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Das Pokerfieber grassiert – Warum Pokern zum Volkssport aufsteigt

telepolis, 18.01.2007

Warum Pokern zum Volkssport aufsteigt

Unangenehmes Gefühl, sich einem Anbieter von Online-Poker anzuvertrauen. Egal. Alles geht sehr schnell. Warum verlassen jetzt alle den Tisch? Ich hatte gerade zweimal hintereinander 30 Cent gewonnen. Und das mit relativ schwachen Blättern. Ein neuer Tisch muss her. Kein Problem, es sind knapp 15 Tausend Spieler online. Und das nachmittags um drei Uhr. Am nächsten Tisch sitzen zehn Spieler, da kommen schnell mal sechs Dollar im Pott zusammen. Pedrofino46 verlässt den Tisch, nachdem er zwei Dollar gegen mein 10er Pärchen verloren hat. Die Karten sind mir hold, ich setzte nur bei guten Blättern und gewinne innerhalb von einer halbe Stunde 14 Dollar. Große Sache.

Pokern ist beliebt. Bei Stefan Raab zocken die Promis, James Bond spielt in „Casino Royale“ nicht mehr Baccarat, wie in der ursprünglichen Geschichte von Ian Fleming, sondern pokert den Bösewicht in Grund und Boden, DSF überträgt ganze Turniere. Jetzt ist die Sportwettenfirma bwin (1) mit einer Casinolizenz aus Gibraltar ins Geschäft eingestiegen und Anbieter aus den USA drängen auf den europäischen Markt. In Deutschland grassiert das Poker-Fieber.

Am besten nachweisen lässt sich der Hype bei den Zubehör-Händlern, Vereinen und Online-Casinos. „Wir haben 2006 unseren Absatz im Segment Pokern mehr als verfünffacht“, bestätigt der Geschäftsführer der Altenburger Spielkartenfabrik, Peter Warns. Im Weihnachtsgeschäft waren Poker-Koffer mit Kartenspiel und Chips einer der Verkaufsschlager im Einzelhandel.

Lizenz zum Gelddrucken

Die German Poker Player Association (2) veranstaltet Turniere in ganz Deutschland, monatlich nehmen hier mittlerweile über 5.000 Spieler und Spielerinnen teil. Auch die staatlich lizenzierten Casinos veranstalten regelmäßig Pokerevents. Wo früher ein Turnier die Woche ausreichte, gehen heute an vier Abenden in der Woche Chips über den Tisch. Am 15. Januar 2007 startet die offene deutsche Pokerliga (3) mit einem Qualifikationsturnier in die erste Saison. Gewonnen werden können hier nur Sachpreise.Pokercards

Beim großen Online-Pokeranbieter Partygaming (4) geht es um mehr. Hier sind zeitweise über 70.000 Spieler auf den Servern eingeloggt, die um teilweise hohe Summe pokern. Im vergangenen Jahr setzte das Unternehmen alleine in der Pokersparte über 800 Millionen Dollar um, das meiste davon in den USA. Die Firma Pokerstars (5), über den Ableger PartyPoker einer der Hauptsponsoren vieler deutscher Pokerevents, gilt als eine der weltweit größten Glücksspielfirmen in privater Hand. Aufgrund der heiklen Rechtslage ist das Geschäftsmodell verzweigt: Pokerstars ist in Besitz einer Holding aus Costa Rica, Rational Enterprises, der Hauptsitz ist allerdings auf der Isle of Man in der irischen See. Das sichert Steuervorteile. Um auch in Übersee agieren zu können hat man sich eine Online-Glückspiel-Lizenz aus dem Kahnawake-Indianerreservat in der Nähe von Québec, Kanada, beschafft. Das dortige Rechenzentrum hostet diverse Gambling-Provider. Die Indianer pochen auf ihr Recht auf Autonomie, die kanadischen Behörden beäugen die Aktivitäten kritisch, zudem wächst der Druck aus den USA.

Dort sind die goldenen Zocker-Zeiten seit Oktober 2006 vorbei. Im Rahmen des SAFE Port Act (6) (H.R.4954) wurde der UIGEA (Unlawful Internet Gambling Enforcement Act) verabschiedet, danach sind keine finanziellen Transaktionen von US-Konten zu Online-Casinos mehr erlaubt. Die Folge: Spieler und Anbieter zieht es in die alte Welt.

In Deutschland lässt bwin keine US-Bürger an den Tisch. Gleichwohl wird in Dollar abgerechnet. Der Umsatz innerhalb eines Quartals stieg 2006 von 1,9 auf 2,7 Millionen Euro. Alles in allem soll die Poker-Branche in Deutschland im Jahre 2006 über 23 Millionen Euro umgesetzt haben, das Wachstum wird auf 50 Prozent geschätzt. Die virtuellen Pokerräume verdienen ihr Geld, indem sie von jedem gespielten Pot einen kleinen Betrag einbehalten, in der Regel fünf Prozent.

Poker in Brüssel

Das Treiben spielt sich vor dem Hintergrund einer unsicherer Rechtslage ab. Glücksspiel ist in Deutschland nur in lizenzierten Casinos erlaubt, das Onlinepokern ist demnach illegal. Jeder, der ein Glücksspiel mit Geldgewinnmöglichkeit ohne Lizenz öffentlich anbietet, macht sich strafbar. Doch die virtuellen Spielstätten haben ihren Geschäftssitz im Ausland. Noch hat keiner versucht sie zu zwingen, keine Spieler aus Deutschland mehr anzunehmen.

In den Poker-Foren wird nun diskutiert, wie es mit Pokern und dem staatlichen Glücksspielmonopol weitergehen soll: Ist Poker überhaupt ein Glücksspiel? Trotz der möglichen Minimierung des Faktors Glück durch Erfahrung, Finesse und Taktik obliegt die Verteilung der Karten naturgemäß Fortuna. Gleichwohl stellt sich ein Phänomen ein, das von Skat und Backgammon bekannt ist: Auf lange Sicht gewinnt der bessere Spieler. Nur will natürlich niemand zugeben, dass er kein guter Spieler ist.

Schon melden sich daher die auf den homo ludens spezialisierten Suchtforscher zu Wort. Mit dem Hype, so die wohl folgerichtige Annahme, wird auch die Zahl derer steigen, die mit der Droge Poker Probleme kriegen. Nur Laien wundern sich darüber, dass der Staat sich in Doppelmoral verstrickt, indem er einerseits vor Glücksspiel warnt, andererseits daran verdient. Dies ist bei Tabak- und Alkohol nicht anders.

Die Branche hilft sich derweil mit Sachpreis-Turnieren, für ein Full House gibt es vorerst nur Kassler und Handkreissägen. Man hofft auf Brüssel, denn dort wird entschieden, ob das deutsche Glücksspielmonopol mit europäischem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. „Es wäre nicht der erste Fall, bei dem Europa seine Befugnisse klar und deutlich demonstriert“, sagt Markus Maul vom Verband Europäischer Wettunternehmer (VEWU).

Privatsache

Ehrlicher als bei anderen TV-Ereignissen zeigt Pokern, worum es den Beteiligten geht: Geld. Und offener als bei anderen „Sportarten“ ist der finanzielle Aspekt deutlich zu sehen. Neben dem Bluff ist es vor allem das stets sichtbare und greifbare (Spiel-) Geld, das den Reiz von Poker ausmacht. Zudem umweht die Beteiligten ein Hauch von „Jedermann“. Es scheint, als ob wirklich jeder die Spielregeln begreifen kann. Der Rest ist dann Chuzpe. Dass die Sendungen im TV so gut ankommen, liegt auch an der Einführung der Unterglastisch-Kameras und der Einblendung der Wahrscheinlichkeiten für die vorliegenden Blätter. Der Zuschauer weiß mehr als alle am Tisch.

Die populärste Pokervariante ist Texas Hold’em. Dabei werden fünf Karten vom Kartengeber offen aufgedeckt. Vorher erhält jeder Spieler zwei verdeckte Karten, die er mit Karten aus den fünf offenen zu einer Hand aus fünf Karten kombinieren kann – die beste Kombination gewinnt.

In kleinen Privatrunden zeigt Pokern schnell die Grenze der Freundschaft auf. Wirklich spannend empfinden viele das nämlich Spiel erst, wenn die Chips reale Euros repräsentieren. So gehen am Abend schnell 20 Euro, gerne aber auch mal 100 Euro verloren. Und während die Skatkasse am Ende des Jahres gemeinsam versoffen wird, sind Pokerschulden sofort zu begleichen. Nach der Pokerweisheit, dass man nicht die Karten, sondern den Gegner spielt, herrscht gespannte Beobachtungs-Atmosphäre. Bunte Abende, an denen am Tisch munter gelacht wird, sind unter diesen Bedingungen selten. Spinnt man diesen Gedanken weiter, ist Pokern Private-Equity im Kleinformat, der Einsatz kurzweilig angelegtes Risikokapital, die Beteiligten spielen für einen Abend Heuschrecke. Das kann man mögen, besonders lustig ist es auf Dauer nicht.

Das Fernsehen versucht derweil, aus den professionellen Kartenhaltern echte Stars zu machen. Der pöbelnde Australier Toni G, der stets Wert auf die Feststellung legt, sein Land zu vertreten, der coole Libanese Sam Farha, der aufgrund des Rauchverbots immer mit trockener Zigarette auftritt. Und natürlich der Moneymaker, dessen Traumsieg bei der World Series of Poker 2003 vielen als Vorbild gilt. Er qualifizierte sich über das Internet und gewann nach einem Turnier-Marathon gegen mehr als 800 Gegner 2,5 Millionen Dollar. Heute verdient er als Werbträger mehr. Vielleicht ist das die Nachricht, die für alle so verlockend ist: Mit Pokern kann jeder reich werden.
Links
(1) http://www,bwin.de/
(2) http://www.gppa.de/
(3)
(4) http://www.partygaming.com/
(5) http://www.pokerstars.com/
(6) :

Telepolis Artikel-URL: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/24/24412/1.html

 

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Lob der Übertragung. Die Kunstwerke der Ulrike Willenbrink

Für den Austellungskatalog „Werkknospen“, Hamburg 2003.

