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Reisen

Experimental Tourism in New York

Experimental Travel in Manhattan, oder auch: ZWei Menschen wollen sich finden

Woman, November 2005

Zwei Menschen sollen sich im Big Apple wiederfinden

Claudia und Jörg Auf dem Hövel

Claudia: Den Spontantrip haben wir Joël Henry zu verdanken. Er ist Franzose und Erfinder und hat sich Experimental Travel ausgedacht. Eine spielerische, neue Art, fremde Orte zu erkunden – und eine Kampfansage an das pauschale Einerlei. 40 verschiedene Reisemethoden hat er zu diesem Zweck entwickelt, eine sollen wir testen: getrennt in eine fremde Stadt zu fahren und uns zu finden, indem wir unsere Intuition zum Reiseführer machen. Klingt verrückt. Und wahrscheinlich ist es auch dieser Henry aus Straßburg. Trotzdem war ich sofort begeistert von dem Auftrag. Mein Freund Jörg war nämlich noch nie in New York, ließ sich auch nie überreden. Aber hiermit habe ich ihn rumgekriegt. Und stehe nun an der 5th Avenue und versuche, im morgendlichen Straßenlärm meine Intuition zu hören.
Zuerst ins MoMa, dort könnte Jörg mich vermuten, oder Central Park, dahin könnte es ihn als Erstes ziehen. Hinweise vorher waren natürlich verboten, und schummeln finde ich blöd. Gestern Nacht allerdings, als es sich so seltsam anfühlte, am Flughafen in getrennte Taxis zu steigen und in unterschiedliche Hotels zu fahren, da kam kurz der Gedanke, dass es ja nie jemand erfahren müsste, wenn wir doch … Aber der Experimental Traveller in mir hat gesiegt.

Jörg: Internationalität kündigt sich an: Der Mexikaner im chinesischen Fahrradverleih nimmt Euros als Pfand für ein italienisches Rennrad mit japanischer Gangschaltung. Ich hoffe zu wissen: Claudi wird nach SoHo gehen. Dort sind Mode, Kunst, Cafés. Hoffentlich denkt sie nicht andersrum und sucht mich im Central Park. Egal, auch dahin werde ich fahren. Mit dem Rad bin ich schnell – meine Geheimwaffe, um dieses Spiel zu gewinnen. Frühstück in einem Diner in der Nähe des Union Square. Wie ein schlechter Detektiv schaue ich über die „New York Times“ hinweg auf die Straße, fehlt nur, dass ich ein Guckloch bohre. Mein Tischnachbar spricht mich an, das ist wohl normal hier, Student aus Brooklyn. Der Grund meines Aufenthalts bringt ihn zum Lachen: „Mann, hier sieht man seinen Nachbarn oft Monate nicht!“

Claudia: Im Park ist es noch ruhig, ich könnte ihn schon aus der Ferne sehen. Doch zwischen den Joggern und asiatischen Kindermädchen, die Park-Avenue-Babys vor sich herschieben, keine Spur. Ich muss meine Strategie überdenken: Wenn er an Orte geht, die ich mag, und ich seinen Interessen nachjage, wird’s schwierig. Ich sollte bei der Routenplanung wohl besser beides bedenken.

Jörg: Das ist also Manhattan, der schwer genießbare Kern des Big Apple. Zu viel Höhe, nach einer Stunde habe ich Nackenstarre. Es ist genau anders herum als gedacht: Die Stadt wirkt uralt und wächst von oben nach unten. Maroder Asphalt, überall wühlen Fernwärmetrupps durch den Untergrund, aus den Löchern dringen Dampfwolken. Die Last der Wolkenkratzer drückt in die Eingeweide der Stadt. Plötzlich ein Touristenmenge, ich schaue hoch. Das Empire State Building. Drinnen Art déco, grüner Marmor, alte Rolltreppen. Oben Turmfalken-Feeling, ich habe den Überblick. Aber keine Spur von ihr. Mein Herz klopft trotzdem schneller. Ist es die Stadt oder das Spiel?

