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Künstliche Intelligenz

Interview mit Rolf Pfeifer, Labor für Künstliche Intelligenz, Universität Zürich

Künstliche Intelligenz, Heft 1/2003

Rolf Pfeifer schrieb zusammen mit Christian Scheier „Understanding Intelligence – eine auch für Nichtinformatiker leicht lesbare Gesamtdarstellung der „Neuen künstlichen Intelligenz“.
Jörg Auf dem Hövel:
Biologie und Biorobotik arbeiten im Zürichicher AI-Lab eng zusammen, wobei die Künstliche Intelligenz viel von der Natur lernen kann. Was aber kann denn die Biologie von ihnen lernen?

Rolf Pfeifer:
Ein Beispiel: Die Wüstenameise Cataglyphis orientiert sich am Polarisationsmuster der Sonne. Im Aufnahmeapparat der Ameise existiert Rezeptoren, die das Licht in unterschiedlicher Richtung polarisieren. Der eine Rezeptor oder Polarisationsfilter arbeitet also beispielsweise nach vorne, der andere zur Seite. Die Theorie der Biologen besagte nun folgendes: Wenn man nun die verknüpften Polarisationssensoren dreht, dann ändert sich in systematischer Weise der Output des betreffenden Neurons. Während die Ameise sich also dreht, ändert sich der Output. Sie muss das Maximum des Output suchen um eine Referenzrichtung zu erhalten. Als wir diese Konstruktion auf einem Roboter implementierten sahen wir, die Richtung des Maximums einen relativ grossen Fehler aufweist. Mit dieser Unschärfe würde die Ameise aber nicht so geradlinig zum Nest zurückkommen, wie sie das in der Realität tut. Als wir einen Roboter mit diesem Mechanismus zu bauen versuchten, bemerkten wir, wie unpräzise er mit diesem Verfahren fährt. Dann haben wir ein wenig rumgespielt und hin und her versucht. Schließlich versuchten wir es mit drei Sensorsystemen, die auf 0 Grad, 60 Grad und 120 Grad ausgerichtet sind, so wie das von der Ameise bekannt ist. Wenn man die Outputs dieser drei Systeme miteinander verknüpft, und die absolute Differenz von zwei Systemen vom Wert des ersten System abzieht, dann ergibt sich eine hohe Schärfe der Orientierung. Dies stellt nun eine Hypothese dar für die Biologen – gibt es tatsächlich bei den Ameisen oder den Bienen, die ebenfalls diese Orientierungsmöglichkeit besitzen, Neuronen, die diese Art der Berechnung durchführen? Es scheint gewisse Hinweise darauf zu geben, aber ob man das tatsächlich gefunden hat oder nicht ist mir zur Zeit nicht bekannt.

Rolf Pfeifer

Haben Sie noch ein anderes Beispiel?

Sicher. Dimitri Lambrinos und Ralf Möller haben überlegt, ob es ausreicht, wenn der Sahabot in der nahen Umgebung des Nests nicht einen kompletten Snapshot, sondern nur einen Mittelwert über alle Landmarken bildet und damit nur einen Vektor abspeichert. Erstaunlicherweise findet der Roboter in den meisten Fällen genauso gut zum Eingang des Nestes zurück. Das funktioniert ebenfalls, wenn man statt weniger Markierungen hunderte von Markern setzt, an denen der Roboter sich orientieren kann. Später testeten wir das in normalen Büroumgebungen und das funktionierte ebenfalls. Das ist natürlich Wahnsinn, denn es müssen nur zwei Zahlen gespeichert werden, um eine komplexe Umgebung im Körper zu repräsentieren. Wenn man das zudem analog macht, dann kostet das praktisch nichts. Ein gutes Beispiel für cheap design, welches sich in der Natur so häufig durchsetzt. Die Biologen testen zur Zeit, ob die Ameise nach dem Snapshot-Modell oder dem Average-Landmark Modell vorgeht. So kann die Robotik Hypothesen aufstellen und die Biologen können sie überprüfen.

Trotz der Verkörperung und der damit beabsichtigten Verabschiedung der symbolverarbeitenden Maschine, arbeiten ihre Roboter ja gleichwohl mit Prozessoren, die Algorithmen ausführen. Wie passt das zusammen?

Das ist ein guter Punkt und bleibt ein Problem, obwohl ich es eher in den philosophischen Bereich rücken würde. Zum einen arbeiten wir mit Neuronalen Netzen, die zwar letztlich auch in einem Mikroprozessor ablaufen, die aber vom Konzept her natürlichen Neuronen nachempfunden sind. Die Idee dabei ist, das man auf einer gewissen Abstraktionsebene von künstlichen Neuronen spricht und nicht von ihrer digitalen Simulation. Wenn man die Auflösung genügend fein macht, dann hat das weithin analogen Charakter. Zum anderen haben wir tatsächlich Roboter gebaut, die ganz ohne Software auskommen. Diese bestehen nur aus analogen Schaltkreisen. Den Analog-Robot hat Ralf Möller entwickelt, der jetzt beim Max-Planck-Institut in München ist.

Das wirft auch ein anderes Licht auf den Begriff der Wahrnehmung.

Die Leute denken immer an Input bei Wahrnehmung. Und ich mache meine Mitarbeiter in den Diskussionen fast wahnsinnig, weil ich immer wieder darauf hinweise, dass es sensormotorische Kopplungen sind, die das Erleben bestimmen. Um das zu zeigen haben wir einen analog-VLSI Chip entwickelt, diesen an die Peripherie des Roboters geschoben und dort eine komplette sensormotorische Schleife konstruiert. Von den lichtsensitiven Zellen über das „attentional processing“ bis zum Berechnen des Steuersignals für die Motoren ist bei diesem Analog-Roboter alles auf einem analog-VLSO-Chip implementiert. Es ist also durchaus möglich ganz ohne digitale Simulation des neuronalen Netzes auszukommen.

Ein Kernpunkt der Neuen KI ist Emergenz. Wie kam man in der Neuen KI darauf, dass Intelligenz aus dem Zusammenspiel einfacher, an und für sich unintelligenten Teile, entstehen, halt emergieren kann? Was führte zu der Einsicht, dass der symbolverarbeitende Ansatz allein nicht ausreicht, um intelligentes Verhalten zu entwickeln?

Das ergab sich zum einen sicherlich aus dem Betrachten evolutionärer Vorgänge. Aus einfachen Elementen entstehen komplexe Komponenten, die wiederum Teil von größeren Einheiten sind. Aus toter Materie ist schließlich auch der Mensch entstanden. Auf der anderen Seite erkannte man Anfang der 80er Jahre, dass der symbolverarbeitenden Ansatz an seine Grenzen gestoßen war. Es existierte ein Haufen von KI-Gebieten, von Expertensystemen, Wissensrepräsentationen, Problemlösen, Theorembeweisen. Viele von uns interessierte damals aber nicht nur das Schreiben von Computerprogramme, die eine Aufgabe erfüllen, sondern wir wollten etwas über natürliche Intelligenz lernen. Wenn man die klassische KI anschaut, dann erkennt man sehr wohl die wertvollen Beiträge, die sie beispielsweise für die mathematische Logik und die Algorithmik geleistet hat. Aber sie hat sehr wenig zum Verständnis natürlicher Intelligenz beigetragen und stieß aus diesem Grund an eine Grenze. Das hat viele Forscher frustriert. Den Paradigmenwechsel eingeleitet hat dann sicherlich die Theorie der Neuronalen Netze…

Christoph von der Marlsburg…

Genau. Der Mann ist immer noch einer der originellsten Köpfe in dem Gebiet. Nun, auf alle Fälle haben viele Forscher darin eine Antwort auf die Frage gesehen, wie ich Symbolen Bedeutung geben kann. Ein weiterer Punkt für den Wechsel war sicherlich das Scheitern, mit den bisherigen Ansätzen intelligent handelnde Roboter zu bauen. Man merkte damals nämlich, dass man nicht einfach ein symbolverarbeitenden Programm nehmen, eine Kamera anhängen und einen Pixel-Array auf die internen Symbole abbilden kann. Wenn man mal reale Kamerabilder angesehen hat und diese mit sich bewegenden Kamerabildern vergleicht, dann sieht man, dass das nicht funktionieren kann. Es wurde also langsam klar, dass dies eine völlig falsche Sicht der Dinge ist. Rodney Brooks hat seine Dissertation im Bereich der klassischen Computer-Vision gemacht und war frustriert, mutmaßte, dass der bisherige Ansatz salopp gesprochen völliger Quatsch ist.

Da war er nicht der Einzige.

Sicher. Schon Hubert L. und Stuart E. Dreyfus haben das kritisiert. Terry Winograd schrieb Anfang der 70er Jahre das Programm SHRDLU und fing Anfang der 80er Jahre an, über diese Dinge vertieft nachzudenken und den Ansatz der klassischen KI zu kritisieren. In den Insiderkreisen zirkulierten damals schon Manuskripte, später kam sein Buch „Understanding Computers and Cognition“ heraus. Im Rotbuch-Verlag erschienen, erlangte es schnell Kult-Status. Ebenfalls mit dabei war William J. Clancey, der an medizinischen Expertensystemen arbeitete und alle paar Jahre einen Artikel veröffentliche, der die scientific community schockierte.

Zentral für ihre Arbeit ist ebenfalls der Begriff der Emergenz. Was verstehen sie darunter?

Ein gutes Beispiel für Emergenz ist das Vehikel I von Braitenberg. Das hat vorne einen Sensor, hinten einen Antrieb und ein die beiden Elemente verbindendes „Gehirn“, welches aus einem einzigen künstlichen Neuron besteht. Je mehr Qualität der Sensor liefert, umso schneller läuft der Motor. Die Beschaffenheit des Sensors ist dabei beliebig wählbar. Der kann Temperatur, Lichtintensität oder chemische Konzentration messen. Nehmen wir einen Temperatursensor und angenommen, dass Vehikel ist im Wasser, dann fährt es nicht einfach gleichmäßig geradeaus. Dort existieren Strömungen, Wirbel, andere Fische, Temperaturschwankungen und so fährt es an einem Ort schneller, an einem anderen langsamer. Da kann der Beobachter leicht zu der Annahme kommen, dass es sich lieber im kalten Wasser aufhält. Dabei macht das Gehirn nichts anderes, als den Sensor mit dem Motor zu verbinden. Schon bei zwei Sensoren und zwei Motoren wird das Verhalten enorm komplex. Der Punkt von Braitenberg ist der, dass man die Mechanismen genau erklären kann, es ist aber sehr schwierig, aus dem Verhalten zurück auf die Mechanismen zu schließen. Verhalten, welches kompliziert aussieht, lässt sich häufig viel einfacher erklären. Das ist die Idee der Emergenz.

Aber den umgekehrten Fall gibt es auch.

Wenn ich mit dem Finger von meiner Nase weg geradeaus fahre, dann ist das eine sehr viel schwierigere Bewegungen als eine kreisförmige mit dem ganzen Arm.

Deswegen ist das auch der Trunkenheitstest bei der Polizei. In us-amerikanischer Tradition versucht Brooks sich wieder am Nachbau des Menschen.

Der Brooks ist wahrscheinlich viel intelligenter als die Leute glauben. Er hat wahnsinnig gute Intuitionen, die er leider nicht theoretisch weiter verfolgt. Wenn man mit ihm über theoretische Dinge reden will, dann sagt er meistens: „Ah, forget about the theory.“

That´s the american way.

Der Mann ist nicht Amerikaner, sondern Australier. Er lebt nur seit 20 Jahren in den USA.

Dann ist er konvertiert.

Seine Argumentation ist im Grunde folgende: Der Schritt von den Einzellern zu mehrbeinigen Insekten war der wichtige in der Evolution. Von den Insekten zu den Menschen war es dann nur noch ein vergleichsweise kleiner Schritt. Wir müssen also erst einmal verstehen, wie und warum sich Einzeller zu komplexen Lebewesen entwickelt haben, dann wird der Rest recht einfach.

Und wie ist der Erkenntnisstand der Neue KI zur Zeit? Nach Dennet befindet sich die Robotik ja noch im Stadium des Bakteriums. Robocteria?

Ich bin nicht ganz sicher. Natürlich haben Bakterien schon eine enorme Komplexität. Sensorik, Motorik, interne Verarbeitung, Stoffwechsel…

Selbstreproduktion…

…richtig, sie hat genetisches Material. Insgesamt enorme Komplexität. Wir versuchen heute in erste Linie das Verhalten von Insekten zu verstehen, machen aber auch Experimente, die in Richtung des Verständnis´ menschlicher Intelligenz gehen. Brooks liebt es Roboter zu bauen, und letztlich wollte er einen humanoiden Roboter bauen, weil das spektakulärer ist. Aber auch hier hat er wieder die richtigen Ideen gehabt und sehr viel Wert auf die Sensormotorik gelegt. Er ist ohnehin ein ungewöhnlicher Forschertyp. Sein Onkel ist der Regisseur Mel Brooks, wie er einmal erzählte. Ich weiß nicht genau, ob das stimmt.

So oder so hat er anscheinend Humor.

Rolf Pfeifer AI Lab Zürich
Rolf Pfeifer Copyright AI Lab Zürich

Der kann die Leute nach belieben verarschen. Und wenn er sagt, dass sie einen Roboter bauen werden, der die Intelligenz eines 4jährigen Kindes hat, dann darf man das nicht allzu ernst nehmen. Ich erinnere mich, dass er auf einem Vortrag einmal die erste Folie auflegte auf der stand nur: „THINK BIG“.

In der Neuen KI kommen die Gedanken der Systemtheorie, eigentlich schon in den 60 Jahren entworfen, zu später Ehre. Rückkopplungsschleifen, stabile Eigenwerte, Selbstorganisation. Was bedeuten diese Begriffe für die Neue KI? Und wie hängen Rückkopplungsschleifen und sensormotorische Kopplung zusammen?

Feedbackschleifen sind mittlerweile überall entdeckt und nutzbar gemacht worden. Die alten Kybernetiker, wie beispielsweise Norbert Wiener, waren ja zugleich an den Entwicklungen der ersten Digitalcomputer beteiligt. Man muss die damalige Euphorieverstehen, denn plötzlich stand eine anscheinend alles könnende Maschine zur Verfügung. Die Kybernetik geriet so in den Sog der Bestrebung, alles zu digitalisieren. Parallel dazu entwickelte sich die Idee, dass auch das natürliche Denken wie ein Computer funktioniert. So kam es zum Ausdruck des „Elektronengehirns“ und der Idee, dass auch der Mensch nach dem Schema von Input, Verarbeitung und Output arbeitet. Viele Talente der Kybernetik und des systemischen Denkens wanderten zur klassischen KI. Die frühen Kybernetiker formulierten Grundlegendes, die Ideen eines Heinz von Foerster sind beispielsweise so aktuell wie nie. Dann schlief die Bewegung ein und erst durch das Aufkommen der Neuronalen Netze wurden die Ideen wiederbelebt. Ich erinnere mich an eine Zeit, da war es in der klassischen KI verpönt, überhaupt von reellen Zahlen zu reden. Man unterhielt sich in Form von abstrakten Symbolen, welche die Essenz der Intelligenz darstellen sollten. Durch die Neuronalen Netze kam eine neue Qualität in Bezug auf Feedback ins Spiel. Bei diesen hat man eben nicht mehr nur einen Wert und eine Rückkopplungsschleife, sondern man hat eine enorme Menge von Rückkopplungsdaten. Deswegen spricht man heute auch eher von rekurrenten Netzen. Edelmann fing damit an, von Re-Entry und nicht von Rückkopplung zu sprechen. Die dichte Verknüpfung der Netze untereinander und Rückkopplungen in diesen Verknüpfungen stellen die neue Dimension da, die nicht mehr allein durch das Prinzip von „set-value – Feststellung einer Abweichung vom effektiven Wert – Fehlerkorrektur“ bestimmt werden kann.