Lob der Übertragung Spannend wird es immer dann, wenn das Rätsel in einem Bild kein Denksport ist. Vor einem Bild von Ulrike Willenbrink stehen – dies strengt nicht den Kopf an, sondern lässt den inneren Ausguck rufen: „Land in Sicht!“. Alles weitere ist Schöpfung, anders gesagt, eine Geschichte, gebildet aus zwei Ideen, die sich finden. Es amalgieren das visuelle Gefühl der Künstlerin und der launig-deutende Plan des Betrachters. Was dabei rauskommt? Dichtung und eben auch ein Stück persönliche Wahrheit; wohlgemerkt eine Wahrheit, die man lächelnd ertragen kann.

Aber werden wir ruhig etwas konkreter. Am Anfang ist das gezeichnete Wort, gedruckt beispielsweise in einer orientalischen Zeitung, von Willenbrinck kaschiert auf Pappe. Diese Erzählung bildet den greifbaren Hintergrund, die haptische Basis vieler Bilder. Wer lustig ist, darf hier fragen: Sollte das Geheimnis des Werkes in diesem kalligraphischen Code aufbewahrt sein? Mitnichten, oder sagen wir lieber: nicht nur. Denn auf diese exotischen Buchstabensuppe folgt die Umwandlung der willenbrinkschen Umwelt: Gerüche, Pollen- oder Funkenflug, das Lächeln der Nachbarin – oft lässt sich auch eine geflügelte Tortenboden- Ornamentik auf dem Bild nieder. Ebene auf Ebene, Collage auf Collage, so erzählen Schichten die Geschichte, wobei die transparente Übermalung den Blick auf den Grund des Bildes frei hält.

Ein Titel muss nicht die inhaltsschwere Grundaussage eines Werkes repräsentieren. Im Gegenteil, die vermeintliche Tiefsinnigkeit einer Benennung ist oft nur Merkmal einer andauernden Krisenstimmung des Künstlers. Willenbrink geht anders vor: Sie malt, inspiriert beispielsweise von einer Reise nach China, und während der Gestaltung läuft ihr der Titel zu. Glaubt man den Aussagen der Künstlerin, muss sie dabei oft lachen. In der Folge verändert der gewonnene Titel die weitere Schöpfung des Werkes. So ist er für Willenbrink wie für die Rezipienten seltener Hilfestellung als vielmehr Schmunzelanleitung.

Ist eine Kaffeetasse komisch? Für Willenbrinck schon. Oder um es mal anders herum zu sagen: Wer das Leben ernst nimmt, dem seien diese Bilder als therapeutische Wärmflaschen ans Herz gelegt. Das uns umgebene „Leben unter der Woche“ wird hier im Detail aufgelöst und anschließend lächelnd gewendet, so für uns gedreht, dass die verschüttete Wunderlichkeit neu zu Tage tritt. So was nennt sich Ironie des Alltags.

Jörg Auf dem Hövel

 

 

WALDFEE

WALDFEE (Ulrike Willenbrink, 1999, Mischtechnik auf Papier 67 x 97 cm)

 

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Nach dem unblutige Putsch in Thailand ist wieder einmal König Bhumibol gefragt. Wer ist dieser Mann?

telepolis, 20.09.2006

Der Monarch, das Militär, die Demokratie

Nach dem unblutige Putsch in Thailand ist wieder einmal König Bhumibol gefragt

Der eloquente Thaksin Shinawatra scherzte gerade mit den Diplomaten und Geschäftsleuten in New York, als ihn die Nachricht von seiner fristlosen Kündigung erreichte. Die Armeeführung hatte Thailands Ministerpräsidenten abgesetzt, gerade einmal zehn Panzer in Bangkok und ein paar königstreue Lieder im landeseigenen Armee-TV haben ausgereicht, um das seit Monaten andauernde Machtvakuum zu beenden. 15 Jahre lang hatte sich das Militär das demokratische Treiben im Land angeschaut, nun folgte der 20. Staatsstreich seit 1932.

Shinawatra hat sich nach London abgesetzt und wartet ab. Noch schweigt der Palast unter König Bhumibol, ihm wird aber bei der Re-Demokratisierung des Landes eine entscheidene Rolle zukommen. Ein „Rat für demokratische Reformen unter der Monarchie“ unter Generalleutnant Sonthi Boonyaratglin erklärte: „Wir haben nicht die Absicht zu regieren, sondern werden die Macht sobald wie möglich an das Volk zurückgeben, um den Frieden wiederherzustellen und die Ehre des Königs, dem Verehrtesten aller Thais.“

Das Berufen auf den König ist seit Jahrzehnten die Allzweckwaffe in Thailand, um sich der Unterstützung der Gesellschaft sicher zu sein und zugleich soziale Ruhe zu verordnen. Auch die aktuell putschenden Soldaten tragen gelbe Bändchen, um ihre Solidarität mit der Monarchie zu bekunden. Die in protestfreudigen Studenten Bangkoks wurden aufgefordert Demonstrationen zu unterlassen, sie sollten sich aber am „demokratischen Wiederaufbau des Landes“ beteiligen. Die Medien wurden aufgefordert „wahrheitsgemäßt und konstruktiv zu berichten, um die Einheit des Landes zu fördern“. Die Webseiten der großen Tageszeitungen Bangkok Post, The Nation sind erreichbar.

Obwohl Bhumibol Adulyadej der am längsten regierende Monarch der Erde ist, bleibt seine zentrale Funktion im politischen Systems Thailands seit Jahrzehnten unbeleuchtet. Der Journalist Paul M. Handley hat genauer hingesehen und legte vor kurzem die erste umfassende Biographie des Königs vor (Paul M. Handley: The King Never Smiles). In Thailand hat man bereits reagiert: Das Buch ist nicht zu erwerben, Teile der Website des Verlages sind gesperrt.

Wahrhaft neues aus dem politischen Intimbereich des Palastes deckt Handley nicht auf, seine Recherchen stützen sich auf akribische Auswertung von Sekundärliteratur und Print-Medien. Warum dann die Aufregung um das Buch? Es reicht aus, dass Handley ein zum Teil differenziertes, zum Teil skandalbemühtes Bild zeichnet: Ein König, der zwischen buddhistisch-thailändischer Tradition und Hightech-Moderne, dem starken Militär und der demokratischen Bewegung balanciert will. Dabei steht Bhumibols Handeln stets unter der Prämisse Einfluss auf die Prozesse im Land zu behalten.

Die Amtsgeschäfte übernahm der neunte Spross der Chakri-Dynastie im Juni 1946. Seine Anhänger suchten den thailändischen Staat wieder mehr um den Thron herum zu organisieren. Wer immer dazu bereit war der Monarchie mehr Macht zuzubilligen, der war als Verbündeter willkommen. Zugleich passte die Person Bhumibols gut in die Pläne: Er sprach der Tradition des Theravada-Buddhismus zu und meditierte regelmäßig. Vierfünftel der Thais lebten damals auf dem Land, ihr Leben war rund um den Wat, die buddhistische Tempelanlage, organisiert. Hier viel die Idee eines selbstlosen, von politischen Querelen weithin unberührten König auf fruchtbaren Boden. Die lokale Verwaltung galt schon damals als inkompetent, Gesetze oder gar eine demokratische Verfassung als unberechenbar.

Trauriger Mann

Selten, dann aber mit weisen Worten, wandte sich der junge König an sie, seine Hilfsprojekte überzogen merklich das Land. Er gilt bis heute als Fels in der Brandung in unsicheren Zeiten: Stets diszipliniert, gleichmütig und vor allem über alle Maßen ernsthaft. Die gerne fröhlichen Thailänder sahen in diesen Eigenschaften eine Nähe zur Buddha-Natur. Eine Sicht, die vom Palast gerne gestützt wurde.

Es ist bis heute unklar, inwieweit Bhumibols kontinuierlich traurige Nachdenklichkeit eine mediale Konstruktion oder eine ihm innewohnende Eigenheit ist. So oder so sorgte die PR-Abteilung des Palastes schon früh dafür, dass keine Fotos eines lächelndes Monarchen mehr in die Öffentlichkeit gelangten. So entstand zwischen den 60er und 80er Jahren ein sakraler Nimbus, der sich bis heute zu einer religiösen Verehrung weiterentwickelt hat.

Für westlich-verweltlichte Beobachter ist es mehr als ungewöhnlich, wenn in Bangkok ganze Straßenzüge bei der Durchfahrt des königliche Autokorsos niederknien. Verehrung und Etikette gehen so weit, dass Bhumibol einmal annähernd an einem Kreislaufkollaps gestorben sein soll, weil niemand der Anwesenden ihm helfen wollte – die Regeln am Hof verbieten die Berührung des Königs. Abseits solcher Anekdoten ist mittlerweile klar, dass neben dem Volk auch der König selbst an seine Rolle als Vater der Nation glaubt.

Seit Beginn seiner Amtsübernahme steht Bhumibol unter scharfer Beobachtung der Militärs, die in Thailands Politik bis heute eine wichtige Rolle bei der Besetzung der zentralen politischen Posten spielen. Der aktuelle Staatsstreich ist nur, so bleibt zu hoffen, ein weiteres Intermezzo auf dem langsamen Weg Thailands in eine monarchistische Demokratie.

