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Psychoaktive Substanzen Specials

Salvia Divinorum

HanfBlatt, Nr. 67/2000

SALVIA DIVINORUM

Lieferant des stärksten aus dem Pflanzenreich bekannten Psychedelikums

Das, was das Gewebe der Realität zerreißt. Salvinorin A. Vorweg: Salvia Divinorum unterliegt in Deutschland dem Betäubungsmittelgesetz. Aber wir wollen die Pflanze kennenlernen, die uns diese bemerkenswerte Substanz liefert.

Salvia divinorum species from Oaxaca (Mexico). Photographed at the Conservatory of Flowers in San Francisco

Salvia divinorum ist eine einzigartige psychoaktive Salbeiart, auch „Wahrsagesalbei“ genannt, die in den Bergen von Oaxaca, einem mexikanischen Bundesstaat, von Mazateken Indianern, die sie „Hierba de la Pastora“ (Kraut der Schäferin) oder „Hierba de la Virgen“ (Kraut der Jungfrau) nennen, für schamanische Rituale gezogen wird. Echte Wildvorkommen sind nicht bekannt. Sie wird nur über Stecklinge (Klone) vermehrt. Praktisch alle im Umlauf befindlichen Stecklinge sollen von nur zwei lange auseinanderliegenden Sammlungen im Herkunftsgebiet abstammen. Man spricht vom sehr bitteren Wasson & (Albert) Hofmann – Klon und dem wohl verbreiteteren Palatable – Klon. Ein wahres Klonwunder also, daß sich gegenwärtig auch hierzulande im Kreise experimentierfreudiger Psychonauten eines regen Interesses erfreut. Die Pflanze ist nicht ganz anspruchslos, was ihre Wachstumsbedingungen betrifft. Sie liebt es warm bei hoher Luftfeuchte und guter Wasserversorgung, viel Licht, aber keine direkte Sonnenbestrahlung und kein Frost, halt so wie in der juten alten Heemat, dem tropischen Bergland der Sierra Mazateca. Wer auf diese Ansprüche Rücksicht nimmt, wird mit schnellem Wachstum belohnt. Das nicht sonderlich attraktive großblättrige Gewächs kann zwei bis drei Meter hoch werden. Auch lassen sich relativ problemlos Stecklinge gewinnen. Im Wasserglas beginnen sie nach zwei bis drei Wochen zu wurzeln.

Der Eigenanbau lohnt, denn im ethnobotanischen Fachhandel werden für 1 Gramm der getrockneten Blätter Preise von durchschnittlich 5 bis 8 DM verlangt. Und ein innerhalb von weingen Monaten auf 1 bis 1,5 Meter hochgeschossener Steckling, kann locker 20 Gramm und mehr getrockneter Blätter liefern. Für Stecklinge werden Preise von durchschnittlich 35 bis 40 DM verlangt. Dabei sollte unbedingt darauf geachtet werden, daß es sich um gesunde grüne, möglichst gut angewurzelte Exemplare handelt. Sie überstehen keine langen Transportzeiten und werden im Falle des Versandes, sofort nach dem Auspacken in eine Umgebung hoher Luftfeuchte verbracht, zum Beispiel in eine Art Reanimationszelt aus durchsichtiger, noch luftdurchlässiger Kunsttofffolie. Regelmässiges Übersprühen mit kalkfreiem Wasser tut es auch. Im Winter stagniert bei uns das Wachstum, wenn man keine künstliche Beleuchtung einsetzt. Im Frühling treiben die Pflanzen wieder aus. Deshalb werden auch Stecklinge meist erst ab dem Frühjahr versandt.

Die Blätter werden üblicherweise während der wärmsten Jahreszeit, also bei uns im Sommer oder Spätsommer geerntet. Ihr Wirkstoffgehalt scheint dann am höchsten zu sein. In den Tropen gewachsene Salvia divinorum soll potenter sein (bis zum 1,5 fachen). Es können sowohl einzelne Blätter als auch ganze Zweigspitzen geerntet werden. Aus den Seitenachseln treiben dann neue Triebe aus.

Die Blätter werden sofort frisch verwendet oder bei Raumtemperatur getrocknet.

Der nicht wasserlösliche Wirkstoff der Blätter kann nur über die Mundschleimhäute oder die Lunge in ausreichend kurzer Zeit in genügender Menge resorbiert werden, um die für einen intensiven Effekt notwendige Schwellendosis im Körper zu überschreiten. Dazu werden verschiedene Einnahmemethoden praktiziert.

1. Die frischen Blätter werden zu einer Art Zigarre gerollt und in die Backe(n) gequetscht, ausgedrückt, zerkaut, wobei man darauf achtet, daß möglichst viel Saft möglichst lange mit den Mundschleimhäuten in Berührung kommt. Das Runterschlucken des Saftes wird herausgezögert. Ist man mit dem Kauen durch, kann noch nachgelegt werden. Für einen Kauvorgang sollten 15 bis 30 Minuten veranschlagt werden. Eine typische Dosis sind 10 große Blätter. Die Blätter schmecken charakteristisch, nicht gerade lecker. Sie können auch bitter sein. Wieweit der Gehalt an zusätzlichen Bitterstoffen vom Klonahnen und der Anbaumethode abhängt, ist noch nicht ganz klar. Spaß bringt die Kauprozedur auf jeden Fall höchstens den Zuschauern.

2. Die getrockneten Blätter werden angefeuchtet und wie ein Pfriem in der Backe plaziert und ausgekaut wie die frischen Blätter. Die getrockneten Blätter schmecken vielleicht einen Tick „besser“ als die frischen, aber auch nur einen „Tick“.

3. Die getrockneten Blätter werden in einer Wasserpfeife geraucht. Dabei kommt es darauf an, möglichst viel Rauch möglichst lange und oft hintereinander in die Lungen zu kriegen. Die minimale gerauchte Dosis liegt bei einem halben Gramm der Blätter. Das ist schon „eine ganze Menge Holz“.

4. Es wird ein alkoholischer Extrakt aus den Blättern gewonnen. Dazu weicht man die getrockneten Blätter meherere Tage an einem dunklen Ort in soviel möglichst reinem trinkbarem Alkohol (Weingeist) ein, daß die Blätter bedeckt sind. Schließlich wird abgefiltert. Der erhaltene Extrakt kann nun durch Verdunstenlassen des Lösungsmittels weiter konzentriert werden. Läßt man den Alkohol vollständig abdunsten, erhält man einen schon recht konzentrierten nahezu festen Extrakt, der geraucht werden kann.

Der alkoholische Flüssigextrakt wird eingenommen, indem man ihn entweder leicht verdünnt mit Wasser oder pur ( vorsicht „brennt“) in den Mund nimmt und die Schleimhäute möglichst lange umspülen läßt. Für minimale Effekte sollte der Extrakt mindestens einer Ausgangsmenge von 2 Gramm der getrockneten Blätter entsprechen. Es werden oft viel höhere Dosierungen genommen. Die Potenz des Extraktes ist natürlich auch vom eingesetzten Ausgangsmaterial abhängig. Deshalb sind erhebliche Schwankungen möglich.

Der Festextrakt wird geraucht, indem man ihn möglichst vollständig verdampft und in möglichst wenigen lange einbehaltenen Zügen inhaliert. Auch hier wird das Äquivalent von mindestens einem halben Gramm der Blätter, oft aber eher das von ein bis vier Gramm der Blätter geraucht um eine deutliche Wirkung zu erzielen. Verdampfungsmethoden werden dem banalen Rauchen vorgezogen.

5. Es wird über einen komplizierten Extraktionsprozeß der reine Wirkstoff Salvinorin A gewonnen, beziehungsweise ein hochkonzentrierter Extrakt hergestellt. Der reine Wirkstoff wird von einer ausgeglühten Alu-Folie oder in einer Haschölpfeife verdampft und inhaliert. Die gerauchten Dosierungen liegen zwischen 0,3 und 2 Milligramm, sprich 0,0003 und 0,002 Gramm! Da dies für einen Laien äußerst schwer zu dosieren ist, hat man Salvinorin A auch in einem Verhältnis von 1 zu 25 auf die getrockneten Blätter aufgebracht, von denen dann 25 Milligramm, also 0,025 Gramm, eine typische Rauchdosis darstellen, die in einem Zug inhaliert werden kann. Bislang ist der reine Wirkstoff nur in einer kleinen Szene mehr oder weniger erfahrener Underground-Psychonauten in den USA, insbesondere in Kalifornien, zum Einsatz gekommen. Einer dieser Psychonauten, Mister „D.M. Turner“, hat ein sehr lesenwertes Buch über Erfahrungen mit Salvinorin A geschrieben. („Salvinorin. The Psychedelic Essence of Salvia Divinorum.“ Panther Press, San Francisco, 1996, ISBN 0-9642636-2-9). Ein deutsches Büchlein wird von Herrn Bert Marco Schuldes mit äußerster Spannung erwartet.

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Was hat es nun mit der merkwürdigen Wirkung dieser Pflanze auf sich? Es handelt sich bei dem Wirkstoff Salvinorin A um das stärkste aus der Pflanzenwelt bekannte Psychedelikum. Obendrein noch um ein Diterpen, also eine Substanz, die sich von den anderen bekannten Psychedelika chemisch erheblich unterscheidet.Wie Insider zu berichten wissen, scheinen Erfahrungen mit der Inhalation der geradezu winzigen Wirkstoffmengen von einer solchen Intensität und dermaßen bizarr, außer Kontrolle geraten und beängstigend zu sein, daß kaum jemand Lust auf die Wiederholung eines solchen Törns verspürt. Erfahrungen mit dem reinen Wirkstoff sind bei uns gegenwärtig sehr selten. Dagegen haben sich viele Leute schon durch die erheblich geringer konzentrierten alkoholischen Extrakte oder die Blätter getestet, oder sollte man besser gekämpft sagen?! Mit unterschiedlichen Ergebnissen. Es scheint so, als müsse man das Gespür für die oft recht subtile Wirkung erst entwickeln. Vielleicht gibt es eine individuelle Schwellendosis. Und selbst wenn soetwas wie ein typischer Salvia-Raum des Bewußtseins erreicht wird, übt dieser auf einen Großteil der Konsumenten keinen sonderlichen Reiz aus. Dann gibt es aber auch wieder die besonders Sensiblen, die sich von der eigenartigen Bilder- und Gefühlswelt, die sich mittels Salvia erschliessen lassen kann, faszinieren lassen und sich zu wiederholten Besuchen aufmachen.