Roboterbau bedeutet ja aber auch heute noch nicht, dass auf sensormotorische Kopplung und Situatedness gesetzt wird.

Leider nicht. Im Forschungszentrum eines grossen Automobilkonzerns brachte mir im Jahr 2000 ein Roboter eine Tasse Kaffee. Er rollte zunächst zum Kaffee-Automaten, scannte mit einem enorm teuren Laser den Abstand für ein Distanzprofil, sodann setzte er seinen Path-Planer ein, der den Pfad für die weitere Aktion berechnet hat. Während der dann folgenden Ausführung des Pfads fand keine Kopplung mit der Umwelt da. Leider lag aber die Tasse etwas schräg im Greifarm des Roboters, so dass er fast das Rohr, aus dem der Kaffee strömen sollte, abgebrochen hat. Wenn er eine sensormotorische Kopplung gehabt hätte, wäre das gar kein Problem gewesen, weil er das sofort bemerkt hätte.

Ein Problem beim Aufbau komplexer Systeme besteht ja offen sichtlich darin, dass sich die einzelnen Elementarverhalten gegenseitig beeinflussen. Wie wollen Sie das Scaling-Up-Problem lösen?

Wenn man unter verhaltensbasierter Robotik die Grundidee versteht verschiedenen Verhalten parallel laufen zu lassen, dann ergeben sich da tatsächlich Probleme der Interaktion. Unbedingt zu berücksichtigen ist aber, dass sich die lose gekoppelte Prozesse weitgehend über den Körper und die Interaktion mit der Umwelt selbst koordinieren. Brooks mit seinem Ansatz der Subsumption hatte da mal wieder eine gute Intuition. Wer das ganz brillant in seine Arbeit einbezogen hat, ist der Holk Cruse aus Bielefeld. Als Beispiel: Wenn man klassisch denkt, dann geht man immer davon aus, dass alles von einem neuronalen Zentrum koordiniert werden muss. Cruse hat für gewisse Stabinsekten herausgefunden, dass diese beim Gehen kein Zentrum benötigen, welches die Bewegung der Beine koordiniert.

Wie geht das?

Zum einen ändert sich die Kraft auf allen anderen Beinen, wenn das Insekt ein Bein vom Boden abhebt. Also brauche ich lediglich noch Kraftsensoren in den Beinen, die diese Veränderung messen und ich habe globale Kommunikation der Beine untereinander, aber nicht über das neuronale System, sondern über die Interaktion mit der Umwelt. Und diese Kommunikation kann nun zur koordinierten Fortbewegung verwendet werden. Die sechs Beine sind untereinander neuronal gekoppelt, wobei nicht einmal eine Verbindungen zwischen allen Beinen besteht, sondern die benachbarten und gegenüber liegenden Beine verbunden sind. Wenn das Insekt mit seinen sechs Beinen auf dem Boden steht und ein Bein hebt, dann ändert sich in diesem Moment die Kraftverteilung auf den anderen Beinen und diese werden leicht in die angedeutete Richtung mitgezogen. Dann braucht es nur noch einer positiven Feedbackschleife in den Gelenken, um die Bewegung zu verstärken und das Insekt läuft. Der Witz ist: Die Beine kommunizieren global miteinander, aber eben nicht über neuronale Verbindungen, sondern über die Umwelt! Zugleich nutzen sie ihr Embodiment aus. Es ist hilfreich, sich dieser beiden Vorgänge bei der Konstruktion komplexerer Systeme bewusst zu sein.

Zugleich ein wunderbares Beispiel für „cheap design“.

Ich sage immer: „Die Physik ist gratis.“ Von der Bewegungsabläufen von Insekten ist enorm viel zu lernen. Wenn man einen Schritt weiter denkt, dann kann die Natur gar nicht immer mit zentralen Steuerungen arbeiten. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Das sechsbeinige Insekt hat pro Bein drei Gelenke. Wenn zentral die Pfade und Trajektorien von 18 Gelenken berechnet werden müssten, dann wäre das Gehirn des armen Insekts hoffnungslos überlastet. Da ist es viel intelligenter, dass Embodiment auszunutzen.

Funktionieren Gliederbewegungen beim Mensch ebenso?

Wenn von Embodiment gesprochen wird, dann denken viele, dass Steuerung noch viel komplizierte wird, weil ich dann zusätzlich noch physikalische Gesetze berücksichtigen muss und somit mehr Parameter zu optimieren habe. Wenn man das Hand-Arm-Schulter System beim Menschen anschaut, dann fallen zunächst die enorm vielen Freiheitsgrade auf – über 30 Stück. Für einen Control-Engineer ist die Steuerung eines solchen Systems ein Albtraum. Wenn ich aber die Gegebenheiten des Körpers und seine Dynamik ausnutze, dann führt das zu überraschenden Ergebnissen. Lässt man beispielsweise die Hand im Gelenk abknicken, so dass die Fingerspitzen nach unten zeigen, und greift dann zu, dann treibt es die fünf Fingerspitzen automatisch in die Mitte zusammen, was nur durch die natürliche Formung der Gelenkschalen und der Hand bedingt ist. Genauso eine simple Funktion kann man zum Bau einer Robotergreifhand nutzen. Ergo: Wenn die Anatomie stimmt, wir nennen es in der Robotik die Morphologie, dann ist die Steuerung fast trivial, auf jeden Fall viel einfacher.

Die meisten Roboterhände sind aber nicht so konstruiert.

Dass ist ja der Fehler, denn die Steuerung der Finger wird dadurch wahnsinnig kompliziert. Viele Erbauer berücksichtigen die Morphologie der Körper nicht. Warum beispielsweise greifen Sie eine Tasse nicht mit den Handrücken zu Ihnen gekehrt, sondern immer so, wie man eine Tasse halt greift?

Es erscheint mir als die natürliche Bewegung.

Eben. Das Muskel-Sehnen-System hat Eigenschaften wie eine aufgezogene Feder, wenn sie den Arm bewusst nach außen drehen und sie lassen dann los, dann dreht der Arm sich automatisch wieder in die natürliche Position zurück. Und zwar nicht, weil ich das vom Hirn aus steuere, sondern aufgrund der Materialeigenschaften des Muskel-Sehnen-Systems. Dieses System übernimmt für mich eine dezentrale Steuerungsfunktion. Unter Berücksichtigung der Materialeigenschaften wird ein Problem, welches auf den ersten Blick enorm kompliziert aussah, plötzlich ganz einfach.

Bei der Erforschung des Menschen wird ja auch immer mehr fest gestellt, dass der Körper nicht allein vom Gehirn gesteuert wird, sondern Körper und Geist zwei Seiten einer Medaille sind. Nicht alle Vorgänge werden berechnet…

…und sind auch nicht berechenbar! Die klassische KI wurde oft kritisiert, weil gewisse Dinge, zum Beispiel Lernen, als „computationally intractable“ galten, eben schlicht aufgrund ihrer Komplexität in ihrer Gesamtheit als nicht berechenbar. Das ist genau der Punkt: Wenn man alles als reine Rechenaufgaben ansieht, dann führt das schnell an Grenzen. In der realen Welt haben wir anatomische und materielle, halt physikalische Einbettungen, deren Berücksichtigung zu Konvergenzen führt. Wenn ich mich in der Umwelt bewege, dann verarbeite ich ja nicht irgendwelche Inputvektoren mit ihren dazugehörigen Merkmalen, sondern ich habe Sensorstimulationen, die sich kontinuierlich verändern. Zudem ändert sich die Sensorstimulation enorm, je nachdem was ich tue. Der Witz ist der: Wenn ich Wahrnehmung als etwas ansehe, was passiv ist, wo ich passiv dasitze, dann muss ich aus diesem Strom irgendwie Information herausholen. Bei der visuellen Wahrnehmung hieße das dann, den auf mich einflutenden Pixelwust zu verarbeiten. Wenn ich das aber umdrehe und sage, „o.k., ich bin ja ein Akteur, ich kann mit der Umwelt interagieren“, dann komme ich dazu, dass ich durch die Interaktion mit der Umwelt meine Sensorstimulation strukturieren kann.

Ein Beispiel, bitte.

Bleiben wir bei der Tasse. Wenn ich eine Tasse fasse und zum Mund führe, dann passiert enorm viel. Erst einmal habe ich visuelle Stimulation, zudem haptische an den Fingerspitzen, dann Stimulation an den Lippen…

…und wenn Sie dabei reden, verändert sich auch die akustische Stimulation durch die Nähe der Tasse…

Richtig. Dieses Muster ist für einen Moment stabil und normiert. Das ist ja, nebenbei gesagt, eines der großen Probleme der cognitive science. Die proximale Stimulation auf der Retina ist zwanzig Zentimeter vor meiner Nase völlig anders als fünf Zentimeter davor. Trotzdem ist es immer ein und dasselbe Objekt. Wenn man die Ähnlichkeiten zwischen diesen Mustern statistisch analysiert, dann ist die praktisch Null. Irgendwie muss der Mensch das transformieren und wie tut er das? Eben durch die verkörperte Interaktion mit der Umwelt, welche die Sensordaten gewissermassen vortransformiert und damit das Problem um Grössenordnungen vereinfacht. Ich bringe das Objekt in das visuelle Feld, erzeuge multimodale Sensorstimulation und diese Stimulation ist korreliert. Mit der Zeit, das heißt der Übung dieser Bewegung, wird aus der extrahierten Information aus einem Sensorkanal ein partieller Prädiktor für die Sensorinformationen, die ich aus anderen Kanälen extrahiere. So lernen auch Kinder: Erst mit der Übung kann es alleine aus der visuellen Sensorextraktion das Objekt rekonstruieren. Die Anatomie und die Interaktion tragen gewissermaßen gratis zur Lösung bei und das vereinfacht das Lernproblem ungemein. Dies kann ein Schlüssel, wohlgemerkt kann, ein Schlüssel zum Scaling-Up Problem sein.

Nun hatte bei uns die Evolution lange Zeit.

Sicher, deswegen können wir gewisse Bewegung halt nicht machen. Einer Maschine wird es immer besser gelingen eine Schraube einzudrehen als einem Menschen.

Ihre Aufgabe ist also der Bau von Robotern, die mit ihrer ganz eigenen Morphologie, die nicht immer an die menschliche Anatomie angelehnt sein muss, Aufgaben in eng begrenzten Bereichen lösen.

Exakt. Die spezifische Morphologie ist anders, aber das Prinzip der sensormotorischen Koordination gilt genau so. Und das auch mit unterschiedlichen Sensoren, sogar welchen, die in der Natur nicht existieren. Das ist dann Artificial Intelligence.

Die Natur arbeitet ja wohl nicht mit der Trennung von Hardware und Software. Muss diese Begriffsspaltung auch in der Robotik überwunden werden?

Ich bin überzeugt davon, dass die Trennung von Hard- und Software eine artifizielle ist. Die liegt uns aber einfach im Blut, weil man die Software mit dem Denken, die Hardware mit dem Körper assoziiert. Eigentlich ein völliger Blödsinn.

Ich erinnere mich an trinkfeste Wochenenden der Jugend, die ein Freund stets mit der Bemerkung „Format C:/“ einläutete. Seine Festplatte sollte formatiert werden. Die bildgebende Kraft des Computers.

Die Computermetapher wird nicht nur von den Forschern der Künstlichen Intelligenz und der Psychologie verbreitet. Auch die Menschen auf der Straße denkt in dieser Metapher. Wie sollte es denn anders sein, so diese Vorstellung, als nach dem Schema Input-Verarbeitung-Output? Oder, wenn man es verfeinert, Sense-Model-Plan-Act? Wir müssen uns von dem Bild verabschieden, dass natürliche wie technische Systeme Informationen verarbeiten, die von außen reinkommen, dann verarbeiten werden und dann erst ein Handeln erfolgen kann. Aber wie gesagt: Das Erzeugen der Sensorstimulation wird durch die verkörperte Interaktion mit der Umwelt bestimmt. Schon bei den Neuronalen Netzen gibt es auf der konzeptionellen Ebene keine Trennung von Programm und Daten mehr. Auch unsere Gehirn funktioniert nicht so. Wo im Gehirn sind die Programme, wo die Daten? Künstliche Neuronale Netze sind ein Schritt in die richtige Richtung, aber das Embodiment muss dazu kommen. Wenn jemand zu mir kommt und von einem Modell mit Neuronalen Netzen spricht, dann will ich das immer in einem Roboter sehen. In dem von uns entwickelten Analog-Robot existiert diese Trennung eben darum auch nicht.

Spielt die Erforschung des Bewusstseins des Menschen eine Rolle in Ihrer Arbeit? Könnte das Sinn machen, dass ein Roboter ein Selbstbild hat, ein Körperbild von sich? Ist Bewusstsein die Super-Instanz, die über alles wacht oder eher ein Nebenprodukt von dem, was vorher abgelaufen ist?

Ein Philosoph sagte uns einmal, wir hätten das Problem des Bewusstsein in unserem Buch „Understanding Intelligence“ clever umschifft. In der Forschung haben wir uns effektiv damit noch nicht befasst. Ich bin mir aber sicher, dass es wichtig für die zukünftige Arbeit ist, dass Roboter eine „Vorstellung“ von ihren Körpern haben sollten. Wenn sie eine Bewegung ausführen, dann sollten sie eine Verhaltensprognose machen können. Wenn eine Roboter eine sensormotorische Kopplung und stabile Sensormuster hat, dann gibt es gute Gründe dafür, dass dieser Roboter selbst die Sensormuster analysieren und nutzen kann. So kommt man langsam auf eine Ebene, wo man dem Roboter so etwas wie Bewusstsein zuschreiben könnte, wenn man das möchte. Das ist natürlich eine nüchterne Sicht, aber wir Schweizer tendieren dazu. Die Amerikaner würden das wahrscheinlich anders ausdrücken und behaupten, „ja klar, wir haben längst Roboter mit Bewusstsein“. Ein Schweizer würde sagen, dass jetzt „feed-forward Netzwerke für Verhaltensprognosen“ existieren. Die Frage ist zudem, was man meint mit einem Körperbild.

Beim Menschen ist ein Körperbild eine möglichst vollständige Ausdehnung des Ich auf den gesamten Körper.

Dann bleibt die Frage, ob das Ich als zentrale Instanz einen Überblick über den gesamten Körper hat oder ob es keine zentrale Lokalisation des Körperbilds gibt. Die zweite Variante scheint mir plausibler und wenn Roboter in Zukunft wirklich gut sein sollen, dann brauchen sie so ein Körperbild.

Welche Rolle spielt die Parallelität von Sensormotorik und kognitiver Leistung?

Wir haben viel mit Kategorisierungen gearbeitet, die ja die elementarste kognitive Operation ist. Wenn ich keine Unterscheidungen in der realen Welt mache, dann kann ich nicht viel, dann überlebe ich nicht lange. Die Idee dabei war, dass über die Sensormotorik Kategorisierung geleistet wird und darauf aufbauend Kognition gewissermaßen „gebootstrapt“ wird. Rizolatti hat da interessante Experimente mit Primaten durchgeführt, später wurde das auch bei Menschen nachgewiesen. Zwei Menschen sitzen sich dabei gegenüber. Wenn der eine die Hand auf dem Tisch liegen hat und einen Finger hebt, dann soll die zweite Person ebenfalls den Finger heben oder nicht. Im prämotorischen Kortex sind dann bei der zweiten Person gewisse neuronale Areale aktiv und zwar unabhängig davon, ob diese die Bewegung selbst ausführt oder nur anschaut. Das gibt zu Spekulationen Anlass, wie sich so ein Verhalten evolutionär entwickelt haben könnte. Die Hypothese dahinter ist, dass die sensormotorische Entwicklung die Grundlage für die kognitive Entwicklung bildet. Spekulativ, aber hoch interessant.