Bei Wohltätigkeitsveranstaltungen sammeln Bhumibol und seine Frau Sirikit jährlich Millionen von Baht ein, um damit Agrar- und andere Projekte zu finanzieren. Für die Thais ein Zeichen von Großmut, für Beoabchter nur ein weiterer Beweis für den unbedingten Willen des Königs, veraltete Wirtschaftskonzepte durchzusetzen und dies mit geschickter Public Relation zu verbinden. In den frühen 60ern, so behauptet Handley, hatte das Informationsministerium der USA die PR für die thailändische Regierung praktisch komplett übernommen. Equipment und Know-How wurden gestellt, über den Äther liefen entweder anti-kommunistische oder pro-monarchische Plattitüden.

USA als Verbündeter

In den Zeiten des Kalten Krieges positionierte Bhumibol sich deutlich gegen den Kommunismus, der aus seiner Sicht eine Gefahr für das Land darstellte. Im benachbarten Laos mobilisierte die nationalkommunistische Gruppe „Pathet Lao“ mit Unterstützung aus Hanoi die Massen, die Regierung in Bangkok bemüht sich um den Schulterschluss mit den USA. 10.000 US-Soldaten wurden 1962 auf Geheiß von John F. Kennedy eingeflogen. Schon zwei Jahre zuvor war die königliche Familie über einen Monat lang durch die USA gereist, Bhumibol, ein begeisterter Jazz-Musiker, hatte mit Benny Goodman spielen dürfen und neben Disney World auch IBM besucht. Der drohende Konflikt mit Laos kühlt schnell ab, die US-Truppen blieben. Im Gegenzug sandte Thailand im September 1967 10.000 Soldaten nach Saigon.

In den 60er Jahren wurden immer wieder Studenten, liberale Politiker und auch politisch aktive Mönche inhaftiert, die Führung des Landes wandert von einem Militär-Regime zum nächsten. Die protestierenden Hochschülern rät Bhumibol zu studieren statt zu demonstrieren. Es bildet sich ein Phänomen heraus, das sich bis in die heutige Zeit zieht: Der Palast steht, manchmal befürwortend, manchmal kritisch, aber meist schweigend an der Seite der Machthaber und bemüht sich, nicht in das Kräftefeld der rivalisierenden Parteien zu geraten.

1968 wird mit der neuen Verfassung ein Zweikammerparlament eingeführt. Die 219 Mitglieder des Unterhauses werden zwar gewählt, die 164 Senatoren des Oberhauses aber vom König eingesetzt. In der Praxis verfestigt dies die Macht des Premierministers und des Königs. Beide können zudem ein Veto gegen Gesetze einlegen. Aber der Samen für die freie Meinungsäußerung war gelegt. Für Bhumibol eine ambivalente Situation: Das ihn liebende Volk wollte Kritik üben, wenn nicht an ihm, so doch an den bestehenden Verhältnissen. In allen zukünftigen Auseinandersetzungen wähnten stets beide Seiten den König auf ihrer Seite. „Wir lieben den König“ und „Mehr Macht für den König“ sind bis heute gängige Transparent-Aufschriften auf Kundgebungen, die von allen Parteien genutzt werden.

Bhumibol zeigte sich derweil besorgt, dass mit dem Easy-Going-Mentalität seiner Landsleute keine Staat zu machen sei. Er mokierte in öffentlichen Ansprachen, dass die buddhistische feine Art, kein Verlangen nach irdischen Gütern zu entwickeln (non-desire), keine Zukunftsträchtigkeit besäße. Er proklamierte „harte Arbeit“, ein unbedingter Einschnitt in die moralische Lebenswelt der buddhistisch geprägten Thailänder. Aber sie folgten ihrem König auch hier. Bangkok 2006

Im Oktober 1973 kam es in der Folge von Protesten von Studenten der Thamasat-Universität gegen den Amtsinhaber Feldmarschall Thanom Kittikachorn zu einem Machtwort des Königs, das seine Ruf als Bewahrer der Nation festigte und bis heute als der Wendepunkt in der thailändischen Demokratie-Geschichte gilt. Mehr als 70 Personen waren in einem Kugelhagel gestorben, Militärs hatten auf friedliche Demonstranten geschossen. Kittikachorn flüchtete in die USA, Bhumibol erklärte die Regierung für aufgelöst und ernannte den Sanya Dharmasakti, den Rektor der Thamasat-Universität, zum neuen Premierminister. Aber der Geist von Kittikachorn war nicht gebannt.

Autoren wie Handley sind sich sicher, dass auch diese Episode weniger die neuentdeckte Leidenschaft des Königs für die Belange der Demokratie bewies, sondern nur seine Ordnungsliebe. An einer sozio-politischen Wende im Land, so die Meinung, sei Bhumibol nicht interessiert gewesen, sondern an Stabilität und Wiederherstellung der Ordnung. So oder so: Seit dieser Zeit ist Bhumibol eine, wenn nicht sogar die zentrale Figur im politischen Systems Thailands.

Village Scouts

In den 70er Jahren folgte Bhumibol weiterhin den Klängen des Kalten Krieges und unterstütze die Bewegung der sogenannten „Village-Scouts“. Dies waren dörfliche Vereine, die strenge Traditionen bewahren und das Land vor der kommunistischen Gefahr schützen sollten. Zeitgleich gründeten sich Organisationen wie Krating Daeng (Red Gaur) und Navapol, die im Namen der nationalen Sicherheit Krawall und Vigilantentum gegen alles und jeden betrieben, der im Verdacht stand, anti-royalistisch oder kommunistisch zu sein. Der Palast schwieg wieder einmal; sogar noch, als die Gruppen anfingen, Sprengsätze während Studenten-Demonstrationen zu zünden.

Höhepunkt der anti-kommunistischen Hysterie war der 6. Oktober 1976. Arbeiter und Studenten hatten sich in den letzten Wochen vereinigt, um gegen die Rückkehr des Ex-Premiers Thamon Kittikachorn zu protestieren. Dieser war in einer klassischen Mönchskutte aus dem Flieger gestiegen und direkt zum Wat Bovonives gefahren, um sich dort zum Priester weihen zu lassen. Kronprinz Vajiralongkorn machte ihm seine Aufwartung, die Bevölkerung war mehrheitlich entsetzt, die Universität wurde von mindestens 10.000 Studenten und Demonstranten besetzt.

Village Scouts, Krating Daeng, Navapol und das Militär strömten nach Bangkok. Kurz vor Sonnenuntergang begannen die Truppen und die lokale Polizei wahllos in die Menge zu schießen, Granaten wurden auf das Gelände gefeuert, flüchtende Menschen in den Rücken geschossen. Offizielle Zahlen sprachen von 46 Toten, inoffizielle von weit über 100. Die Macht ging in die Hände einer Gruppe von Generälen über, ein paar Tage später wurde der Favorit des Palastes, Tanin Kraivixien, zum neuen Premierminister ernannt.

Nur ein Jahr später kam es zu einem erneuten Putsch, dieses Mal übernahm ein gewisser General Kriangsak Jamanandana die Macht. Diese Website gibt eine gute Übersicht über die wechselvolle Geschichte des thailändischen Kabinetts. Die Tradition der ständigen Staatsstreiche setzte sich fort, die Taktik ist bis in die 90er Jahre hinein die gleiche geblieben: Zunächst Angst, dann Unruhe und schließlich Gewalt erzeugen, die Polizei machtlos halten, schließlich das Militär einsetzen.

Lèse-Majesté

Eines wird ausländischen Besuchern und Pressevertretern schon kurz nach dem Ankommen in Thailand klar – oder gerne auch zügig klar gemacht: Fragen nach oder Kritik an Monarchie oder König sind unerwünscht. Der gute König von Siam wird hoch verehrt, er gilt als Bewahrer des inneren Friedens des Landes. Seit dem 2. Weltkrieg diente der Tatbestand der „Majestätsbeleidigung“ verschiedenen Ministerpräsidenten und hohen Beamten dazu, unliebsame Gegner inhaftieren zu lassen. Dies geschah beispielsweise mit einem Mann, der öffentlich behauptet hatte, die Monarchie stehe nicht über der Politik. Die Folge: Drei Jahre Gefängnis. Ein Bauer wurde verurteilt, weil er seinen Hund nach dem König benannt hatte. 1984 wurde der Intellektuelle Sulak Sivarak verhaftet, er hatte dem Palast vorgeworfen, die neueren Entwicklungen in Thailand zu verschlafen. Der Wunsch nach Veränderung der sozialen Verhältnisse wurde von irregeleiteten Monarchisten immer wieder als Angriff auf den Thron gedeutet. Heute wird das Gesetz kaum noch angewandt, gleichwohl hält sich das Volk daran. Allerdings meist nicht aus Angst, sondern aus innerer Überzeugung. Die Verehrung gegenüber dem König sitzt so tief, das die meisten Thailänder die Beschneidung der Meinungsfreiheit einfach nicht empfinden.

Ein paar weitere Zahlen: 1988 lebten 25 Prozent der Familien unter der offiziellen Armutsgrenze, die Reichen 20 Prozent verdienten 56 Prozent des inländischen Einkommens. Jeder fünfte Schüler genoss nur vier Jahre Schule. In den Augen der Bevölkerung war es egal wer sie regierte, ihr Lebensverhältnisse blieben unter gewählten Ministerpräsidenten wie diktatorischen Generälen gleich schlecht. Ein erneuter Putsch des Militärs 1991 wurde von Bhumibol erduldet, in seiner traditionellen Geburtstagsrede am 4. Dezember bezeichnete er demokratischen Prinzipien als „hochintellektuelle Ideale, die eine Gesellschaft schwächen können“. Aus buddhistischer Sicht, so Bhumibol, seien auch Verfassungen zu unbeständig, um die Ordnung einer Gesellschaft zu garantieren. Kaufhaus in Bangkok

Nur ein Jahr später kam es erneut zu Protesten, die sich gegen die Regierung von General Suchinda richteten, wieder eröffnete das Militär das Feuer, Hunderte starben, Thailand stand am Rande eines Bürgerkriegs. Bhumibol lud Suchinda und den Oppositionsführer Chamlong zu einer Audienz, die später wohlüberlegt im Fernsehen gezeigt wurde: Beide Männer knieten vor dem König. Succhinda trat als Premierminister zurück, blieb aber als Verteidigungsministern im engen Dunstkreis der Machtelite. Es folgten Wahlen, Chuan Leekpai von der „Democrat Party“ wurde Premier.