SALVINORIN A
SALVINORIN A

Lassen wir einfach mal einen Experimentierer berichten:

„Mir erging es so, daß ich einige Male mehr und mehr der Blätter oder des Extraktes geraucht und gekaut hatte, und doch schon recht „breit“ wurde, ohne mir darüber klarzusein, wie breit ich eigentlich war. Wenn ich die Augen schloß, spürte ich eine Intensität, die sofort verschwandt, wenn ich die Augen öffnete und mich Vertrautem zuwandte. Ich hatte das Gefühl, immer noch nichtgenug genommen zu haben. Andererseits hatte ich doch deutliche Koordinationsstörungen. Am Telefon lallte ich noch umständlicher als sonst. Musik kam gut. Als ich mir bei einer Gelegenheit im Foyer des Gruner & Jahr-Affenfelsens eine Fotoausstellung ansah, war ich keineswegs außer Kontrolle. Aber der merkwürdige Zustand, in dem ich mich befand, im Kontrast zu dem was ich tat, in Kombination mit dem wohlschmeckenden Lakritzeis, an dem ich wollüstig schleckte, beflügelte mein Amüsement, ohne daß ich genau sagen könnte, wie es mir emotional ging…

Auch die Kombination mit der Inhalation geistbeflügelnder Hanfdämpfe konnte mich nicht vollständig in einen Bereich bringen, den ich endgültig als Salvia-Space akzeptiert hätte, obwohl sie dem Ganzen eine spannendere Note verlieh…

Ein anderes Mal war der Bann dann schließlich doch gebrochen. Mittels des im Mundraum zerfliessenden konzentrierten alkoholischen Extraktes, spät in der Nacht. Ich hatte einen ganzen Film halluzinogener Visionen, insbesondere bei geschlossenen Augen. Und das Ganze von kristallklar kitschig-trivialer Intensität. Szenerien, wie durch ein vorgeschaltetes Auge oder ein Fischauge gesehen, vor einer Kulisse sanft fliessender holzmaserungsartiger Muster mit immer wieder wechselnder Motivwahl, …bunte Fische, spielende Delphine, ein Pingiun auf einer Eisscholle, jetzt sich tummelnde Wale in der Abenddämmerung…Banale graphisch perfekte bunte Bilder aus einer herrlich heilen Welt, aus dem Innern meines Geistes, aber doch auch wie FÜR MICH auf eine innere Leinwand projiziert. Aber auch hier: Beim Öffnen der Augen spüre ich zwar noch die Stärke der Droge, könnte mir aber fast einbilden, völlig nüchtern zu sein, bilde ich mir ein. Wie von selbst schliessen sich die Augen und ich gebe mich der urigen Energie und den eigenartigen Bildern wieder hin. Überraschend, ein schönes beeindruckendes Erlebnis.

Zwei Tage später nochmal mit einer erheblich höheren Dosis. Sofort, der Wunsch aufzustehen, keinen Bock zu liegen und auf Visionen zu warten, zu den anderen ins Wohnmobil rübergehen. Enthemmt, albern, völlig schräge drauf, alles ist schräge, irgendwie auch leicht halluzinogen verändert, schräge eben, auch räumlich, Schräglage. Schön, könnte ruhig noch stärker sein. Die Wirkung ist wie üblich kurz. Vielleicht eine halbe Stunde recht kräftig, nach zwei Stunden verflogen…

Als Nachwirkung hatte ich manchmal leichte Kopfschmerzen, besonders nach der Raucherei.“

Noch ist (mir) nicht klar, wo und wie genau Salvia divinorum und insbesondere der obskure Wirkstoff Salvinorin A in der Familie der Psychedelika einzuordnen sind. Es bleibt abzuwarten, ob es sich bei Salvia divinorum-Konsum nur um eine vorübergehende Modeerscheinung handelt, oder ob sich tatsächlich ein Stamm von Liebhabern etablieren wird. Vielleicht muß tatsächlich erst das morphogenetische Feld für eine Art Salvia divinorum -Konsens-Space erkaut und erraucht werden. Wer weiß? Oder wird gar das reine Salvinorin A als neuer Renner auf dem Markt psychedelischer Möglichkeiten auftauchen? Die Wirkungsbeschreibungen in den vorliegenden Berichten klingen eigentlich nicht so verlockend. Hört sich eher nach kosmischer Verwirrung oder gar psychedelischem Nihilismus an. Sollte das das Ende der Fahnenstange sein? Ich hoffe nicht.

Exkurs:

Die attraktiven Coleus-Arten: Verwandte der Salvia divinorum?

Eine Varietät des schnellwachsenden und wegen ihrer schönen meist mehrfarbigen Blätter als Topfpflanzen beliebten Coleus blumei-Sträuchleins und die weniger bekannte Coleus pumilus gelten bei den Mazateken-Indianern als nahe Verwandte der Salvia divinorum und stehen in einem gewissen Ansehen. Sie werden ähnlich wie diese in Heilungszeremonien eingesetzt, indem man die frischen Blätter zerquetscht und mit Wasser aufgeschwemmt zu sich nimmt oder sie zerkaut, so heißt es. Dieses Wissen animierte Undergrozndfreaks über Jahrzehnte hinweg immer wieder zu fruchtlosen Selbstversuchen mit den bei uns erhältlichen Topfpflanzen. Lasset euch gewarnt sein: Das bei uns gewachsene Coleus blumei-Kraut ist ein Augenschmauß, aber kein Gaumenkitzel. Im Gegenteil: Es schmeckt fürchterlich, und obendrein wirkt es nicht. Auch nicht, wenn man es in getrockneter Form raucht. Die original im tropischen Mexiko gewachsenen Varietäten dagegen sollen tatsächlich, wenn man sie beispielsweise raucht, einen durchaus spürbaren Effekt entfalten. Dafür verantwortliche Wirkstoffe sind bis dato nicht bekannt.

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Und hier ein Interview mit dem Salvia Experten Daniel Siebert

 

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Ashwagandha

HanfBlatt, Nr. 65, April 2000

Ashwagandha

Ashwagandha, botanisch Withania somnifera, im Deutschen „Schlafbeere“, englisch „Winter Cherry“, ist ein bis zu eineinhalb Meter hoch wachsender Strauch aus der Famlie der Nachtschattengewächse mit auffallenden korallenroten Früchten, die an die leckeren Kapstachelbeeren erinnern, aber ungeniessbar sind. In der traditionellen indischen Kräuterheilkunde, der ayurvedischen Medizin, spielt Ashwagandha eine bedeutende Rolle. Ashwagandha gedeiht in Indien, Sri Lanka, Pakistan, Afghanistan und anderen asiatischen Ländern. Die Pflanze wächst wild in trockeneren Ödlandgebieten, wird aber auch angebaut. Sie findet sich auch in weiten Teilen Afrikas und in Südeuropa. Wo sie gedeiht, wird sie in der Regel medizinisch genutzt, so zum Beispiel in dem momentan so angesagten Südafrika (wo sie auf Afrikaans „geneesblaarbossie“ genannt wird).

Schon die alten Ägypter schätzten die Pflanze. So soll sie beispielsweise in Girlanden, die die Mumie von Tutanchamun schmückten, nachgewiesen worden sein. Bei der im alten Indien als Aphrodisiakum geltenden Wunderwurzel „jangida“ soll es sich um Withania somnifera gehandelt haben. Im arabischen Raum war ihre narkotische schlaffördernde Wirkung bekannt. Der syrische Name „Sekran“ bedeutet „Rauschmittel“.

Traditionell werden die Blätter, die Wurzel und hiervon insbesondere die Wurzelrinde angewandt. In Indien gilt die getrocknete Ashwagandha-Wurzel als verjüngendes Tonikum, als Stimulans und Aphrodisiakum, aber auch als Narkotikum. Es wurde und wird bei zahlreichen Symptomatiken eingesetzt, so unter anderem bei rheumatischen Erkrankungen, bei Ängstlichkeit, Nervosität und Schlafstörungen, bei Stress, in der Rekonvaleszenz, bei Appetitlosigkeit, bei Immunschwäche sowie Alterungserscheinungen wie zum Beispiel seniler Debilität, insgesamt ein Anwendungsfeld, das dem der Ginsengwurzel sehr ähnlich ist. Ashwagandha wurde deshalb auch als „Adaptogen“ kategorisiert und „Indischer Ginseng“ genannt. Auffallend ist auch eine gewisse harntreibende Wirkung. Zudem soll sie blutdrucksteigernd, schleimreduzierend und antiasthmatisch wirken und positiven Einfluss auf die Verdauung nehmen. Aufgrund wahrscheinlicher antibakterieller Wirkungen wird das Wurzelpulver, häufiger allerdings noch die Blätter, traditionell äusserlich bei Schwellungen, Entzündungen und Geschwüren aufgetragen.

Als Hauptwirkstoffe hat man Steroidlactone vom Typ der Withanolide extrahiert.

Sehr preiswert lassen sich die Ashwagandha-Wurzeln in den Heimatländern der Pflanze, zum Beispiel in indischen Kräuterläden erwerben. Bei uns ist sie frei verkäuflich und bisweilen im ethnobotanischen Fachhandel erhältlich. In indischen Apotheken erhält man potente aber nicht unbedingt nach europäischen Massstäben standardisierte Präparate, die konzentrierten Ashwagandha-Wurzelxtrakt enthalten, zum Beispiel „Dabur Ashwagandha Capsules“ mit jeweils 300 mg Extrakt pro Kapsel.

Als therapeutische Dosierung werden 2 mal täglich 300 mg des Extraktes empfohlen. Wer jedoch auch psychisch eine Entspannung spüren möchte, die subjektiv an Baldrian, Kava-Kava und Ginseng erinnern mag, erhöht diese Dosis meistens. Als entspannendes, hingabeförderndes, sowie erektionsverlängerndes Aphrodisiakum werden in Indien 2 bis 4 Gramm des Wurzelpulvers mit Milch gekocht, eventuell mit Zucker, Honig und Langem Pfeffer (botanisch Piper longum) aufgepeppt oder einfach mit Butterschmalz vermengt eingenommen. Die Dosierungen bei Erkältung und Husten, bei Rheumatismus und bei „Genereller Debilität“ liegen ebenfalls in diesem Bereich. Höhere Dosierungen gelten nicht als gefährlich, allenfalls als einschläfernd.

Die Einnahme von extrakthaltigen Kapseln ist am wirkungsvollsten. Es kann auch die feingemahlene Wurzel in Kapseln eingenommen werden. Aus der pulverisierten oder kleingehäkselten Wurzel lässt sich eine nicht besonders angenehm schmeckende Tee-Abkochung zubereiten, die sich allerdings mit Gewürzen, Süssungsmitteln etc. verfeinern lässt. Durch längeres Einlegen in hochwertigen Wodka lässt sich ein alkoholischer Auszug herstellen. Es ist möglich die Wurzel zu kauen, was auch gegen Zahnschmerzen helfen soll. Sie kann sogar geräuchert oder geraucht werden, eine traditionell zum Beispiel bei Asthma angewandte Methode.

Einen gewissen Ruf hat sich Ashwagandha unter Hanfliebhabern als rekreativ eingesetzter relaxender Wirkungsverstärker erworben. Der Wurzel werden Entspannung und Aphrodisie verstärkende Eigenschaften zugesprochen. Wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Themenkomplex stehen leider wie so oft noch aus. Ob sich die in ihren Heimatländern hochangesehene und als weitgehend unbedenklich geltende Wurzel bei uns als Heil- oder gar softes Genussmittel etablieren wird, bleibt abzuwarten.

az

 

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Der Pulsschlag des Prozessors

Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 21.03.2000

 

Im Silicon Valley ist mit „The Tech“ das Denkmal des Informationszeitalters entstanden

Im Herzen von San José, 60 Kilometer nördlich von San Francisco, hat sich das Silicon Valley ein Denkmal seiner selbst gesetzt. Auf drei Etagen entstand ein Museum der jüngsten Vergangengeit – hier wird das technische Zeitalter gepriesen. Bescheidener Name des Ende 1998 eröffneten Baus: The Tech.

