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Interview mit Carsten Schäfer, Autor der Max-Planck Studie über Cannabiskonsum und Strafverfolgung in der Bundesrepublik

telepolis, 18.06.2006

Von der ewig missachteten Gerichtsentscheidung

Interview mit Carsten Schäfer, Autor der Max-Planck Studie über Cannabiskonsum und Strafverfolgung in der Bundesrepublik

Vor zwölf Jahren gab ein Richterspruch des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe den Anschub zu einer politischen Diskussion und gesellschaftlichen Entwicklung, die bis heute anhält. In ihrer „Cannabis-Entscheidung“ legten die Richter fest, dass ein gelegentlicher Eigenkonsum von Haschisch oder Marihuana straflos bleiben soll. In einem zweiten Schritt verpflichtete das Gericht die Bundesländer dazu, die Strafverfolgung von Haschisch- und Marihuana-Konsumenten anzugleichen. Es könne nicht sein, so die Richter, dass in Bayern der Konsum viel härter als in Schleswig-Holstein verfolgt würde. Seither herrscht Verwirrung in der Republik. Die Entscheidung fiel in die Ära von Love-Parade, Neo-Hippies und Spaßkultur, viele interpretierten den Richterspruch als Quasi-Legalisierung von Cannabis. Kiffen war cool, alle wollten dabei sein, die Konsumenten schienen immer jünger zu werden. Von den Bundesländern wurde der Auftrag eine im wesentlichen gleichmäßigen Rechtsanwendung zu garantieren und ihre Vorschriften zu harmonisieren tapfer ignoriert.

Jetzt scheint Bewegung in die festgefahrene Situation zu kommen: Das Bundesgesundheitsministerium hatte beim Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg eine Studie in Auftrag gegeben, die die gegenwärtige Rechtspraxis untersuchen sollte. Zusammen mit Letizia Paoli analysierte Carsten Schäfer über 2000 Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft und befragte Experten zur Lage der „Kiffernation“. Im Interview spricht Schäfer, der heute als Staatsanwalt in Baden-Baden tätig ist, über erwachsene Ersttäter, den umstrittenen Begriff der „geringen Menge“ und den Unterschied zwischen juristisch und politisch zu klärenden Fragen.

Frage: Herr Schäfer, durch ihre Studie haben sie ein umfangreiches Bild über die Strafverfolgung bei Cannabis-Besitz gewinnen können. Ist die Praxis der Verfahrenseinstellung in den verschiedenen Bundesländern gravierend unterschiedlich?

Antwort: Aus meiner Sicht ja. Die Unterschiede ergeben sich insbesondere aus den unterschiedlichen Höchstewerten für die Anwendung des § 31 a BtMG, die zumeist in Länderrichtlinien festgelegt sind (zwischen 6 g und 30 g), insbesondere aber aufgrund der Unterschieldichen Anwendung des § 31 a BtMG auf Wiederholungstäter. Insbesondere bei Letzterem ergibt sich eine sehr große Bandbreite: von der Anwendung nur auf Ersttäter, bis zu regelmäßigen oder gar obligatorischen Anwendung bis zu bestimmten Cannabis-Höchstwerten. Dies führt auch in der Praxis zu den festgestellten und auch prozentual messbaren Unterschieden. Da die absolute Mehrzahl aller Cannabis-Konsumentendelikte sich in einem Grammbereich deutlich unter sechs Gramm abspielen, haben hier die unterschiedlichen Höchstgrenzen keinen großen Einfluss.

Foto Carsten Schäfer
Carsten Schäfer

Frage: Eine andere Frage ist aber, ob diese gravierenden Unterschiede auch zu einer verfassungsrechtlich bedenklichen Rechtspraxis geführt haben.

Anwort: Hier gibt es derzeit noch sehr wenig Rechtsprechung und kaum Literatur. Diese Frage ist aus meiner Sicht – auch nach Vorliegen unserer Studie – vollkommen offen. Der Grund: Die förderalistische Grundstruktur des GG verbietet grundsätzlich die Anwendung des Art. 3 GG – und damit des Gleichheitssatzes – über die Bundesländergrenzen hinweg. Verlangt wird vom Bundesverfassungsgericht eine „im Wesentlichen gleichmäßige Rechtsanwendung“, ohne dass dies allerdings bisher konkretisiert worden wäre.