2001 übernahm der bis vor kurzen amtierende populistische Premier Thaksin Shinawatra von der TRT-Partei („Thai Rak Thai“ = Thais lieben Thais) die Regierungsgeschäfte. Wie bei allen Premiers vor ihm durchziehen auch seine politische Existenz Finanz-Skandale und Korruptions-Affären. Der Medienmogul Sonthi Limthongkul lancierte 2005 eine Kampagne, die vor allem bei der urbanen Bevölkerung gut ankam: Man warf Shinawatra Amtsmissbrauch vor. Eigentlich nichts neues bei einem thailändischen Politiker, aber die Massen waren wieder einmal mobilisiert. Dazu kamen absurde Vorwürfe, die Shinawatra als Hintermann der Zerstörung des heiligen Phra Phrom Erawan Schreins denunzierten.

Im Februar 2006 beantragten 28 Senatoren beim Verfassungsgericht ein Amtsenthebungsverfahren, Shinawatra rief daraufhin Neuwahlen aus, die Opposition boykottierten die Wahl, die TRT gewann sie. Wieder griff Bhumibol ein, nach einer Audienz beim König erklärte Shinawatra seinen Rücktritt. Später erklärte das Verfassungsgericht die Wahlen für ungültig, nun sollte am 15. Oktober 2006 neu gewählt werden. Umfragen deuteten auf einen erneuten Sieg der TRT hin. (Einen guten Überblick über die Krise gibt dieser Wikipedia-Eintrag.

Welche Parteien zu den nun von General Sonthi Boonyaratglin für Ende Oktober angesetzten Neuwahlen zuglassen und welche Rolle die TRT und die „People’s Alliance for Democracy“ (PAD) dabei spielen werden ist unklar. Einen längeren Einsatz des Militärs, so scheint es zur Zeit, wird das Land nicht erdulden müssen. Wichtig war den Putschisten primär die endgültige Entmachtung Shinawatras – darin war man sich mit König Bhumibol einig.

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Deutschlands Küsten werden sich auf den Klimawandel einstellen muessen

telepolis, 14.09.2006

Kein Land in Sicht

Klar ist: Der Klimawandel ist Realität, die Erdatmosphäre erwärmt sich. Klar ist auch: Das wird globale Auswirkungen auf das Wetter und den Meeresspiegel haben. Auf einem Kongress in Hamburg wollten Experten nun klären, was auf Deutschland dabei zukommt.

Es ist amüsant und erschreckend zugleich, mit welcher Nonchalance die Klimaforscher mittlerweile die Ergebnisse ihrer Arbeit präsentieren. Dabei sie müssen einen Umbruch in der Erdgeschichte prognostizieren, der frappierender nicht sein könnte. Mojib Latif vom Leibniz Institut für Meereswissenschaften an der Universität Kiel wies auf dem Kongress „aqua alta“ im herrlichen Hamburger Slang darauf hin, dass der Meeresspiegel aufgrund der globalen Erwärmung bis 2100 um mindestens 50 cm ansteigen wird. „Ich gehe aber eher von einem Meter aus“. Dabei sind die schmelzenden Eiswüsten von Grönland noch gar nicht eingerechnet. Deren Reduktion ist schwer zu berechnen, durch Schneefall vereisen sie oben neu, während sie unten durch das warme Wasser abschmelzen. Sollte das gesamte Eis Grönlands abtauen, und es gibt Szenarien, die dies für wahrscheinlich halten, stiege der Meeresspiegel um sechs Meter an.

Zu diesem Anstieg gesellt sich eine Erhöhung der Regenmengen. Aus dem bayerischen Hohenpeißenberg, wo man seit 1876 jeden Tropfen Regen misst, kommt die Meldung: Die Niederschlagsmengen hat sich seit 100 Jahren verdoppelt. Und so wie es aussieht, es das erst der Anfang der vom Menschen verursachten Ereignisse.

Mit jährlich rund zehn Tonnen CO2 trägt jeder Deutsche zum globalen Treibhauseffekt bei. Das ist das 127fache eines Bauern in Mosambik, das Sechsfache eines Brasilianers und die Hälfte eines US-Bürgers. Das Klima ist träge und reagiert zeitversetzt auf diese Kohlenstoffdioxid-Emissionen, die der Mensch in die Atmosphäre bläst. Die aufgeheizte Atmosphäre gibt einen Teil der Energie an die Ozeane ab. Diese, im Schnitt vier Kilometer tief, speichern die Temperatur und bleiben nach einer Erhöhung der Temperatur wie jetzt mindestens 200 Jahre lang erwärmt. Selbst wenn ab Morgen das Kyoto-Protokoll von allen Ländern befolgt werden würde, wäre immer noch mit einem Anstieg der weltweiten Temperaturen um rund 2 Grad Celsius in den nächsten 100 Jahren zu rechnen. Das alles heißt zwar für die meisten Wissenschaftler noch nicht, dass die heißen Sommer von 2003 und diesem Jahr bereits Zeichen des Klimawandels sind. Vom Wetter auf das Klima zu schließen ist problematisch. Aber das sich viele Länder in den nächsten Jahrzehnten an ein verändertes Klima anpassen werden müssen, steht außer Frage.

Hans von Storch vom Institut für Küstenforschung am GKSS hat die möglichen Folgen für die norddeutsche Region anhand mehrerer Szenarien beschrieben. Bei hohen CO2-Emissionen sei bis 2085 mit einem Anstieg des mittleren Hochwassers an der Messstation in Hamburg St.Pauli von 50 bis 70 Zentimetern zu rechnen. Und selbst bei niedrigen Emissionen sind die Anstiege nicht viel geringer. „Man muss also unabhängig von der Emissionsentwicklung mit einem merkbaren Anstieg der mittleren und sturmbedingten Wasserstände in der Zukunft rechnen.“

Verlauf der global gemittelten Oberflächentemperatur der Meere nach drei Institutionen. Grafik: WBGU nach dem Bericht des IPCC
Verlauf der global gemittelten Oberflächentemperatur der Meere nach drei Institutionen.
Grafik: WBGU nach dem Bericht des IPCC

Über die Folgen wollte man in Deutschland lange Zeit nicht nachdenken, aber die Küstenbundesländer sehen sich nun zum Handeln gezwungen. Im gesamten Nordseeraum leben 16 Millionen Menschen in tief liegenden Küstenregionen, die ohne Küstenschutz von den Fluten bedroht wären. Bremen und Niedersachsen wollen einen gemeinsamen Generalplan Küstenschutz aufstellen, unhängig davon wird im Projekt ComCoast noch bis Ende 2007 überprüft, wie man die Bürger vor Sturmfluten schützt und dies gleichzeitig sinnvoll in den ökologischen Raum einbettet. Natur- und Hochwasserschutz, das zeigten auch Katastrophen an den Binnenflüssen, müssen verknüpft werden.

„Die bisher geltenden Grundlagen für die Bemessung der Küstenschutzeinrichtungen sind nicht mehr angemessen“, sagt Michael Schirmer von der Universität Bremen, der das Projekt „Klimawandel und präventives Risiko- und Küstenschutzmanagement an der deutschen Nordseeküste“ (KRIM) koordiniert. Zusätzlich zu dem Klimawandel, so Schirmer, müsse das tektonische Absenken der norddeutschen Küstenlandplatte berücksichtig werden – ungefähr zehn Zentimeter im Jahrhundert. Schirmers Kalkulationen gehen davon aus, das sich die Chancen auf Wellenüberlauf bis Mitte des Jahrhunderts versiebenfachen. Er möchte einige Deiche an der Unterweser um 20 Zentimeter, andere gar um mehr als zwei Meter erhöhen. In Schleswig-Holstein ist bereits beschlossen, in zukünftigen Deicherhöhungen 50 Zentimeter allein für den Klimawandel einzuplanen. In Niedersachen ist man vorsichtiger, die 508 Kilometer langen Hauptdeiche sind im Schnitt heute schon 8 Meter hoch, eine Aufstockung würde Millionen kosten. Aber auch Skeptiker der Flutangst wie Hans von Storch plädieren dafür, über eine Erhöhung der Deiche nachzudenken und gegebenenfalls bestimmte Gebiete bei Sturmfluten sogar vorübergehend aufzugeben und als Überschwemmungsgebiet zu nutzen.

Anstieg des globalen Meeresspiegels nach Satellitenmessungen und den IPCC-Szenarien. Grafik: WBGU
Anstieg des globalen Meeresspiegels nach Satellitenmessungen und den IPCC-Szenarien.
Grafik: WBGU

Die Bibel des Klimawandels, der neue Report des IPCC, wird Anfang 2007 erscheinen, die Eckdaten werden gegenüber dem vorherigen Bericht kaum anders aussehen. Der Meeresspiegel, so wird es auch hier heißen, steigt bis 2100 um einen halben Meter an. Das jüngste Gutachten des „Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ (WBGU) spricht von einer „besonders bedrohlichen“ Gefährdung rund um die Nordsee.

Das Problem der Klimamodelle ist, dass die Vorhersagbarkeit der genauen globalen Wetterlagen schwierig ist. Es wird trockener in einigen Gebieten Deutschlands im Sommer, aber wie trocken, dies ist nicht ehrlich zu beantworten. Diese Unsicherheit verführt einige Forscher zu lauten Warnungen, andere reagieren mit Beschwichtigungen – die Gesellschaft ist irritiert.