Der Besucher spielt mit all dem, was draußen im Tal täglich erfunden wird. Die Leitung legt Wert auf das interaktive Erfahren, die meisten der Ausstellungsstücke sind bedienbar – ob die virtuelle Bobfahrt durch den Eiskanal, der nachgebaute Reinraum zur Chipherstellung oder das digitale Studio, in dem der Gast sich filmt und später zusammen mit Superman seine Runden fliegt. Spielerisch soll das vor allem junge Publikum den Zugang zur Welt der Prozessoren erhalten, um so Technik-Ängste erst gar nicht entstehen zu lassen.

the techPeter B. Giles, Präsident und CEO des The Tech ist sich seines erzieherischen Auftrags bewußt: „Unser Ziel ist es, nicht nur zu informieren und zu unterhalten, sondern zum Denken anzuregen und den Entdecker in jedem zu wecken. Vor allem wollen wir der jungen Generation ihr Verhältnis zur Technik zu zeigen.“ Die immer intimer werdende Beziehung zwischen Mensch und Maschine sieht Giles positiv. „In Zukunft werden wir anders arbeiten, spielen und lernen“, ahnt er und fügt hinzu, „das wird alle Lebensbereiche betreffen“. Die Techno-Generation soll sich ihre Welt erschaffen, finanziert wird sie dabei von den Urvätern des Fortschritts. Über 500 Firmen aus dem Silicon Valley haben sich an dem 113 Millionen Dollar Projekt beteiligt, die Kosten belaufen sich auf 11 Millionen Dollar jährlich.

Brad Whitworth von Hewlett-Packard folgt der Religion des digitalen Tals. Er ist bei dem Computer-Giganten für den reibungslosen Übergang ins nächste Jahrtausend zuständig. Als „Y2K-Manager“ muß er dafür sorgen, daß auf dem Globus am 1. Januar 2000 alle Hardware-Produkte seiner Firma ohne Murren hochfahren. Ob PCs, Drucker oder komplexe Anlage zur chemischen Analyse; die Produktpalette von HP ist breit und überall kann der Fehlerteufel sitzen. Der heiße Stuhl, auf dem Whitworth sitzt, läßt in äußerlich kalt. „Das Jahr 2000 ist der erste große Test, ob die Technik der Feind oder der Freund der Menschheit ist“, polarisiert Whitworth. Er ist sich schon jetzt sicher, alle Eventualitäten des Elektro-Kollaps ausgeschlossen zu haben und damit erneut zu bestätigen, was für jeden im Tal eh schon feststeht: Die Technik ist der Segen der Zivilisation. Die Silvester-Nacht will Whitworth in aller Ruhe am heimischen Kamin verbringen, sie ist für ihn schon jetzt eine gelöste Aufgabe, nie ein Problem gewesen, schon Vergangenheit. Seine Gedanken richten sich in die nahe Zukunft, deren Basis er jenseits der elektronischen Informationsverarbeitung sieht, in der Biotechnologie. „Das wird der nächste Sprung in der Geschichte der Technologie.“ Whitworth verkörpert den Idealtypus der amerikanischen Info-Elite: Schnell, zielstrebig und immer auf der Suche nach dem nächsten Hype.

Das Kapital in der High-Tech Area war noch nie darum verlegen, ständig lukrativen Chancen wahrzunehmen, sich selbst zu vermehren. Im vergangenen Jahr investierten Risikokapitalgeber 3.3 Milliarden Dollar in junge, aufstrebende Unternehmen, die Hälfte davon in Software- und Internetfirmen. Aber die Realität der sattsam bekannten Bilderbuchkarrieren ist für die Menschen nicht immer rosig. Zwar entstehen noch immer 20 Firmen in der Woche und ebenfalls wöchentlich geht ein Unternehmen aus dem Valley an die Börse, der Preis dafür sind aber enorme Belastungen für alle Beteiligten.

„Sie sind besessen, sie denken nur an ihr zauberhaftes Design oder ihr magisches Produkt“, erinnert sich Miroslaw Malek, Professor für Informatik an der Humboldt-Universität zu Berlin, der einen mehrjährigen Forschungsaufenthalt im Silicon Valley verbrachte. Aus Sicht eines Europäers mutet die Arbeitsethik im High-Tech-Zentrum der USA grotesk an. 12 bis 18 Stunden täglich und das sieben Tage in der Woche sind durchaus üblich, die Firmen sind rund um die Uhr besetzt, der hauseigene Babysitter sorgt für den Nachwuchs, das Fitnesscenter für den Körper. Und wenn es mal wieder zu lange gedauert hat, stehen sogar Räume zum Übernachten bereit. Die Trennung von Arbeit und Privatleben existiert im Tal der Chips nicht, nur so ist es auch zu erklären, daß die Scheidungsrate in der Region bei über 60 Prozent liegt.

Im Museum The Tech
In der Museums-Gallerie herrscht mittlerweile Hochbetrieb. Sechsklässler aus einer Schule in San José haben den Chat-Raum entdeckt und suchen gerade ihre virtuellen Stellvertreter für die Kontaktaufnahme via Internet aus. Eine Comic-Figur wird dazu am Computer mit Charaktereigenschaften ausgestattet und betritt danach den Chat-Raum. Mike hat sich einen rüstungsbewehrten Ritter als alter ego ausgesucht und surft nun fast unschlagbar durch die neue Welt. „Dort kann ich mich mit anderen Jungs treffen und über die neuesten Computer-Spiele reden“, sagt Mike begeistert und wendet sich wieder schnell dem Monitor zu, um im laufenden Dialog nicht den Faden zu verlieren. Auch seine Klassenkameraden spielen begeistert an ihrem Übergang in den Cyberspace. „Die Kinder sind schier verrückt danach“, erklärt Kris Covarrubias vom Museum.

Die fortschreitende Verschmelzung von Technik und Körper wird ein paar Meter weiter verdeutlicht. Ein Ultraschallgerät zaubert den inneren Aufbau der Hand auf einen Bildschirm – die Weichteile, die Knochen und der Fluss des Blutes werden sichtbar. Was sonst werdende Müttern begeistert, ist hier für jeden nachvollziehbar: Der Blick in den Organismus. Im nächsten Raum ist eine Thermokamera unter der Decke installiert. Sie zeigt dem Betrachter die Hitzeausstrahlung des eigenen Körper – freiliegende Teile wie Kopf und Hände strahlen rot, während die gut isolierten Füße im Dunklen bleiben. Über 250 interaktive Ausstellungsstücke bilden in The Tech ein Konglomerat von elektronischen und mechanischen Geräten. Alle zeigen, daß die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine, daß Human-Tech-Interface, immer besser funktioniert. Und die Firmen des Tals arbeiten mit Hochdruck daran, daß diese Affäre noch inniger wird.

Eine Gruppe von Asiaten taucht im Raum auf und bestaunt den perfekt simulierten Operationsroboter, der in der Praxis künstliche Adern in den Patienten einsetzt. „Mehr Geschwindigkeit, weniger Kosten“, stellt ein Mann fest. Was wie die Strategie eines Amphetaminhändlers klingt, ist in Wahrheit die praktizierte Maxime des Tals. Nur wer mit ständig neuen Produkten den Markt sättigt oder erst schafft überlebt. Indes hat sich die enorme Geschwindigkeit der Produktionszyklen vollends auf den Lebensrythmus der Menschen im Tal übertragen.

the tech

John DiMatteo hat sich der Abhängigkeit entzogen. Mit Ruhe genießt er das Essen beim Chinesen und erzählt: „Früher ging mir das genauso wie allen anderen im Silicon Valley. Ich habe am Tag 18 Stunden gearbeitet, am Wochenende Unterlagen mit nach Hause genommen und Nachts von der Arbeit geträumt. Freizeit gab es für mich nicht.“ Früher für den Elektronikkonzern ITT tätig, verdient DiMatteo heute bei Read-Rite, dem weltgrößten Hersteller von Leseköpfen für Festplatten, als Direktor der Unternehmenskommunikation sein Brot. Auch er kennt die Sehnsucht, die den Tellerwäscher zum Millionär werden läßt. „Es sind Visionäre und Träumer, die hier im Tal in einer Garage eine Firma gründen. Und wenn sie beim ersten Mal mit ihrer Idee scheitern, versuchen sie es halt wieder. Es klingt abgedroschen, aber hier kann es jeder schaffen.“ Die Idee, die hinter dieser Kraft steckt, bringt DiMatteo auf eine einfache Formel. „Es geht nur um zwei Dinge: Geld und Macht“, sagt er und bricht dabei den chinesischen Glückskeks auf, der zum Dessert gereicht wird: „Nutze die günstige Gelegenheit um Deine Karriere zu fördern.“

Trotzdem die Region im Ruf der jungen Entrepeneure steht, ist die Zahl der gescheiterten Existenzgründungen hoch. Rund die Hälfte der Unternehmen überleben den Kampf auf dem Markt, der Rest geht nach spätestens einem Jahr pleite. Das „Silicon Valley Network“, eine Non-profit Gesellschaft, welche die wirtschaftliche Entwicklung des Bezirks seit Jahrzehnten beobachtet, zählte im letzten Jahr genau 92 Firmen, deren Entwicklung sie als „kometenhaft“ einstufte. Dies bedeutete gegenüber dem Vorjahr zwar eine Steigerung um knapp 40 Prozent, zugleich nahm aber 1998 die Rate der exportierten Waren seit 1990 das erste Mal ab. Die Asienkrise zeigte hier ebenso Wirkung wie das Verlangen des Computer-Marktes nach immer mehr Leistung zu niedrigeren Preisen. Die soziale Schere klafft zudem im Silicon Valley von Jahr zu Jahr weiter auseinander. Während Manager und Softwareentwickler zwischen 1991 und 1997 eine Einkommensteigerung von 19 Prozent verbuchen konnten, nahm das Einkommen der Arbeiter um 8 Prozent ab. Ein leitender Angestellter verdiente 1997 somit etwa 130 Tausend Dollar, ein Arbeiter nur 34 Tausend Dollar im Jahr. Der Bericht des „Silicon Valley Network“ drückt es vorsichtig aus: „Nicht alle Einwohner partizipieren an der guten Wirtschaftslage.“


The Tech

Vier Themengallerien führen durch The Tech.


(1) Lebenstechnik: Die menschliche Maschine. Medizinische Technologie rettet Leben und erweitert die menschlichen Fähigkeiten.

(2) Innovation: Silicon Valley und seine Revolutionen. Chipherstellung, das eigenen Gesicht als 3-D Animation mit Farblaserausdruck, Design einer Achterbahn mit anschließender Fahrt.

(3) Kommunikation: Globale Verbindungen. Die persönliche Homepage in fünf Minuten im Netz, Cyberchat mit der Welt, das digitale TV-Studio.

(4) Erforschung: Neue Grenzen. Ein steuerbares Unterwassermobil, ein Mondfahrzeug, eine Erdbebensimulation.

Adresse: 201 S. Market Street San Jose, CA, USA Tel: 001 – 408 – 795 – 6100 Fax: 001 – 408 – 279 – 7167 http://www.thetech.org

Silicon Valley

In dem kleinen Tal 60 Kilometer nördlich von San Francisco drängen sich die großen der IT-Branche. Die 7000 Soft- und Hardwarefirmen rekrutieren ihre jungen Mitarbeiter aus den nicht weit entfernten Universitäten Stanford und Berkeley. Intel, der Prozessorgigant, der noch immer fast 80 Prozent der PCs auf dem Globus mit Chips besetzt und Hewlett-Packard, die nach IBM umsatzstärkste Computerfirma der Welt sitzen hier ebenso wie Apple, Sun und Silicon Graphics. Netzwerkhersteller Cisco, 3Com, Bay Networks beherrschen den Markt, die drei größten Datenbankentwickler Oracle, Sybase und Informix haben ebenfalls im Silicon Valley ihren Hauptsitz. Aber auch die Internetfirmen wie Netscape und AOL betreiben vom digitalen Tal aus ihre weltweiten Geschäfte. Das Einkommen liegt um 55 Prozent höher als im Rest der USA, mit weniger als 100 Tausend Dollar im Jahr braucht hier kein Software-Entwickler nach Hause gehen.

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Elektronische Kultur

Freie Software soll den Markt revolutionieren

Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 21.03.00

Vom Nutzer zum Entwickler

Wird Open Source den Software-Markt revolutionieren?