Ein Hinweis darauf, dass Gehirn und Körper sich evolutionär parallel entwickelt haben?

Sicher. Es ist ja nicht so, dass ich die Morphologie habe und sich das Gehirn dann daran anpasst. In der Natur gibt es immer eine Koevolution von Morphologie und neuronalem Substrat. Wie macht das die Natur? Die Struktur des Gehirns ist ja nicht vorkodiert, denn der Informationsgehalt des Genoms ist dafür viel zu klein. Was allerdings im Genom kodiert ist, sind die Wachstumsprozesse. Und wir versuchen nun diesen Prozess künstlich in Gang zu setzen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Gerne, und jetzt machen wir eine kurze Tour durch das Lab.

Das Interview führte Jörg Auf dem Hövel.

Von Jörg Auf dem Hövel ist im discorsi Verlag jüngst das Buch „Abenteuer Künstliche Intelligenz. Auf der Suche nach dem Geist in der Maschine“ erschienen.

Rolf Pfeifer

Prof. Dr. Rolf Pfeifer hat seinen Magister der Physik und Mathematik und seinen Doktorgrad in Computerwissenschaften an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich (ETH), Schweiz, erworben. Nach seiner Promotion arbeitete er drei Jahre an der Carnegie-Mellon University und der Yale University in den USA. Seit 1987 ist er Professor für Computerwissenschaften am Institut für Informationstechnologie der Universität Zürich und Direktor des Labors für künstliche Intelligenz. Sein Forschungsinteresse gilt der „embodied artificial intelligence“, der Biorobotik, autonomen Agenten/mobilen Robotern, der Bildungstechnologie, der künstlichen Evolution und Morphogenese sowie der Emotion.

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Cannabis Routen

HanfBlatt Nr. 81, Jan/Feb. 2003

 Zwischen Karachi und Ketama…

… und zwischen Enddarm und Container. Wie fließen die Haschisch- und Marihuanaströme über den Globus?

Cannabis ist die am häufigsten gehandelte illegale Droge der Welt. Dem logistisch gut organisierten Warenverkehr stehen manchmal die Gesetze im Wege. Welche Routen nehmen Haschisch und Marihuana?

Zart sind die Sprossen des Hanfs und zart begann auch der Handel. Cannabis wächst auf allen Erdteilen der Welt und wird auch überall kultiviert, ob nun drinnen und draußen. Oft wurde zunächst nur für die Versorgung des lokalen Marktes angepflanzt, erst später, wenn die Nachfrage da war, kam es zum Transfer ins Ausland. Weniger die unbedingte kapitalistische Wille der Einheimischen, als vielmehr reiselustige Menschen bilden seit jeher die zweite nicht versiegende Quelle für Cannabis auf der ganzen Welt. Der Urlaub bietet für jeden Liebhaber des gepflegten Kiff seit jeher die Gelegenheit ein Stück Rauschkultur des jeweiligen Landes als persönliches Mitbringsel mit in die Heimat zu nehmen. So etwas gab es schon immer, professionalisiert wurde es in den 60er Jahren, als die ersten Hippies wahnsinnsgutes Haschisch aus Indien und Nepal in die Welt brachten. Seither ist diese Luft- und Landbrücke nie wieder abgerissen. Der Zoll nennt es „Ameisenhandel“, andere nennen es „Völkerverständigung“. Leider liegen keine Schätzungen darüber vor, wie viel des weltweit genossenen Cannabis von nahen und entfernten Freunden stammt.

Weltkarte der Cannabis-Routen

 

Grasgeschiebe

Der Handel mit den Blütenständen des Hanfs fokussiert sich auf einige Brennpunkte: Praktisch auf den Flughäfen der gesamten Welt wird Gras aus Kambodscha aus den Rucksäcken der Traveller gepickt. Kein Wunder, kostet das Kilo (!) meist minderwertigen Hanfkrauts in dem Land nur rund fünf Dollar. In der Provinz Koh Kong sollen noch immer recht himmlische Zustände herrschen. Hier ist eine traditionelle Hochburg des Hanf-Anbaus, zudem gibt es einen direkten Zugang zum südchinesischen Meer. Größere Mengen werden über vor der Küste liegenden Schiffen zunächst nach Thailand, später in die Welt distribuiert (siehe Karte). Die Australier verzeichnen seit Jahren einen regen Handel mit südwest-asiatischen Marihuana. Apropos Australien: Down under zeigt sich ein Trend, der sich weltweit durchzusetzen scheint. Über die Hälfte des in den letzten Jahren beschlagnahmten Grases stammte aus der Indoor-Zucht. Ähnliches lässt sich in Kanada und den Ländern der Europäischen Union beobachten. Die vielen Genießer haben mittlerweile erkannt, dass die Aufzucht und Hege von Cannabis nicht nur eine simple Angelegenheit ist, sondern sogar Spaß bereitet.

Neben Kambodscha sind es vor allem Indonesien, Laos, die Philippinen und Thailand, die auf größeren Feldern Hanf anbauen. Die UNO zeigt sich in ihrem letzten Drogen-Bericht sehr besorgt darüber, dass seit einiger Zeit auf Sumatra und Java vermehrt Cannabis angebaut wird. Insgesamt, so die Organisation, seien im Jahr 2002 über 4500 Tonnen Gras weltweit aufgegriffen worden. Wenn man nun berücksichtigt, dass dies schätzungsweise zehn Prozent der tatsächlich gehandelten und konsumierten Menge ist, dann bekommt man eine Vorstellung von dem ungeheuren Ausmaß des globalen Hanfrausches.

Interessant dabei ist natürlich, wo das meiste Marihuana beschlagnahmt wird, gibt dies doch Hinweise auf die (unterbrochenen) Reisewege. Manch´ einer wird es geahnt haben: Fast die Hälfte der jährlich ergatterten Menge wird in Mexiko einkassiert. Nirgendwo auf der Welt wird so viel gekifft wie in den USA und dieser Markt will halt versorgt werden. Ob in Trucks, auf Schiffen oder in Flugzeugen – Marihuana wird auf vielen Wegen über die Grenze ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten geschafft. Der fermentierte Geruch von jamaikanischem Gras ist in Deutschland und Europa selten geworden, mittlerweile exportierten die karibischen Inseln das meiste ihres Killer-Weed ebenfalls in die USA.

Neben Mexiko ist Kolumbien der zweitgrößte Anbaustaat auf dem amerikanischen Kontinent. Von hier aus wird das Gras entweder in die USA geflogen oder über die karibischen Häfen (oft: Covenas) nach Europa verschifft. Ansonsten übt sich der südamerikanischen Markt in Selbstgenügsamkeit. Wo der lokale Anbau nicht ausreicht, stehen die zentral gelegenen Länder Bolivien (Region um Cochabamba), Brasilien (Region Bahia und Pernambuco im Nordosten) und Paraguay gerne zur Seite.

In Europa selbst hat sich neben den bekannten Gras-Ländern Niederlande und Schweiz Albanien zu einem beachtlichen Anbauland von Marihuana gemausert. Das Bundeskriminalamt schätzt sogar, dass der Staat mittlerweile der „größte Marihuanaproduzent Europas“ sein dürfte. Auch hier wird nicht auf blauen Dunst hin angebaut, sondern für einen Markt, der sich recht unabhängig von den restriktiven Drogengesetzen nach kulturellen Modeerscheinungen ausrichtet. Kiffen ist „in“: Nur darum hat sich in den letzten zehn Jahren sich die Menge des sichergestellten Cannabis in Europa verdoppelt.

Afro-Look

Glaubt man den Zahlen der Drogenkontrollbehörden, aber auch den Berichten der Presse, wird die Anpflanzung von Cannabis in den mittleren und südlichen Länder Afrikas immer beliebter. Für den Verbraucher bleibt meist undurchsichtig, woher genau das Gras kommt. Die prinzipiellen Wege aus den Ländern: Hanfkraut, welches in den kleinen Staaten Lesotho, Malawi und Swaziland angebaut wird über die Straßen nach Südafrika verbracht, um von dort aus entweder mit dem Flugzeug oder aber mit dem Schiff über Kapstadt oder Durban nach Europa transportiert zu werden.

Im Februar 2001 verbrannte die Polizei am Mount-Kenia über 328 Tonnen feinstes Marihuana. In den Worten des UNO-Berichts 2001: „In Ost-Afrika, speziell in Äthiopien, Kenia, Madagaskar, Uganda und Tansania, hat Cannabis, welches bis dahin nur für den lokalen Markt angebaut wurde, die Stellung einer ökonomisch signifikanten Pflanze eingenommen.“ Neben Nigeria, über dessen legendären Hafen Lagos der Hanf aus der Region abtransportiert wird, ist der Kongo ein Hauptanbaugebiet im mittleren Afrika. In der Mindouli-Region im Süden des Landes wird seit Generationen Cannabis großgezogen. Im Kongo ist nach Angaben der OGD (Observatoire géopolitique des drogues), die einen (allerdings recht anekdotisch) jährlichen Bericht zur Situation des Drogenanbaus auf dem Globus gibt, der Anbau von Cannabis schwer umkämpft. Es kommt zu Verletzten und Toten. Die Lari, seit Generationen passionierte Hanfbauern, bestehen trotz internationaler Vereinbarungen auf ihr altes Recht den Hanf zu kultivieren. Der alte Präsident des Kongo, Bernard Kolelas, war Mitglied dieser Ethnie – er stand in der internationalen Politiker-Gemeinschaft seit jeher im Verdacht, den Handel nicht nur toleriert, sondern daran auch kräftig mitverdient zu haben.

Dies ist hier erwähnt, weil ohne die Kooperation hoher Regierungsstellen der gesamte, professionell organisierte Cannabis-Schmuggel auf der Welt zusammenbrechen würde. Ob in Südamerika, Indien, der Türkei oder eben in den afrikanischen Ländern: Nicht nur kleine Zöllner verdienen an der Prohibitions-Politik mit, schaut man einmal hinter die Fassaden der internationalen Plattitüden der Drogenbekämpfungspläne, fällt immer wieder auf, dass lokale Politiker, hohe Beamte und zum Teil eben auch Regierungspolitiker in den Handel involviert sind.

Hasch-Brüder

Damit ist man beim Haschisch angelangt, dessen groß angelegter Schmuggel gerade in Marokko und Spanien ohne die freudige Mitarbeit der offiziellen Kräfte so nicht möglich wäre. Kein Wunder, soll doch die Haschisch-Marge rund 10 % des Bruttoinlandsprodukts ausmachen. Über die Jahren zeigt sich: Rund 50 % des weltweit beschlagnahmten Haschisch werden in Spanien aufgetan, nur rund 10-15 % in Marokko selbst, weitere rund 5 % in Frankreich, etwa 3 % in den Niederlanden. Diese Zahlen zeigen die herausragende Stellung, die Marokko bei der Harzherstellung spielt. Das die EU-Regierungschefs dagegen nur recht lässig vorgehen, liegt nicht zuletzt daran, dass Marokko als wichtige Barriere gegen den gefürchteten islamischen Fundamentalismus gilt. Hier offenbart sich mal wieder ein schönes Beispiel für die Doppelmoral in der Drogenpolitik. Es bleibt weiterhin zu vermuten, dass zudem einige UNO-Vertreter der Anbauländer die weltweite Prohibition unterstützen, weil diese eine Quelle ihrer Einnahmen ist.

Aber zur Sache: An den Hängen des Rif-Gebirges hocken seit Jahrzehnten Einheimische und ausländische Geschäftsmänner zusammen. Zum Teil ernten sie gemeinsam, sodann wird das „Kif“ an die Küste gebracht und von dort entweder mit Privat-Yachten, Fischerbooten oder zu auf Reede liegenden Großschiffen gebracht. Beliebt soll es neuerdings sein, schwächeren Schmugglergruppen die Ware mit Waffengewalt abzunehmen und dann selber weiter zu vertreiben. So oder so verdienen die lokalen Amtmänner an den Transporten mit. Nach Aussage von Stefan Haag, Autor von „Hanf weltweit“, bieten manche Händler sogar einen Lieferservice an, für Zusatzkosten von rund 2500 Euro pro Kilo kommt das Haschisch frei Haus via Amsterdam nach Mitteleuropa. Die Kleinschmuggler nutzen die Fähren zwischen Tanger oder Ceuta nach Algeciras (Spanien) und die Fähren von Melilla nach Malaga und Almeria.

Wie es dann weiter geht, dass zeigte plakativ ein Vorfall im Herbst 1999. Ein Verkehrsunfall in der südspanischen Region Andalusien führte Drogenfahnder auf die Spur international operierender Cannabis-Händler. Ein Lastzug einer deutschen Spedition stürzte nahe Malaga auf regennasser Straße um – neben Ost und Gemüse auch mit 526 Kilo Haschisch an Bord. Die Ermittlungsgruppe machte schnell zwei Speditionen im Landkreis München und im Landkreis Freising als Transporteure ausfindig. Sie schmuggelten im Auftrag einer italienischen und einer spanisch-marokkanischen Organisation Cannabisharz quer durch Europa. Marokkanisches Haschisch wurde von Spanien aus zunächst an Abnehmer in Norditalien geliefert. Von dort aus wurde es in kleineren Portionen nach ganz Europa distribuiert. Es wird vermutet, dass es ohnehin meist die rund 1,5 Millionen Menschen umfassende marokkanische Diaspora in Europa ist, die den Verkehr mit dem Rauschgold aus ihrem Heimatland organisiert.

Die im obigen Fall angesprochene Gruppe transportierte auch Heroin und Kokain von Mazedonien via München nach England. Damit ist man bei der Frage, in wie weit der Cannabis-Schmuggel von den gleichen Menschen organisiert wird, die nicht nur andere Drogen lukrativ an den Mann bringen möchten, sondern realer Teil des Schreckgespenstes „Organisierte Kriminalität“ sind, das von den staatlichen Ermittlungsbehörden seit einigen Jahren so vehement propagiert wird. Legenden wie Howard Marks halten seit jeher das Bild der chaotisch-liebenswerten Haschisch-Brüder aufrecht, die ohne Waffen und Gewalt den Menschen in der Welt gute Lebens-Mittel beschaffen. Ob der international mit großen Mengen operierende Güteraustausch tatsächlich so harmlos abläuft, darf bezweifelt werden. Um es wage zu formulieren: Wo es um viel Geld geht, dürften Gier und Neid nicht fern sein. Zugleich steht fest, dass zumindest Teile der fester strukturierten Gruppen neben Cannabis auch mit Heroin (Asien) und Kokain (Südamerika) handeln und damit bewusst die Sucht ihrer Kundschaft in Kauf nimmt.

Nordafrika ist aber selbstredend nicht der einzige Großproduzent von Haschisch. Rund 10 % des weltweit beschlagnahmten, wohlriechenden Harzes landet in Pakistan auf dem drogenprohibitiven Scheiterhaufen. In dem Land laufen einige Kanäle aus dem Orient zusammen. Nicht nur landeseigene Produkte, sondern auch das Cannabis aus Afghanistan wandert zu einem Teil zunächst über die südliche Grenze. Dreh- und Angelpunkt in Vorderasien ist nach wie vor Karachi, über dessen Seehafen die dunklen Sorten mit den blumigen Namen in die Welt gehen.

