heftig in eine russische Fürstin verliebt:

„Zuweilen, wenn ich auf unseren einsamen Ausflügen neben ihr saß, überkam mich wieder der alte, traumhafte Zauber des Haschischrausches. Dann glaubte ich die Frühlingsgestalt mit dem blonden Haar und den blauen Augen wieder zu erkennen, die in jenem kleinen Restaurant am Broadway Miene machte, aus dem Reklamebild zu mir herabzusteigen.“

Der Chefredakteur schrieb ihm wochenlang genervte Briefe, doch:

„Nichts zog mich zur Arbeit, zum Schreibtisch…Ging ich dem Wahnsinn entgegen? Stand ich noch immer unter dem Einfluß der vielleicht übergroßen Dosis des Haschisch, oder war es nur meine wahnsinnige Liebe, die mich zu ihrem Sklaven machte?!“

Schließlich wurde er entlassen. Als er dieses Opfer seiner Geliebten mitteilen wollte, musste er feststellen, dass diese überraschend abgereist war. Verzweifelt beschloss er, sich von der Niagara-Brücke in den Tod zu stürzen:

„Ein wilder Hilfeschrei entströmte meinen Lippen und brach jäh ab. Heftig fuhr ich empor – erwacht vom Schall meiner eigenen Stimme.
Alles still um mich her, kein rauschendes Wasser, keine zackigen Felsenriffe. Ich bin gerettet. Aber wo, wo bin ich?…Ich befinde mich in meinem eigenen Zimmer, sitze noch immer in der sicheren Sofaecke! Vor mir auf dem Tische steht noch alles in gehöriger Ordnung…seit dem Verschlucken des Zaubertrankes ist der Zeiger nur um zehn Minuten vorgerückt…Tausend Empfindungen, Gefühle, Leidenschaften, unzählige Gedanken und Handlungen, die Zeitdauer von Monaten, mit ihren Leiden und Freuden, habe ich durchlebt in zehn Minuten!! Nur eins vermisse ich – das leere Haschischglas. Ah – hier ist es. Es liegt, in tausend Scherben zersplittert am Boden – – – – –
Verehrter Herr Chefredakteur!
Hier ist nun die Haschischgeschichte, von welcher Sie sich so viel versprochen. Sie sehen, es ist auch nichts besonderes geworden. Zwar ein „echtes Kind meines phänomenalen Verstandes und meiner äquatorialen Phantasie“ (Ihre eigenen Worte, großer Häuptling), wird es mich doch nur auf höchstens acht Tage unsterblich machen. Nun, nicht ich, sondern der Haschischteufel trägt die Schuld, dessen Einflüsterungen ich genau aufgezeichnet habe…“

 

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Drogenpolitik Gesundheitssystem Interviews

Zur Neurobiologie der Alkoholabhängigkeit

Interview mit dem Suchtforscher Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie der Berliner Charité. Heinz gilt als einer der führenden Experten für Alkoholabhängigkeit in Deutschland.

An den Folgen ihres übermäßigen Alkoholkonsums sterben alleine in Deutschland jährlich rund 40.000 Menschen. Bei einem hohen Anteil der Alkohol-Konsumenten in der Bevölkerung steigt auch der Anteil derer, die mit der Droge Alkohol nicht umgehen können. Trotzdem der Alkoholismus seit Jahrhunderten bekannt ist, bleibt seine Therapie schwierig: Über die Hälfte der Abhängigen erleiden meist mehrere Rückfälle.

Seit einiger Zeit erlauben die bildgebenden Verfahren der Kernspintomographie Einblick in das Gehirn von Alkoholabhängigen, die Wissenschaft erhält Einsichten in die neuronalen Grundlagen der Sucht. Das wissenschaftliche Modell der Wirkung des Alkohols ist komplex: Alkohol stimuliert das sogenannte „Belohnungssystem“ im Gehirn, eine evolutionär alte Instanz, die dafür sorgt, dass Menschen wesentliche Erlebnisse nicht vergessen und auch wiederholt ausführen. Ein Schnaps führt zu einer erhöhten Ausschüttung des Botenstoffes Dopamin, einem der wichtigen Neurotransmitter. Die Folge: man entwickelt Verlangen nach mehr Alkohol. Ebenfalls freigesetzte körpereigene Opiate, die Endorphin, sind für die guten Gefühle beim Alkoholkonsum zuständig. Provoziert man die positiven Gefühle nun häufig und immer wieder, prägt sich das Hirn die Verknüpfung von gutem Gefühl und dafür eingesetzter Substanz ein.