Über die Prognosen für Deutschland sind sich die Experten weitgehend einig: Zu milden, regenreichen Wintern werden sich warme Sommer gesellen. Gleichzeitig nimmt die Wahrscheinlichkeit von Extremereignissen zu, alle paar Jahre ist mit einem „Jahrhundertsommer“, „Jahrhundert-Hochwasser“ oder einem extrem kalten Winter zu rechnen. Die Auswirkungen auf die Fauna sind noch nicht abzusehen, aber schon jetzt beobachten Biologen eine Wanderung wärmeliebender Arten nach Nord-Ost.

In Hamburg lief neben dem Kongress eine Fachausstellung zum Thema Hochwasserschutz. Die nötige Anpassung an den Klimawandel wird praktisch: Der Renner waren mobile Schutzwälle, die binnen kurzer Zeit mit nur wenig Helfern aufgebaut werden können.

 

 

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Glasfasernetz bricht alle Rekorde

Computerwoche, 01.09.2006

Glasfasernetz bricht alle Rekorde

Vor kurzem hat das „Win-X“, die vierte Generation des Deutschen Forschungsnetzes, den Dienst aufgenommen. Reine Glasfaserkabel erlauben Datenraten im Terabit-Bereich.

Beim Deutschen Forschungsnetz (DFN) handelt es sich um eines der leistungsfähigsten Datenkommunikationsnetze weltweit – mit entsprechend komplexer Infrastruktur (siehe Kasten „Die vierte Generation des DFN“). Die Datenmengen, die von den verschiedenen Universitäten und Institutionen untereinander ausgetauscht werden, sind enorm. Der Versand über das Internet wäre fehleranfällig, zudem würde er hohe Investitionen in Router-Techniken verursachen.

Hochleistungsrechner koppeln

Das mittlerweile in vierter Generation unter dem Namen „X-Win“ existierende DFN ist – wie auch der europäische Bruder „Géant2“ – als hybrides Netz aufgebaut: Es unterstützt sowohl den IP-Verkehr als auch geschaltete Punkt-zu-Punkt-Verbindungen. Typische Anwendungen für Letztere sind die Datenverteilungen von Teilchenbeschleunigern, die Kopplung von Hochleistungsrechnern oder die Auswertung von Daten aus Sternwarten.

xwin topologie

Diese Verbindungen durchziehen wie Tunnel das Netz und verbinden die Wissenschaftsstandorte direkt, ohne dass die übertragenden Daten für den Internet-Verkehr sichtbar sind. Davon verspricht sich die Forschergemeinde nicht nur Unabhängigkeit von den großen Routern, sondern – dank der strukturell einfachen Verkehrsbeziehungen – auch besser planbare Datenströme.

Das LHC-Experiment des Cern

Dazu ein Beispiel: Das Forschungszentrum Karlsruhe wird ab 2008 am LHC-Experiment (Large Hadron Collider) des Cern in Genf beteiligt. Der unterirdische Teilchenbeschleuniger generiert dann Datenströme von einer Million Gbyte/s (1 Petabyte). Pro Jahr wird der 26,7 Kilometer lange Ring Experimentaldaten in der Größenordnung von drei Millionen DVDs ausspucken.

Für die Auswertung wird in Karlsruhe ein PC-Cluster mit mindestens 4500 Prozessoren neuester Technik installiert. Sie sollen eine Rechenleistung erbringen, die der von 22000 Pentium-III-Prozessoren (mit einem Gigahertz) entspricht. Dieses „Gridka“ wird 1500 Terabyte an Daten auf Festplatten und rund 3800 Terabyte auf Bändern speichern. Die Rechnerschränke und damit das gesamte PC-Cluster werden vollständig mit Wasser gekühlt.

Weltweit arbeiten 5000 Wissenschaftler aus 50 Nationen an dem Experiment. Große Projekte dieser Art sind nach Ansicht der Forschergemeinde nur noch in technisch enger internationaler Kooperation zu leisten. Ein schnelles und stets verfügbares Kommunikationsnetz ist dafür unabdingbar.

Das X-Win besteht im Kern aus drei untereinander verknüpften Ringstrukturen – im Norden, der Mitte und dem Süden der Republik. Um einen möglichst umfassenden Zugriff auf die Physik der Leitungen zu haben, hat der DFN-Verein hauptsächlich „Dark Fiber“ angemietet, also die pure Glasfaser. Nur wenn das nicht möglich war, griff er auf angemietete Wellenlängen zurück. Die Trassen (siehe Abbildung) sind so vermascht, dass in jedem Fall mindestens zwei unabhängige Wegführungen existieren.

Die nötigen Glaserfaserstrecken hat das DFN mit Zehnjahresverträgen beim holländischen Telekommunikationskonzern KPN und bei der deutschen Gasline angemietet, einem Spinoff diverser Energieversorger. KPN hat 2200 Kilometer Dark Fiber für den DFN-Verein bereitgestellt; insgesamt besitzt der Provider in Europa Glaserfaserringe mit insgesamt 25000 Kilometern Länge. Das Lichtwellenleiternetz der Gasline ist in Deutschland mehr als 7800 Kilometer lang. Sein Vorteil: Die meisten Trassen des X-Win befinden sich – bis auf die „Last Miles“ zu den Forschungsgebäuden – entlang der physikalisch gut geschützten Gas-Pipelines; zudem übernimmt Gasline die Wartung der Leitungen.

Siebenmal dünner als ein Haar

In einem normalen Glasfaserkabel stehen 144 Fasern zur Verfügung. Um sie optimal zu nutzen, kommen „Wavelength-Division-Mulitplexer“ (WDM) zum Einsatz. Dabei werden bis zu 16 Wellenlängen mit maximal 10 Gbit/s auf eine einzelne Faser gelegt. An der Quelle wandelt der WDM die elektrischen Signale aus dem Ethernet per Laser in optische Signale um.

Diese Lichtwellen unterschiedlicher Länge laufen durch die Glasfaser, die siebenmal dünner als ein menschliches Haar ist, ohne sich gegenseitig zu stören. Auf diese Weise stehen mehrere, voneinander unabhängige Übertragungswege zur Verfügung. Am Empfangsort bereitet ein WDM aus den Wellen wieder elektrische Signale. Der Auftrag zur Überwachung des Gesamtnetzes ging an ein Konsortium, das von den Anbietern Colt und Dimension Data gebildet wird. An 35 Kernnetzstandorten des X-Win kommen (Dense-)WDMs von Huawei („Optix BWS 1600g“) zum Einsatz, die bis zu 160 Wellenlängen mit 16 Gbit/s unterstützen. Geräte dieser Baureihe speisen beispielsweise auch das atlantische Unterseekabel zwischen Halifax (Kanada) und Dublin (Irland).

Als Vermittlungseinheiten dienen an zentralen Stellen Cisco-Router vom Typ „CRS-1“ der neuesten Bauart. Das Forschungsnetz ist also kein billiges Vergnügen: Die Router hatten bei ihrer Vorstellung im vergangenen Jahr einen Orientierungspreis von rund 450000 Dollar pro Stück. An weiteren acht Orten sind Cisco-Router der Baureihe 7609 in das X-Win eingebunden.

Insgesamt sind an den über 500 Standorten in Deutschland Anschlusskapazitäten von bis zu 10 Gigabit/s möglich. 46 Standorte sind derzeit an das „Kernnetz“ angeschlossen, wo sich bei Bedarf die Kapazität in den Terabit-Bereich erweitern lässt. Von diesen Institutionen sind 38 mit 5500 Kilometer Dark Fiber verbunden.

Dieses Vorgehen hat seine Vorteile bereits ausspielen können: Mehrere Universitäten ermöglichen sich heute ein gegenseitiges Backup wichtiger Daten. Die Anschaffung und Wartung physisch getrennter und zudem feuergeschützter Speichermedien und -geräte entfällt.

Das X-Win ist kein geschlossenes Netz, Übergänge in das Internet sind über mehrere Gateways sichergestellt. Unter anderem ist das Netz an den größten deutschen Austauschknoten ins Internet, den Decix in Frankfurt am Main, angeschlossen. Gleich vier Gateways existieren zu T-Interconnect, weitere 16 zu anderen Internet-Ser- vice-Providern.

Stark ausgelastete X-Win-Standorte wie Karlsruhe sind mit 30 Gbit/s an die Nachbarstandorte angeschlossen. Kapazitäten von 32 mal 10 Gbit/s auf einer Faser werden derzeit auf Internet-Hochverkehrsstrecken wie Düsseldorf-Frankfurt am Main geführt, über die das Rhein-Ruhr-Gebiet mit dem Frankfurter Raum verbunden ist. Leitungskapazitäten von 80 Gbit/s bündeln sich an zentralen Schaltstellen wie dem Kernnetzstandort Frankfurt; hier kreuzt sich die Strecke zwischen Aachen und Erlangen mit der zwischen Karlsruhe und Hannover.

2,9 Petabyte pro Monat

Im monatlichen Mittel senden die Hochschulen und Forschungseinrichtungen, die über das X-Win miteinander vernetzt sind, fast 9 Gbit/s in das Netz, und sie empfangen annähernd dieselbe Datenmenge, so dass sich das Datenaufkommen pro Monat auf 2,8 Petabyte summiert. Damit entspricht der Datenverkehr in das X-Win hinein und wieder hinaus einem Fünftel des Verkehrs, der am DeCIX, dem „Herz des deutschen Internets“, fließt.

 


 

Die vierte Generation des DFN

Das Deutsche Forschungsnetz (DFN) ist ein von der Wissenschaft selbst verwaltetes Hochgeschwindigkeitsnetz, das Hochschulen und Forschungseinrichtungen untereinander und mit dem europäischen Ausland verbindet. Seit kurzem ist mit X-Win die vierte Generation in Betrieb. Alle wichtigen Forschungsinstitutionen sind Mitglieder im DFN-Verein: Helmholtz- und Leibniz-Gemeinschaft, das Berliner Zuse-Institut, Fraunhofer- und Max-Planck-Gesellschaft. Auch private Unternehmen wie die Schering AG, T-Systems und Hewlett-Packard setzen auf das X-Win. Insgesamt nutzen 2,5 Millionen User dieses deutsche Highspeed-Netz.