Claudia: Es gibt ein paar Orte, die romantisch wären zum Sichwiederfinden: das Empire State Building, die Fähre nach Staten Island, der Eisring am Rockefeller Center, die Brooklyn Bridge. Wohin zuerst? Im frisch umgebauten MoMa schaue ich mir den neuen Skulpturengarten an und suche Bilder von Pollock. Den mögen wir beide. Danach zum Times Square. Keine gute Wahl, je näher ich dem blinkenden Straßenzug komme, umso dichter der Menschenstrom. Selbst wenn er drei Meter entfernt wäre, könnte ich ihn übersehen. Lieber nach Downtown?

Jörg: Ein Obdachloser schlurft mit seinen Plastiktüten am Trump Tower vorbei, drinnen laufen Wasserfälle über Blattgold-Applikationen, dazu Sinatra mit dem Lied über seine Stadt. Der Verkehr steht mehr, als dass er rollt. Tausende, nein, Millionen Stadtneurotiker eilen durch die Schluchten und sind enorm lässig dabei. Feuerwehr, Ambulanzen, Presslufthämmer. Ein steter Schalldruck läuft die Wände hoch, reflektiert an Fassaden und beschert der Stadt 24-stündiges Brummen, ein urbaner Tinnitus. Gotham City, Sin City? Hier können alle nur verrückt oder glücklich werden, gleichgültig bleibt keiner. Mir gefällt es plötzlich. Das Seltsame an diesem experimentellen Reisen: Man ist weder allein noch zusammen, merkwürdiger Zwischenzustand, aufregend und unbefriedigend zugleich.

Claudia: Mein Plan ist gut: Die kleinen Straßen, Cafés, Antiquariate im Village – hier fühlt es sich an, als würde Jörg gleich um die Ecke biegen. Ich stelle mich in die Schlange vor der Magnolia Bakery, die Leute reden über Wirbelsturm Wilma, seine Ausläufer sollen die Stadt bald erreichen. Die Cupcakes müssen grandios sein, bei diesem Wartewillen. Oder ist das sogar das Erfolgsgeheimnis der klebrigen Törtchen, dieser kurze Stillstand, bevor alle weiterrennen? Ich kaufe vorsichtshalber zwei. Und entdecke gegenüber Marc Jacobs. Meine Intuition sagt: shoppen! Ein schlechtes Suchgewissen muss ich nicht haben, sollte Jörg vorbeikommen, wird er wissen, wo er nachzusehen hat. Auch wenn es natürlich bitter für ihn wäre: „Ihr habt euch bei Marc Jacobs gefunden?“ Zwischen den Klamotten liegen Buttons, Aufkleber, Flugblätter mit Anti-Bush-Parolen. Jacobs mag seinen Präsidenten wohl nicht, der Tresen seines schicken Ladens sieht aus wie der Fußgängerzonenstand einer Bürgerintiative. Und als ich zahle, schenkt mir der Verkäufer einen Aufkleber und sagt „Peace“, mit Nachdruck, als echtes Anliegen. Und ich weiß, wohin ich als Nächstes muss.

Jörg: Langweilig ohne sie. Was für ein Spiel soll das werden? Ein hoffnungsloses Unterfangen in diesem Gewusel. Und soll es am Ende was über unsere Liebe sagen, wenn wir uns nicht finden? Nichts für schwache Nerven, dieses experimentelle Reisen. Was hatte sie im Koffer? Es ist kühl, sie wird die dunkle Jacke anziehen. Das Problem: Sie ist bereit, für modische Extravaganzen zu frieren. Ich achte auf jeden und daher nach einiger Zeit auf niemanden mehr. Der Trick mit dem Rad hat versagt, ich bringe es zurück. Die wahren Chefs der Stadt sind ohnehin die Cab-Driver. Vier Taxis, vier Nationen, ich fahre mit Hindus, Vietnamesen, Puerto-Ricanern und einem Belgier. Überall Schlaglöcher, Fahrten wie auf dem Rummel.