Seidenweich

Der Bosporus galt lange als die Meerenge, welches das in Europa genossene Haschisch überwinden musste. Ob „Libanese“ oder „Afghani“ – an den türkischen Zöllnern führte kein Weg vorbei. Opium, Heroin, Haschisch, die Türkei wurde als strategisch wichtiger Basis angesehen, um den ungehemmten Substanzfluss auf der sogenannten „Balkanroute“ zu gewährleisten. Noch heute prahlen libanesische Haschisch-Dealer damit, dass ihre Kontakte türkischer Zöllner so ausgezeichnet seien, dass die Beförderung nach Europa kein Problem wäre. Früher einer der größten Haschischproduzenten der Welt, dümpelte im Libanon die Erzeugung im vergangenen Jahrzehnt etwas vor sich hin – nun wird aber wieder vermehrt angebaut. Im Hauptanbaugebiet im Bekaatal bei Baalbek rollen wieder die Traktoren durch die Hanffelder.

Zwei Faktoren haben über die letzten Jahre die „Balkanroute“ zumindest für den Haschisch-Transport uninteressanter werden lassen. Da ist zum einen das rigide Eingreifen der iranischen Behörden, die zunehmend keinen Lust verspüren als Transit-Land für „gotteslästerliches Teufelszeug“ zu fungieren. Zum anderen dienen die uns immer noch recht fremden zentralasiatischen Staaten mit Namen Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Kirgistan und Kasachstan nur allzu gerne als Transit- und Produktionsländern. Dies ist die klassische „Seidenroute“. Gerade in Kasachstan wächst das Gras in jedem Kuhdorf. Allein im legendenumwebenden Chu-Tal soll der Hanf auf einer Fläche von 138 Tausend Hektar wachsen. Schmiermittel und Kompetenzgerangel zwischen den Drogen-Behörden, dazu der Umstand, dass die Grenzen zwischen den genannten Staaten und auch dem großen Nachbarn Russland so gut wie unkontrolliert sind, führen zu einem ansteigenden Fluss von Haschisch und Marihuana über diese Seidenroute. Begünstigend kommt hinzu, dass die Verkehrsinfrastruktur relativ gut ist. Ob in Russland, in dessen Weiten quasi überall Hanf wächst, oder den baltischen Staaten, die als Transit-Stationen genutzt wird: Überall hier wird mehr und mehr Cannabis beschlagnahmt.

Diese Beschlagnahmungen durch die Polizei sind aber nicht immer der beste Indikator für einen regen Handel. So steht fest, dass in Europa die Städte Amsterdam und auch London ein Hauptumschlagsplatz für Cannabisprodukte sind. Selbiges gilt für Kopenhagen, von wo aus diese skandinavischen Ländern aus versorgt werden. Gleichwohl wird die Polizei hier nicht exorbitant fündig, was nur zum Teil an ihrer Verblödung, mehr noch an einer bewusst laxen Einstellungen gegenüber dem Haschisch-Schmuggel liegen dürfte. Viel spricht dafür, dass Amsterdam die Drehscheibe für Haschisch in Europa ist. Dies liegt nicht nur an der toleranten Drogenpolitik des Landes, sondern auch an der geographischen Position und ihrer Tradition als Kolonialmacht, die seit jeher mit Transport und Verteilung vertraut ist.

Eine weithin unbeleuchtete Rolle im internationalen Drogenhandel spielen Personen, die für ihre Regierungen tätig sind. Für den Kokain- und den Heroin-Handel steht mittlerweile fest, dass Mitarbeiter von Geheimdiensten (beispielsweise des CIA) und Armeeangehörige ihre Stellung nutzen, um von dem zu profitieren, was sie eigentlich bekämpfen sollen. Noch steht der Beweis aus, dass dies auch beim Cannabishandel eine maßgebliche Rolle spielt.

 

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Elektronische Kultur

Keep It Simple and Stupid

telepolis v. 30.01.2003

Auch erschienen in „Medien und Erziehung“ 3/2003

Keep It Simple and Stupid

Die allermeisten Seiten im Netz sind für Behinderte schlecht nutzbar. Die Bundesregierung und das W3C wollen dies ändern. Folgt die Wirtschaft?

Wem ist es noch nicht passiert, dass er beim Navigieren den falschen Verweis geklickt hat, weil die Links zu eng gesetzt waren? Das bunte Gewimmel auf Webseiten irritiert oft schon den Otto-Normal-Surfer mächtig. Für Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung ist die Navigation auf den meisten Seiten dagegen eine verzwickte Angelegenheit, wenn nicht gar eine Zumutung.

Die zahlreichen Initiativen wie „Schulen ans Netz“, aber auch die staatlichen Anstrengungen des elektronisch gestützten Bürgerservice, wie e-voting und Ausweisverlängerung drohen ins Leere zu laufen, wenn behinderte oder alte Bürger vor technischen Barrieren stehen, welche die Wahrnehmung ihrer Bürgerrechte und -pflichten zum virtuellen Abenteuer macht.

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braille tastatur

 

Seit Juni 2002 ist nun eine Verordnung in Kraft, das alle staatlichen Einrichtungen und Behörden dazu verpflichtet bis 2005 ihre alten Internet-Auftritte so zu gestalten, dass sich wirklich jedermann darin zurecht findet. Mehr noch – gänzlich neu erstellte Amtsseiten müssen ab sofort sauber programmiert werden. Das Werk mit dem holprigen Namen „Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung“ ( BITV) legt fest, ab wann sich eine Homepage „barrierefrei“ nennen darf und orientiert sich dabei an den Richtlinien der WAI (Web Accessibility Initiative).

Schnörkelloses HTML

Diese Arbeitsgruppe des World Wide Web Consortiums (W3C) bemüht sich um die technische Funktionalität und Universalität des Internet. Mit den Richtlinien liegen seit geraumer Zeit genaue Spezifikationen vor, wie der html-Code einer Webseite barrierefrei gestaltet werden kann – nur richten tut sich kaum ein Unternehmen danach. Der Bundestag hatte deshalb im ebenfalls im letzten Jahr verabschiedeten Behindertengleichstellungsgesetz ein Schmankerl für die gebeutelte deutsche Internet-Ökonomie parat. Zukünftig wolle man darauf hinwirken, dass auch „gewerbsmäßige Anbieter von Internetseiten“ diese barrierefrei gestalten. Keine schlechte, aber wohl diffuse Idee in Zeiten des Masseneinsatzes von Flash und Java-Skript.

Die konkrete Struktur einer barrierefreien Homepage baut auf schnörkelloses HTML. KISS heisst die Aufforderung: Keep It Simple and Stupid. Mouse-over Aktionen zum Anheben oder Absenken von Buttons sind nach den Regeln der WAI ebenso zu unterlassen wie Imagemaps ohne redundanten Textlink. Zu einem Bild gehört stets ein „alt“-tag in den Code, in welchem der Inhalt des Bildes beschrieben wird. Ein Problem: Software wie Microsofts Frontpage blähen selbst kleine Homepages schon ohne aktive Inhalte zu wahren Code-Monstern auf.

Die WAI hat eine Checkliste herausgegeben, anhand derer man überprüfen kann, wie barrierefreies HTML programmiert sein kann. Tools wie Bobby prüfen, ob die eigenen Webseiten behindertengerecht sind. Das WAI-Regelwerk zielt vor allem auf Surf-Erleichterungen für sehbehinderte und blinde Mitbürger. Diese nutzen zumeist einen Screenreader wie beispielsweise JAWS, der die Informationen der Webseite aus dem HTML-Code extrahiert und über den Lautsprecher ausgibt. Seiten, die vor Java-Script strotzen, sind für Blinde daher wertlos. Aber auch nur Sehbehinderte stehen vor großen Problemen beim Surfen, wie der online verfügbare Sehbehinderungs-Simulator beeindruckend zeigt.

Nur wenige Webseiten sind bislang behindertengerecht gestaltet

Wolfgang Schneider von der Schweizerischen Stiftung zur behindertengerechten Technologienutzung weist darauf hin, dass die meisten Behinderungen mit einer Mobilitätseinschränkung einher gehen. „Das Internet ist daher nicht nur Informationsquelle Nummer Eins, sondern gibt mir auch die Möglichkeit, Einkäufe online zu erledigen. Und alles, was ich von zu Hause tun kann, bedeutet einen Mehrgewinn an Selbstständigkeit.“ Fest steht bislang, dass eine einfach zu handhabende und logisch aufgebaute Navigation nicht nur für Blinde, sondern für alle Besucher einer Webseite ein Gewinn, zudem weniger pflegeintensiv ist.

Rund acht Prozent der Bundesbürger sind bei den Versorgungsämtern als schwerbehindert gemeldet. Das diese nicht nur Bürger mit gleichen Rechten, sondern auch Kunden sind, darauf stößt der e-commerce erst langsam. Nach Ansicht von Detlef Girke vom gemeinnützigen Projekt BIK (Barrierefrei Informieren und Kommunizieren) sind „nur zwischen fünf und zehn Prozent der deutschen Webseiten so programmiert, dass man das Gefühl hat, dass sich dort ein Mensch darüber Gedanken gemacht hat, ob eventuell auch mal ein behinderter Mitbürger vorbei gesurft kommt.“

Selbst in einem für Behinderte sensiblen Bereich wie dem Gesundheitswesen sind über 80 Prozent der Informationsangebote nicht barrierefrei. Weniger Achtlosigkeit als vielmehr technische Probleme hielten die Unternehmen aber von behindertengerechten Design ab. Oft, so Girke, macht die hinter den Seiten liegende Datenbank ein barrierefreien Auftritt unmöglich. Die Lösung liegt oft nur in einem kompletten Umprogrammierung der Seiten und der Datenbank – ein Schritt, den die meisten Unternehmen aus Kostengründen scheuen.

Mittlerweile nimmt sich auch die EU der benachteiligten Menschen im Informationszeitalter an. Sie rief 2003 zum Jahr der Menschen mit Behinderungen aus. Das Thema „Barrierefreiheit“ ist ein Schwerpunkt auf der zugehörigen Agenda.

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Elektronische Kultur Reisen

Die sozialistischen Staaten und das Internet

Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 28.01.2003

Gehemmter Cyber-Sozialismus

Wie passen sozialistische Werte und die elektronische Modernisierung des Staates zusammen? Die sozialistischen Staaten streiten um den Umgang mit dem Internet.

Nha Trang ist keine Schönheit, Hotelbauten verschandeln die Strandpromenade der rund eine viertel Million Einwohner zählenden Stadt an der Ostküste von Zentralvietnam. Durch die breiten Straßen knattern unzählige Mopeds, zunehmend auch Autos und immer weniger Fahrräder. In den gläsernen Hotels begegnen sich junge Unternehmer und Parteifunktionäre, in den Straßen hängen neben Coca Cola-Schildern vergilbte Plakate, die an Volksgesundheit und sozialistische Tugenden erinnern. Auf kaum einen anderen Bereich wirkt sich die Gemengelage aus Marktwirtschaft und Sozialismus aber so offensichtlich aus wie auf die Telekommunikationspolitik des Landes. Das Internet soll den ökonomischen Aufschwung bringen, allerdings nicht die als degeneriert erachteten westlichen Werte. Mit diesem Spagat zwischen Zensur und telekommunikativ angeregten Wirtschaftswachstum steht Vietnam nicht alleine.

Erst seit Ende 1997 ist das Land an das Internet angeschlossen, wobei der gesamte Datenverkehr über zwei Server läuft, die in Hanoi und Ho Chi Minh Stadt, dem ehemaligen Saigon, stehen. Diese Zentralisierung ist kein Zufall, ermöglicht sie doch die effektive Kontrolle des Datenflusses. Nur die Vietnam Data Communications (VDC), eine 100prozentige Tochter der staatlichen Telekommunikationsgesellschaft VNPT (Vietnam Post & Telecommunications Corporation) ist in Besitz einer Lizenz anderen Firmen den Zugang zum Internet zu ermöglichen.

Strassenschild ins Nha Trang
Straßenschild ins Nha Trang

Zur Zeit verfügt das Land über genau vier solcher Internet Service Provider. Diese führen ihre Betriebe unter restriktiven Bedingungen. Sie müssen dafür sorgen, dass bestimmte Adressen im ausländischen Internet aus Vietnam heraus nicht zu erreichen sind. Dies dient zum einen der Sperrung von Websites vietnamesischer Dissidenten, zum anderen soll so der weiteren „Indoktrination der Bevölkerung“ Einhalt geboten werden. Nach Angaben der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ werden rund 2000 Webseiten blockiert.

Eine der Homepages, die ganz oben auf der Liste der VDC steht, ist die der „Allianz Freies Vietnam“. Die Organisation von Exil-Vietnamesen setzt sich für die Demokratisierung des Heimatlandes ein und bemüht sich unter anderem den Informationsfluss aufrecht zu erhalten. „Politische Nachrichten und kritische Stimmen aus Vietnam werden von uns gesammelt und wieder ins Land zurück geschickt, um so Informationssperren und Zensur der Regierung zu umgehen“, erklärt H. Tran, außenpolitischer Sprecher der Organisation in Deutschland. Das Internet biete hierfür ideale Bedingungen, und mit dem anwachsenden Datenaufkommen wird die Kontrolle der Inhalte immer schwieriger. An den zwei Gateways ins Ausland ist seinen Aussagen nach eine Schnüffelsoftware installiert, die einkommende und ausgehende elektronischen Briefe auf verdächtige Inhalte überprüft.

Diktaturen und andere Regierungen ohne demokratische Basis haben seit jeher ein gespaltenes Verhältnis zum freien Informationsfluss. So wird im benachbarten China der Zugang ins Web noch restriktiver gehalten. Wer ins Internet will, muss seinen Anschluss an die weite Welt bei gleich mehreren staatlichen Stellen registrieren lassen. In den Großstädten florieren legale und und vor allem illegale Internet-Cafes. Aber auch dort sind Botschaften aus und in die weite Welt nicht gewährleistet, unterliegt doch das einzige Gateway ins Ausland der Kontrolle des chinesischen Postministeriums. Je nach politischer Großwetterlage und Gutdünken der Parteiführer sind Seiten der britischen BBC oder der Nachrichtenagentur Reuters zuweilen erreichbar, zuweilen gesperrt.

Auch Länder wie der Iran, Yemen und Saudi-Arabien suchen die negativen Aspekte des Internet von seinen Bürgern fernzuhalten. Speziell eingesetzte Gremien legen in Abständen fest, welche Seiten als „unmoralisch“ gelten oder aber die politischen und religiösen Werte des Landes verletzen. Ländern wie Libyen und Irak gähnen gar als schwarze Löcher im Netzraum – in ihnen existiert für die Öffentlichkeit kein Zugang zum Internet.

Die IuK-Politik dieser Länder gleicht sich: Man ist um die Hegemonie seiner Informationspolitik bemüht, weiß aber zugleich, dass die ökonomischen Reformen vom Wachstum des Technologiesektors abhängig sind. Aber: Das Informationsmonopol ist unter den Bedingungen der IuK-unterstützen Marktwirtschaft kaum zu halten. Die Begriffe „nationale Sicherheit“ und „wirtschaftliche Internationalisierung“ stehen für diese Quadratur des Kreises.

Um dennoch Wachstumsschübe durch Datenaustausch zu gewährleisten setzen Alleinherrscher und Parteiführer auf Kontrolle auf drei Ebenen: Zum einen unterliegt der wachsende Telekommunikationsmarkt staatlicher Aufsicht, zum anderen wird der Datenaustausch innerhalb des Landes und vor allem mit dem Ausland überwacht. Als drittes Standbein setzen einige Regimes zudem noch auf die Überwachung der Internet-Nutzer. Alle diese Maßnahmen drohen aber entweder am technischen oder personellen Mangel zu scheitern.