Frage: Also kann es auch in Zukunft normal und rechtskonform sein, wenn in den Ländern unterschiedlich bestraft wird? Die Bundesregierung sieht ja auch nach der Veröffentlichung ihrer Studie weiterhin „primär die Länder in der Verantwortung“.

Antwort: Grundsätzlich ist eine unterschiedliche Rechtspraxis zulässig, die Frage ist jedoch „wie“ unterschiedlich diese sein darf. Hier ist es auch weiterhin grundsätzlich die Pflicht der Länder, durch Anpassung der Richtlinien für eine gleichmäßige Rechtsanwendung zu sorgen. Erst wenn dieses nicht gelingt, und ein Ergebnis unserer Studie war ja, dass trotz der Cannabis-Entscheidung aus dem Jahr 1994 (!) bisher keine Einigung erzielt werden konnte, wäre der Bundesgesetzgeber in der Pflicht, durch Neuregelung des § 31 a BtMG für eine gleichmäßigere Rechtsanwendung zu sorgen. Dies aber nur unter der Prämisse, dass der Gesetzgeber aufgrund unserer Studie Handlungsbedarf sieht. Sieht er das nicht und belässt alles beim Alten, wäre letztendlich das Bundesverfassungsgericht – nach erneuter Vorlage dieser Streitfrage durch ein erstinstanzliches Amtsgericht – berufen, dies zu entscheiden und die derzeitige Rechtspraxis als verfassungskonform oder verfassungswidrig zu erklären.

Frage: Hier gibt es dann ja ein weiteres Problem: Da Art. 3 GG nicht anwendbar ist, besteht grundsätzlich auch kein Anspruch des betroffenen Cannabis-Konsumenten auf Gleichbehandlung.

Antwort: Richtig. Ein Beschuldigter, der z. B. in Bayern wegen Besitz von 10 g Cannabis angeklagt und verurteilt wird kann sich also grundsätzlich nicht darauf berufen, dass er zum Beispiel in Berlin oder Schleswig-Holstein nicht verfolgt würde! Lediglich ein zu entscheidendes Amtsgericht kann der Rechtsauffassung sein, dass die Rechtslage so ungleich ist, dass der § 31 a BtMG in seiner jetzigen Fassung nicht verfassungskonform ist und diese Frage sodann Karlsruhe vorlegen.

Frage: 12 Jahre nach der Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts ist man also nicht nur keinen Schritt weiter gekommen, die Frage nach der „geringen Menge“ droht zur endlosen Geschichte zu werden. Existieren solche Burlesken in anderen Rechtsbereichen auch?

Antwort: In der empirischen kriminologischen Forschung wurden auch bei anderen Opportunitätseinstellungen im Bereich der sogenannten Bagatellkriminalität unterschiedliche Rechtsanwendungen festgestellt. Hierbei handelt es sich um Einstellungen wegen Geringfügigkeit nach § 153 StPO, etwa bei Diebstählen mit geringfügigem Schaden. Das Problem besteht darin, dass der Beschuldigte hinsichtlich der Nichtanwendung sogenannter Opportunitätseinstellungsvorschriften durch die Staatsanwaltschaft – und hierzu gehört nebend dem erwähnten § 153 StPO u. a. auch der hier behandelte § 31 a BtMG – kein Rechtsmittel einlegen kann. Somit gelangen die Voraussetzungen des § 31 a BtMG nicht zur Überprüfung höherrangiger Gerichte, die mit ihrer Rechtsprechung für eine gleichmäßige Rechtsanwendung sorgen könnten. Voraussetzung einer Einstellung nach § 31 a BtMG ist neben der geringen Menge auch eine geringe Schuld, und kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung. Diese „unbestimmten Rechtsbegriffe“ unterliegen grundsätzlich der Auslegung durch den sachbearbeitendenden Staatsanwalt, regelmäßig gesteuert durch Länderrichtlinien, die durch diesen bindend anzuwenden sind. Unterschiedliche Richtlinien im Bundesgebiet führen so fast zwangsläufig zu einer unterschiedlichen Rechtsanwendung, ohne dass höhere Gerichte, etwa der BGH, regulierend eingreifen könnten.

Frage: Welche cannabisbezogenen Tatbestände führen häufig zur Einstellung des Verfahrens seitens der Staatswaltschaft und Amtsgerichte?