 

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Mixed Übermensch

Tröpfchenweises Wissen

Telepolis, 06.08.2006

Endlich ist es soweit: Die drängensten Fragen der Menschheit werden an einem Samstag im September in Berlin beantwortet

Kann es eine Welt ohne Macht geben? Was sind die wichtigsten Werte, die man einem Kind beibringen kann? Täglich laufen rund 300 solcher Fragen auf dem Webserver von Dropping Knowledge ein. Die Initiative sammelt weltweit Fragen, die 100 wichtigsten sollen an einem riesigen runden Tisch am 9. September auf dem Berliner Bebelplatz simultan von 112 Experten beantwortet werden.

Auch diese werden von der Internet-Community vorgeschlagen. Im erlauchten Kreis der Personen befinden sich Wissenschaftler, Künstler, Menschenrechtsaktivisten. Der genaue Auswahl ist nicht bekannt, aber die Mischung wird exklusiv: Terry Gilliam neben Peter Sloterdijk, Yoko Ono unweit von Hans-Peter Dürr? Der „Table of Free Voices“ soll Happening, Video-Session und Antwortstunde zugleich sein. 33 Meter Durchmesser hat das Objekt, dazu 112 Sitzplätze, jeder mit Flachbildschirm und Kamera ausgestattet. Es soll später als Teil einer Wander-Ausstellung um die Welt reisen.

Ein Mitbegründer des Projektes ist der Filmemacher Ralf Schmerberg. Seit drei Jahren organisiert er an dem Event. Die Gelegenheit für eine globale Diskussion sei günstig: „Die Menschen auf der ganzen Welt sind bereit umzudenken. Und das müssen wir alle auch, wenn wir das hier nicht komplett vor die Wand fahren wollen.“

Aber was verspricht man sich von dem illustren Frage-Antwort-Spiel? Ist nicht jede Frage schon einmal gestellt, jedes menschliche Problem in der Antike nicht schon formuliert worden? Und werden die Antworten nicht seit Jahrhunderten ignoriert? Und wie viele falsche Fragen werden den Teilnehmer gestellt werden?
Die Lösung der diskutierten Probleme stehe bei Dropping Knowledge nicht im Vordergrund, sagt Schmerberg. Er erwarte neue Formen der Kommunikation und eine „stärkere Integration der Zivilgesellschaft in bestehende Prozesse“. Denn die sei zwischen Politik und Medien kaum noch zu erkennen.

Ein Team aus 30 Mitarbeitern arbeitet in der Berliner Zentrale, hier wertet man die zur Zeit über 10.000 Fragen aus. Auf der Webseite können die Fragen bewerten werden, die besten schaffen es in die Endrunde. Auf Platz 1 steht momentan die Frage von Martie F. aus den USA: „How do we choose whose lives are most valuable?“ Einige der Fragen sind schon filmisch umgesetzt und bei You Tube zu finden.

Die Nominiertenliste umfasst Wendezeit-Aktivisten wie Fritjof Capra und altegedienten Politikhasen wie Avi Primor. Deutsche Staatsbürgerschaft sind auch dabei, unter anderem Roland Berger, Christoph Schlingensief, Eugen Drewermann und Harald Schmidt. Zumindest um die Heterogitität der Antworten muss man sich also keine Sorgen machen.

Der medienwirksame Veranstaltungstag ist nur der Überbau für ein Projekt, das eine „Wikipedia der Lösungen“ werden möchte. Das Deutsche Forschungsinstitut für künstliche Intelligenz (DFKI) hat dazu eine umfangreiche Software entwickelt. Am 9. September kann nicht nur jeder online die Fragen zeitgleich mit den Partizipanten am Tisch beantworten. Es werden auch die ersten der 11.200 Antworten in eine „Living Library“ in das Netz gestellt, um eine globale Diskussion über lebenswichtige Fragen anzustoßen. Das Dropping Knowledge-Wissen soll gesammelt, strukturieren, verlinkt und wieder zur Debatte gestellt werden. Eine 3-D Kartographie soll das Navigieren erleichtern, 25.000 Themen sollen so dauerhaft behandelbar bleiben.

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Freiflug für Buchschnipsel

Telepolis, 30.06.2006

Das Hamburger Landgericht beschert Google mehr als einen Teilerfolg beim Aufbau ihrer digitalen Bibliothek

Krawatten wurden zurechtgerückt, die Roben übergeworfen, dann ging es hinein in Raum 347 des Hamburgischen Landgerichts. Der Kläger: die Wissenschaftliche Buchgesellschaft (1) (WBG), Verlag und Buchgemeinschaft aus Darmstadt, rund 90 Angestellte. Die Beklagte: Google, Medienkonzern und Suchmaschine mit Hauptsitz in Kalifornien, rund 3.000 Angestellte weltweit. Welche Gewichtsklassen hier gegeneinander antreten, wurde auch an der Anzahl der Anwälte deutlich. Genau einer vertrat die WBG, vier saßen für Google im Ring, einer hatte sogar den weiten Weg aus Mountain View auf sich genommen. Das Streitobjekt: die deutsche Sektion der Buchsuche (2) von Google. Durch das massenhafte Einscannen von Büchern baut die Firma eine riesige Bibliothek für die Volltextsuche im Internet auf.

Die WBG sieht in diesen Vorhaben eine Verletzung ihrer Rechte, denn vor einiger Zeit tauchten Teile von urheberrechtlich geschützten Werken des Verlags bei Google auf. „Kein Problem“, sagte man bei Google wie üblich, „es gibt doch Opt-Out.“ Dieses Verfahren bietet man jedem Verlag an, der seine Bücher nicht in den Ergebnisfenstern sehen will. Das reichte der WBG nicht, man beantragte vor Gericht eine „einstweilige Verfügung“, ein scharfes Instrument, das Google im Falle einer Niederlage dazu gezwungen hätte, alle Digitalisierungsvorgänge sofort zu stoppen. Dementsprechend alarmiert war man in Kalifornien und dementsprechend böse auf die WBG, die ein Geschäftsmodell im Eilverfahren eingefroren hätte.

Bevor man vor Gericht zu den Kernfragen vorstoßen konnte, suchten die Google-Anwälte daher der Klage schon auf formaler Ebene den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dem Hauptgeschäftsführer der WBG, Andreas Auth, warf man die Widersprüche in der Aussage vor, wann er von der angeblichen Urheberrechtsverletzung erlangt hätte. Zudem wurde die Aktivlegitimation bestritten, also die Befugnis der WBG, überhaupt einen Anspruch geltend zu machen. Und der WBG wurde vorgeworfen, dass sie nur als Stellvertreter für den Börsenverein herhalten würde. Fakt ist nur: Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels unterstützt das Musterverfahren, er trägt auch die Prozesskosten.

Um das Eilverfahren und die Bedrohung des gesamten deutschen Buchhandels zu rechtfertigen, sprach der Anwalt der WBG von einer „netzartigen Ausbreitung“ des Google-Imperiums und bezeichnete die Geschäftsidee der Buchsuche als „plattwalzen“. Tatsächlich arbeitet der Börsenverein derzeit am Projekt „Volltextsuche online“, mit dem künftig auf digitale Inhalte zugegriffen werden kann. Aber Google hat hier wieder einmal Fakten geschaffen, jedwedes neue System wird es schwierig gegen den Platzhirsch haben.

Um in der Voranhörung des Prozesses aufgeworfenen Fragen endgültig zu klären, reichte der WBG-Anwalt sodann Testamentsauszüge ein, die eine Klagelegitimation bekräftigten sollten. Nach einer Stunde Verhandlungsdauer ließ sich der vorsitzende Richter zur Bemerkung hinreißen, dass man „zu den wirklich interessanten Punkte noch nicht gekommen“ sei. Die Kernfrage, die das Gericht zu beantworten hatte: Hat Google das Urheberrecht verletzt?

Die Antwort: Nein. Denn, so die Richter, die fraglichen Bücher habe Google nach entsprechender Aufforderung der WBG umgehend aus dem Netz genommen. Und: Googles Vorgehen, immer nur kurze Ausschnitte („Snippets“) zu zeigen, deute ebenfalls darauf hin, dass das Urheberrecht gewahrt bleibe. Ein Zusammenpuzzeln eines Werkes bis zur Vollständigkeit sei nicht möglich. Gleichzeitig, so deutete das Gericht an, sei man aber mit der Opt-Out Funktion grundsätzlich „nicht glücklich“.

Das Gericht gab dem Kläger zehn Minuten Zeit, man beriet sich. Dann war klar, die WBG zieht den Antrag zum Eilverfahren zurück. Man trägt die Kosten des Verfahrens, bei einem Streitwert von 100.000 EUR rund 2.500 EUR. Triumphgrinsen bei Google.

Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins, spricht (3) nun davon, Googles Vorgehen weiterhin aufmerksam zu beobachten: „Insgesamt aber ist die Situation unbefriedigend, weil jederzeit eine weitere Urheberrechtsverletzung drohen kann. Dadurch wird dem Missbrauch geistigen Eigentums Tür und Tor geöffnet.“

Google hat mit verschiedenen Universitätsbibliotheken in den USA Kooperationsverträge über die Digitalisierung von Büchern aus deren Bestand abgeschlossen. Nicht nur WBG und Börsenverein vertreten die Auffassung, dass Google von den Universitätsbibliotheken keine Lizenzen zur Vervielfältigung und Online-Nutzung erwerben können, weil diese keinerlei Verwertungsrechte an ihren Buchbeständen haben.