Ein Anwalt des Software-Herstellers Microsoft bezeichnete den Programmcode des Betriebssystems Windows 95 einmal als „eines der wertvollsten und geheimsten Stücke geistigen Eigentums auf der Welt“. Geistiges Eigentum sichert die Geschäfte, so ist zumindest die landläufige Meinung. Im Source Code (Quelltext) eines Programms steckt die Arbeit der Programmierer, er ist das Kapital einer Firma und sein Geheimnis wird gegen jedweden Kopierversuch gehütet. Seit einiger Zeit aber ist Spannung in die Branche gekommen, denn das eherne Gesetz der verschlossenen Quelltexte ist in Auflösung begriffen. Die Methode des Open Source, der offenen Quelltexte, verspricht bessere Programme bei niedrigeren Kosten. Begriffe wie Linux, Copyleft und natürlich Internet stehen für die erwünschte Revolution auf dem Markt. Was dabei oft vergessen wird: Ohne die Idee der Freien Software wäre Open Source nie zu einer Alternative zur gängigen Distributionsmethode für Computerprogramme geworden.

Der Gedanke hinter Open Source ist einfach: Der in Programmiersprache geschriebene Quelltext wird von seinem Entwickler frei gestellt. Damit liegen Algorithmen, Schnittstellen und verwendete Protokolle offen. Andere Programmierer können den Quelltext begutachten, verändern und –je nach Lizenz- auch weiterverbreiten. Mit dem Internet steht eine Infrastruktur zur schnellen Veränderung und Kommentierung zur Verfügung. Systemadministratoren und Sicherheitsfachleute fordern schon lange die Öffnung der Programme, denn liegen die Quelltexte erst einmal offen, lassen sich Programmfehler, die sogenannten „Bugs“, Hintertüren und trojanische Pferde eher entdecken. Die in regelmässigen Abständen für Unruhe sorgenden Sicherheitslöcher in Browsern, Webservern oder Office-Anwendungen würden mit offenen Quelltexten schnell gestopft. HTML, die Formatierungssprache aus der die Seiten im WWW bestehen, ist ein anschauliches Beispiel für offenen Code. Im Browser kann sich jeder unter dem Menupunkt „View Source“ ansehen, wie eine Webseite aufgebaut ist, sie studieren und das Gelernte auf den eigenen Seiten anwenden.

Die historischen Anfänge von Open Source liegen in den 80er Jahren. Richard Stallmann, ein Programmierer am Massachusetts Institut for Technology (MIT), war unzufrieden mit der Tatsache, dass es nur noch proprietäre Software für Computer gab. Es gab zwar unterschiedliche Betriebssysteme (DOS, Unix), weder durfte man aber Kopien mit anderen Nutzern austauschen, noch erfahren, wie das Programm funktionierte. Gemeinsam mit anderen Programmierern schrieb er aus diesem Grund ein Unix-kompatibles, aber freies Programm. Sinn für Humor beweist schon die Namensgebung des ersten freien Betriebssystems: GNU steht für „GNU is not Unix“, die Auflösung der Abkürzung dreht sich im Kreis und ist damit Kind der zirkulären Logik. Nach und nach enstanden die Systemkomponenten: Der GNU Emacs entwickelte sich schnell zu einem der beliebtesten Editoren auf Unix-Rechnern, der GNU Compiler war als schneller Umsetzer von Programmcode bekannt. 1984 gründete Stallmann die Free Software Foundation, die sich der Verbreitung der Idee von freier Software verschrieben hat. Der begriff der Freien Software besitzt für Stallmann keine Relevanz in Hinblick auf den Preis. Freie Software kann, muss aber nicht gratis sein. Der Schwerpunkt liegt auf dem Wort „Frei“: Jedermann hat das Recht, Freie Software zu verändern und auch die modifizierten Versionen weiter zu verteilen. Um zu verhindern, dass aus freiem und offenem Code proprietäre Software wird, untersteht alle GNU-Produkte dem sogenannten Copyleft. Danach kann jeder das Programm kopieren und verändern, diese Versionen müssen aber ebenfalls Freie Software sein. Der Sinn dieses Vorgehens geht weit über die Verbreitung von freier Software mit offenen Quelltexten hinaus. Mit der GNU-Software sollte sich die Idee einer Gemeinschaft verbreiten, die sich gegenseitig ohne finanzielle Interessen hilft. Stallman gilt heute als einer der striktesten Vertreter dieses Konzepts. Er selbst sagt: „Wenn Softwar e proprietär ist, wenn es einen Eigentümer gibt, der ihren Gebrauch einschränkt, dann können Benutzer keine Gemeinschaft bilden.“

Abseits der politischen Ideenlehre der Free Software Foundation schrieb der Finne Linus Torvald 1991 den lange fehlenden Kern eines GNU-Betriebssytems, den sogenannten Kernel, und nannte das System „Linux“. Für die Bewegung der Freien Software ein zweischneidiges Schwert, denn obwohl nun endlich ein voll funktionstüchtiges, freies Betriebssystem zur Verfügung stand, koppelte sich durch den primär technisch orientierte Torvald die Philosophie von der Software ab. Für Stallmann die grösste denkbare Katastrophe: „Dies System, das wir so entwickelt haben, dass es allein wegen seiner technischen Fähigkeiten, wegen seiner Überlegenheit immer bekannter wird, nutzen nun immer mehr Leute, die sich überhaupt nicht um die Freiheit kümern. Und nicht nur das – sie bekommen überhaupt keine Chance sich darum zu kümmern, weil überhaupt niemand ihnen davon erzählt.“ Schon 1989 sprach ein Teil der Hacker-Gemeinschaft nicht mehr von Free Software, sondern von Open Source. Das war für Stallmann und seine Mitstreiter nur solange kein Problem, wo diese Unterscheidung der Begriffsentwirrung von „frei“ und „gratis“ diente. Die Apologeten der Freien Software werfen Teilen der Open Source Bewegung aber vor, diese Namensgebung vorgenommen zu haben, um sich zukünftig mehr am Markt als an der Gemeinschaft, mehr am Geld als an der Kooperation zu orientieren. So gesehen stellt Open Source auf ihr Potenzial ab, bessere Software zu entwickeln, ohne dabei über die zugrunde liegende Idee von Freiheit, Gemeinschaft und Prinzipien zu sprechen. Freie Software und Open Source beschreiben im Kern die gleiche Kategorie von Software, zielen aber in ihren Aussagen auf andere Werte. Stallmann ist nach wie vor überzeugt, dass Freiheit, und nicht nur Technik bei der Entwicklung von einem Gut, welches mittlerweile massgeblich zum Funktionieren der westlichen Hemissphäre beiträgt, wichtig ist. Moderatere Ansichten in de r Open Source Gemeinde gehen dagegen davon aus, dass kommerzielle Software durchaus zur Verbesserung der Gesamtleistung von Freier Software beitragen kann.

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Man könnte Stallmanns Beharren auf die reine Lehre als den Starrsinn eines alt gewordenen Blumenkind ansehen, wenn nicht der Erfolg der bisherigen Projekte der Freien Software Bewegung im Recht geben würde. Linux, jüngst acht Jahre alt geworden, läuft inzwischen weltweit auf schätzungsweise zehn Millionen Computern und wird aufgrund seiner durchsichtigen Architektur und der damit verbundenen Anpassungsfähigkeit geschätzt. Die Spezialeffekte für das Film-Epos „Titanic“ wurden unter Linux berechnet. Sendmail ist der Standard für den Transport von E-Mail im Internet, Apache ist der verbreiteste Webserver, etwa 58 Prozent der Internet-Hosts laufen unter dem Programm. Die Übersetzung der Rechnernummer im Netz (62.144.161.32) in einen Namen (www.faz.de) setzt auf Bind (Berkeley Internet Name Server) auf. Tim Berners-Lee hob das WWW aus der Taufe, damit Physiker untereinander neue Erkenntnisse austauschen können. Alle diese Programme wurden unter der Maxime einer Vereinfachung von Kommunikation zwischen Menschen geschrieben und sind noch heute Open Source.

Wo offener Quellcode früher als Spielwiese für Programmierer galt, schickt sich Open Source heute an, zur Software-Entwicklungsmethode des kommenden Jahrhunderts zu werden. Industriegrößen wie Datenbankanbieter Oracle oder die jüngst von Sun aufgekaufte Hamburger Star Division bieten ihre Programme für Linux an. Umsonst. SAP präsentierte auf der diesjährigen Cebit seine Standardsoftware R/3 in einer Linux-Version. Hasso Plattner, Vorstandssprecher der SAP AG, begründete diesen Schritt mit „einer beachtlichen Anzahl von Kundenanfragen“. Bislang liegen die Erfolge von Linux vor allem dort, wo kleine Serverlösung gefragt ist. Darüber hinaus schlüpft es als Lückenbüßer in die Rolle eines Netware- oder Windows NT-Servers, wenn diese nach anfänglich großen Investitionen nicht das leisten, was der Preis beinhalten müsste. Das Web ist voller Geschichten, in denen die Linux-Lösung dann das leistete, was man sich eigentlich von den kommerziellen Systemen versprochen hatte. Dieser Erkenntnis folgen zunehmend kleinere Firmen, die ihre Dienstleistungen, etwa Netzinstallation und Wartung, gern mit Linux-Hilfe erbringen. Während die Einen hier das Aufsteigen einer neuen Ökonomie sehen, dessen Grundlage nicht mehr länger geistiges Eigentum ist, ist Open Source für andere das Software-Business-Modell einer flexiblen Dienstleistungsgesellschaft. Die Gemeinde der Hacker ist gespalten: Hätte Richard Stallmans ideologische Beharrlichkeit Erfolg, würde Freie Software wieder in ihr universitäres Nischendasein der 80er Jahre zurückfallen. Folgt man dagegen einem allzu industriefreundlichen Open Source Modell, ist die „feindliche Übernahme“ durch die Software-Konzern wahrscheinlich.

Ein Beispiel für Idealismus ohne geistiges Eigentum ist KDE: Mit der Windows ähnlichen Benutzer-Oberfläche steht auch dem unerfahrenen PC-Anwender eine Desktop mit Mausbedienung für Linux zur Verfügung. Kalle Dallheimer, Entwickler beim KDE-Projekt und Fachbuchautor, erklärt auf die Frage, ob es ihn nicht stört, dass Distributoren an seinem Programm verdienen, er selbst aber nicht: „Nein. Diese Frage wird sehr oft gestellt, und zwar meistens von Leuten, die die Anhäufung von Geld als den Hauptzweck des Lebens betrachten.“ Diese Art von Lebenseinstellung ist unter den Programmierern Freier Software durchaus nichts ungewöhnliches. Das Ziel ist nicht Geld, sondern -ähnlich wie im Wissenschaftssystem- die Anerkennung der Kollegen. „Die etwas zwei Millionen Codezeilen werden aktiv von mehr als zweihundert Entwicklern aus der ganzen Welt gepflegt. Die gesamte Entwicklung und Verwaltung findet dabei über das Internet statt.“

Ein Beispiel für den kommerziellen Erfolg ist die Suse GmbH, die 1992 von vier Studenten gegründet wurde. Sie brannten Linux auf eine CD-Rom und boten den Versand der Software an, die im Internet noch heute frei zum runterladen auf den heimischen PC liegt. Um Downloadkosten zu sparen und den Support in Anspruch zu nehmen entschieden sich viele Linux-Fans für Suse. Im vergangenen Jahr hat die Firma mit ihren 160 Mitarbeitern 14 Millionen Mark umgesetzt, der Börsengang steht kurz bevor. Eine neuer Zweig entsteht: Nicht an der gratis Software, sondern erst an Beratung und Distribution wird verdient. Dienstleistungen rund um Open Source Technik ist das neue Zauberwort der Branche. Sebastian Hetze von der Linux-Supportfirma Lunetix weiss von den Vorteilen der Open Source Software zu berichten: „Immer weniger Kunden sind bereit eine Black Box zu kaufen, wenn Open Source massgeschneiderte Softwareanpassungen ermöglicht.“ Zusätzlich besteche das Konzept durch „zusätzliche Ressourcen durch kooperative Entwicklung“. Im Klartext: Liegt der Quellcode offen, können Fehler in Programmen schnell behoben werden. Ob die vielen Idealisten, die das Open Source Projekt bis heute aus Spass an der Freude vorangetrieben haben, auch bereit sind ihren Idealismus für Firmen einzusetzen, ist allerdings noch unklar. Wenn hier die nonfiskale Balance zwischen Nehmen und Geben nicht stimmt, dürften sich die Hacker bald aus dem Kreis der Entwickler verabschieden. Ob dann das Netz der gegenseitigen Hilfe noch hält, ist fraglich. Und ohne die unentgeltliche Arbeit der Entwickler können auch die Dienstleister nicht existieren.