Antwort: Im Rahmen unserer Studie hat sich eine „Idealkonstellation“ herauskristallisiert, bei der davon ausgegangen werden kann, dass in allen von uns untersuchten Bundesländern eine Einstellung des Verfahrens nach § 31 a BtMG erfolgt: Bei erwachsenen Ersttätern ab dem 21. Lebensjahr, Umgang mit einer Cannabismenge unter 6 g, keine Fremdgefährdung und lediglich eine Tatbegehung. Diese Verfahrenkonstellation betrifft allerdings nur knapp 20 % aller untersuchten Cannabisverfahren. Bei den Amtsgerichten werden hauptsächlich Verfahren gegen Jugendliche bis 18 Jahren beziehungsweise gegen Heranwachsende bis 20 Jahren nach dem Jugendstrafrecht eingestellt. Zumeist gegen die Ableistung von Arbeitsauflagen. Hier ließ aber die Untersuchung aufgrund der geringeren Fallzahlen keine Klassifizierungen zu. Regelmäßig dürfte es sich um Delikte handeln, die geringfügig oberhalb der für eine Einstellung relevanten Kriterien angesiedelt sind; etwa bei Mengen knapp oberhalb des Höchstwertes, oder – bei konservativeren Bundesländern – erstmaliger Wiederholungstat. Andere Einstellungen durch die Gerichte sind von eher untergeordenter Bedeutung.

Frage: Und auf der Ebene der Staatsanwaltschaften?

Antwort: Im Rahmen der Untersuchung konnten lediglich in Bayern und Sachsen Einstellungen mit Auflagen in nennenswerter Anzahl beobachtet werden. Auch hier handelt es sich überwiegend um Verfahren gegen Jugendliche oder Heranwachsende. Dies führt letztlich auch zu den oben dargestellten Ungleichheiten bei Abweichungen von der beschriebenen „Idealkonstellation“, wenn man den Parameter „Alter“ des Täters verändert. Insbesondere in Bundesländern mit liberalerer Einstellungspraxis wird hier aber regelmäßig nach § 31 a BtMG, bei Jugendlichen auch nach Jugendrecht, § 45 Abs. 1 JGG, also ohne Auflagen eingestellt.

Frage: Neben der Auswertung von knapp 2000 Akten haben sie für ihre Untersuchung auch Gespräche mit Amtsrichtern, Polizisten und Strafverteidigern geführt. Kann man deren Einschätzung in Bezug auf die Rechtspraxis der Strafverfolgung von Cannabis-Konsumenten länderübergreifend zusammenfassen?

Antwort: Grundsätzlich konnten wir im Rahmen unserer Expertenbefragungen feststellen, dass in der Justiz (Staatsanwaltschaften, Gericht) zwar bekannt ist, dass gewisse Unterschiede und ein Nord-Süd-Gefälle bestehen, im großen und ganzen jedoch wenig über die Rechtspraxis in anderen Bundesländern – insbesondere etwa die Höhe der unterschiedlichen Grenzwerte – bekannt ist. Naturgemäß sind es eher die Stravferteidiger, die sich diesbezüglich bereits Wissen angeeignet haben. Allerdings war auch zu beobachten, dass die Einschätzung stark von der konkreten Problemlage abhängt. In ländlichen Gebieten ist die Belastung mit BtM-Verfahren, insbesondere auch was die sogenannten „harten“ Drogen anbetrifft, bei weitem nicht so ausgeprägt wie in Großstädten oder in grenznahen Bezirken wie beispielsweise Aachen. Dies hat natürlich auch Einfluss auf die Strafverfolgung von Massendelikten, wie es Konsumentendelikte mit kleinen Mengen Cannabis sind. Letztendlich werden diese Delikte in Bezirken mit hoher Belastung eher nierderschwellig behandelt und zwar nicht nur auf Seiten der Staatsanwaltschaften durch vermehrte Einstellungen, sondern bereits auf Ebene der Polizei durch die Anwendung vereinfachter Verfahren, bei denen die Ermittlungstätigkeit auf ein Minimum beschränkt und insbesondere auf ausführliche Beschuldigtenvernehmungen verzichtet wird. Dies spiegelt sich dann natürlich auch in der Einschätzung der Problemlage durch die Ermittlungsbeamten wider.