Interessanterweise sind die Andockstellen für die Opiate, die Opiatrezeptoren, bei alkoholabhängigen Patienten im Belohnungssystem eher erhöht, so dass der Alkohol besonders stark wirken könnte. Umgekehrt sucht das Gehirn nach Ausgleich zu der ungewohnten Dopamin-Ausschüttung und reduziert seine Empfangseinheiten, genauer gesagt die Rezeptoren, wo die Dopamin-Reize eintreffen. Dies hat zur Folge, das die Wirkung des Alkohols nachlässt, immer größere Dosen werden benötigt, damit man sich berauscht fühlt.

Weitere Prozesse kommen zum Tragen: Die Moleküle des Alkohols setzen an den GABA(A)-Rezeptoren des Hirns an, genauer gesagt ist eine relativ kleine Tasche, die durch 45 Aminosäuren gebildet wird, mit dafür zuständig, dass Alkohol als sedierend empfunden wird. Der dauerhafte Genuss von Spirituosen aber auch „weicheren“ Alkoholen führt zu einer Verminderung dieser Rezeptoren. Viel und oft getrunkener Alkohol blockiert zudem die Signal-Übertragung am NMDA-Rezeptor, der den Transport eines weiteren Neuotransmitters, des Glutamats, regelt. Auch dies führt dazu, dass zunehmend mehr Alkohol konsumiert werden kann, ohne das eine starke Ruhigstellung des Konsumenten erfolgt. Die Folge: Er oder sie kann trinken, ohne sediert zu sein, eine Erhöhung der Dosis ist oft die Folge, der Schritt in den Kreislauf der Sucht ist getan.

Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie der Berliner Charité, gilt als einer der führenden Experten für Alkoholabhängigkeit in Deutschland. Im Gespräch erläutert Heinz die Wirkung verschiedener psychoaktiver Substanzen auf das Gehirn, warum die Alkoholabhängigkeit so schwer zu therapieren ist und ob Medikamente gegen die Sucht helfen können.

Frage: Lange Zeit unterschätzt bei der Ausbildung einer Alkoholabhängigkeit wurde die körperlich bedingte Fähigkeit viel zu trinken ohne am nächsten Morgen den berühmten „Kater“ zu haben. Welche neuronalen Grundlagen hat dieses Phänomen der Trinkfestigkeit? Wie viel Prozent der Deutschen sind davon betroffen?

Andreas Heinz: Es gibt keine scharfe Grenze, aber je „trinkfester“ eine Person ist, desto eher neigt sie dazu, zu viel Alkohol zu konsumieren. Dies gilt für Jugendliche wie für junge Erwachsene, und für Männer ebenso wie für Frauen. Eine neurobiologische Grundlage ist im jeweiligen Zustand des Botenstoffsystems zu suchen, das nach dem Transmitter Serotonin benannt ist. Besonders „trinkfest“ ist, wer genetisch bedingt oder auch nach einer ausgeprägten Stresserfahrung über relativ mehr Serotonin-Transporter verfügt, wer also Serotonin nach Freisetzung sehr schnell wieder in die Nervenzellen aufnehmen, sozusagen „recyceln“ kann. Dann ist nämlich die über die GABA(A)-Rezeptoren vermittelte sedierende Wirkung des Alkohols vermindert.

Frage: Existiert eine Qualitäts-Reihenfolge der Wirkmächtigkeit verschiedener Substanzen auf das Belohnungssystem? Wie aktiviert beispielsweise Alkohol dieses System im Vergleich zu Kokain?

Andreas Heinz: Alkohol erhöht die Dopaminausschüttung um etwa 50-100%, Kokain um circa 1000%, ist also viel stärker wirksam. Die Alkoholwirkung befindet sich im Bereich weiterer Drogen, wie Nikotin oder die Opiate. Auch neuartige Reize wie ein ungewohntes gutes Essen steigern die Dopaminausschüttung, diese nimmt aber beim erneuten Essen schnell ab: man „gewöhnt sich“ beziehungsweise habituiert. Das ist bei Alkoholkonsums wie beim Konsum aller anderen Drogen nicht der Fall. Sie wirken also ungewöhnlich lange beziehungsweise immer wieder neu, man spricht deshalb auch davon, dass sie das Belohnungssystem „kidnappen“.