Jörg Auf dem Hövel

 

 

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Drogenpolitik

Kiffer aller Länder

Der kluge Mann baut vor

Der kluge Mann baut vor – diese Binsenweisheit gilt im brasilianischen Dschungel genauso wie auf den Phillipinen, in Paris ebenso wie in Mombasa. Urlaubsreisen in ferne Ländern erhalten für manchen Kiffer ihren wahren Reiz doch erst dann, wenn er oder sie am Urlaubsort ungehemmt einen durchziehen können. In aller Damen Länder gehört Cannabis zur Alltags- oder Feiertagsdroge, gerade unter Jugendlichen und jung gebliebenen ist das Kraut in den meisten Gebieten der Welt weit verbreitet. Vom Staat nicht gern gesehen, genießt ein Teil der Gesellschaft den gepflegten Hanfrausch – immer munter an den Gesetzen vorbei. Der von den USA initiierte „War on Drugs“ mit den unterstützenden Resolutionen der Vereinten Nationen ist in der westlichen Hemissphäre ein brüchiger Rahmen für den Konsum, ausgefüllt wird dieser Rahmen oft durch Rauschkulturen, die ihre eigenen Vorstellungen von der Nützlichkeit oder Schädlichkeit der „Droge Hanf“ entwickelt haben. Ein Vergleich wissenschaftlicher Befragungen und Erhebungen zeigt, daß der Konsum von Haschisch und Marihuana in den meisten Staaten des Globus´ über die Jahre und Jahrzehnte angestiegen ist. „Legal, illegal, scheißegal“, dieser Satz von Hans-Georg Behr hält einer empirischen Überprüfung tatsächlich statt. Denn gleich, ob in einem Staat der Genuß von Cannabisprodukten hart bestraft wird oder eher locker mit dem Kiffen umgegangen wird: Vor allem die Jugend raucht sich ab und zu in die Sphären der Entspannung und Belustigung, nimmt Abstand vom Alltag.

Um eine Übersicht über die Kultur des Kiffens zu erhalten, haben wir einige Ländern herausgegriffen und die verfügbaren Daten über den Cannabis-Konsum grafisch aufbereitet. Die Frage, die in allen Analysen gestellt wurde, ist die nach der sogenannten „Lifetime-Prevalence“, daß heißt, ob jemand in seinem Leben jemals Cannabis probiert hat. Ansonsten zeichnen sich die den Grafiken zu Grunde liegenden Forschungen durch ihre Uneinheitlichkeit aus: Es existiert leider keine Untersuchung, die den Cannabis-Konsum in allen Ländern mit einem standardisierten Instrument gemessen hat. Bei einem Vergleich der Zahlen sollte man also äußerst vorsichtig sein. Ein weiteres Problem: Für den gesamten asiatischen Raum liegen uns keine repräsentativen Zahlen vor.

Bei der Auswahl wurde darauf geachtet, daß die Untersuchungsgruppe groß war und nicht nur 30 Schüler einer Kleinstadt befragt wurden. Die verschiedenen Erhebungen beziehen sich auf unterschiedlichste Altersgruppen; um den Überblick zu behalten, wählten wir immer die Bereiche aus, die eine relativ junge Altersgruppe untersuchte. Wichtig war uns auch, eine Entwicklung über einen längeren Zeitraum nachvollziehen zu können. Im Idealfall wurde ein Forschungsprojekt jährlich wiederholt.

Dies ist beispielsweise in den USA der Fall, wo das NIDA (National Institute on Drug Abuse) seit 1971 Befragungen der Bevölkerung durchführt. Auch in Australien führt man regelmäßig Interviews durch, um die Einstellung der Bürger zum Drogenkonsum zu erforschen. Der „Krieg gegen die Drogen“ zeigt hier deutlich keine Wirkung: In den USA steigt die Rate derjenigen, die schon mal geraucht haben, seit den 90er Jahren wieder kontinuierlich an.

In Frankreich, einem Land mit restriktiven Drogengesetzen, ringt man sich erst seit ein paar Jahren dazu durch, die kiffende Jugend genauer unter die Lupe zu nehmen. Der Anteil der Probierer ist hier ähnlich wie in anderen Staaten Europas. In „Good Old Germany“ beäugen Wissenschaftler seit den 70er Jahren das Verhalten ihrer freilaufenden humanen Versuchsobjekte. Relativ stabil raucht sich das junge Volk um die 20 Prozent ein. Eine neuere Studie von Dieter Kleiber und seinen Kollegen zeigt zudem, daß Hanfkonsum in Deutschland mithin ein „transistorisches“ Konsum ist, soll heißen, in der Jugend wird (viel) gekifft, ab dreißig kaum noch, auf jeden Fall aber weniger. Es wäre auf jeden Fall interessant zu wissen, ob dies ein globales Phänomen ist.

Auf dem australischen Kontinent gedeiht der Hanf anscheinend unter prächtigen klimatischen wie kulturellen Bedingungen. Seit zehn Jahren gibt fast die Hälfte der 14 bis 29jährigen zu, schon mindestens einmal Cannabis genossen zu haben. In einigen Bundesstaaten ist der Konsum offiziell dekriminalisiert, hier landet kein Klein-Kiffer mehr vor Gericht. Trotz dieses Umstand ist die Rate der Probierer in diesen Bundesstaaten nicht angestiegen.

Für uns überraschend hoch ist der Anteil der KifferInnen in Norwegens Hauptstadt Oslo. Es ist wohl davon auszugehen, daß auf dem Land weniger Cannabis geraucht wird. Die jüngeren Bewohner der „Kiffer-Hauptstadt“ der Welt, Amsterdam, zeigen sich offen für den THC-Rausch. 1994 gab genau die Hälfte der Befragten zu, schon mal Haschisch oder Marihuana konsumiert zu haben.

In der Tabelle „Cannabis-Konsum in der Welt“ sind die Ergebnisse aus Staaten zusammengefaßt, die nur eine Untersuchung aufweisen konnten. Dürftig ist die Datenlage in den Ländern Afrikas; hier lagen uns nur dünne Arbeiten aus Südafrika und Namibia vor. Nicht überraschen tut der hohe Anteil der Kiffer in Jamaica, dort ist Marihuana seit Jahrhunderten integriert. Es fällt auf, daß der Rauschhanf vor allem in westlichen Ländern weit, in den produzierenden Staaten aber eher weniger verbreitet ist. Daß in Mexiko oder Nordindien, Ländern mit einem traditionellen Hanfanbau, nur 3 Prozent der jungen Menschen kiffen sollen, mutet schon seltsam an. Leider konnte wir nicht eruieren, wie unsere britischen Nachbarn Cannabis genießen. Wenn wir richtig informiert wurden, dürfte das Leben unter Premierministerin Thatcher aber fast nur bekifft auszuhalten gewesen sein…

 

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Mixed

Des Apfelmanns knorrige Hände packen den Boskop

Veröffentlicht unter www.ottensen.de
Echolot 1/2000

 Auf grillenhafter Einkaufstour in Ottensen

Des Apfelmanns knorrige Hände packen den Boskop. Wahrscheinlich ist er nach dem Punk mit einem Selbsthilfeprojekt für durchgeknallte Acid-Heads aufs Land gezogen und erntet nun Äpfel für die Stadtbevölkerung. Seine Sorgfalt bei der Auswahl besticht, seine Früchte stärken nachweislich mein System. Ich möchte ihn bitten, das Schild mit dem Druck „Erdbeer-Schalen nehmen wir gerne zurück“ von seinem Stand verschwinden zu lassen, traue mich aber nicht. Er lächelt mild. Die unter 60jährigen Tanten vor seinem Stand schmelzen dahin bei soviel geerdeter Anarchie, die sogar rot-befleckte Schalen mit zermanschten Erdbeerresten in den natürlichen Kreislauf reintegriert. Die Frau neben mir in der Warteschlange gehört hier nicht her. Sie sabbert fast so schlimm wie der Rollstuhlfahrer, den ich eben noch angepöbelt habe, weil er mit seiner Karre den Wurststand blockierte. Außerdem fehlt ihrer Kleidung der gerupfte Touch, die ewig hängenden Strickwaren, die den Brustkasten so widerwärtig glattbügeln. Sie faselt was von „leckeren, großen Erdbeeren“, wobei ihre Speichelbläschen den Herpes tanzen. „Die kleinen schmecken fast noch besser“, lüge ich. Sie stimmt mir zu. Die Dame ist noch leichter zu irritieren als ich. Der Apfelmann kratzt das alles nicht, er freut sich schon auf sein Acid-Hof während er meine Erdbeeren in den Jute-Beutel packt. Immerhin ist der Typ nicht so weichgespült wie der Brotmann, an dem meine Brotbestellung jedes mal abzugleiten scheint.

Freundlich ist die Gemüsedame, während sie ihren Kaffee schlürft. Gerne wechsle ich mit ihr Worte, die über pure Warenbestellung hinausgehen. Unsere letzte Diskussion darüber, ob der Radikale Konstruktivismus notwendigerweise im Solipsimus endet, ging Not gegen Armut, 0 zu 0 aus, sorgte aber für Mordsstimmung am Stand. Heute steht ihr nicht der Sinn nach Abgründen, sie macht auf gut Freund. Will sie, dass ich ab jetzt ewig ihre Früchtchen mampfe? Weitgefehlt, Kanaille, morgen kaufe ich beim Türken. Gerne erinnere ich mich an die Zeit zurück, als das saftige Obst von einer jungen Frau vom Land sehr zärtlich in die Papiertüten gelegt wurde. Leckere rote Wangen. Professor Unrat schoß in mich und eine Blase öffnete sich: Betört würde ich dichten, während durch die Resthofküche mit Holzfußboden der Duft von frisch gebackenen Brot schwebt, deren Teig von ihren kräftigen, aber einfühlsamen Fingern stundenlang durchgeknetet worden war.

Plötzlich stehe ich in der Mieder-Abteilung von H&M. Wenn mich jetzt meine Jungs vom Fußball treffen, ist es mit meiner Karriere vorbei. Ich verwerfe die Paranoia, verlasse aber trotzdem schnellstens den Laden. Draußen fällt mir ein, dass ich mir Schlüpfer aus Seide kaufen wollte, vielleicht aber auch nur Unterhosen, die mich dem Ideal der knackigen Men´s Health Titelmacker ein Stück näher bringen sollten. Na ja, die Bundeswehr-Liebestöter sind ja erst zwölf Jahre alt.