Im Westen hofft man noch immer auf das umfassende Demokratisierungspotential des Internet, einem Medium, welches nicht nur einseitige Kommunikation vom Sender zum Empfänger ermöglicht, sondern in welchem jeder zum Sender werden kann. Aber die Theorie der „Demokratisierung durch die Steckdose“ funktioniert nur, wenn Alphabetisierung und technische Infrastruktur gleichermaßen ausgebaut sind. In China besitzen aber nicht einmal 8 Prozent der Haushalte einen Telefonanschluss, von einem PC mit Internet-Connection ganz zu schweigen. In Vietnam haben rund 170 Tausend Vietnamesen einen eigenen Zugang zum Netz der Netze, das sind 0,2 Prozent der Bevölkerung. Zum Vergleich: In Deutschland sind 43 Prozent der Bevölkerung über 14 Jahren online.

Selbst bei einem weiterhin rasant prosperierenden IuK-Markt wäre es verfehlt allzu hohe Erwartungen in die freiheitsbringende Kraft des Internet zu setzen. Ob Vietnam, China, Saudi-Arabien oder Kuba: Die Idee, dass jeder Bürger uneingeschränkten Zugriff auf ausländische Informationen hat, kommt für die Lenker und Denker im Staat einer Schreckensvision gleich. Und so übt sich die Politik in einer ständigen „Ja-aber Taktik“. Dazu kommt, dass das Potential der Demokratiebewegungen in diesen Länder im Westen oft überschätzt wird. Ein Großteil der Bürger Vietnam und China steht westlichen Demokratievorstellungen gleichgültig oder skeptisch gegenüber.vietnam12

Unzufriedenheit in der Bevölkerung erregt allenfalls die weit verbreitete Korruption und Behördenwillkür. Damit fordern sie wie die ausländischen Investoren, ohne die der Ausbau der Telekommunikationsnetze nicht zu bewältigen ist, den Rechtsstaat. Ohne Rechtssicherheit wagt sich kein Unternehmen ins Land. Die „sozialistische Marktwirtschaft“ bringt einen neuen, selbstbewussten Mittelstand hervor, der sein Augenmerk weniger auf freie Meinungsäußerung als auf berechenbare und nachvollziehbare Entscheidungen des Staates legt. Der Wunsch nach einer Begrenzung der Kreise bestechlicher Beamter und das aufblühende Geschäftsleben werden zukünftig Hand in Hand gehen. Zugleich wird mit dem verschleppten, aber steten Wachstum der virtuellen Netze die Möglichkeiten der Zensur schrumpfen.

Jörg Auf dem Hövel

 

 

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Mixed Reisen

Das Inferno Rennen in Mürren

Snowboarder 11/2003

Zu faul für den Langlauf, zu feige für den Skisprung

Im Inferno-Rennen wird die Geburt des alpinen Abfahrtslauf gefeiert. Der 87-jährige Sohn des Erfinders, Sir Peter Lunn, fährt jedes Jahr mit.

Es war der 29. Januar 1928, ein denkwürdiger Tag, denn er begründete den alpinen Massensport. Ein gemeinsamer Start war geplant, aber einige der 18 Teilnehmer des ersten Inferno-Rennens waren noch beim Wachsen ihrer Skier, als Sir Arnold Lunn rief: „Come on, we´re off.“ Dieses Wochenende (25.01.2003) feiert das Schweizer Bergdorf Mürren das spleenige Rennen zum 60. Mal. Aus der Idee einiger skiverrückter Briten ist der größte Amateurwettkampf des weltweiten Skisports geworden.

Mürren

Annähernd 1800 Wagemutige werden sich auf die über 15 Kilometer lange Abfahrt vom Schilthorn ins Tal begeben. Selbst gute Skifahrer benötigen für den Rutsch eine ¾ Stunde, der Sieger rauscht in weniger als 15 Minuten ins Tal. Der Clou: Es sind nur zehn Tore zu passieren, ansonsten ist die Streckenführung frei. Schon 1928 ging es den Briten in erste Linie darum, das Erreichen des Ziels möglichst individuell zu gestalten. Knochenbrüche, Schürfwunden und Platzwunden waren bei der Abfahrt über verwehte Hänge, vereiste Partien und die bewaldete Talfahrt üblich. Aber nicht nur wegen der unpräparierten Piste waren die Strapazen damals bedeutend höher.

Wer die ersten Jahre am Inferno-Rennen teilnehmen wollte, musste einen fünfstündigen Aufstieg bewältigen, im Rucksack Verpflegung und die Rennausrüstung. Zum fast 3000 Meter hoch gelegenen Schilthorn führte noch keine Seilbahn, Seehundfelle unter den Skiern gaben den nötigen Halt. Nach kurzer Erholung ging es dann los. Bei der nun folgenden Tour mussten die Läufer das Fahren im Tiefschnee ebenso beherrschen wie Langlauftechniken. Der Parcours wartete nämlich mit zwei Gegensteigungen auf – einige Rennen wurden eher durch Armkraft und Schlittschuhschritt entschieden, als durch die tiefe Abfahrtshocke. Auch der Umgang mit öffentlichen Verkehrsmittel wurde geprüft: Die ersten Rennen führten an der Trasse der Bergbahnverbindung zwischen Mürren und Grütschalp entlang. Sodann schlängelte sich ein schmaler Sommerpfad ins Tal nach Lauterbrunnen, die geübtesten Skifahrer aber nahmen den direkten Weg durch den dichten Wald.

Den vierten Platz in dem historischen Rennen von 1928 belegte Doreen Elliott, obwohl sie unterwegs eine verunglückte Kollegin versorgt hatte. Nichts ungewöhnliches in dieser Zeit, wie Sir Peter Lunn, 87, versichert. „Ich stützte in einem Rennen vier Mal und wurde trotzdem noch neunter.“ Der Sohn des Inferno-Schöpfers fährt noch heute jedes Jahr beim skurrilen Rennen mit. Die Holzski der damaligen Zeit, so Lunn, brachen leicht und bargen ein stetes Verletzungspotential. „Da das Auswechseln der Skier daher erlaubt war, hatte ein ganz gewitzter Teilnehmer unterwegs seine langen Abfahrtsski gegen kürzere und frisch gewachste Ski ausgetauscht. Sicherlich ein Vorteil für die harte Abfahrt ins Tal und nicht sehr sportsmännisch.“

Sir Peters Vater, Arnold Lunn, gilt als einer der Pioniere des europäischen Skisports. Er war es, der 1924 in Mürren den noch heute bestehende „Kandahar Skiclub“ gründete, zwei Jahre vorher hatte er im Ort eines der ersten Slalomrennen der Alpen veranstaltet. Lunn war es auch, der sich gegen zahlreiche Widerstände beim Weltskiverband FIS dafür einsetzte, dass der Abfahrtslauf als alpine Disziplin mitaufgenommen wird. Unter Schneesport-Experten galt das schnelle und kontrollierte Abrutschen vom Berg als wertlos, Skifahrer gemeinhin als „zu faul für den Langlauf und zu feige für den Skisprung“, wie Sir Peter sich lächelnd erinnert. Vor allem die Skandinavier wollten den klassischen Langlauf schützen und so beauftragte die FIS erst 1930 denkwürdigerweise den „Ski Club of Great Britain“ und damit Arnold Lunn mit der Durchführung des ersten FIS-Wettbewerbs in den Disziplinen Abfahrt und Slalom. Es entstand der professionelle Skizirkus.

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es vor allem Gebirgssoldaten aus Frankreich und den USA, die das Inferno-Rennen für sich entscheiden konnten. Seit den 60er Jahren sind es aber meist die Einheimischen, die die lange Abfahrt gewinnen. Dank einer gut präparierten Piste erreichen von den 1800 Abfahrern nur rund 15 Personen das Ziel nicht. Auch Sir Peter Lunn wird das Rennen weiterhin bestreiten, und zwar nach eigener Aussage „so lange, wie ich mindestens zehn andere Läufer hinter mir lasse“.

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Rezensionen

Rezension Robert Levine Die grosse Verfuehrung

Financial Times Deutschland, 09. Januar 2003

Willfährigkeit und Widerstand

Robert Levine untersucht in „Die große Verführung“ die Psychologie der Manipulation

Es ist erschreckend und doch gut zu wissen: Die Prinzipien, mit denen Menschen beeinflusst und überredet werden können, gleichen sich für ganz unterschiedliche Bereiche. Ein kluger Lehrer, eine wohlmeinende Mutter, ein guter Freund, ein gewiefter Autoverkäufer, ein Sektenführer; sie alle wenden keine geheimnisvollen esoterischen Methoden der Beeinflussung und Manipulation an. Das Ziel ihrer Bemühungen mag unterschiedlich sein, die Formen gleichen sich in frappanter Weise. Robert Levine, Professor für Psychologie, hat diese Formen in seinem neuen Buch „Die große Verführung“ analysiert.
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Dazu prüften Levine und seine Studenten die Strukturen der Tupperware-Parties, ließen sich zu Autoverkäufern ausbilden und nahmen an Verkaufsschulungen teil. Das Fazit: Zu Kauf oder Beitritt verführt werden wir nicht durch Aufdringlichkeit, sondern durch das, was uns ehrlich und sympathisch erscheint. Der Pädagoge oder Verkäufer kann dabei gewisse Regeln berücksichtigen: Die Illusion von Wahlfreiheit schaffen, geringstmöglichen Druck bei einem schrittweisen Vorgehen ausüben, die Grenze der Privat- und Berufssphäre aufweichen („oh, meine Söhne sind im gleichen Alter wir ihre“) und Fragen vermeiden, die mit einem einfachen „Nein“ beantwortet werden können. Die Möglichkeiten der Willenslenkung sind variabel und Levine bemüht sich sehr Ordnung in die Vielzahl der Methoden zu bringen. Ohne Scham benennt er dabei auch immer wieder Situationen, in denen er (kursiv) sich unter Fremdeinfluss für etwas entschieden hat, dessen Nutzen ihm bis dahin (und auch danach noch) nicht klar war. Diese Selbstironie, gepaart mit der gründlichen Durchleuchtung der erfolgreichen Methoden der Lob- und Anpreisung, liest sich durchgehend gut. Werber, geschulte Verkäufer und Freigeister, die mit dem Gedanken spielen demnächst eine Sekte zu gründen, dürften aus dem Buch nicht viel neues lernen, dafür greift Levine zu oft in die Kiste alter Wissenschaftsliteratur. Die komprimierte Form, der lockere Stil und die alltäglichen Beispiele bilden dagegen für den bis dahin unkundigen Leser ein Quell des Vergnügens und der Aufhellung. Zwei Beispiele. Levine stellt folgende zwei Fragen:

„1. Ist die Bevölkerung der Türkei größer als 30 Millionen
2. Wie groß ist Ihrer Schätzung nach die Bevölkerung der Türkei?“

Die Antwort der meisten Menschen auf die zweite Frage wird stark von der Zahl „30 Millionen“ beeinflusst, die eine rein willkürlich gewählte Zahl ist. Das ist ein Beispiel für die „Ankerfalle“, die gerne genutzt wird, um einen hohen Preis niedrig erscheinen zu lassen. Nicht allein das Niveau eines Ankerpunktes kann Gegenstand einer Manipulation sein, bei der Täuschung über die Basisrate benutzt man von vorneherein den falschen Anker. Levine stellt zur Verdeutlichung diese Frage: „Benjamin Harper läßt sich am besten als fügsamer, bescheidener Mensch charakterisieren. Er ist entweder Verkäufer oder Bibliothekar. Was glauben Sie, was er ist?“ Zumeist wird auf das Klischee des Bibliothekars getippt, aber die Anzahl der Verkäufer in den USA und auch Deutschland übertrifft die Anzahl der Bibliothekare um ungefähr hundert zu eins. Selbst wenn das Klischee der Fügsamkeit und Bescheidenheit stimmt, kommen immer noch zehn fügsame Verkäufer auf nur einen fügsamen Bibliothekar. Dass jeder sich selbst für relativ unbeeinflussbar durch Werbung hält, auch das ist normal – dabei können die meisten wohl mehr Biersorten als Baumgattungen aufzählen. Levine führt vor Augen, wo die Schlüsselreize in unterschiedlichen Kulturen liegen und wie Werbung und Anwerbung auf die jeweilige Gesellschaft abgestimmt werden. Bevor aber Ermuntern und Überreden in einem Topf geschmissen werden, stellt Levine klar, dass fast alle soziale Interaktion in einem gewissen Sinne Beeinflussung und damit letztlich manipulativ ist. Es kommt halt auf den Inhalt der Verlockung an, darauf, wofür geschickt geworben wird. Während der erste Teil von der Verführung zum Kauf oder zur Spende handelt, geht es im zweiten Teil um den Schritt von der rein äußerlichen Willfährigkeit zur dauerhaften inneren Akzeptanz einer Botschaft. Anhand der Methoden der „dunklen Seite der Beeinflussung“ durch Sekten wird verständlich, dass nicht nur psychisch labile Personen für eine geistige Vereinnahmung offen sind. Abwehr dagegen und gegen andere ungewollte Manipulation ist möglich und so benennt Levine die Prinzipien, deren Beachtung vor Fallen schützen und das Widerstehen zur Kunst erheben sollen.

Robert Levine: Die große Verführung
Piper 2003
381 S., gebunden
22,90 Euro
ISBN 3492045391

 

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Psychoaktive Substanzen Specials

Butandiol – GHB


1,4-Butandiol

Über 1,4-Butandiol ist bisher (12/98) noch nicht allzuviel bekannt. Es gilt als Ersatz für das unter der Bezeichnung „Liquid Ecstasy“ zuerst in den US-Medien und jetzt auch in Deutschland verteufelte GHB (Gamma-Hydroxy-Butyrat). Mal wieder ist eine neue „Horrordroge“ am Start. Das macht neugierig und man will mehr wissen, und zwar die vorhandenen „Facts“ und nicht das zur Lachnummer degenerierte „volksverhetzende“ Propaganda-Geschwafel der offiziellen Antidrogenpolitiker und der sensationsgeilen Journaille.

Wer alles Wichtige über GHB und damit letztlich auch über 1,4-Butandiol erfahren will, der sollte sich „GHB-The Natural Mood Enhancer“ von Ward Dean, John Morgenthaler und Steven Wm. Fowkes, erschienen 1998 bei Smart Publications, PO Box 4667, Petaluma, CA 94955, ISBN 0-96227418-6-8, bestellen. Dort wird auch beschrieben, wie sich aus frei erhältlichen Chemikalien (Gamma-Butyro-Lacton, kurz GBL, und Natriumhydroxid bzw. alternativ andere basische Salze) auf einfache Weise GHB-Salz synthetisieren läßt. Man sollte bedenken, daß dieses fachkundige Buch von dem verantwortungsbewußten rekreativen und mehr noch dem medizinischen Einsatz von GHB gegenüber positiv eingestellten Autoren stammt. GHB mag bei weitem nicht so gefährlich sein, wie es sensationshungrige Medien weismachen wollen, dennoch gibt es eine ganze Reihe ernstzunehmender Mediziner, die vor dem verantwortungslosen Gebrauch, möglicherweise noch in Kombination mit anderen psychoaktiven Drogen, warnen!
GHB

Sowohl 1,4-Butandiol als auch GBL lassen sich problemlos im Chemikalienfachhandel bestellen, über Internet beispielsweise zum Preis von 15,25 DM für 250 Gramm 1,4-Butandiol, ca. 99% rein, oder 12,80 DM für 100 ml gamma-Butyrolacton 99+%. Dazu kommen natürlich noch Bestell- und Versandkosten. Der Versand erfolgt per Post direkt nach Hause.

