Erschienen in der Telepolis v. 23.04.2014
Von Jörg Auf dem Hövel
Ein neues EU-Gesetz verpflichtet die Arzneimittelhersteller zukünftig zur Veröffentlichung aller zentraler Studiendaten. Der Tamiflu-Skandal zeigt, wie wichtig das ist
Das Europäische Parlament hat vor kurzem neue Gesetze zur Veröffentlichungspflicht von Arzneimittelstudien beschlossen. Danach werden Hersteller verpflichtet, der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) eine Zusammenfassung der Ergebnisse zur Verfügung zu stellen, die diese in einer Datenbank veröffentlichen wird. Damit soll zukünftig die bislang gängige Praxis der Zurückhaltung unliebsamer Resultate verhindert werden. Wird eine Zulassung für ein Arzneimittel beantragt, so müssen die (nahezu) vollständigen Studiendaten – der sogenannte Clinical Study Report – in der Datenbank vorliegen. Die Verordnung wird frühestens 2016 in Kraft treten. Ob bis dahin die nötige Datenbank funktioniert ist offen.
Verbraucherschützer fordern eh mehr. Sie drängen auf die Veröffentlichungspflicht auch der sogenannten Rohdaten, um Manipulationen auf die Spur kommen zu können. In den Rohdaten sind die einzelnen Patientenfälle und der Studienablauf dokumentiert. Mehrfach konnte in der Vergangenheit aufgedeckt werden, dass beispielsweise Studienabbrecher nicht in die spätere Analyse miteingeflossen waren. Organisationen wie Transparency International wollen sich zudem dafür einsetzen, dass nicht nur die zukünftigen, sondern auch die Daten der vergangenen klinischen Zulassungsstudien publiziert werden. Für eine Vielzahl von marktüblichen Medikamenten sei unklar, so ihr Argument, ob die Studien von den dafür verantwortlichen Pharma-Firmen sauber durchgeführt wurden.
Bestes Beispiel dafür ist das Grippemittel Tamiflu. Im Rahmen der Schweinegrippe-Hysterie wurden seit 2009 weltweit Milliarden Euro ausgegeben, um das Medikament einzulagern und im Ernstfall einer Pandemie entgegenzusteuern. Großbritannien gab beispielsweise über 600 Millionen EUR für das Mittel aus. Die Bundesregierung gab im letzten Jahr auf Anfrage der Bundestagsfraktion der Linken bekannt, dass der Bund bislang über 70 Millionen EUR investiert hätte. Dazu kommen die Käufe der Bundesländer, die das Arzneimittel für rund 20 Prozent der Bevölkerung bevorraten.
Zweifel an der Wirksamkeit gab es schon früh. Nach einem Jahre währenden Streit um die Herausgabe der vollständigen Studiendaten mit dem Hersteller Roche (Was hat Roche zu verbergen? Tamiflu und der schwierige Zugang zu klinischen Daten) hat die unabhängige Cochrane Collaboration nun ihre Meta-Analyse vorgelegt. Dafür wurden 20 Studien zum Wirkstoff Oseltamivir genauer unter die Lupe genommen.
Das Ergebnis: Bei an Grippe (Influenza) erkrankten Erwachsenen tritt eine Symptomlinderung unter Tamiflu etwa einen halben Tag früher ein als unter Placebo. Ob die Therapie bei Kindern die Krankheitsdauer verkürzt, ist zweifelhaft. Darüber hinaus führt die Behandlung weder bei Kindern noch bei Erwachsenen zu weniger Krankenhauseinweisungen. Schwere Komplikationen wie Bronchitis oder Mittelohrentzündungen treten in ähnlicher Häufigkeit wie bei Placebo-Medikamenten auf. Unter Tamiflu steigt das Risiko für Nebenwirkungen wie Übelkeit und psychiatrische Komplikationen leicht an. Die Ausbreitung einer Grippe kann mit der Substanz nicht verhindert werden. Die Deutsche Apotheker Zeitung kommentiert knapp: „Die Ergebnisse sind ernüchternd.“
Die weltweite und kostenintensive Vorratshaltung mit Tamiflu zum Schutz der Bevölkerung vor einer Influenzapandemie ist vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse nahezu obsolet. Nahezu? Die Cochrane-Analyse gilt nur für die saisonale Grippe, möglicherweise aber nicht für vermeintlich gefährlichere Pandemieform. So oder so zeigt der Fall deutlich, dass nicht nur die Entscheidung über den massenhaften Einkauf von Arzneimitteln, sondern der Zulassungs- und Überwachungsprozess von Medikamenten überhaupt fehlerbehaftet ist.
Der Tamiflu-Skandal ist so virulent, weil sich an ihm die über die Jahrzehnte eingeschliffenen Strukturen zeigen. Zwar mögen nicht alle Forscher den Reviews und Meta-Analysen der Cochrane-Forscher zustimmen, nicht zuletzt, weil die Einschluss- und Ausschluss-Kriterien für die Analyse umstritten sind, kaum jemand mag heute aber noch in Abrede stellen, dass alle für einen Wirkstoff durchgeführten klinischen Studien frühzeitig Experten und später allen Interessierten zugänglich gemacht werden müssen. Und: Den Zulassungsbehörden müssen mehr Mittel zur Verfügung stehen, um Fehlinterpretationen vermeiden zu können. Weltweit haben sich mehr als 100 Behörden – wie üblich – auf die Angaben des Herstellers verlassen.
In Zukunft dürften bei heranrollenden Grippewellen vor allem drei Maßnahmen helfen: Immunsystem stärken und Hände häufiger waschen. Wenn es dafür zu spät ist, leistet Paracetamol gute Dienste. Oder halt präventiv impfen lassen. Aber das ist eine andere Diskussion.