Im Reformhaus riecht es wie beim Antroposophen im Schritt. Die fetten Eso-Spießer scheint der Muff nicht zu interessieren, sie kaufen zum Tofu neuerdings noch angegammelten Pu-Erh-Tee, um später im orangenen Schein ihrer Salzkristalllampe Pfunde zu verlieren. Dazu plätschert im Hintergrund die neue Hildegard von Bingen CD, während der Sohn im Kinderzimmer Ethno-Pornos gucken darf. Verdammt aber auch, dass mir diese Soja-Creme besser als Schlagsahne schmeckt und bekommt. Bin ich schon mehr in den Fängen dieser Eso-Spießer als ich wahrhaben will oder sollte ich mir diese schmerzhaften Konstruktionen besser abgewöhnen?

Im Zoohaus riecht es nur eine Nuance bissiger, auf alle Fälle erinnert der Laden schwer an Tierquälerei. Ob wohl endlich mal einer dieser autoritären Punker mit Hund reinkommt, um seiner verlausten Fellhure ´nen Quietschball zu klauen? Triumphierend würde ich ihn verpetzen, die Verkäuferin würde mein Haupt streicheln, und endlich wären die gewaltsamen Übergriffe auf mein Ohr („Haste mal zehn Mark?“) gerächt. Da sind mit die Penner vor Aldi lieber. Die sind am Mittag schon immer so breit, dass sie meinen Peseta-Beschiß nicht bemerken. Unsinn, natürlich lege ich meinen Anteil am Sozialstaat jede Woche brav in Deutschmark in ihren Becher.

Großer Aldi, Bewahrer des sozialen Friedens in Deutschland. Ehrliches Gedrängel an der Kasse, hier trifft sich die Creme des Proletariats. Den Kassiererinnen macht niemand mehr was vor, sie pfeffern das Waren-Trennhölzchen mit zehnjähriger Erfahrung in die Edelstahlschiene. Genau diese Damen sollten man in die nächste TV-Diskussion-Runde um die „Zukunft der Arbeit in der Informationsgesellschaft“ einladen. Da würden die geleckten Schlaumeier aus der Cyber-Branche mal an der Basis der Werktätigen riechen. Der Türke vor mir furzt mit Würde in seinen grauen Anzug, während er zwanzig Dosen Hering in Tomatensoße aufs Band legt.

Auf dem Rückweg schweben Klänge in mein Ohr, locken mich. Nur ein östlicher Europäer ist fähig, Bach auf dem Akkordeon zu feiern. Meine Eile schwindet, zu zart und exakt ertasten seine Finger die Töne. Schwingende Schleifen dringen in mich ein, durchwuseln meinen Körper und gehen wieder ins Ganze zurück. Der Klang formt ein Gemälde von Escher, mein Blick ruht auf der abgewetzten Cordhose des Musikanten. Seine Augen geschlossen folgt er seinen eigenen Tönen, die schon da sind, bevor er sie gespielt hat. Goethe fällt später mir ein:

Es soll sich regen, schaffend handeln,

Erst sich gestalten, dann verwandeln;

Nur scheinbar steht’s Momente still.

Das Ew’ge regt sich fort in allen;

Denn alles muß in Nichts zerfallen,

Wenn es im Sein beharren will.

Aber was wußte Bach von den Zwängen der Konsums? Heute würde der Typ doch mampfend bei McDonalds sitzen, unfähig, das C an die richtige Stelle auf der Notenlinie zu setzen. Mit der Rolltreppe runter zu Schaulandt, dort, wo der Mensch der Technik die Seele einhaucht. Wenn es Elektro-Smog gibt, dann hier. Die sich eben noch in Ordnung befindlichen Atome in meinem Hirn zerfallen zurück ins Chaos. Juhuu, Freiheit des ungebundenen Seins. Wahnsinn, die Haare des Mädchens in der Musik-Abteilung. Ich greife zu und habe weder Hair noch Bach, sondern CD-Rohlinge in der Hand. Damit brenne ich mir heute abend kräftig einen rein.

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Elektronische Kultur

Big-Brother Award

Internet World 1/00

Big–Brother–Awards erstmals in Österreich verliehen

Jörg Auf dem Hövel und Thomas Barth

Die Idee einer jährlichen Auszeichnungen von Personen und Institutionen, die sich um unsauberen Umgang mit Datenschutz und Privatsphäre verdient gemacht haben, stammt von Simon Davies. Der Wahlspruch des Leiters von Privacy International: „We’ll name them and we’ll shame them!“ Nach ersten Verleihungen in den USA und England ist jetzt Österreich seinen Daten–Schmutzfinken zu Leibe gerückt. Neben Innenminister Schlögl und abhör–begeisterten EU–Parlamentariern gehörte auch Microsoft zu den glücklichen Gewinnern des Big–Brother–Awards.

Der Big Brother AwardWer am Nachmittag des Jahrestags des Erscheinens von Orwells „1984“, am malerischen Wiener Donaukanal flanierte, konnte vor dem Szenelokal Flex die Gruppe temperamentvoller Diskutanden kaum überhören. Berge von Computerausdrucken, Briefen und Notizen auf dem Kaffeetisch vor sich hektisch durchwühlend, wurden neugierige Frager ungewohnt barsch abgewiesen. Doch Wiener Charme milderte die Reaktion: „Normalerweise sind wir viel netter, aber jetzt sind wir im Stress wegen der Preisverleihung heute abend… komm doch heute abend um neun!“ Von einer Jurorin so freundlich eingeladen, wollte man die Auswahl der Award–Gekrönten dann nicht weiter stören. Zumal das Flex, das die phonstärkste Anlage Österreichs sein eigen nennt, zur Big–Brother Party mit DJ Hell „Eintritt frei“ versprach. Und so ließ man die Jury in Ruhe ihres Amtes walten, die unter anderem aus Vertretern der „Österreichischen Gesellschaft für Datenschutz“ und dem „Verein zur Wiederherstellung der Bürgerrechte im Informationszeitalter“ bestand.

Am Abend konnte sich selbst die kleine Delegation des Groupware–Projekts Puplic Voice Lab dann beinahe nicht mehr in den überfüllten Konzertsaal hineindrängeln. In diesem amüsierte sich das Publikum und die Veranstalter mit sich selbst, denn die Preisträger glänzten allesamt durch Abwesenheit. Besonders begehrt ist diese Auszeichnung nicht: Sie zerrt jene Personen und Institutionen ans Licht der Öffentlichkeit, die sich am Grundrecht auf Datenschutz in besonders ehrloser Weise vergriffen haben.

Politisch prominentester Preisträger war Österreichs Innenminister Karl Schlögl, der mit dem „Livetime Achievement“ für sein ganzes Lebenswerk belohnt wurde, in dessen Zentrum die Juroren die Überwachung der Bürger des 8–Millionen–Staates sahen. In Schlögls Amtszeit wurden Grundrechte wie Schutz von Privatsphäre und persönlichen Daten oder das Redaktionsgeheimnis wenig geachtet, dafür aber die polizeilichen Befugnisse trotz sinkender Kriminalität kräftig ausgeweitet. Wie es aus dem Innenministerium verlautete, nahm der Minister den Preis „zur Kenntnis“.

Doch nicht nur Prominente, auch politische Hinterbänkler bekamen ihr Fett weg: Acht österreichische Abgeordnete im Europaparlaments erhielten den Big–Brother Award „Politik“ für ihre Zustimmung zu den „Enfopol“–Abhörgesetzen (siehe IW 8/99). In der Award–Rubrik Behörden gewann das Österreichische Statistische Zentralamt mit seinem Plan, bei der Volkszählung im Jahr 2001 die erhobenen Daten mit jenen des Innenministeriums abzugleichen, um dem „gläsernen Bürger“ Orwells etwas näher zu kommen. Die Preise konnten sich sehen lassen: Kleine Plastikroboter wurden –in solide Blumentöpfe einbetoniert– als „Spitzel–Oskars“ stellvertretend von Treuhändern entgegen genommen, die sie den abwesenden Gewinnern tags darauf überreichen sollten.

Eine der zugespitzten Fragen des Abends lautete: „Was ist der Unterschied zwischen einem totalitären und einem autoritären Staat? –Der totalitäre Staat bespitzelt, foltert und ermordet seine Bürger –der autoritäre Staat überlässt viele dieser Tätigkeiten dem privaten Sektor.“ Ganz in diesem Sinne wurden auch Big–Brothers kleine Helfer aus dem Bereich der Wirtschaft mit Preisen bedacht: Die „laufende Publikation von unklaren und veralteten Wirtschafts– und Schuldnerdaten“ brachten der österreichischen Schufa, dem Kreditschutzverband von 1870 den BB–Award im Bereich Business ein. Die Auszeichnung für Schnüffelei in Medien und Kommunikation gewann die Schober Direct Marketing–Agentur, die sich mit ihrer umfangreichen Datensammlung über fünf Millionen Bürger brüstet.

In der Kategorie „Peoples Choice“ obsiegte die österreichische Niederlassung von Microsoft. Bill Gates guter Ruf war jedoch nicht der alleinige Anlass: Geehrt wurde der Versuch des Software–Giganten, LINUX–User durch die illegale Verwendung ihrer persönlichen Daten auszuhorchen. Im Auftrag Microsofts hatte die Unternehmensberatung „G3“ von Österreich aus gegen das norwegische Urheberrechtsgesetz verstoßen. „G3“ filterte bei einem norwegischen LINUXcounter systematisch die österreichischen Mailadressen heraus, ohne sich darum zu kümmern, dass auf der norwegischen Website ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass die kommerzielle Nutzung ihrer Adressen verboten sei. Die LINUX–Gemeinde wurde dann flächendeckend mit Fragebögen belästigt, mittels welchen ihre Einstellungen zu und ihr Einsatz von LINUX ausgeforscht werden sollte. Gefragt wurde unter anderem, ob LINUX Know How aktiv weitergegeben wurde sowie nach Beruf, Branche und Größe des Arbeitgebers. Erst nach Protesten und Medienberichten stellte Microsoft Österreich diese Praxis schließlich ein, die man wohl als ängstlichen Versuch einer Konkurrenzbeobachtung werten muss. Unklar bleibt, ob die so gewonnene Publicity eher Microsoft oder LINUX nützen wird.

Deutsche Datenschützer haben die Big–Brother Award–Verleihung bislang verschlafen, aber im nächsten Jahr sollte der 26. Oktober im Kalender rot angestrichen werden: Die FoeBuD, der Bielefelder Verein für sozialverträgliche Technikgestaltung, will den Big–Brother Preis auch in Deutschland etablieren. An Anwärtern wird es nicht mangeln, und deutsche Computernutzer werden ihre Nominierungsvorschläge dann wohl an die www.foebud.org senden können. Computerkünstler padeluun kündigte für den Verein an, die Verleihung in Kooperation mit anderen Gruppen zu organisieren: „Wir machen das!“. Thilo Weichert, Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Datenschutz (DVD), sagte eine Beteiligung bereits zu und auch das FIfF (Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung) sowie der Chaos Computer Club werden sich der Aktion vermutlich anschliessen.