In den USA und Frankreich sind ähnliche Prozesse anhängig. Das Hamburger Landgericht wollte sich mit dieser Frage nicht befassen, da sie nach seiner Ansicht nur in den USA geklärt werden kann.

Bei Google versteht man die Aufregung ohnehin nicht ganz. 75 Prozent aller urheberrechtlich geschützten Bücher seien nicht mehr lieferbar. Die wolle man auffindbar machen. Eine Reihe deutscher und europäischer Verlagen sieht das ähnlich und in Googles Buchsuche ein sinnvolles Marketinginstrument. So kooperieren heute bereits mehr als 10.000 Verlage mit Google.
Links

(1) http://www.wbg-darmstadt.de/
(2) http://books.google.de/
(3)

Telepolis Artikel-URL: http://www.telepolis.de/r4/artikel/23/23002/1.html

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Mixed

Welche Musik macht den besten Sex?

woman, 30. Mai 2006

Welche Musik macht den besten Sex?

„Sexual Healing“ von Marvon Gaye? Mozarts „Kleine Nachtmusik“? Oder egal, Hauptsache Trommeln? Zwei Frauen, zwei Männer und ein Musikwissenschaftler über den Rhythmus, bei dem man mitmuss.

Jörg Auf dem Hövel

Nicht lauter als ihr Atmen

Sonntag Morgen, irgendwann Mitte der 70er Jahre. Durch die geschlossene Zimmertür drang das Gedudel von NDR 2, dem Lieblings-Radiosender meiner Eltern. Bei der Titelmelodie des Reisemagazins „Zwischen Hamburg und Haiti“ riss mein Vater jedes Wochende die Anlage auf, aber dieses Mal fühlte ich mich durch die leichten Hippie-Klänge der Popcombo „The Fifth Dimension“ seltsam angeregt. Sie sangen von einem Ballon, der langsam in den Himmel stieg und mir wurde bunt vor Augen. „Up, Up and Away“, ich fühlte, was sie meinten. Gleich mehrere Frauen kümmerten sich um die Linie im Song, wir wurden von Gitarren umspielt, ein mächtiges Orchester half uns. Ehrlicherweise müssten alle Männer zugeben, dass sie die erste Erfahrung mit der tonalen Unterstützung ihrer Libido ganz alleine im Bett hatten.

Heute droht durch die digitale Vermassung mit dem materiellen auch der emotionale Wert von Musik zu sinken. Da hilft nur Coldplay. Deren Titel „Clocks“ klingt so selbstlos wie Liebe sein sollte. Ein warmes oszillieren zwischen den Polen von vertrauten Gefilden und gänzlichem Neuland. In diesen Momenten spüren meine Frau und ich, dass Eros und Musik einen gemeinsamen Urgrund haben: Rhythmus, oder besser gesagt „Schwingung“, eine Übertragung von Stimmungswellen. Kurz darauf lässt einen das Eintauchen in das wattene Meer ertauben, die Klangkunst zieht sich in den Hintergrund zurück. Denn wirklich Musik hören kann und will man ja in fortgeschrittenen Glücksmomenten nicht mehr. Ab einem gewissen Moment bleibt nur noch der schönste Klang, den es in der ewigen Hitparade gibt: Das Atmen des Partners.

Playlist:
5th Dimension: Up, Up and Away
Coldplay: Clocks
Ween: She is your Baby
Fun Lovin Criminals: The Grave and the Constant
Rolling Stones: Lady Jane
Rachmaninov: Klavierkonzert Nr. 2

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Mixed Psychoaktive Substanzen

Interview mit Mathias Erbe

HanfBlatt, Nr. 99

Nautische Architektur

Die psychedelische Kunst des Mathias Erbe

Der in Franken aufgewachsene und in Frankfurt a.M. geborene und lebende Künstler Mathias Erbe erlebte die für die Entwicklung der gesamten Subkultur so bedeutsamen Sechziger Jahre als Kind, wuchs aber nicht unbedingt mit dem Acid-Schnuller auf. Doch als echtes Kind seiner Zeit wurde er ein beflissener Sammler psychedelischer Musik, Cover-Art und Comics und entwickelte sich selbst zu einem bemerkenswerten Vertreter moderner psychedelischer Kunst.

Erbe zeichnet und malt in Öl und Aquarell. Die ohnehin schon faszinierenden Ergebnisse seiner Inspiration bearbeitet er dann, über Foto oder Scan digitalisiert, am Computer. So entstehen einzigartige anregende Werke, die das Prädikat „Psychedelisch“ aus vollem Herzen verdienen. Die Veröffentlichung eines wunderbaren farbigen Bildbandes psychedelischer Platten/CD-Cover-Art mit dem Titel „Psychedelic History 3000. Von den Ursprüngen bis zur Gegenwart“ ist geplant. (Wir werden bei Erscheinen darüber berichten.) Man konnte Erbes Kunst bereits in Form von Illustrationen und Karikaturen für den „Rolling Stone“, Gemäldeabbildungen für Fetisch-Magazine, sowie Buch- und CD-Cover und natürlich im Original auf Vernissagen bewundern. Mehrere interessante psychedelische Kunstbände (u.a. „Nautische Architektur“, „Methexis“) harren noch eines kunstbeflissenen Verlegers. Wir möchten euch den Künstler in einem kleinen Gespräch und einigen seiner Bilder vorstellen.

HB: Wie bist du dazu gekommen, dich mittels psychedelischer Kunst auszudrücken?

ME: Einfach durch meine persönliche Entwicklung, mein frühes Interesse an dieser Ausdrucksform in diversen kulturellen Bereichen von Comics über Kunst, Musik, Plattencover, Literatur und so weiter, weniger direkt über Drogen. Ich habe einen alten Freund, der tatsächlich unter Drogeneinfluss kreativer und produktiver war. Bei mir ist es eher umgekehrt. Ich bin skeptisch, ob tatsächlich alle, die als psychedelische Künstler gelten, auch permanent unter dem Einfluss von entsprechenden Drogen stehen. Dieses Üppige des Psychedelischen entspricht nicht nur meiner Mentalität, sondern auch meiner Gefühlswelt. Psychedelische Kunst und Musik inspirieren mich und regen mich an, mich in dieser Form bildlich auszudrücken.

HB: Es ist schon erstaunlich, dass in deinem Fall, Drogen nicht so eine Rolle gespielt haben.

ME: Vielleicht indirekt.

HB: Das spricht doch irgendwie für diese künstlerische Richtung. Mag der Konsum psychedelischer Drogen den Genuss und das Verständnis für diese Kunst intensivieren und manch einen zu dieser Kunst als Ausdrucksmöglichkeit inspirieren, so scheint psychedelische Kunst eben nicht „nur“ simpel „Drogenkunst“ zu sein, sondern viel tiefer aus der Seele, wenn man so will, den Urgründen des Seins zu wachsen und in diese zu langen. Welche Künstler haben dich besonders beeinflusst?

ME: Alex Grey („Sacred Mirrors“, „Transfigurations“) ist ein großartiger Kollege. Dieser Mann hat auch einen bemerkenswerten Lebenslauf. Er ist von den Wiener Aktionisten über die Wiener Schule zur psychedelischen Kunst gekommen.

HB: Alex Grey ist zweifellos einer der tollsten lebenden Künstler. Er bedient sich aber doch in seiner Motivwahl, wenn auch in zuvor ungesehener fantastischer Weise, so doch letztlich spiritueller Klischees. Das kann man von deinen Werken jedoch meines Erachtens nicht so sagen, da sie ziemlich viel offen lassen und so eher im „klassischen“ Sinne psychedelisch sind.

ME: Spiritualiät, wenn sie zu sehr religiösen Klischees folgt, ist mir vereinfacht gesagt zu ernsthaft oder zu verbindlich. Aber wahre Spiritualität ist auch etwas Psychedelisches. Man fahre nur einmal nach Colmar und schaue sich dort Grünewalds wahnsinnig beeindruckenden „Isenheimer Altar“ mit der „Versuchung des heiligen Antonius“ an. Davor kann man schon fast fromm werden. Ein Science-Fiction Autor, den ich sehr schätze, Philip K. Dick („A Scanner Darkly“), der in seiner späten Phase ein reges, fast intim-kommunikatives Verhältnis zu Gott („Valis“) hatte, schaffte es bei aller Spiritualität dennoch eine absurde Selbstironie in seinem Werk mitlaufen zu lassen. Spiritualität in Form von zuviel Religiosität ist auch nicht gerade gesund, haben, glaube ich, schon die Romantiker festgestellt.

HB: Wenn man sich die Begeisterung für Spiritualität in der Subkultur anschaut, dann scheint sie immer nicht so lange anzuhalten. In den Sechziger Jahren folgte der Öffnung durch psychedelische Drogen ein erneutes (in den Zwanziger Jahren zuletzt und davor um die Jahrhundertwende) intensiviertes Interesse an östlichen Religionen, an spirituellen Wegen. In der Folge gab es plakativen Hippie-Kitsch und einen Sekten-Boom. Die Antwort: Der Punk-Nihilismus. Dann gab es in der Techno-Bewegung, insbesondere der LSD-geprägten Goa-Trance-Szene wieder ein gewisses Interesse an Spiritualität oder zumindest an pseudo-religiösen Deko-Elementen. Und jetzt haben wir vielleicht gerade eine enthirnte Zeit des Kokain-Zynismuses. Da darf man natürlich gespannt sein, was als Nächstes kommt.

ME: Es ist wie du beschrieben hast, eigentlich die im Nietzscheschen Sinne Wiederkehr des ewig Gleichen.