Frage: Trotz ausgedehnter Erforschung der Alkoholsucht ist eine Therapie derselben äußerst schwer, die Rückfallquoten sind hoch. Woran liegt das aus neurobiologischer Sicht? Und kann man den Anteil bestimmen, den diese körpereigenen Prozesse gegenüber sozialen Faktoren haben?

Andreas Heinz: Die Folgen jahrelangen Alkoholkonsums auf das Nervensystem lassen sich nicht einfach in wenigen Therapietagen revidieren oder durch neue Lernerfahrungen überlagern. Hier hilft nur eine mehrdimensionale Therapie, die eine Beratung, Psycho- und Soziotherapie, Fragen der Lebensgestaltung, Selbsthilfegruppen und eine zusätzliche medikamentöse Rückfallprophylaxe beinhaltet. Soziale Faktoren wirken sich ja auf das Organ Gehirn aus, so dass die Trennung zwischen körperlichen und seelischen Prozessen künstlich ist. Die messbare Reaktion des Gehirns auf Alkoholreize erklärt beispielsweise etwa die Hälfte des Rückfallrisikos in den folgenden Wochen, die Reaktion selbst wird aber natürlich durch Lernvorgänge, Stressfaktoren, Folgen chronischen Alkoholkonsums und einiges mehr beeinflusst.

Frage: Die Übererregung des zentralen Nervensystems im Alkohol-Entzug, die sich durch die sogenannte Entzugserscheinung manifestiert, kann durch Medikamente wie Benzodiazepine abgeschwächt werden, gelernte Entzugserscheinungen wahrscheinlich durch Acamprosat. Gibt es weitergehende Ansätze die Hirnchemie so zu verändern, dass nicht nur Entzugserscheinungen, sondern auch andere neuronale, suchterhaltende Prozesse verändert werden? Was sind die Probleme bei der Entwicklung von Medikamenten dieser Art?

Andreas Heinz: Acamprosat beeinflusst einen Rezeptor für den erregenden Botenstoff Glutamat und wirkt wahrscheinlich am stärksten auf gelernte Entzugserscheinungen: das Gehirn erwartet Alkohol, reguliert dagegen und wenn kein Alkoholkonsum erfolgt, kommt es zu konditionierten Entzugserscheinungen, die den Patienten in den Rückfall treiben können. Naltrexon blockiert Opiatrezeptoren und kann so die angenehmen Wirkungen des Alkoholkonsums abschwächen. Die Probleme sind keine anderen als bei der Entwicklung weiterer Pharmaka im neuropsychiatrischen Bereich: die Substanzen werden meist im Tiermodell gescreent und es wird geprüft, ob sie den Alkoholkonsum von Laborratten oder Mäusen senken, dann in Bezug auf ihre Sicherheit und schließlich auf klinische Wirksamkeit und Nebenwirkungen getestet. Je besser die Sozio- und Psychotherapie ist, desto geringer kann allerdings unter Umständen der Effekt der Medikamente ausfallen, so dass sie gegebenenfalls gegenüber Placebo keine signifikante Wirkung mehr zeigen.

Frage: In welchem Bereich sehen Sie die größten Chancen für die Entwicklung von Medikamenten gegen die Sucht?

Andreas Heinz: Am ehesten ist aus dem Bereich der Antiepileptika mit Neuentwicklungen zu rechnen, hier gibt es bereits erste erfolgreiche Studien mit einzelnen Substanzen wie Topiramat. Es ist möglich, dass auch das Verständnis der molekularen Reaktionsketten, die durch Alkohol und andere Drogen in der Zelle selbst aktiviert werden, zur Entwicklung von neuen Medikamenten führt. Interessant wäre auch die Entwicklung von Medikamenten, die vor den neurotoxischen Wirkungen der Drogen schützen, als neuroprotektiv sind.

Frage: Wird diese Art der Impfung gegen Drogenwirkungen, wie sie beispielsweise das Scripps Research Institute in La Jolla entwickelt, auch in Deutschland erforscht? Wie funktioniert diese Impfung im Gehirn?