Siehe auch

http://www.foebud.org

http://anders-verlag.de/

 

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Gesundheitssystem

Etwas schief ins Leben gebaut

Hamburger Abendblatt vom 8. Dezember 1999
Neu bearbeitet in: „Die neue Sonderschule“, Heft 4/2002
Online erschienen in FORUM. Das Online-Magazin für Behinderte Etwas schief ins Leben gebaut

Die Methode des Ungarn Andras Petö hilft behinderten Kindern

Maja braucht für den Weg vom Vorraum ins Spielzimmer eine Viertelstunde. Langsam und bedächtig geht sie die nur 15 Meter lange Wegstrecke, hält sich dabei am Sprossenstuhl fest und schiebt diesen Zentimeter für Zentimeter vorwärts. Hinter ihr achtet Edit Beke, 26, auf ihre Schritte. Sie unterstützt die spastisch gelähmte Maja nur wenig auf ihrem Weg, greift nur stabilisierend ein. Schliesslich erreicht das vierjährige Mädchen das Zimmer, wo es von den anderen begrüsst wird. Maja ist eines von neun hirnverletzten Kindern, welche im Institut „Schritt für Schritt“ in Hamburg-Rotherbaum nach der Methode des Ungarn Andras Petö sechs Wochen lang ein selbständiges Leben trainieren sollen.

Oft sind es Komplikationen bei der Geburt, die das Gehirn eines Säuglings schädigen. Sauerstoffmangel oder Hirnblutungen beeinträchtigen die Funktion des Denkorgans und führen später oft zu schweren Störungen der Koordination, zu Spastiken oder ständigen Muskelanspannungen. Betroffene Eltern stehen dann vor der Aufgabe, die richtigen Entscheidungen zu treffen; für viele Familien beginnt damit eine lange und kräftezehrende Suche nach einer geeigneten Methode zur Förderung ihres Kindes. In den meisten Fällen sind es technische Hilfsmittel wie Rollstühle und Schienen, welche die unkontrollierten Bewegungen des Kindes auffangen und so die Verletzungsgefahr mindern sollen. Klassische Krankengymnastik soll darüber hinaus helfen, den Bewegungsapparat geschmeidig zu halten. Allzu oft sind Eltern aber mit den Anforderungen, welches ein Leben mit einem behinderten Kind mit sich bringt überlastet. „Zum einen fehlt es an Kontakten zwischen den Eltern dieser Kindern, zum anderen führt eine zu umfassende technische Versorgung in der Regel zu Rückbildungen der Muskulatur beim Kind‘, erklärt Sigrid Hengvoß, 40, Ärztin am Institut „Schritt für Schritt“. Das grösste Problem allerdings sei, dass die unterschiedlichen Massnahmen untereinander nicht koordiniert werden.

Schon 1990 gründeten Eltern hirnverletzter und spastisch gelähmter Kinder deshalb den Verein „Schritt für Schritt“, aus dem später das Institut hervorging. „Um miteinander zu reden und sich gegenseitig den Rücken zu stärken‘, wie Wolfgang Vogt, 53, Gründungsmitglied der ersten Stunde, sich erinnert. Oft fehle bei Ärzten und im sozialen Umfeld der Glaube an deutliche Entwicklungsmöglichkeiten hirnverletzter Kinder. „Das wissenschaftliche Schrifttum in dem Bereich behauptet oft, dass es schon ein Erfolg sei, wenn der Status Quo gehalten wird“, ärgert sich Vogt. Kurz nach der Vereinsgründung hörten Vogt und seine Frau von den Erfolgen der Methode nach Andras Petö und reisten mit ihrer Tochter Victoria nach Budapest, wo das Petö-Institut seit 1984 staatlich geförderte Hochschule ist. Die Ausbildung ist gründlich: In einem vierjährigen Studium lernen die Studenten die Stränge der Bereiche der Physiotherapie, der Logopädie, der Ergo-Therapie und der Pädagogik zu verbinden und dürfen sich danach „Konduktoren‘ nennen. Für Familie Vogt stand nach kurzer Zeit der Entschluss fest, Konduktoren nach Hamburg zu holen, um die Petö-Methode in der Hansestadt zu etablieren.

Im Spielzimmer sitzt Maja mittlerweile am Tisch um zu frühstücken. Die drei anwesenden Konduktoren assistieren den Kindern bei der Mahlzeit. Die sechsjährige Merrit ist schon fertig, Edit Beke fordert sie zum Aufstehen auf, damit sie sich die Schuhe ausziehen kann. Wieder setzt ein Prozess ein, der viel Zeit braucht: Mit Mühe richtet sich das Kind auf, steht auf wackeligen Beinen, aber steht. Langsam bewegt sich Merrit vom Tisch weg, lässt sich auf die Erde nieder und öffnet die Schnürsenkel, zieht die Schuhe aus, dann die Socken. „Wir helfen so wenig wie möglich, so viel wie nötig“, bringt Beke ihre Arbeit auf den Punkt. Melanie hat mehr Mühe. Sie braucht den Sprossenstuhl um vom Tisch aufzustehen. „Kopf hoch, Popo nach vorne“, sagt Bela Mechtl, ein weiterer Konduktor, zu ihr, um im Anschluss zu fragen: „Wie gross bist Du?“. Das Kind ist deutlich angespornt, reckt sich, der Rücken ist gerade. Das Frühstück ist zu Ende, singend geht es nun weiter.

Im Gegensatz zu anderen Therapien geht Petös Ansatz von gänzlich anderen Voraussetzungen aus: Der Leitgedanke ist, dass es sich bei Hirnschädigungen nicht um eine Krankheit, sondern um eine Lernstörung handelt, die neben der Motorik die gesamte Persönlichkeitsentwicklung des Kindes beeinträchtigt. Nicht Fehler sollen korrigiert werden, sondern das Fehlende erlernt werden. In der Praxis bedeutet dies eine Orientierung an der Aneignung alltägliches Fertigkeiten, wie beispielsweise Anziehen und Essen. Ziel ist neben dem Erlernen motorischer Koordination die Integration ins gesellschaftliche Leben und vor allem die maximale Unabhängigkeit von Personen und Hilfsmitteln. Vogt legt den Ansatz in seinen Worten dar: „Jedes dieser Kinder will doch eigenaktiv am Leben teilnehmen. Und die konduktive Förderung nach Petö kommt und sagt: <Gut, Kind, ich zeige Dir, wie Du am Leben teilnehmen kannst. Auf deine ganz persönliche Art.>“

Auch Majas Mutter war zunächst über das Fehlen von Rollstühlen im Institut erschrocken. „Ich war skeptisch, weil Maja kaum Gleichgewichtssinn besass und zudem vor vielen Dingen einfach Angst hatte. Sie hat sich nichts alleine zugetraut“, erinnert sich Gabriele Münzer, 32*. Während der Wochen im Institut lernte Maja nicht nur das Gehen mit einer Vier-Punktstütze, sondern baute ein Selbstbewusstsein auf, welches sie heute Aufgaben positiver angehen lässt. Münzer: „Jahrelang war für mich klar, wie der Tag läuft. Ich hebe sie auf die Toilette, hebe sie wieder runter, ziehe sie an, trage sie zum Tisch. Auch ich habe hier gelernt, nämlich das ich Maja mehr zutrauen muss.“ Heute schiebt Maja ihren Kinderwagen alleine durch die Wohnung, sie geht alleine auf Toilette, das Essen geht ebenfalls leichter von der Hand. Münzer ist begeistert: „Das ist viel mehr, als ich mir erhofft habe.“

Eine Ursache für die Erfolge des Petö-Systems ist im zeitintensiven Programmaufbau zu sehen. Ein Blockkurs erstreckt sich über einen Zeitraum von sechs Wochen, wobei die Kindern täglich sechs Stunden im Institut verbringen. Das nachhaltige Training hat seinen Sinn, denn die Kinder sollen durchaus bis an ihre Grenzen gehen. Rita Mechtl, seit drei Jahren Konduktorin in Hamburg, erklärt ihr Ansinnen: „Wir verlangen viel, trauen den Kindern aber auch viel zu.“ Das gemeinsame Singen nach dem Frühstück gibt Rhythmus sowie gute Laune und hilft den Kindern das Tempo für die kommenden Bewegungsaufgaben zu finden. Das Ziel ist individuell unterschiedlich gesetzt, im Kern geht es aber darum brach liegende Körperfunktionen zu aktivieren. Nicht das Senken der Spastik, sondern der erleichterte Umgang mit ihr steht somit im Vordergrund des Lernens. Die These von Petö: Die noch gesunden Hirnpartien übernehmen die Funktionen der geschädigten Hirnteile am besten dann, wenn durch reproduzierte Bewegungsabläufe neue Muster im Gehirn geschaffen werden. „Die wichtigsten Routinen des Alltags können nur von einer aktiven Person erbracht werden“, sagt Mechtl und fügt hinzu: „Petö ist keine Wunderkur. Es muss über einen längeren Zeitraum konzentriert gearbeitet werden, um gesetzte Ziele zu erreichen.“

Einig sind sich Eltern und Ärzte darüber, dass ein Kind so früh wie möglich mit der Petö-Methode beginnen sollte. Während Kleinkinder zwischen einem und drei Jahren über einen Zeitraum von einem Jahr ein bis zwei Mal die Woche im Institut erscheinen, erhalten Jungen und Mädchen im Kindergartenalter Blockkurse von fünf bis sechs Wochen. Institutsärztin Hengvoß bindet die Eltern in den Lernprozess mit ein, am Anfang werden Ziele definiert, am Ende klärt ein Abschlussgespräch mit den Konduktoren welche Anschlusstherapien helfen und welche Übungen zu Hause durchgeführt werden können. Wie Hengvoß feststellt, ist ein häufig geäusserter Wunsch seitens der Eltern, dass ihr Kind laufen lernt. „Viele Kindern können allerdings nicht einmal sitzen, wenn sie zu uns kommen. Unser Ziel ist es daher, das aufrechte Sitzen zu lehren, denn dann kann gegessen, gelesen und geschrieben werden.“ Und die Konduktorin Mechtl ergänzt: „Eltern kommen mit hohen Erwartungen. Das ist ja auch gut so, denn man muss ja Hoffnung haben, aber man braucht auch viel Geduld.“

Der Tag am Institut ist vorbei. Maja ist erschöpft, aber zufrieden. Gabriele Münzer hat für den sechswöchigen Aufenthalt in Hamburg eine Wohnung angemietet, denn eigentlich wohnt sie mit ihrer Tochter und ihrem Mann in Bochum. „Das ist mir die Sache wert“, sagt sie, „denn Maja ist hier erheblich selbstsicherer geworden. Trotz ihrer Behinderung geht sie neuerdings Aufgaben ganz anders an. Sie versucht es, scheitert eventuell, aber versucht es dann halt noch mal.“

(* Name von der Redaktion geändert)

Weitere Informationen gibt das Institut „Schritt für Schritt“, Alsterterrasse 2, 20354 Hamburg, Telefon: 040 / 447262.

 

Die Petö-Methode

Das Prinzip der konduktiven Förderung nach Andras Petö geht davon aus, dass Bewegungsstörungen mit intensiven, die ganze Persönlichkeit des Kindes ansprechenden Fördermassnahmen gemildert und teilweise überwunden werden können. Das Konzept beinhaltet die tägliche Förderung der Kinder in der Gruppe unter Leitung von in Budapest ausgebildeten „Konduktoren“. Ziel ist die möglichst ausgeprägte Selbständigkeit des Kindes im Bewältigen alltäglicher Aufgaben. Dafür werden alltagsbezogene Aufgabenlösungen wiederholt durchgeführt. Dadurch lernen die Kinder eigene Problemlösungen zu erarbeiten, die eine weitere Entfaltung ihrer Persönlichkeit in motorischer, intellektueller und sozialer Hinsicht erlaubt.