Frage: Kann man nach den Ergebnissen ihrer Studie die praktikable Höhe der „geringen Menge“ Cannabis genauer festlegen?

Antwort: Das Problem ist ja, dass es sich hierbei um eine rein politische Frage handelt bei gleichzeitig relativ geringer Praxisrelevanz. Im Rahmen der Studie betrafen über 80 % aller untersuchten Cannabisverfahren Delikte im BtM-Mengen unterhalb von 6 Gramm. Dennoch hat beispielsweise die hessische Landesregierung nach dem politischen Wechsel von der SPD zur CDU die Höchstmenge von 30 Gramm auf 15 Gramm Cannabis herabgesenkt, während die Berliner Landesregierung zum Zeitpunkt des Abschlusses unserer Untersuchung umgekehrt eine Anhebung von 15 auf 30 Gramm beschlossen hatte. Aus meiner Sicht ist dieses Problem aber weniger dringlich, als eine Einigung hinsichtlich der Auslegung anderer Kriterien. Das Bundesverfassungsgericht hat 1994 festgelegt, dass der „gelegentliche Eigenkonsum“ straflos bleiben soll. Dies betrifft zweifellos das Kriterium der Wiederholungstäterschaft: wie behandelt man einen Konsumenten, der zum Beispiel mit 2 Gramm Cannabis erwischt wurde, aber bereits ein Jahr zuvor – oder auch schon mehrfach – durch BtM-Besitz oder Erwerb aufgefallen war? Hier entstehen die gravierenden Unterschiede, da dies auch einen prozentual höheren Anteil an Verfahren betrifft. Um auf die Höchstmenge zurückzukommen: Der BGH hat 1998 einmal – ausgehend von einem angenommenen relativ geringen Wirkstoffgehalt 10 Gramm Cannabis ins Spiel gebracht, ohne dass dies allerdings Bindungswirkung für die Staatsanwaltschaften oder Instanzgerichte entfaltet hätte. Dies scheint mir ein tragfähiger Kompromiss zu sein.

Frage: Spielt der Wirkstoffgehalt eine Rolle?

Antwort: Damit ist tatsächlich ein weiteres Problem angesprochen: Grundsätzlich ist juristisch nicht auf die Grammmenge, sondern auf den Wirkstoffgehalt abzustellen. Die Festlegung von Höchstgrenzen für die Anwendung des § 31 a BtMG diente einzig der Verfahrensvereinfachung, da ein an sich notwendiges Wirkstoffgutachten bei Bagatelldelikten unverhältnismäßg wäre. Die derzeitige Diskussion über Marihuana-Produkte mit relativ hohem Wirkstoffgehalt lassen erwarten, dass unter Umständen auch die Diskussion über die Höchstmengen neu entfacht wird. Zumindest in der juristischen Fachliteratur werden Konsequenzen bezüglich der Gefährlichkeitseinstufung von Cannabis neu diskutiert. Hier muss die weitere Entwicklung abgewartet werden.

Frage: Welche Rolle sollte ihrer Ansicht nach das Strafrecht bei der Regulierung des Drogenkonsums der Gesellschaft zukünftig spielen?

Antwort: Ich denke, dass das Strafrecht nach wie vor eine wichtige Rolle spielt und auch spielen muss, man sollte aber die Auswirkungen auf das Drogenkonsumverhalten nicht überbewerten. So hat gerade die Drogenprohibition der letzten Jahrzehnte nicht zu dem gewünschten Erfolg geführt. Umgekehrt halte ich aber auch eine Freigabe von Cannabis nicht für angebracht. Aus meiner Sicht wird das Gefährdungspotenzial von Cannabis – insbesondere bei Dauerkonsum Jugendlicher – nach wie vor unterschätzt. Letztlich geht es doch um die Frage, in wieweit der Staat mit seinem schärfsten Schwert – dem Strafrecht – in das selbstbestimmte Handeln des Menschen eingreifen darf. Das Bundesverfassungsgericht hat 1994 in diesem Zusammenhang die Strafbarkeit des Umgangs mit Cannabis grundsätzlich für legitim erklärt, gleichzeitig aber festgelegt, dass ein gewisser Bereich der „selbstverantwortlichen Eigengefährdung“ straflos bleiben soll. Das Gericht hat dies mit „gelegentlichem Eigenkonsum geringer Mengen Cannabis zum Eigenkonsum ohne Fremdgefährdung“ umschrieben. Diese Linie sollte konsequent fortgeführt und die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtseinheitlichkeit umgesetzt werden. Wo dann die Grenze der „geringen Menge“ und des „gelegentlichen Eigenkonsums“ gezogen wird, vermag ich nicht zu entscheiden. Im Fahrerlaubnisrecht wird bereits seit längerem zwischen gelgentlichem und regelmäigem Konsum unterschieden und Anhand des Abbauproduktes THC-COOH im Blut bestimmt. Dies könnte auch für das Strafrecht ein gangbarer Weg sein.