In der Chemie wird 1,4-Butandiol wegen seiner hygroskopischen und weichmachenden Eigenschaften an Stelle von Glycerin und Glycol verwendet und zwar in der Textil- und Papierindustrie und zur Rauchwarenveredlung! Es ist außerdem ein wichtiges Zwischenprodukt zur Synthese anderer Chemikalien, unter anderem auch von Butyrolacton! (Siehe „Fachlexikon ABC Chemie“)

1,4-Butandiol hat eine Molmasse von 90,12 und eine Dichte von 1,02, das heißt 1 Milliliter (ml) wiegt ungefähr 1 Gramm! (so wie Wasser!)

1,4-Butandiol, in der Chemie auch 1,4-Butylenglycol genannt, schmilzt bei etwa 20 °C. Die farblosen Kristalle oder die weiße Kristallmasse verwandeln sich in eine klare Flüssigkeit. Wenn es ersteinmal flüssig oder fest ist, bleibt es meist eine Zeit lang in dem entsprechenden Aggregatzustand. Zur Aufbewahrung eignen sich am besten gut verschließbare braune Glasflaschen. Zum Konsum wird die flüssige Form bevorzugt. Verfestigtes 1,4-Butandiol kann in Heizungsnähe leicht wieder verflüssigt werden. Es läßt sich gut mit Hilfe einer Pipette mit Meßskala entnehmen und dosieren. Flaschen mit Pipettenverschluß sind demnach ideal.

Bei einer Temperatur von 134 °C ist 1,4- Butandiol entflammbar! Bei 230 °C verdampft es. Im Chemikalienhandel wird es als schwach wassergefährdender Stoff und gesundheitsschädlich kategorisiert. Es reize die Augen und die Haut und sei gesundheitsschädlich beim Verschlucken! Bei Berührung mit den Augen sollen diese gründlich mit Wasser abgespült und ein Arzt konsultiert werden.

Das Lycaeum-Drogenarchiv im Internet warnt vor der Einnahme von 1,4-Butandiol und GBL. Beide Substanzen könnten Krankheit verursachen, selbst wenn sie nur leicht unrein seien. Industrielle und technische Produkte sollten als ungeeignet für menschlichen Konsum angesehen werden.

Mit Hinweis auf die entsprechende Fachliteratur wird dort im Internet, nachlesbar unter www.lycaeum.org, berichtet, daß das pharmakologische und toxikologische Profil von 1,4-Butandiol, wie von GBL, mit dem von GHB praktisch identisch seien, da diese Substanzen im tierischen und menschlichen Körper schnell und umfassend zu GHB umgewandelt würden, dieses dann seine typischen Wirkungen entfalte und dann eben als GHB entsprechend schnell und vollständig abgebaut würde. Demzufolge sind von diesen Substanzen weder krebserregende noch organschädigende Wirkungen zu erwarten. Dieser zwar zunächst entwarndende, aber dürftige Informationsstand sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß über mögliche gehirn- oder andere Organe schädigende Wirkungen des 1,4-Butandiols praktisch noch nichts bekannt ist. Selbst wenn die Risiken ähnlich einzuschätzen sind wie bei GHB, so bleibt immer noch die Frage offen, ob nicht chemische Verunreinigungen mögliche nachteilige Wirkungen entfalten könnten. Selbst bei nur 1% Verunreinigung wären an einer Dosis von 3 ml immerhin 30 Milligram (mg, also 0,03 Gramm) unbekannter Substanzen beteiligt. Es wäre wichtig herauszufinden um welche Verunreinigungen es sich jeweils handelt oder handeln kann und welche toxischen Risiken mit ihnen verbunden sind. Derartige Risiken sind übrigens bei aus verunreinigten Ausgangssubstanzen synthetisiertem Schwarzmarkt-GHB noch erheblich höher einzuschätzen.

1,4-Butandiol ist auf Grund seiner psychoaktiven Wirkungen bereits stark überteuert quasi als psychoaktives Schlangenöl verkauft worden. Unter der Bezeichnung „Borametz“ sollte es sich um einen angeblich aus Rußland stammenden Pflanzenextrakt handeln. Diesen „Borametz-Schwindel“ hat John Hanna aufgeklärt. Sein umfangreicher und sehr interessanter Bericht, der auch weitere Hintergründe zu 1,4-Butandiol liefert, erschien in der lesenswerten Zeitschrift „TRP“, Kurzform für „The Resonance Project“, Ausgabe Nr. 2, Winter 1997/98, siehe im Internet unter www.resproject.com. Mit einem psychoaktiven Produkt, dessen Risiken kaum bekannt sind, Profit machen zu wollen, ist verantwortungslos! In diesem Falle sind sogar schon eine Reihe von Risiken bekannt, nämlich die, die für GHB gelten. Besonders bei Verbreitung in einer leichtfertig diverse psychoaktive Substanzen gleichzeitig konsumierenden Szene, wie zum Beispiel auf Technoparties, bestehen hohe Risiken negativer Reaktionen!

Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe an überteuerten GHB-Ersatzmixturen, die die ein oder andere Vorläufersubstanz als wirksame Grundlage enthalten. Die Präparate heissen zum Beispiel „Gamma-G“ („40 Dosis-Flasche für 89.95 $“, „High Times“-Anzeige 3/99), „Revivarant“ oder „Renewtrient“. Vermutlich GBL wird in den USA seit August 1998 als „Blue Nitro“ verkauft. Der Umsatz soll sich bei steigender Tendenz auf über 5000 Flaschen pro Woche belaufen, bei einem Preis von 64.95 $ pro Flasche. ( Siehe San Francisco Examiner, 11. 01.1999)

Die Verkaufsmedien für diesen Handel sind Internet, einschlägige Magazine, Sex-Shops, Techno-Parties, Smart-Shops etc.. Die obskure Substanz 4-Hydroxy-2-Furanon, die im Körper angeblich auch in GHB umgewandelt wird, wird in affiger Sex-Shop-tauglicher Verpackung, in den Niederlanden als „G-Spot“, ein „vitaminangereichertes Aphrodisiakum“ „als diätischer Zusatz“ vertrieben. Die Smartshops, die das simple Präparat verkaufen, verlangen 25 Gulden für eine Dosis. Man erhält eine primitive Plastikflasche mit 15 ml eines ekelhaft schmeckenden Gebräus, dessen Wirkung vielleicht 1 bis 1,5 ml 1,4-Butandiol entspricht. Wenn man das nicht Wucher nennen darf! Hier geht es um die schnelle Mark ohne Rücksicht auf Verluste.

Tatsache ist aber auch, daß 1,4-Butandiol mittlerweile zunehmend als leicht erhältlicher preiswerter Ersatz für GHB eingenommen wird, sicherlich eine Folge der Kriminalisierung von GHB. In der Szene wird es auch bezeichnet als „Einsvier“ (für 1,4), „Einsvierbe“ (1,4-B), „Oneforbe“ (Englisch ausgesprochen), „Butandiol“ (davon gibt es allerdings noch andere nicht psychoaktiv wirksame Varianten), „Liquid“, „Liquid Ecstasy“ (so werden auch GHB und praktisch unwirksame Smart-Shop-Plagiate genannt) und „Borametz“ (nach dem Schwindelprodukt). Außerdem wird es noch mit anderen „Kosenamen“ belegt. Der Phantasie der Konsumenten sind da keine Grenzen gesetzt. („Love Potion Number Zwei ?“).

Obwohl es nicht selten pur geschluckt wird, möchte ich davon nicht nur wegen dem Geschmack nach verbranntem Plastik, sondern wegen möglicher schleimhautreizender Wirkungen abraten. 100 %iger Alkohol ist auch nicht sonderlich schleimhautverträglich.

Weniger bedenklich erscheint das (übrigens problemlose) Einrühren einer Dosis in 200 bis 300ml (einem großen Glas) Fruchtsaft (nicht Milch!). Eingenommen wird das geschmacklich verträgliche Gebräu damit es schneller und intensiver wirkt auf möglichst nüchternen Magen, einige Stunden nach der letzten Mahlzeit.

Bei 1,4-Butandiolkonsum sollte Alkohol vermieden werden. Vorher eingenommen scheint er das Gefühl für die spezifischen 1,4-Butandiol-Wirkungen zu verringern. Obendrein verstärkt er die dämpfenden und auch andere eher unangenehme Wirkungen wie Schwindelgefühl und Übelkeit. Er erhöht, wenn beide Substanzen gleichzeitig in stärkerer Dosis eingenommen werden, drastisch das Risiko gefährlicher Reaktionen.

Ähnliche Warnungen gelten für alle Arten von Downern. Barbiturate, Benzodiazepine, Opiate usw. können in Kombination mit 1,4-Butandiol zu gefährlichen Komplikationen, unter Umständen möglicherweise bis zum Tod durch Atemstillstand führen.

Auch von der Kombination mit Aufputschmitteln wie Amphetamin, Ephedrin und Kokain muß dringend abgeraten werden. Das gilt auch für „Ecstasy“ (MDMA et. al.). Negative Wirkungsverstärkungen in Sachen Herz-Kreislaufsystem sind denkbar. Genaue Untersuchungen über Wechselwirkungen stehen noch aus.

Coffein gilt als natürlicher Blocker der GHB- und damit wohl auch der 1,4-Butandiol-Wirkungen. Dadurch besteht in einem gewissen Rahmen die Möglichkeit, auftretende Müdigkeit und Duseligkeit mit einer starken Tasse Kaffee oder dergleichen zu bekämpfen oder die Ernüchterung zu forcieren. Andererseits blockiert Coffein vorher genommen die volle Entfaltung der Wirkungen, was meist ja nicht erwünscht ist.

Cannabis (Rauschhanf) vor Einnahme von 1,4-Butandiol geraucht, verstärkt die einschläfernden Wirkungen von 1,4-Butandiol. Die Kombination forciert mitunter ein Driften in einen träumerischen Halbschlaf, der schließlich in (evtl. unruhigen) traumreichen Schlaf übergehen mag. Es ist auch möglich, daß das bei höheren Dosierungen beider Substanzen auftretende Gefühl des „Bedröhntseins“ sich noch verstärkt. Nimmt man jedoch zuerst das 1,4-Butandiol ein, dann kann sich ein „Stonedsein“ mit einer eigenartigen etwas abgetretenen chemisch-spacigen Note einstellen. Das Wohlgefühl vom 1,4-Butandiol mag sich dabei verstärken, die veränderte Wahrnehmung der Sinne und damit der Umwelt auch. Wer generell Angst vor Bewußtseinsveränderung hat, dem sei von dieser Kombination abgeraten.

Als Schlaf- und Entspannungsmittel nach anstrengenden Psychedelika-Trips ist 1,4-Butandiol nicht unbekannt.

Letztlich scheinen sich die 1,4-Butandiol-Wirkungen am besten auf nüchterenen Magen und ohne vorher irgendeine andere psychoaktive Substanz genommen zu haben, zu entfalten. Auch das Risiko unangenehmer Wirkungen wird so reduziert.

Zu den Dosierungen ist folgendes zu sagen: Jeder Konsument muß seine individuelle Sensibilität ermitteln. Diese mag von Fall zu Fall deutlich schwanken. Einige Faktoren sind ja bereits angesprochen worden. Viel hängt von der persönlichen Stimmungslage, der körperlichen Verfassung, wie z.B. Müdigkeit oder Aufgekratztheit, ab. In welchem Umfeld und zu welchem Zeitpunkt man die Substanz nimmt und mit wem ist äußerst bedeutend. Eine relaxede Atmosphäre mit alten Freunden oder vertrauenswürdigen neuen Freunden scheint ideal. Auf der Strasse oder auf unübersichtlichen hektischen Parties ist 1,4-Butandiol kontraindiziert. Ein gewisses Risiko besteht nämlich in einer Überdosierung. Weil es so schön ist, nimmt man einfach immer mehr und schließlich eine einschläfernde Überdosis. An sich zwar relativ ungefährlich, wenn ausschließlich 1,4-Butandiol genommen wurde, kann sie schon innerhalb einer viertel bis halben Stunde zu einem tiefen komaähnlich erscheinenden Schlaf führen. Dieser soll zwar nach 3 bis 5 Stunden beendet sein, der Betreffende erwacht wohl in der Regel entspannt und erfrischt. Tritt der Zustand allerdings an einem ungünstigen Ort auf, besteht die Gefahr der Vorteilnahme durch Andere (sexuell oder materiell) oder von Überreaktionen uninformierter Freunde oder Beisteher, sprich Rufen der Notfallambulanz, die dann mit eigentlich unnötigen unangenehmen „Wiederbelebungsmaßnahmen“ beginnt. Ein reales Risiko ist auch das des Erbrechens während der Bewußtlosigkeit, wenn man sich nicht an die obigen Abstinenzregeln gehalten hat. Die Kombination mit anderen Drogen macht das Risiko von Atemstillstand und anderen Komplikationen schwer abschätzbar. Hier ist der Notfallarzt möglicherweise doch der richtige Partner auf dem Weg zur Ernüchterung. Aber soweit muß man es ja nicht kommen lassen. Eine übliche Sicherheitsmaßnahme ist es, wenn Freunde gegenseitig aufeinander aufpassen, sich auch über die Drogen zu informieren, die man genommen hat, damit im Notfall das entsprechende Wissen an den behandelnden Arzt weitergeben werden und dieser dann die (hoffentlich) richtigen Maßnahmen einleiten kann.

GHB und seine Ersatzaanaloge haben einen gewissen Ruf als „Date-Rape-Droge“. Generell sollte frau ihre Drinks in Anwesenheit dubioser Typen im Auge behalten. Alkohol und Benzodiazepine sind die klassischen Drogen um (meist) eine Frau gegen ihren Willen gefügig zu machen.

Ich möchte jetzt noch ein paar subjektive (!) Anhaltspunkte zur Dosierung geben:

Auf nüchternen Magen, ohne vorherige Einnahme anderer psychoaktiver Substanzen und ohne ausgeprägte Müdigkeit, wirken 1 bis 1,5 ml 1,4-Butandiol bereits subtil. Da sie die Sensibilität für Berührungen erhöhen und leicht enthemmen, aber bei Männern in der Regel kaum mit der Erektionsfähigkeit ins Gehege kommen, stellen sie eine ideale aphrodisische Dosis dar. Dies mag auch bei 2ml noch der Fall sein. Das Erreichen von Erektion und Orgasmus können dann aber verzögert sein. Dafür werden Sex und Orgasmus vielleicht intensiver erlebt. (GHB ist in den USA auch bei manchen Gruppensexfans beliebt.) Ab dieser Dosis (2ml) ist ein deutlicher „Törn“ oder „Rush“ spürbar. Nach bereits 5 Minuten schwach, nach 10 Minuten deutlich, entfaltet sich eine kräftig verstärkende Wirkung. Diese schönste Phase hält etwa eine Stunde an. Eine halbe bis eine Stunde bleibt die Wirkung auf dem erreichten Niveau, um dann über etwa eine Stunde auf Normalnull abzuflachen. Nach 3 bis 4 Stunden ist wieder weitgehende Nüchternheit, vielleicht mit einem euphorischen Nachhall, hergestellt. Gewisse entspannende körperliche Nachwirkungen, auch als Mattheit oder Müdigkeit empfunden, mögen länger, eventuell noch am nächsten Tag, spürbar sein. Der Schlaf kann besonders bei Menschen ohne Schlafprobleme gestört sein, was sich durch zwar erleichtertes Einschlafen aber vorzeitiges Aufwachen nach 3 bis 5 Stunden auszeichnet. Allerdings fühlt man sich dann meistens relativ frisch.