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Medizin

Cannabinoid Forschung

Sichere Handhabung, unglaubliche Eigenschaften

In den USA etabliert sich die Erforschung der Cannabinoide

„Vor 1990 wußten wir nicht genau, wie Cannabinoide funktionieren“, gibt Norbert E. Kaminski, Professor für Pharmakologie an der Michigan State Universität zu. „Die meisten Forscher dachten, daß die Bestandteile des Cannabis unspezifisch wirken, indem sie aufgrund ihrer Löslichkeit in Fett die Zellmembranen durchdringen.“ Erst in den späten 80er Jahren gelang es, die für die Cannabinoide zuständigen Rezeptoren im Detail zu studieren. Neuen Aufschwung erhält die Erforschung der Hauptbestandteile des Cannabis nun durch Entscheidungen auf der politischen Bühne: Durch die Volksentscheide in Kalifornien, Arizona und anderen Bundesstaaten der USA, Marihuana als Medizin zuzulassen, sieht sich der Staat gezwungen, die Eigenschaften der einst verpönten Pflanze genauer unter die Lupe zu nehmen. Höchste Ebenen sind eingeschaltet: Das „Office of National Drug Control Policy“ hat die „National Academy of Science“ beauftragt in einer 18 Monate währenden Studie die wissenschaftliche Basis und den therapeutischen Nutzen des medizinalen Hanfs zu erforschen (www2.nas.edu/medical-mj/). Die Studie wird nicht vor Anfang 1999 veröffentlicht, fest steht aber schon jetzt, daß Cannabis damit in den erlauchten Kreis der soliden Wissenschaft eindringt.

Den großen Sprung machte das Wissen um den Rauschhanf mit der Entdeckung der Cannabinoid-Rezeptoren. Dies sind kleine Empfangsstationen in Hirn und Körper, an die zum Beispiel THC, der aktivsten Wirkstoff im Cannabis, andocken kann. Alle Substanzen, die an diese, CB-1 Rezeptor genannte Stationen andocken können, werden Cannabinoide genannt. Der 1988 entdeckte CB-1 Rezeptor kommt hauptsächlich im Hirn vor, der CB-2 Rezeptor wurde 1990 entdeckt und treibt sein Wesen im gesamten menschlichen Körper. Steven R. Childers, Professor für Physiologie und Pharmakologie an der Wake Forest Universität in Winston-Salem, ist begeistert: „Das schöne an den Entdeckungen ist, daß sie Chemiker auf der ganzen Welt dazu bringen, Derivate aller Art zu entwickeln.“ Die synthetisch hergestellten Cannabinoide wirken potenter und effektiver. Drei dieser Derivate gelten mittlerweile als Standard im Forschungsbetrieb. Sie hören auf die kryptischen Namen WIN 55212-2 sowie CP 55-940, die als Agonisten fungieren, und SR 141716A, der als Antagonist eingesetzt wird (siehe HANFBLATT April 98).

Steven R. Childers
Steven R. Childers

Goldgräberstimmung kam 1992 auf, als ein Team um Raphael Mechoulam an der Universität von Jerusalem entdeckte, daß in jedem menschlichen Körper ein körpereigenes Cannabinoid existiert. Das Team gab dem Neurotransmitter den Namen „Anandamide“, nach dem Sanskrit-Wort für „Glückseligkeit“. Und Jüngst entdeckte man ein anderes körpereigenes Cannabinoid (2-AG). „Sehr potent sind diese chemischen Verbindungen nicht“, stellt Childers fest, „in dieser Hinsicht haben sie Ähnlichkeit mit dem THC. Und sie sind extrem instabil.“

Noch eine große Überraschung wartete auf die Wissenschaftler: Entgegen den Erwartungen ist der CB-1 Rezeptor enorm häufig im Gehirn vertreten. Childers: „Niemand hat erwartet, daß der Rezeptor für Marihuana in so hoher Menge im Hirn existiert.“ Diese Entdeckung paßt für Childers trotzdem ins Bild der bisherigen Forschungsergebnisse. „Wir wissen durch eine Anzahl von Tierversuchen, daß Cannabinoide Auswirkungen auf das Kurzzeitgedächnis haben. Und das macht auch Sinn, denn im Hippocampus, einem Teil des Großhirns, kommen viele CB-1 Rezeptoren vor. Und der Hippocampus ist ein wichtiger Teil des Kurzzeitgedächnisses“, führt der Wissenschaftler aus.

Paul L. Kaufman
Paul L. Kaufman

Der Schritt von den Enthüllungen der Cannabinoid-Rezeptor Forschung zu konkreten medizinischen Anwendungen ist nicht immer einfach. Beim Glaukom, einer gefährlichen Erhöhung des Augeninndendrucks, hilft Marihuana nachgewiesenermaßen. Daß sich Gras nicht als Medikament durchgesetzt hat, hat seinen Grund nicht nur in der Illegalität der Droge und dem mangelnden Interessen der Pharmakonzerne.

Für Paul L. Kaufmann, dem Direktor des Glaukom-Zentrums an der Universität von Wisconsin in Madison, liegt dies eher an der Wirkungsdauer von Cannabis. Marihuana reduziert den Augeninnendruck nur für drei oder vier Stunden, muß aus diesem Grunde öfter am Tag angewendet werden. Was vom Konsumenten eventuell als angenehm empfunden wird, ist der Forscher Graus. Sie wollen ein Medikament, welches ohne psychoaktive Nebenwirkungen lange wirkt. Ein anderes Problem sieht Kaufmann darin, daß noch weitestgehend unbekannt ist, warum genau Cannabis den Augeninnendruck senkt. Kaufmann gibt zu bedenken: „Die Leute sagen, daß man Marihuana einfach legalisieren sollte. Dies ist nicht unsere Art ein Medikament zu entwickeln. Wir wollen die Mechanismen verstehen, die hinter den Vorgängen stecken, und dazu die Moleküle so verändern, daß man mehr von den positiven und weniger von den negativen Effekten hat. Dann folgen klinische Testreihen und am Ende hat man ein therapeutisches Produkt. So sollte auch beim Marihuana vorgegangen werden.“ Gleichwohl ist auch Kaufman von den neuen Erkenntnissen begeistert: „Wir können durch die Rezeptor-Forschung die hydrodynamischen Eigenschaften des Auges besser verstehen lernen.“

Sandra Welch
Sandra Welch

Ein weiterer Anwendungsbereich von Cannabinoiden sind deren schmerzstillenden Eigenschaften. Howard Fields, Professor für Neurology an der Universität von Californien in San Francisco, ist sicher: „Die momentane Explosion an Wissen über Cannabinoide, und hier vor allem das künstliche Herstellen von Agonisten und Antagonisten, wird uns befähigen, neue Schmerzmittel zu entwickeln.“ Seine Kollegin vom Medical College in Richmond, Virginia, stimmt zu: „Unser Ziel ist es, die Dosis der Cannabinoide soweit zu senken, daß kaum noch Nebeneffekte auftreten“, sagt Sandra Welch, Professorin für Pharmakologie. Wird Marihuana geraucht, nimmt der Konsument über 60 unterschiedliche Cannabinoide auf. Es ist zum Teil noch unklar, welche von diesen wie wirken, zudem muß noch erforscht werden, wie das Zusammenspiel der Cannabinoide funktioniert.

In den USA drängen mittlerweile immer mehr Forscher in das Gebiet der Cannabinoid-Forschung. Die Euphorie ist ungebremst: Angeheizt durch die gesellschaftlichen Umbrüche, die in Marihuana nicht mehr nur eine suchtbringende Droge sehen und den Fortschritten in der Rezeptor-Theorie erlebt das Wissen rund um die Cannabis-Pflanze einen enormen Aufschwung. Zunehmend werfen auch die großen Pharma-Konzerne ein Auge auf die Umtriebe, sie hoffen auf Medikamente, die die Kassen klingeln lassen. Auch namhafte Experten und Institute scheuen sich nicht mehr, Cannabis-Blüten ins Reagenzglas und unters Mikroskop zu packen. Mit der International Cannabinoid Research Society (ICRS) hat sich eine Organisation gegründet, die sich auf Cannabinoide konzentriert. Vor zwanzig Jahren galten Cannabinoide in erster Linie als Bestandteile einer Pflanze, mit der Mißbrauch (Rausch) betrieben wird. Heute steht dagegen die Erforschung eines der Hauptbestandteile des Neurotransmittersystems im Gehirn im Vordergrund.

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Drogenpolitik

Ein paar Thesen zur Drogenpolitik

 Thesen zur Drogenpolitik

Drogenpolitik schliesst den Umgang mit legalen psychoaktiven Drogen, wie Alkohol, Nikotin, Medikamente, Coffein-haltige Getränke etc. ein. Jedoch sind die Konsumenten illegaler Drogen auf Grund der bestehenden Gesetzeslage durch Strafverfolgung bedroht. Diese schafft erst viele der Probleme, die sich heute als „Drogenproblematik“ darstellen.

Die Trennung zwischen legalen und illegalen Drogen ist willkürlich. Dies gilt es zu belegen. Ziel muss es sein, die durch die gegenwärtige Rechtslage und den eingefahrenen gesellschaftlichen Umgang stigmatisierten und zumindest teilweise ausgegrenzten Gebraucher der „verteufelten“ Drogen aus dieser Situation zu befreien und die Trennung aufzuheben.

Dabei geht es letztlich nicht darum, zu beweisen, welche Droge, wie gefährlich oder harmlos ist, sondern um ein grundlegendes Menschenrecht: Das Recht, selbst zu entscheiden, welche Genussmittel oder Drogen man sich zuführt.

Um hierbei frei und verantwortungsbewusst handeln zu können, ist eine ausgewogene und fundierte Aufklärung vonnöten, die nicht auf unglaubwürdiger „Panikmache“ oder übertriebener „Verherrlichung“ beruht.

„Suchtkrankheit“ ist nicht ein Problem, das an bestimmte Substanzen gekoppelt ist. Die Ursachen für die Entwicklung abhängigen oder süchtigen Drogengebrauchs sind vielschichtig. Die gesellschaftspolitisch beeinflussbaren sozialen Umstände spielen dabei eine erhebliche Rolle.

Von der Drogenverbotspolitik Betroffene sind nicht nur die nach Jahren der Strafverfolgung verelendeten „Junkies“, sondern auch eine erhebliche Anzahl von Menschen, die weitgehend kontrolliert, genuss- oder selbsterfahrungsorientiert und relativ unproblematisch auch mit den illegalen Drogen umzugehen in der Lage sind. Diesen gilt es gerecht zu werden. Den anderen muss geholfen werden.

Wenn bestehende oder neue Institutionen zu aktuellen drogenpolitischen Themen kompetent Stellung beziehen wollen, dann sollten sie sich um eine unüberlegte Instrumentalisierung zu vermeiden, zuvor ausführlich mit den verschiedenen Aspekten der entsprechenden Thematiken auseinandersetzen.

Wie widersprüchlich und scheinheilig Drogenpolitik gemacht wird, spiegelt sich zum Beispiel konkret in der BtMG-Gesetzesänderung vom Februar 1998 wieder, bei der für eine erleichterte Methadonsubstitutionspraxis, die Kriminaliserung weiterer Gebraucher psychoaktiver Pflanzen in Kauf genommen wurde (Stichworte: Hanfsamenverbot, Verbot psiloc(yb)inhaltiger Pilze und meskalinhaltiger Kakteen =  Kriminalisierung des Natürlichen). Insbesondere das Verbot der Einfuhr von Kath (Catha edulis-Zweigen), ein traditionelles Genussmittel somalischer und äthiopischer Flüchtlinge und Einwanderer, ohne Rücksprache mit den Betroffenen, muss sich den Vorwurf machen lassen, zumindest ausgesprochen ethnozentristisch zu sein, zumal es kaum deutsche Gebraucher dieser nur frisch geniessbaren Pflanze gibt. Die Folge ist ausserdem: Es blüht ein nunmehr illegaler Import aus unseren freundlichen kleinen Nachbarländern.

 

Achim Zubke und Jörg Auf dem Hövel, Dezember 1999