Parallel hierzu sollte jedoch die Strafbarkeit nicht aufgegeben werden. Zum einen halte ich gerade die Einwirkungsmöglichkeiten im Jugendrecht für unverzichtbar, denken Sie an die Möglichkeit von suchstspezifischen Auflagen, wie zum Beispiel Drogenscreening, Drogenberatung, ambulante Therapien. Zum anderen darf nicht übersehen werden, dass die Strafbarkeit des Drogenbesitzes häufig auch als Auffangtatbestand für die Bestrafung von Dealern eingreift, denen ein Handeltreiben nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden konnte. Deswegen ist es auch wichtig, dass den Staatsanwaltschaften durch den § 31 a BtMG ein Spielraum verbleibt, in Einzelfällen von der vorgegeben Linie auch abzuweichen.

Literatur:
Carsten Schäfer; Letizia Paoli:
Drogenkonsum und Strafverfolgungspraxis. Berlin 2006, Duncker&Humblot.
447 Seiten. EUR 35,-

 

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Die Hand an der Knüppelschaltung

Hanfblatt, Juli 1999

Cannabiskonsumenten fahren gefährlich

Der laborärztliche Befund ist positiv. Während die werdende Mutter sich über solche Nachricht meist freut, ist dies für den Konsumenten von Cannabisprodukten oft der Beginn einer Odyssee durch die staatlichen Institutionen. Denn wer nicht nur Tabakrauch inhaliert und den Hütern der Ordnung in die Hände fällt, kann damit rechnen, in nächster Zeit freundliche Einladungen zum fröhlichen Zielpinkeln in Reagenzgläser zu erhalten. Aber der Reihe nach:

Wie fährt der Kiffer?

Es mangelt mittlerweile nicht an wissenschaftlichen Antwortversuchen auf die Frage, ob und wie sich das Fahrverhalten unter Cannabiseinfluß ändert. So legte Bernd Möller 1976 in seiner Dissertation über „Veränderungen der Fahrtauglichkeit unter Haschisch“ fest, daß „Kraftfahrer unter Haschischeinfluß grundsätzlich als fahruntauglich anzusehen sind.“ Dies sieht der US-Wissenschaftler A. Smiley anders. Nach Auswertung seiner Studien stellt er in Frage, ob Cannabis überhaupt verkehrsmedizinisch relevante Leistungseinbußen impliziere. Bei diesen konträren Ergebnissen stellt sich die Frage, wo die Wahrheit sich versteckt. Es gilt auch hier: Untersuchungsdesign, Auftraggeber und persönlicher Hintergrund der Forscher bestimmen maßgeblich das Resultat der Analyse – und natürlich die verabreichte Dosis. Dies gilt für die vielzitierte Studie von H.W.J. Robbe aus Maastricht ebenso. Ihr zufolge chauffieren leicht bekiffte Fahrer relativ sicher – jedenfalls im Vergleich zu angetrunkenen. Zudem erkennt der THC-Freund seine Ekstase und nimmt den Rausch länger wahr, als durch objektivierbaren Einbußen der Leistungsfähigkeit nachvollziehbar wäre.

Fest steht: Akuter Haschischeinfluß beeinträchtigt die Reaktionszeit; aber nicht in dem Maße wie Alkohol. Zugleich zeigen die Probanden aller bisherigen Untersuchungen eine reduzierte Risikobereitschaft. Innerhalb der ersten Stunde nach Genuß traten die Verschlechterungen der Leistung um so deutlicher hervor, je schwieriger die Aufgaben waren und je mehr Leistungen gleichzeitig erbracht werden mußten. Spätestens jenseits der zweiten Stunde nach Rauchbeginn wurden in allen Studien nur noch wenige Einschränkungen der Fahrtüchtigkeit eruiert.