Die eigentliche Wirkung von 1,4-Butandiol ist geprägt durch ein angenehmes erotisches, sinnliches an „Ecstasy“ erinnerndes Körpergefühl. Atmen, Streicheln, Räkeln und Massieren, vielleicht auch Kopulieren, sanfte körperliche Entspannungsübungen oder wiegender Tanz kommen angenehm. Dabei fließt gleichzeitig eine ganz schön starke unruhige aber angenehme an Kokain erinnernde innere Energie. Enthemmung und erhöhte Emotionalität vermögen den Gedanken- und Gesprächsfluß ähnlich wie bei Alkohol und MDMA zunächst kräftig anzuregen. Dabei kann es zu einer in manchen Stadien des Alkoholrausches ebenfalls auftretenden Sentimentalität (z.B. vom Stile, „erinnerst du dich noch, die alten Zeiten“) kommen. Die damit einhergehende, an MDMA erinnernde, freundliche bis herzliche aber nicht haltlose Neigung zu einer liebevollen Öffnung (nach dem Motto, „was ich dir immer schon mal Gutes sagen wollte“) und die bestehenbleibende Bewußtheit für die eigene Befindlichkeit lassen die Öffnung aber deutlich ehrlicher, persönlicher, sympathischer und haltbarer als üblicherweise im Alkoholrausch erscheinen. Das unterscheidet den 1,4-Butandiol-Törn auch vom egomanischen Redeschwall unter Kokain- oder Amphetamineinfluß. Im Einzelfall kann es aber durchaus zu lautem rechthaberischen und aggressiven Gebaren kommen. Da das Ausagieren aufgrund des dennoch vorhandenen körperlichen Wohlgefühls und mangelnder Koordinationsfähigkeit oder Torkeligkeit in der Regel gedämpft ist, kommt es wohl selten zu ernsthaften Auseinandersetzungen unter 1,4-Butandioleinfluß. Erst bei höheren oder wiederholten Dosierungen stellt sich eine vorübergehende Gedächtnisschwäche mit Problemen, sich an kurz zuvor Gedachtes zu erinnern oder passende Worte zu finden, und ein reduzierter Gedankenfluß ein, ein bedröhntes Driften in die eigene innere körperliche Welt bis hin zum ständigen Wegnicken, das allerdings nicht unbedingt als unangenehm empfunden wird. Im Gegensatz zu Opiaten, die einen in die wohlige selbstgenügsame und desinteressierte Isolation zurückzuwerfen vermögen, bleibt die generelle mentale Bereitschaft zum Kontakt mit dem Anderen und der Außenwelt reizvoll und erhalten, selbst wenn die Fähigkeit dazu am schwinden ist. Die Qualität des Denkens und der äußerlichen Wahrnehmungen scheint sich nicht so zu verändern wie es unter Einfluß von Cannabis oder Psychedelika der Fall ist. In diesem Sinne wirkt 1,4-Butandiol allein nicht psychedelisch.

Positive fließende Musik, schmelzige eingängige Sounds und fluffige Melodien und Rhythmen wirken allerdings verstärkt mitreissend und euphorisierend. (Erlebt bei Technomusik und der Schnulze „Liquido“ von „Narcotic“, die wie die Faust aufs 1,4-Butandiol, das auch „Liquid“ genannt wird, zu passen schien.) Die Fähigkeit, sich auf Langweiliges oder Hektisches zu konzentrieren, besonders optisch, wird mit zunehmender Dosis fortschreitend reduziert. Das Reaktionsvermögen ist schon bei niedriger Dosis eingeschränkt! Besonders unter Einfluß höherer Dosierungen sollte man nichts unternehmen bei dem Taumeligkeit, Konzentrations- und Koordinationsstörungen Beeinträchtigungen darstellen.

2,5 ml 1,4-Butandiol stellen eine Dosis dar, die die meisten Menschen schon kräftig beschwingt aber gut kommunikationsfähig beläßt. Bei einer Dosis von 3 ml stellt sich in der Regel ein starker euphorischer aber auch kräftig beduselnder Törn ein. Eine Dosis von 4 ml soll bereits schlaffördernd wirken.

Zur Nachdosierung wartet man entweder bis etwa 2 oder 3 Stunden nach Einnahme der ersten Dosis und entscheidet dann, ob man den ersten Rausch noch toppen will. Der zweite Törn wird insbesondere dann ein wenig stumpfsinniger ausfallen, wenn man gierig wird, mehr will und eine höhere Dosis einnimmt. Wer unbedingt gezielt den Anfangstörn verlängern will, der nimmt bereits nach Erreichen des Plateaus, also etwa nach einer Stunde eine zweite Dosis, die allerdings nur etwa die Hälte der vorhergegangenen Dosis oder weniger betragen sollte, wenn man auf dem gleichen Niveau bleiben will. Mehr als zwei, allenfalls drei Dosierungen sind nicht zu empfehlen. Das Schöne des Rausches schwindet dann schnell zu Ungunsten einer unkreativen Bedröhntheit. In der Praxis allerdings werden sicherlich eine Reihe begeisterter Probierer erstmal übertrieben „auf die Kacke hauen“, bis sie (hoffentlich) ihre persönlichen Grenzen gefunden haben. Es bleibt nur zu hoffen, daß diese Experimentiererei nicht auf Kosten der Gesundheit geht. Über die möglichen Langzeitfolgen für Leber, Nieren, Herz, Gehirn usw. ist noch nichts bekannt! Deshalb muß vor dem experimentellen Gebrauch von 1,4-Butandiol eindringlich gewarnt werden!

Der Törn ist bei höheren Dosierungen von einem zunehmenden Schwindelgefühl und einer Torkeligkeit begleitet, die an späte Stadien des Alkoholrausches erinnert, aber bereits spätestens beim Abklingen der Wirkung wieder schwindet. Ein gewisser Kopfdruck bis hin zu Kopfschmerzen kann als weniger angenehme Wirkung auftreten. Schon vorhandene Kopfschmerzen werden wahrscheinlich bestehen bleiben. Die Kombination mit anderen Drogen (z.B. Stimulantien und Alkohol) scheint das Risiko von Kopfschmerzen zu erhöhen. 1,4-Butandiol scheint auch harntreibend zu wirken. Ein guter Flüssigkeitsumsatz ist zum Schutz vor schleimhautreizenden Wirkungen und zum beschleunigten Ausschwemmen potentiell schädlicher Nebenprodukte wahrscheinlich nicht verkehrt. Ein leichter Magendruck und Sodbrennen wurden als unangenehme Wirkungen genannt. Übelkeit kann bei hohen Dosierungen und besonders bei vollem Magen auftreten. Im Anschluß an die Wirkung kann in der Regel problemlos und mit gutem Appetit gegessen werden.

Die Wirkung ist wie so oft beim ersten Mal am schönsten, vorausgesetzt die Umstände stimmen. Konsumenten sind begeistert von dem sinnlichen Körpergefühl, „natural beauty“, der „Körpergefühldroge“, dem kräftigen, enthemmenden, duseligen „Schwindeltörn“, der „ganz gut reinknödelt“. Wird die Substanz allerdings nachlässig eingenommen, können die körperlichen Empfindungen als nicht ganz so angenehm empfunden werden. Müdigkeit mag dominieren, die eingeschränkte Fähigkeit zu Denken und zu Handeln mag als nervig empfunden werden. Alles hat eben mindestens zwei Seiten. Und keineswegs sollte man es mit der Einnahme dieser noch wenig bekannten Substanz übertreiben. Bei suchtgefährdeten Personen ist ein Risiko eines zumindest vorübergehenden exzessiven Gebrauchs gegeben! Nur die sporadische Einnahme zu passenden Gelegenheiten garantiert den höchsten Genuß. Neugierige sollten trotz der vielleicht verlockend klingenden psychoaktiven Wirkungen Zurückhaltung üben bis Näheres über eventuelle weitergehende gesundheitliche Risiken von 1,4-Butandiol bekannt ist!
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Cannabis

Mythos 14: „Die Cannabispolitik der Niederlande ist gescheitert“

Marihuana Mythen

Teil XIV

Gut gelaunt durchstreifen wir das Tal der Erkenntnis, denn der Blick ist frei. Nur ab und zu ranken sogenannte Mythen (ein gar „widerporstiches“ Gewächs) auf unseren Weg. Wir zerschneiden sie mit einem Messer, welches da „Wissenschaft“ heißt und heben sie auf, um sie in unserem Sammelband mit dem Titel „Struktur und Funktion von Marihuana-Mythen im 20. Jahrhundert“ abzulegen. Am Ende des Tals wartet die erfrischende Quelle des Wissens, an der wir uns gütlich laben werden, um dann den Weg zurück anzutreten. Hin und her, hin und her: Ja, Sisyphos muß man sich als glücklichen Menschen vorstellen.

Wie sieht es aus: Welchen Nutzen und welche Schäden kann der Konsument von Cannabis aus den pflanzlichen Wirkstoffen ziehen? Wo liegen Gefahren für Körper und Geist, wo Chancen für ihre Genesung? Eine Serie im HanfBlatt räumt auf – dieses mal mit der Behauptung:

„Die Cannabispolitik der Niederlande ist gescheitert“

Ein oft gehörtes Argument, wenn es darum geht, das voraussehbare Scheitern einer neuen Drogenpolitik in Deutschland zu untermauern. Das kleine Land an der Nordsee steht bei konservativen Politikern als Symbol für den Sündenpfuhl Europas. Hier herrsche Anarchie, auf offener Straße würde gekifft, immer mehr junge Leute probieren Cannabis und andere Drogen und damit stiege auch Zahl der Drogentoten stetig. Dieses Kernargument der Hanf-Prohibitionisten bedarf einer äußerst sorgsamen Überprüfung – halten wir uns also an

DIE FAKTEN

Einige politische und soziale Hintergründe müssen zunächst geklärt werden:

Seit dem Sommer 1994 regiert in Holland eine Koalition aus nicht-konfessionellen Parteien. Die für die Cannabis-Frage zuständigen Minister (Justiz- und Gesundheitsministerium) können als links-liberal eingestuft werden, sie stehen allzu weitreichenden Eingriffen des Staates in die Gesellschaft skeptisch gegenüber. Zudem wurde in den letzten Jahren die Inkonsistenz der Coffee-Shop Politik immer deutlicher (Front-Backdoor-Problem): Während im Gastraum legal Haschisch und Marihuana vertrieben werden darf, bleibt die Beschaffung der größeren Mengen für den Besitzer illegal. Im Modell war also ein Problem immanent angelegt, denn Kontakte zur kriminellen Organisationen konnten nicht ausbleiben. Das Parlement beschloß aus diesem Grund, den Coffee-Shops einen leichteren Zugang zu den Drogen zu ermöglichen. Zugleich kam es aber zu einschränkenden Maßnahmen, weil es in den letzten Jahren vermehrt zu Beschwerden von Teilen der Bevölkerung gekommen war. Die Zahl der Kiffer-Läden war stetig gestiegen, 1996 existierten 2000 Stück im Ländle. Oft wurde diese von Nicht-Holländern geführt, die hervorragende Kontakte in ihre Heimatländern pflegten. Großorganisationen übernahmen den Handel, Holländische Hanf-Produkte wurden im Preis unterboten, kriminelle Kräfte hielten Einzug. Kritisiert wurde auch die Existenz der Shops in der Nähe von Schulen und Jugendeinrichtungen. Aus diesem Grund beschloß die Regierung, in Zukunft ein wachsameres Auge auf die Shops zu werfen und die Neueröffnung stärker zu Reglementieren. Heute dürfen im Einzelverkauf nicht mehr als fünf Gramm über die Theke gehen, weiterhin ist man aber berechtigt, bis zu 30 Gramm Pot bei sich zu tragen.

Bei der Hälfte des konsumierten Cannabis handelt es sich um Haschischsorten aus Asien, dem Nahen Osten und Nordafrika, die weitaus geringere Menge kommt aus Südamerika (hier insbesondere Kolumbien). Marokko ist mit knapp 75% der größte Lieferant. Es gibt Hinweise darauf, daß ein erheblicher Teil des importierten Haschischs wieder exportiert wird. Die Betriebsführung dieser häufig von Niederländern geleiteten Exportorganisationen ist sehr professionell und auf Kontinuität ausgerichtet. Im Jahre 1994 wurden über 43 Tonnen Haschisch und fast 195 Tonnen Marihuana beschlagnahmt. Die Zahl der gefundenen und vernichteten

„Nederwiet-Pflanzen“, also des niederländischen Hanfs, stieg auf 558.000. Der Marktanteil des Nederwiets an in den Niederlanden konsumierten weichen Drogen, soll inzwischen 50% betragen. Die in den Niederlanden seit jeher vorhandene Kenntnis von Gartenbau- und Veredelungstechniken hat zur Erreichung dieses Marktanteils beigetragen. Nederwiet gilt als Qualitätsprodukt und ist daher vor allem bei Jugendlichen beliebt. Soweit die aktuelle Lage.

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Wie ist es nun um die Cannabiskonsumenten bestellt? Hat die de-facto Entkriminalisierung zu einem Anstieg der kiffenden Menschen geführt? Und führte dies zum Umstieg auf andere, härtere Drogen? Die holländische Regierung stellte 1989 und 1996 den Erfolg einer seit 1976 grundlegend veränderten Drogenpolitik dar. Ihren Ergebnissen nach ist seit einigen Jahren der Konsum von Cannabis unter den Jugendlichen konstant. Die Zahl der Personen in den Niederlanden, die regelmäßig Cannabis nehmen, schätzt das NIAD (Nederlands Instituut voor Alkohol en Drugs) auf 675.000. In den ersten Jahren nach der Änderung des Betäubungsmittelgesetzes stabilisierte sich das Konsumniveau, nahm aber im Zeitraum 1984-1994 wieder etwas zu. Sowohl trendmäßig als auch der Höhe nach weicht der Konsum in den Niederlanden nicht stark von dem in anderen Ländern ab. Um dem Mythos etwas näher zu kommen, vergleichen wir doch einmal das Genußverhalten von Holländern, US-Amerikanern und Franzosen.

Cannabiskonsum unter 12-18jährigen Holländern

Jemals probiert

Letzten Monat genossen

1984

4.8%

2.3%

1988

8.0%

3.1%

1993

13.6%

6.5%

(Quelle: NIAD)


Cannabiskonsum unter 12-17jährigen US-Amerikanern

 

Jemals probiert

Letzten Monat genossen

1985

23.2%

11.2%

1988

24.7%

6.4%

1993

11.7%

4.9%

(Quelle: NIDA)

 

Cannabiskonsum unter Franzosen (1992)

Alter

Jemals probiert

12-17 Jahre

4%

18-24 Jahre

32%

25-34 Jahre

31%

35-101 Jahre

14%

(Quelle: Comité Francedilais d`Education pour la Santé, 719 befragte Personen)

Die Tabellen zeigen, daß in Ländern mit strenger Aufsicht durchaus Cannabis unter den Jugendlichen grassiert. In den USA wird trotz einer restriktiven Cannabisprohibition gekifft was das Zeug hält. Der Konsum wird offenbar in erster Linie durch Moden innerhalb der internationalen Jugendkultur und durch andere Entwicklungen, wie der Zunahme der Langzeitarbeitslosigkeit unter Jugendlichen, beeinflußt. Von der staatlichen Drogenpolitik und der damit zusammenhängenden Verfügbarkeit von Drogen geht nur ein beschränkter Einfluß aus. Wie der Bundesdrogenbeauftragte Eduard („Ede“) Lintner trotz der Fakten und Zahlen auf die Idee kommt zu behaupten, daß niederländische Coffee-Shop Modell sei insgesamt gescheitert, weiß wohl nur er. Die holländische Regierung jedenfalls geht weiterhin davon aus, daß sie einen wertvollen Beitrag zur Trennung der Märkte zwischen harten und weichen Drogen leisten konnte. Und unter Vertretern einer progressiven Drogenpolitik wird das holländische Konzept seit Jahren als durchaus auf Deutschland anwendbar gesehen.