HB: Aber wohl doch immer wieder auf einem neuen Niveau… Zurück zu deinen Inspirationsquellen…

ME: Von dem tschechischen Surrealisten Pavel Tchelitchew hängt im MOMA in New York ein Bild „Hide and Seek“. Das ist ein Vorläufer für Künstler wie Ernst Fuchs und Mati Klarwein, bekannt durch seine Poster und Plattencover für „Santana“. Mati Klarwein hat ähnlich, wie es Alex Grey gerade macht, Räumlichkeiten mit Kunst kathedralenartig zum Andachtsraum („Aleph Sanctuary“) gestaltet. Seine Kunst hat noch den Bezug zum Realismus, wie du ihn auch in meinen Gemälden findest. Psychedelische Kunst ist so gesehen auch schwer zu fassen, weil es Alles beinhalten kann, zumindest für mich, inklusive Action-Painting. Gerhard Richter mit seinen abstrakten opulent farbigen Sachen könnte auch darunter fallen.

HB: Wenn man so will, sind manche Künstler zumindest manchmal psychedelisch ohne es überhaupt zu wollen.

ME: Ja, zum Beispiel Max Ernst und besonders Richard Oelze. Er ist für mich der konsequenteste, gerade in Bezug auf das was die Surrealisten automatisches Zeichnen nannten. Die Surrealisten hatten ja ihre eigene Spiritualität und mit Drogen experimentierten sie auch.

HB: In dieser bildnerischen Tradition stehen dann in gewisser Weise auch Hieronymus Bosch oder der genialische multidimensionale polnische Künstler Witkacy (1885-1939).

ME: Ja, ein sehr gutes Beispiel, der war ein Multitalent, Dramaturg, Fotograf, Maler. Auf seinen eindringlichen schon über den Expressionismus hinausgehenden Porträts, die er unter dem Einfluss praktisch aller damals zur Verfügung stehenden psychoaktiven Substanzen von Meskalin über Kokain bis Harmin gemalt hat, hat er meist vermerkt, was er dabei in welcher Reihenfolge zu sich genommen hat. Auf Plattenhüllen finden sich weit später ähnliche Porträts. Das Artwork von Miles Rutlin bei „Blind Idiot God“, eine interessante Neo-Psychedelic-Instrumental-Hard-Dub-Band Ende der Achtziger auf dem Label SST ist da ein gutes Beispiel. In meiner persönlichen Entwicklung haben mich die Bildwelten in Kunstbänden („Fantastic Art“) und auf den Postern und Plattenhüllen der Siebziger stark beeinflusst – besonders von Helmut Wenske, der als psychedelischer Dali mit einem Hauch Pop-Art beschrieben wurde, und mit dem ich seit dieser Zeit eineenge Freundschaft pflege. Ich habe damals auch angefangen diese Cover-Art nachzuzeichnen und damit natürlich meine Kameraden beeindruckt. Ich studierte schließlich Kunst und wurde das, was man als „Bildenden“…

HB: Aber nicht „Eingebildeten“..

ME: …Künstler bezeichnen kann.

 

Mathias Erbe: Accelerando
Mathias Erbe: Accelerando

 

Mathias Erbe: Janus
Mathias Erbe: Janus

 

Mathias Erbe: To the Greys
Mathias Erbe: To the Greys
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Der mobile Kunde im Visier

Telepolis, 08.12.2005

Ein jetzt veröffentlichter Städte-Atlas macht Passanten-Werbung zielgenau

In einem fast drei Jahre dauernden Entwicklungsprozess und geschätzten Projektkosten von über einer Million Euro erstellten das Fraunhofer Institut für Autonome Intelligente Systeme ( AiS (1)) und der Fachverband Außenwerbung ( FAW (2)) einen „Frequenzatlas“ für die großen Städte Deutschlands. Mit ihm lässt sich sehr genau feststellen, wie viele Konsumenten sich an welchem Punkten der Stadt bewegen.

Der Atlas vereinigt eine Fülle von Daten: So fließen kommunale Verkehrszählungen ebenso mit ein wie Angaben über die Bevölkerungsdichte, Einkommensstruktur, Kfz-Aufkommen, Theater oder Restaurants. Basierend auf den Kartendaten der Firma „NavTeq“ existieren für jeden Straßenabschnitt in großen deutschen Städten nach Fahrtrichtung getrennte Frequenzklassen für die Bewegungen von Fußgängern, Kraftfahrzeugen und Öffentlichen-Personennahverkehrsmitteln.

 

Ausschnitt aus dem Frequenzatlas. Bild: FAW
Ausschnitt aus dem Frequenzatlas. Bild: FAW

 

 

Mit einer Software lassen sich aus der Datenflut die für den jeweiligen Anwender interessanten Daten extrahieren und auf einer Karte darstellen. Derzeit enthält das Data-Mining System 84 Städte ab 100 000 Einwohnern, Mitte 2006 kommen die Städte ab 50 000 Bürgern dazu. Für Frankfurt am Main, Düsseldorf und Hamburg lässt sich die Funktionsweise des Atlas‘ auf der Homepage des FAW testen (3).

Der Konsument, das flüchtige Wesen, bewegt sich trotz TV und Internet vor allem tagsüber in der Reichweite von Plakaten, Litfasssäulen und anderen Werbeträgern im öffentlichen Raum. Das Geomarketing analysiert Kaufgewohnheiten und Lebensweisen und hilft Unternehmen damit nicht nur bei der Wahl von Werbestandorten, sondern auch bei geplanten Filialeröffnungen. Wo sitzen Mitbewerber, wie ist die Anbindung an Autobahn oder ÖVPN, wo liegen Einkommensgrenzen? Auch Stadtplaner und Hersteller von Routenplanern sollen bereits Interesse am Frequenzatlas bekundet haben.

Die Medienwirkung und damit auch der Preis eines Plakates waren lange Zeit umstritten: Es existierte zwar seit rund zehn Jahren der sogenannte „G-Wert“ der Gesellschaft für Konsumforschung ( GfK (4)); dieser gab an, wie viele Passanten pro Stunden sich an ein Plakat erinnern konnten. Der G-Wert galt aber als unplausibel, da er oft ohne nachvollziehbaren Grund variierte und dementsprechend zu verzerrten Preisen führte.

„Vor einer entsprechend geplanten Plakatkampagne gibt es kein Entkommen“

Der Wert eines Werbestandorts ergibt sich nicht nur aus der Menge der Kontakte, sondern auch aus ihrer Dauer und Qualität. Anders ausgedrückt: An manchen Werbeflächen kommen zwar wenige, aber die richtigen Menschen vorbei. Im neuen G-Wert werden die Daten des Frequenzatlas berücksichtigt, der unter anderem auf der seit 1998 am AiS entwickelten Software „CommonGIS“ aufsetzt. So kann man beispielsweise eine Pralinenwerbung nur dort platzieren, wo ältere, kaufkräftige Personen wohnen. Das Verfahren lässt sich nicht nur auf Plakate, Riesenposter und Videoboards anwenden, sondern auch auf Geldautomaten oder Briefkästen. Mobilfunknetzbetreiber können sehen, wo es sich lohnt, Funklöcher zu schließen.

Vertrieben wird der Frequenzatlas von der DDS (5), einem der großen Anbieter von Geodaten. Je nach Kundenwunsch sind verschiedene Preismodelle möglich, zielen tut der Atlas aber vor allem auf Großkunden, die ohne Murren die rund 10.000 EUR für einen Datensatz zahlen.

Direkt in das System können keine zusätzlichen Angaben eingespeist werden. Erst über externe Programme können die Informationen aus dem Atlas mit internen Geschäftsdaten abgeglichen werden, so zum Beispiel mit Daten des Statistischen Bundesamts oder der beliebten Bonuskarten. Wer beim Erwerb einer solchen Karte die Formulierung akzeptiert hat, dass die Daten an „befreundete Unternehmen“ weitergeleitet werden dürfen, hat gute Chance, sich als Datensatz im Geomarketing wiederzufinden.

Auf besondere Aufmerksamkeit bei Außenwerbern stieß vor zwei Jahren eine Studie des Bundesverkehrsministeriums. Detailreich wurde in der „Mobilität in Deutschland“ genannten Erhebung nachgewiesen, dass die Deutschen gerne unterwegs sind: Wenn sie nicht gerade ihren Lieblingsbeschäftigungen nachgehen (Essen, Fernsehen, Arbeiten), sind sie auf Achse. Fast die Hälfte aller Autofahrer ist zwischen 30 und 49 Jahre alt. Und wer unterwegs ist, schaut nicht fern, sondern Plakat. Diese mobile Generation liegt im Fokus der Branche, denn sie verfügt über einen oft hohen Bildungsgrad und Lebensstandard. Sie legt am Tag doppelt so große Strecken mit dem Auto oder zu Fuß zurück als ärmere Bevölkerungsschichten. Eine Konsumentengruppe wie aus dem Bilderbuch.

Georg Schotten, Direktor der Marktforschung beim Plakatwerber „Ströer“, denkt weiter: „Menschen fahren auf der Straße und werden von Plakaten erreicht, daher muss man sich mit dem Thema ‚Verkehr‘ und dessen innerer Logik sehr genau auseinandersetzen.“ Das Fachmagazin Werben und Verkaufen (6) jubelte schon im Juni diesen Jahres angesichts der Zusammenführung der Daten von Mobilitätsstudie, Marktforschungserhebungen, G-Wert und Verkehrsstrom-Information: „Vor einer entsprechend geplanten Plakatkampagne gibt es kein Entkommen. Zappen zwecklos.“ In Zukunft wird das Netz noch feinmaschiger werden. Dann soll, so hofft man beim FAW, nicht nur genau festgestellt werden, wo welche Menschen wohnen, sondern auch, warum sie sich wie bewegen.
Links

(1) http://www.ais.fhg.de/´
(2) http://www.faw-ev.de/
(3)
(4) http://www.gfk.de/
(5) http://www.ddsgeo.de/
(6) http://www.wuv.de/

Telepolis Artikel-URL: http://www.telepolis.de/r4/artikel/21/21482/1.html