Andreas Heinz: Die Grundidee ist, dass sich Antikörper gegen die Droge bilden und diese bereits im Blut ausgeschaltet wird, so dass sie das Gehirn gar nicht erst erreicht. Ob das im Einzelfall klappt und welche Nebenwirkungen das Verfahren hat, muss man sehen. Eine ähnliche Testreihe wie in La Jolla ist mir für Deutschland nicht bekannt. Aber es gibt Untersuchungen zur Wirkung von Depot-Naltrexon, das die Opiatwirkung blockiert, allerdings direkt am Rezeptor, nicht als Impfung. Das kann helfen, aber nur, wenn der Betroffene unbedingt abstinent bleiben will und eine Sicherheit braucht, dass im Fall des Rückfalls die Droge nicht wirkt. Bei Opiatabhängigkeit hilft aber öfter die Substitution, also der Ersatz der Drogen durch gleichartig wirkende Medikamente, die den Vorteil bieten, dass sie legal verschrieben werden und die Folgen der Illegalisierung für den Abhängigen aufheben.

Frage: Könnte ein ausgebildeter Mensch aus neurobiologischer Sicht mit jeder Substanz vernünftig umgehen oder sollten gewisse Drogen grundsätzlich aus dem Verkehr gehalten werden?

Andreas Heinz: Es gibt unterschiedliche Wirkstärken, beispielsweise setzt eben Kokain etwa 10 Mal so viel Dopamin frei wie Alkohol. Hinzu kommt die Frage, ob eine Gesellschaft eine lange Tradition mit Ritualen ausgebildet hat, die bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung helfen, den Substanzkonsum in Grenzen zu halten. Bei der zunehmenden Vereinsamung und Zersplitterung der Lebenszusammenhänge nehmen diese Rituale aber auch im Umgang mit den lange etablierten Drogen ab. So sank das Einstiegsalter für Rauchen auf 12-13 Jahre. Letztendlich kommt es immer darauf an, was eine Gesellschaft an risikoreichem Drogenkonsum zulassen will.

Frage: Wobei die Illegalität die Probleme eher verschärft?

Andreas Heinz: So einfach ist das nicht. Legale Beschränkungen der Zugänglichkeit von Drogen begrenzen immer den Konsum und damit auch die drogen-assoziierten Probleme – das gilt sogar für die Alkoholprohibition. Die wurde nicht etwa aufgehoben, weil sie nicht wirkte – der Alkoholkonsum sank sogar recht deutlich – sondern weil die Große Wirtschaftsdepression kam, und die Alkoholsteuer als gute Alternative zu einer Einkommenssteuer gesehen wurde, die eher die oberen Schichten betroffen hätte. Aber natürlich hat sich damals das organisierte Verbrechen der illegalen Droge Alkohol angenommen, und das gilt heute ebenso für alle illegalen Drogen.

Frage: Daneben postuliert die „akzeptierende Drogenarbeit“ allerdings, dass ein großer Teil der Probleme von Abhängigen aus der Illegalität ihres Konsums entsteht.

Andreas Heinz: Abhängige, die illegale Drogen konsumieren, leiden an beidem: An den Folgen sowohl ihrer Abhängigkeitserkrankung wie der Strafverfolgung, insbesondere, wenn sie Beschaffungsdelikte verüben, um die Drogen bezahlen zu können und um die für sie unerträglichen Entzugssymptome zu vermeiden. Viele Migranten können in dieser Situation abgeschoben werden und kommen aus Angst davor gar nicht erst in Therapie – der Grundsatz „Therapie vor Strafe“ ist hier oft nicht verwirklicht. Es gibt circa 2000 Menschen, die pro Jahr an den Folgen illegaler Drogen sterben, ungefähr 40. 000 sterben am Alkoholkonsum und rund 100.000 an den Folgen des Rauchens. Die meisten leiden also an den Folgen des Konsums von Drogen, die in dieser Gesellschaft legal und frei verkäuflich sind.

Frage: Zugleich offenbart das Problem der Drogen aber auch eine Stärke des Menschen.

Andreas Heinz: Rasch zu lernen und sich dabei von Vorfreude und Belohnung leiten zu lassen, das können zwar grundsätzlich auch alle Tiere, die Lernvorgänge und die zu erlernenden Situationen sind beim Menschen aber ungleich vielfältiger, und die resultierende Verhaltensflexibilität hat uns ja viele Handlungsmöglichkeiten beschert. Abhängigkeitserkrankungen sind ein Preis der Freiheit, und auch deshalb gebührt den abhängig kranken Menschen unser Respekt und sie haben dasselbe Recht auf Behandlung und Hilfe wie alle anderen Kranken.