Die herkömmliche Psychopharmakologie ist im Umbruch, Wissenschaft und Industrie setzen auf Nervenschaltkreise und Hirnstimulation
Erschienen in der Telepolis v. 13.11.2013
Von Jörg Auf dem Hövel
Über Jahrzehnte wurde den Neurotransmittern die primäre Rolle bei allen neuronal-psychischen Prozessen zugeschrieben. Die Botenstoffe standen im Zentrum der Psychopharmakologie, bei jeder mentalen Krankheit wurde zuerst geschaut ob der Neurotransmitter-Haushalt beeinträchtigt war. So entstanden Theorien chemischer Imbalancen. Für Depressionen ist noch heute die Serotoninmangel-Hypothese etabliert, obwohl schon lange bekannt ist, dass fehlendes Serotonin nicht automatisch zu Depressionen führt. Ein anderer Botenstoff, Dopamin, gilt als „Belohnungsmolekül“, und wird bis heute in kausalen Zusammenhang mit Suchterscheinungen gebracht. In der Konsequenz besteht Psychopharmakologie noch heute oft und vereinfacht gesprochen darin, eine psychoaktive Substanz in den großen Topf „Gehirn-Körper“ zu werfen, kräftig umzurühren und zu testen, ob die Synapsen reagieren.
Die Kritik an diesem Vorgehen ist in den letzten Jahren immer lauter geworden. Nicht nur, weil die Pharmakonzerne vieles unternehmen, um die vorgeschriebenen Studien in der einen oder anderen Weise in ihrem Sinne zu beeinflussen, nicht nur, weil das gesamte Arzneimittel-Zulassungsystem Gefahr läuft seine wissenschaftliche Unabhängigkeit zu verlieren, sondern auch, weil die herrschenden Theorien zu Ursache und Heilung psychischer Krankheiten unterkomplex sind.
Weithin unbemerkt von der Öffentlichkeit hatten Firmen wie AstraZeneca, GlaxoSmithKline und auch Novartis in den letzten Jahren ihre Abteilungen in den neurowissenschaftlichen Forschungszentren geschlossen, die sich mit der herkömmlichen Psychopharmaka-Entdeckung beschäftigt hatten. Die Gründe: Zum einen ist der Markt mit preiswerten, generischen Medikamenten gesättigt, zum anderen waren viele neue Kandidaten in den klinischen Studien gescheitert. Die Suche nach neuen Wirkstoffen geriet trotz Hochdurchsatzscreening zum Glücksspiel. Man sucht daher nach neuen Ansätzen, um die Biologie des Gehirns besser zu verstehen. Genetische Analysen sollen weiter helfen: Beispielsweise nutzt der dänische Pharma-Unternehmen Lundbeck das Genom von Teilen der isländischen Bevölkerung, um die Pathologie der Schizophrenie besser zu verstehen. Andere Unternehmen setzen auf Otogenetik und sind in der Lage, bestimmte Zellfunktionen an- und abzuschalten. Die Europäische Kommission finanziert mit NEWMEDS die Erforschung neuronaler Systemeinheiten, um neue Arzneimittel gegen Schizophrenie und Depressionen zu finden.
Die Gruppe um Dolmetsch will genauer untersuchen, wie Gene und Umweltbedingungen die Verbindungen zwischen den Neuronen beeinflussen. Der Schritt ist für pharmazeutische Unternehmen wie Novartis risikobehaftet, wird es doch Jahrzehnte dauern, bevor aus den neuen Forschungsansätzen neue Medikamente entstehen könnten.
Magnetstimulation
Konkurrenz droht zudem durch die Fortschritte auf dem Gebiet der nicht-medikamentösen Behandlung psychischer Leiden. Weltweit steigt die Anzahl der Studien an, die beispielsweise Magnetstimulation bei Depressionen anwenden. Dafür werden mit Hilfe einer kleinen, über dem Kopf schwebenden Spule magnetische Impulse in den Teil des Gehirns geleitet, der maßgeblich betroffen zu sein scheint. Wie die „selektiven Serotoninaufnahmhemmer“ (SSRI) verspricht auch diese Methode Zielgenauigkeit, wo keine ist, beziehungsweise die Interdependenzen der Hirnareale vernachlässigt werden. Die Studienergebnisse scheinen gleichwohl überraschend positiv.
Eine Überblicksarbeit aus diesem Jahr spricht von temporären und dauerhaften Nachlassen in 30-40% der Fälle, wenn TMS wiederholt angewendet wurde. Eine gründliche Meta-Analyse aus dem Jahre 2003 beklagte dagegen noch in den ohnehin nur 14 eingeschlossenen Studien deren Qualität und sprach von ungenügender Evidenz. Eine Meta-Analyse aus 2010 sieht dagegen ausreichende Beweise für die Wirksamkeit vorliegen und will repetitive TMS in den therapeutischen Werkzeugkasten aufnehmen.
Den invasiven Schritt weiter geht die Deep Brain Stimulation. Erfolgt diese dauerhaft werden dabei dünne Elektroden direkt in der betroffenen Hirnregion implantiert. Die Methode wird für unterschiedliche Krankheiten angewendet, experimentell in den letzten Jahren vermehrt auch bei schweren Depressionen.
Ob die neuen Verfahren gegenüber der Psychopharmakologie und Psychotherapie tatsächlich die Vorteile haben, die ihnen zur Zeit zugesprochen werden, müssen sowohl Langzeit- wie auch Vergleichsstudien zeigen. Parallel wird interessant zu beobachten sein, ob sich die pharmazeutische Industrie in naher Zukunft mit Akquirierung im medizinisch-technischen Bereich zu wappnen versucht.