Ein holländischer Experte in Cannabisfragen, Mario Lap, möchte einen Schritt weiter gehen: Er schlägt ein staatliches Lizenzsystem für Cannabisprodukte vor. Die Vorteile: Der Markt würde vollständig aus dem kriminellen Millieu herausgelöst werden und es würde ein legaler Erwerbsbereich mit neuen Arbeitsplätzen entstehen. Zudem würden, so Lap, Polizei und Justiz entlastet, es könnten Qualitätskontrollen eingeführt und eine zielgerichtete Prävention entwickelt werden.

 

Jörg Auf dem Hövel

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Wie mich jede Frau rumkriegt

Petra 12/2002

Wie mich jede Frau rumkriegt

Sie leben kommod in ihrer Welt und fühlen recht genau, wen sie in diese Sphäre herein lassen. Sie sitzen im Cafe, ins Buch vertieft, oder im Waschsalon, die T-Shirts faltend, oder am Strand, das Meer schauend. Frauen in Sphären. Aus einem unerfindlich Grund habe ich die Ehre, diese Blase für einen Moment zu betreten. Damit ist schon der Wunsch nach Privatheit angedeutet. Klar, am Anfang war das optische Feuer, dann aber folgt das Wort. Der erste Blick zu mir geht nicht fahrig nach Sekunden zum nächsten Objekt, die ersten Worte fallen nicht hastig, und durchs Haar wird sich dabei schon mal gar nicht gestrichen.

Um was geht es beim rumkriegen? Oberflächlich betrachtet wohl tatsächlich darum, mich möglichst schnell zum Knutschen anzustiften. Bei feinerer Auflösung zeigt sich mehr. Es geht um die vollständige Bekehrung meiner Person, darum, in naher Zukunft der Dame alle Wünsche zu erfüllen. Und das auch noch mit müheloser Freude. Die ersten Schritte dazu sollten gut überlegt sein – das Problem ist nur, dass sie dabei nicht überlegt wirken dürfen. Der erste Kontakt muss wie ein kosmischer Postbote völlig überraschend meine innere Klingel drücken.

Männer sind vielleicht alle gleich, wollen aber etwas Besonderes sein. Wenn ich schon in den ersten Momenten ihr persönlicher Brad Pitt bin, gibt das enorm Punkte auf dem Einwickel-Konto. Schon nach den ersten Worten muss klar sein, das ich nicht Teil der uns umgebenden Öffentlichkeit bin, sondern ein privates Stück Neuland, das vorsichtig beschritten wird – vielleicht aber auch im Sturm genommen.

Nichts gegen Komplimente, aber welcher wirklich starke Mann wird schon gerne angehimmelt? Und nichts gegen devote Spielchen, volle Ergebenheit aber ist ein Zeichen von Unselbständigkeit. Wo ein ewiger Macher ist, da ist die, die es „mit sich machen lässt“ nicht weit.

Womit wir bei dem Problemsäckchen der überstandenen „Beziehungen“ sind, das anscheinend jeder im Alter über 25 mit sich rumträgt. Zum wirklichen schwerwiegenden Problem wird dies nur dann, wenn darüber die Neuanbahnung von Leidenschaft leidet. Probleme haben wir alle, diese allerdings gleich in den ersten Tagen, geschweige denn ersten Minuten und Stunden durch den Fleischwolf der Analyse drehen zu wollen, ist unklug. Denn dann bleibt oft nicht viel mehr als eine Träne in der Morgendämmerung, die vergeblich darauf wartet von jemanden weggeküsst zu werden.

Welcher Mann hat nicht schon einige Wochen damit verbracht festzustellen, dass hinter einem vermeintlich weiblichen Tiefsinn nur eine andauernde Krisenstimmung steckte? Frohsinn kann man kaum üben, wohl aber die naive, dass heißt unschuldige Sicht auf die neuen Dinge. Die Wissbegier turnt an.

Wer meint, alle Schubladen in seinem Kabinettschränkchen schon mustergültig fertig gezimmert zu haben, der braucht erst gar nicht die Kerzen im Zimmer anzünden. Will man es dermaßen passiv wenden, sind wir Herren natürlich abgewatschte Kinder der Emanzipations-Bewegung, die heute vor dem Problem stehen, geschmeidig zwischen Abwasch und Alpha-Tier-Dasein unser Selbst zu definieren. Aber wer will schon eine solche leidende Männlichkeit für sich konstruieren? Als stets aktiv-riemiger Akteur sind wir arteigen eher darum bemüht, den Damen unsere wahres Ich vor Augen zu führen: Und diese Gesamtperson besteht aus einem Körper, der bis in die letzte Faser romantisch ist – und dem Hirn eines Zuchtbullen.

Womit wir beim Sex wären. Um es abzukürzen: Es muss vom ersten Moment klar sein, dass diese Frau in der Lage sein wird, aus meinem alltagserschlafften Körper eine ausdauernde Fickmaschine zu machen. Weil hier halt Magie wirkt, sind die ultimativen Flachleg-Signale leider nicht genau kategorisierbar; es bleiben nur zwei Tipps. Kein Mann mit Stil will mit der Breitseite aus Zigarettenqualm und Prosecco überwältigt zu werden. Daher darf die Zunge erst nach einer zehnminütigen Vorspiel ins Kusskriegen eingreifen. Was überhaupt nicht geht, ist Oralverkehr in der ersten Nacht. Zwei Stunden nach dem Erstkontakt einen geblasen zu bekommen, dies lässt auf niedere Beweggründe der Dame schließen. Es muss die stete Hoffung im Raum schweben, dass aus der einen Nacht ein Onelifestand wird. Es sei in aller Deutlichkeit formuliert: Artistische Verrenkungen, schlimmstenfalls noch verbunden mit brutalem Präorgasmusgeächz, sind kontraproduktiv. Deuten sie doch auf einen allzu professionell interpretierten Akt hin, der mehr an Arbeit als denn an den sanften Schmelz der Zärtlichkeit erinnert. Nichts, aber auch gar nichts darf darauf erinnern, dass es vor uns einen anderen ernst zu nehmenden Mann gegeben hat.

Nein, schlaue Frauen machen uns Männern keine Angst. Intelligenz sollte sich eben nur nicht im Abruf von Wissen manifestieren, eher in der gewitzten Improvisation des Geistes. Die Fähigkeit flexibel zu reagieren beinhaltet das Überraschungsmoment. Nachts aufgeweckt zu werden und unmissverständlich zu einer Fahrt ins Spielcasino aufgefordert zu werden – das ist sinnlich. Vielleicht ist auch das eine Folge der 68er, aber wir Männer sehen schon lange keinen Grund mehr ständig die Aktionsagenda in der Hand halten zu müssen.

Und nun zur schwierigsten und zugleich unwichtigsten aller Fragen: Wie muss sie aussehen? Um es mal im Bild auszudrücken: Der leicht fettige Glanz, den die von mir kredenzten Bratkartoffeln auf ihren Lippen hinterlassen, der muss ihr gut stehen. Als grobe Faustregel gilt: Wer lustlos im Salat rumstochert, bleibt allein. Auch der neue Trend, ständig Wasserflaschen mit sich rumzutragen, um einen stets optimalen Wasserhaushalt zu gewährleisten, ist anzuprangern. In Gegenwart von Männern trinkt Frau Bier – und eben gut gebrannten Kaffee, um einen leicht hysterischen Koffeinpegel zu gewährleisten.

Um es endlich abzukürzen: Dreifach aufgehoben will ich sein. Aufgehoben im Sinne einer Wärme, die durch die Frau mich umgibt, aufgehoben im Sinne einer Erhöhung, die ich mit ihr zusammen erleben will und aufgehoben im Sinne einer Auflösung, die unsere Personen in etwas Neues, Großes transformiert. Große Worte, sicher, vielleicht ist es daher auch eher die Aufgehobenheit im vierten Sinne des Wortes, nämlich die, das sie sich nicht zu schade war, mich aus dem dunklen Gully der Einsamkeit aufzuheben.

 

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Dieter Bohlen seine Wahrheit

Telepolis v. 29.11.2002

Nichts, auch nicht die Wahrheit

Wenn man das Buch von unserem Dieter nicht als *.pdf saugt, dann würdigt man zugleich Heinz von Foerster.

An der „Wahrheit“ hat sich schon so mancher Philosoph den Zeh verrenkt. Nach Jahrtausende lang schwelender Diskussion fand sich nun ein diplomierter Betriebswirt diese Kernfrage der Menschheit ihrer endgültigen Lösung zuzuführen. Die Wahrheit, so sein Credo, ist das was Dieter sagt.

Wir erinnern uns: Kulturpessimisten sahen schon durch das Geträller der Pop-Engel von „Modern Talking“ den Untergang des Abendlandes bevorstehen. Sie mutmaßten, dass es tiefer nicht mehr gehen könne, aber sie mussten sich eines besseren belehren lassen. Nun diagnostizieren sie einen neuen Tiefstand auf der nach unten offenen Verblödungsskala. Von Dieter Bohlens Erinnerungen an „Nichts als die Wahrheit“ sind bereits 500.000 Tausend Exemplare verkauft und auf KaZaA kursiert die Biografie als pdf-Dokument. Der Bohlen-Virus hat die Republik erfasst, die Symptome: zunächst schwach-schüchternes Hüsteln, später vehementes Gekicher, begleitet von akuter Bestürzung.

Der Virus lässt die Rezipienten taumeln, sie sind hin- und hergeworfen zwischen peinlicher Berührung und der Begeisterung über die Courage, von Penisbrüchen und Teppichludern zu klönen. Lange Zeit herrschte pures Entsetzen über den vulgären Dummbatz, der alle seine Peinlichkeiten zu Markte trägt – bis bemerkt wurde, dass er uns damit alle erleichtert. Da war er, ein Sündenbock, der sich nicht einmal daran störte, dass die Republik ihren Hohn auf ihn lädt, mehr noch, der sich sichtlich wohl im kollektiven Tratsch-Gedächtnis der Gesellschaft fühlte.

Respekt wird „dem Dieda“ vor allem deshalb gezollt, weil es ihm egal zu sein scheint zum Gespött der Leute zu werden. Damit ist er vorläufiges Endprodukt einer Gesellschaft, in der jeder Vorstadt-Honk allein dafür Anerkennung erheischen will, dass er bereit ist, seine privaten Befindlichkeiten in einer Talkshow zur Schau zu stellen. Sicher, Bohlen, 48, ist erfolgreicher Produzent von Billig-Pop, aber seine musikalische Kunst stand schon vor Veröffentlichung des Buches völlig im Schatten seiner Lendenkunst. Denn, wenn man ehrlich ist, wirklich erlebt, etwas durchgemacht, von dem es sich zu erzählen lohnt, hat der Mann nicht.

Was auf den Inhalt seines Trieb-Werks deutet. Der Literat erzählt Anekdoten aus seinem Leben, auf der Strecke bleiben bei dieser Jagd nach Amüsement vor allem die „Pistenhühner“ und seine ehemaligen Weggefährtinnen. Ein Beispiel? Mit unverhüllter Häme lässt er sich über die vermeintliche Scheusslichkeit der Wohnung seiner Ex-Frau Verona Feldbusch aus, ausgerechnet er, dessen Inneneinrichtung seines Hauses in Tostedt bei Hamburg, ein um Ikea-Elemente bereichertes Gelsenkirchener-Barock, kaum mit makellosen Worten zu würdigen ist, ausgerechnet er, der ein paar Seiten vorher noch von seiner „megageilen Flicken-Jacke aus fünfundzwanzig verschiedenen Jeans-Stoffen“ schwärmt.

Noch ein Beispiel? En detail berichtet er vom -aus seiner Sicht- gefährlichen Umgang seiner anderen Ex, die auf den Namen „Naddel“ hört, mit Alkohol. So wollte er, sagte das Alpha-Männchen jetzt in einem Interview, sie dazu anregen, „darüber nachzudenken, ob man das nicht ändern“ könne. Klar, die Bild-Zeitung berichtet bekanntlich ja auch über die Homosexualität einer Tatort-Kommissarin, um sie von ihrem Irrweg abzubringen.

„Hallo McFly, jemand zu Hause?“

Das ist Bohlens Umgang mit der Wahrheit. Dass seine subjektive Wahrheit nicht die Wahrheit der anderen ist, nicht sein kann, das interessiert den Dieter nicht. Kognitionswissenschaftler und Kybernetik-Legenden, wie der kürzlich verstorbene Heinz von Foerster, weisen darauf hin, wie beobachterabhängig, wie subjektiv die wahr genommene Realität ist. „Wahrheit“, so gab von Foerster zu bedenken, „ist die Erfindung eines Lügners“. Wer von sich behauptet im Besitz der Wahrheit zu sein, der stempele damit andere zum Lügner ab.

Bohlen ist sicher Meister darin, seine ganz persönliche Wahrheit für sich so zu gestalten, dass er schmerzfrei – andere sagen merkbefreit – durch das Leben gleitet. Was er sich überhaupt nicht vorstellen kann, ist, dass gerade der intime Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen eben nicht von Wahrheit, sondern durch Wahrhaftigkeit lebt. Als ob es eine Wahrheit darüber geben würde, ob die von Dieter so heiß geliebten Kissen fürwahr, tatsächlich und faktisch richtig auf dem Sofa liegen.

Zugegeben: Fast jeder muss beim Überfliegen von Bohlens Schabernack-Machwerk lächeln, zugleich möchte man dem Fahrer von Geronimo´s-Cadillac einen Schirm leihen, damit es oben nicht rein regnet. Bohlens Geseier kann man als erfrischend schnoddrig, als proletarische Antwort auf die „political correctness“ abfeiern oder im gepflegten Ton als „Schnörkellosigkeit und Lakonie“ (FAZ) bezeichnen. Es bleibt die Einsicht, dass Typen wie Bohlen das Betriebssystem der Spaßgesellschaft sind. Die sollte ja eigentlich nach dem 11. September begraben werden, „aber Pustkuchen“, wie Dieter wohl sagen würde.

Es ängstigt, aber es gibt kaum einen Lichtblick für ein Leben nach Bohlen: Er bedient den Kulturbetrieb einer Republik, in der schnöde Pop-Literaten wie Christian Kracht und Florian Illies („Generation Golf“) deutlich herausstellen, dass die richtige CD im Schrank wichtiger ist als soziale Schieflagen. Zugleich ist die Halbwertszeit von medial aufbereiteten und konstruierten Hypes noch nie so kurz gewesen. Vorgestern Essig-Diät, gestern Rinderwahnsinn, heute 80er Revival, morgen klaut der Strunz dem Effe die Frau zurück. Bohlen, die „gusseiserne Geldvisage“ (Wiglaf Droste), weiß von der Flüchtigkeit dieses Geschäfts, damit er weiterhin seine Kohle aus diesem Voyeurismus-Betrieb ziehen kann ist bereits eine Fortsetzung seiner Lebensbeichte angekündigt.