So weit, so gut. Doch

wie reagiert die Obrigkeit?

Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gab vor ein paar Jahren einem Autofahrer recht, welcher sich in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt sah, weil er sich nach dem kompletten Inhalieren eines Joints einem medizinisch-psychologischen Gutachten (MPU, kurz: Idiotentest) unterziehen mußte. Der Vorsitzende der Zweiten Kammer des Lübecker Landgerichts, Wolfgang Neskovic (später bekannt aus Funk und Fernsehen), vermutete daraufhin in der TAZ, daß die „allgemeine Hatz von Gerichten und Straßenverkehrsbehörden auf Haschischkonsumenten erheblich erschwert wird.“ Fehlurteil, Herr Richter! Auch nach dem Spruch des obersten Gerichts kam und kommt es in der Bundesrepublik zu massiven behördlichen Angriffen auf die Lizenz zum Karren.

Wer einen mobilen Untersatz steuert und dabei von der Polizei mit Cannabis in den Taschen überrascht wird, dem droht folgendes Szenario: Ob Urin-, Haar-, oder Blutprobe; die Meister der Wacht prüfen auf körperfremde Substanzen. Allen Berichten über „HaschoMaten“ oder sonstige „sichere Indikatoren“ zum trotz, gibt es allerdings bisher keinen Apparat, der Drogenkonsum sicher und exakt feststellen kann. Zwar kann Mithilfe moderner Meßtechniken angezeigt werden, daß der Mensch irgendwann in den vergangenen 30 Tagen Cannabis konsumiert hat – es kann aber nicht festgestellt werden, wann (Stunden, Tagen oder Wochen?) und in welchem Umfang. Und: Auch die kulinarische Verarbeitung von Hanfprodukten, wie etwa durch geröstete Hanfsamen oder durch den Einsatz von Hanföl, führt bei einem kommenden Test zum Nachweis von THC-Metaboliten. Unter Umständen wird also sogar der Zugriff auf nachweislich gesunde Nahrungsmittel bestraft. Nur am Rande sei hier erwähnt, daß selbst Labore, die nach ähnlichen Arbeitsweisen vorgehen, häufig zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Eine merkwürdige Praxis spielt sich ein: Trotz der Tatsache, daß keine Testmethode existiert, die den Zeitpunkt des Konsums auch nur annähernd exakt bestimmt, führt der positive Laborbefund in den meisten Fällen zum Entzug der Fahrerlaubnis. Die Chancen hierzu steigen noch, wenn der überführte Bösewicht offen eingesteht, ein Liebhaber der verbotenen Pflanze zu sein. In der Praxis ist das Vorgehen gegen die Konsumenten von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Während in Bayern mit freistaatlicher Härte jeder sanktioniert wird, der jemals Marihuana oder Haschisch gekostet hat, kommen aus den Großstädten Hamburg und Berlin -Metropolen mit Problemstoffen härterer Natur- nur wenige Meldungen über restriktive Verfolgungen.

Bei der „Grünen Hilfe“ gehen in den Länderbüros zwischen zehn und 30 Anrufen täglich ein. Der Verein bemüht sich seit Jahren um Betroffene, deren Führerschein aufgrund von Haschischkonsum eingezogen wurde. Christiane Eisele bemerkt: „Es herrscht ein enormes Informationsdefizit bei den Kiffern.“ Einmal in eine Kontrolle geraten, im schlimmsten Falle eingeschüchtert durch die Uniformierten, schimmert bei vielen nur wenig Ahnung über ihre Rechte und Pflichten. Dabei tut Aufklärung dringend not, denn inzwischen lädt das Amt fast jeden, der auch nur einmal als Haschraucher aufgefallen ist, zur MPU. Wer hier nicht auf die Knie fällt und glaubhaft versichert, das Hanf ein Machwerk des Bösen ist, darf sich in den nächsten Jahren auf die Qualität seiner Schuhsohlen verlassen. Nicht genug damit: „Uns sind auch Fälle bekannt, wo das Arbeitsamt Drogenkontrollen durchführt und schon zugesagte Umschulungen storniert, das Arbeitslosengeld sperrt und den Menschen als dem Arbeitsmarkt nicht zumutbar deklariert“, berichtet Eisele.