Claudia: Ich habe mich verlaufen, muss mich erst mal wieder orientieren. Ein Mann im Businessanzug hilft. „Geradeaus, dann kommen Sie direkt drauf zu.“ Auf das große Nichts, das sich zwischen den Häusern auftut. Ground Zero. Der Missing Link zwischen dem New York meines letzten Besuches und der Stadt, wie sie heute ist: nicht mehr nur sorglos-gigantisch, ernsthafter. Ein Metallzaun umgibt das Areal, der Wilma-Wind bläst den fliegenden Händlern ihre Taschen-Fakes davon. Hier machen sie gute Geschäfte, weil kein Ort der Stadt mehr Besucher anzieht. Keine Ahnung, wie man hier Lust auf eine Plastik-Birkin bekommen kann. Die megafonverstärkte Stimme eines religiösen Eiferers brüllt: „Nur Gott kann dich retten!“ Es ist kein guter Ort, um sich allein zu fühlen. Trotzdem bin ich auf einmal ganz bei mir. Es dämmert, ich bin erschöpft vom Suchen. Kino vielleicht? Ein Film, der zu low budget oder zu amerikanisch ist, um jemals nach Deutschland zu kommen.

Jörg: Im Meatpacking District sollen selbst unter der Woche schon weiße Hengste auf der Tanzfläche gesichtet worden sein, trotzdem wähle ich die Bar um die Ecke meines Hotels in Chelsea. Zwei lasche Biere, ein kindskopfgroßer Hamburger. Im Fernsehen läuft Football, die Straße habe ich im Blick. Der Mann neben mir an der Theke kauderwelscht vor sich hin. Später im Hotelbett stelle ich mir im Halbschlaf vor, wie Claudia sich gerade in einem Nobelrestaurant von einem Mr. Big Drinks spendieren lässt. Krude Interpretationen von Sehnsucht. Morgen wird dieses Spiel ein Ende haben. Finde ich sie nicht, greift Plan B: Den Umschlag mit dem Notfalltreffpunkt darf ich um 16 Uhr öffnen.

Claudia: Meine Nacht ist traumlos, der nächste Vormittag vergeht im Flug. Little Italy, Chinatown, East Village. Ich hab keinen Plan mehr, freu mich einfach, hier zu sein. Versuche mir zu merken, was ich Jörg alles erzählen muss.

Jörg: Ich bin genervt. Dieses Spiel kann vielleicht in Paderborn, eventuell noch in Zürich gewonnen werden. Aber in New York? Es gibt jedoch noch eine sehr gute Spielregel: Man darf die Regeln auch ändern. Ich öffne den Umschlag vor der vereinbarten Zeit. „Times Square, 18 Uhr“ steht dort. Ich fahre schon um 16 Uhr hin. Und plötzlich sehe ich sie. Wie gut ihr dieser suchende Blick steht.

Claudia: Es hat nicht geklappt. Funktioniert hat es dennoch. Ich war allein unterwegs, trotzdem war Jörg dabei. Ich habe New York gesehen und ihn und mich. Und als wir uns endlich trafen, war es aufregend, sogar sexy. Darum heißt das Spiel wohl „Ero-Tourism“. Wir sollten das noch mal probieren.

 

Tipps:

Wohnungen von Privatleuten und individuelle Stadttouren organisiert Erol Inanc, ein Münchner, der seit 14 Jahren in New York lebt: http://www.echtnewyork.com

 

Literatur:

Joel Henry, „Guide to Experimental Travel“
Lonely Planet 2005
Nur auf Englisch erhältlich
ISBN: 1741044502
Rund 15 EUR.

 

Von Jörg Auf dem Hövel

Jörg Auf dem Hövel (* 7. Dezember 1965) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als freier Journalist u. a. für die Telepolis, den Spiegel und Der Freitag.

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