So weit, so schlecht, doch

was ist zu tun?

Ein böser Verdacht verdichtet sich. Nicht nur, daß die Bonner Regierung bisher die Entscheidung des Verfassungsgerichts stillschweigend ignoriert; konservative Kräfte suchen allem Anschein nach einen Ausweg aus der Liberalisierungsfalle. Durch die Hintertür kann so der Haschischkonsum doch noch sanktioniert werden. Erste Schritte leitete die Verwaltung jüngst ein: Seit dem 1. Juli dieses Jahres eichen die amtlichen Prüfungsfragen den Fahrschüler auf Prohibitionskurs. Als Kraftfahrer sind danach alle Personen ungeeignet, die „regelmäßig Drogen, (wie z.B. Haschisch, Heroin, Kokain) nehmen, auch wenn sie zum Zeitpunkt der Fahrt nicht fahruntüchtig sind.“ Andere, ähnliche Fragen und unstatthafte Behauptungen lassen den Fragebogen zu einem Instrument der Desinformation geraten, der jedweden wissenschaftlichen Erkenntnissen widerspricht. Eine weitere flankierende Maßnahme, um Menschen den Genuß der Cannabis Pflanze zu versauern, ist die Hoffnung, daß wiederholte Urinkontrollen bei den sogenannten Drogendeliquenten ein Therapiemodell mit Zukunft sei.

Die „Grüne Hilfe“ fordert einen anderen Weg. „Haschisch muß aus dem Betäubungsmittelgesetz verschwinden“, sagt Eisele knapp. Ein Führerscheinentzug nur aufgrund des Nachweises von THC im Körper verstößt nach ihrer Ansicht ferner gegen das Gleichheitspostulat des Grundgesetzes (Art.3 GG), denn Alkoholtrinkern würde auch nicht generell der Führerschein entzogen. Daß die Behörde die Fahreignung von Kiffern strenger prüft als bei Konsumenten legaler Drogen, stellt nach Ansicht von Harald Hans Körner, Herausgeber des Standardkommentars über das Betäubungsmittelgesetz, jedoch keinen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz dar, „da im Sicherheitsrecht Gefahren ohne Rücksicht darauf begegnet werden muß, ob andere Gefahren mit gleichem Nachdruck begegnet werden kann.“ Knackpunkt der staatlichen Argumentation ist weiterhin die Chance auf den „Flash-Back“. Dieses umstrittene Phänomen soll den Raucher Tage nach Haschlabsal urplötzlich wieder in den Rauschzustand katapultieren. Da kann man wohl nur sagen: Schön wär´s. Eisele nimmt an: „Solange das Verfassungsgericht nicht feststellt, daß es den Echorausch nicht gibt, wird das Alles so weiterlaufen.“ Das Verkehrsministerium überholt die Wissenschaft rechts und brachte jüngst einen Entwurf ein, welcher der herrschenden Praxis rechsstaatliche Legalität verschafft. Danach soll der- oder diejenige, deren Blut mit THC belastet ist, mit einem bis zu drei Monaten währenden Fahrverbot und einem Bußgeld zur Besserung gebracht werden. Im Blut läßt sich die berauschende Substanz indes maximal zwei Tage lang nachweisen. Danach fällt der THC-Metabolitenwert im Blutplasma auf unter 1.0 ng/ml und nach geltender Rechtsprechung ist dann von keiner Wirkung mehr auszugehen.

Wie groß muß nun die Angst sein, mit THC im Leib erwischt zu werden? Dies hängt maßgeblich von der konsumierten Menge, dem Körpergewicht und den Konsumgewohnheiten ab. Wer Abends einen Joint raucht, der kann am nächsten Morgen immmer noch über 1,0 ng/ml im Blut haben. Wer sich dann aus Sicht der Polizei auch noch ungeschickt benimmt, der kann den Lappen durchaus verlieren. Besser ist es mindestens 24 Stunden zwischen Konsum und Fahrtantritt verstreichen zu lassen. Dauerkonsumenten sollten sich sogar noch mehr Zeit nehmen.

 

Nachtrag 2007: Mittlerweile existieren durchaus genaue Methoden zur Messung der THC-Werte im Blut. Einen Einblick in den akutellen Sachstand von Messbarkeit, juristischen Folgen und MPU gibt: