Gerald Roman Radler: Die Sage vom unseligen Jakob / Der Fliegenpilz (78)

traum

DIE SAGE VOM UNSELIGEN JAKOB

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Wenn man durch den Ort Mötlas im Mühlviertel geht und bei der schlanken, spitzen Kirche nach links abbiegt und immer der roten Markierung folgend, die Hügel zum Blasenschlag aufwärts steigt, sieht man einen großen, dunklen Wald, in dem der Sommer immer noch allerlei giftige Schwammerln gedeihen lässt. Hinter dem beklemmenden Gehölz, in den selten ein Lichtstrahl dringt, breitet sich eine schöne, grüne Wiese aus, auf der ein einzelner, dichter Busch wächst, der aus der Ferne wie ein, im Laufen erstarrter Mann aussieht. Er reckt die Arme gen Himmel. Das rechte Bein hat er gerade vorgestreckt, das Linke ist in der Bewegung des sich Abstoßens leicht angewinkelt.

Jeder der im Dorf lebt weiß, dass es am Blasenschlag mit unrechten Dingen zugeht und der Buschen nicht immer ein Busch war. Man munkelt, es sei der Jakob, der vor 273 Jahren seine Familie verlassen hat, um in der Welt sein Glück zu machen, nachdem die Welt, die seine Eltern ihm darboten für Jakob zu schlicht und auch zu langweilig schien. Seine Reise aber endete schon im Mötlaswald, der ihn verstrickte in die Betrachtung der pompösroten und fremdpunktigen Pilze.
Und wenn du lange auf den Buschen starrst, sollst du ihn vor Entsetzen schreien hören und es kommt für kurze Zeit Leben in das Blattwerk.

Vor 273 Jahren wollte es der Jakob genau wissen und aß gar gift´ge Schwämm‘ im Mötlaswald, deren Ausstrahlung er sich nicht entziehen konnte. Binnen kurzem fühlte er sich stark und mächtig wie nie zuvor. Zum ersten Mal, seit seine Mutter ihm eröffnete, er sei besser tot geboren worden, weil durch seine Geburt ihre Existenz zerstört wäre, fühlte er sich für das Leben gerüstet.
Aber schon bald war sein Mütchen gekühlt und die Sorglosigkeit verflogen, er bekam es mit der Angst zu tun. So rannte er wehklagend, von spöttischem Raunen verfolgt aus dem garstigen Forst zum nahen Gehöft, doch der Zustand, der sich seiner bemächtigte, war schneller, holte ihn schließlich ein und ehe er sich´s versah, war er versteinert, für alle Zeit vor Schreck erstarrt. Mitten auf der blühenden Frühlingswiese, überraschte ihn ein wunderlicher Zustand, dem er ganz und gar nicht gewachsen war. Er war unvorbereitet, hatte noch nie ein anderes Bewusstsein, als das des »Jakobseins« und konnte der Fülle von Eindrücken nur mit Erstarrung der Seele und seines Körpers antworten.
Dieses Stillestehen aller Erdenuhren sollte für Jakob solange währen, bis der liebe Herrgott vom Kreuze stiege, an das er sich wegen uns schlagen ließ. Also praktisch für immer und ewig, denn bis jetzt hat auch nicht das allerfrömmste Mütterlein den lieben Herrgott vom riesigen Holzkreuz auf der netten Lichtung bei Mötlas steigen sehen, um uns für unseren unerschütterlichen Glauben an ihn zu danken.

Und Du, wenn Du ein Sonntagskind bist und nach Mötlas wanderst und den jämmerlichen Burschen Jakob zum Buschen verwandelt im Wind wiegen siehst, wie er auf den jüngsten Tag wartet – bete für ihn und unseren lieben Herren Jesu, dass er bald gekreuzigt werde, bald sterbe, in den Himmel auffahre und schnell wiederkehre, auf dass die Seele vom unseligen Jakob endlich Ruhe finde und Du rasch eine Ausschank.
Aber wenn Du die Geschichte im Dorf herum erzählst, so will es die Sage, dann schlüpfst du für weitere 273 Jahre in die Haut des armen Jakob. Der erbärmliche Jakob aber sei von dem Tag an frei, an dem Du Deinen Mund nicht halten hast können. Auch wenn der liebe Herrgott verschlafen hat, oder vergessen hat vom Kreuz herabzusteigen, sei es aus Anstrengung, weil er eh´ schon die Welt gerettet hat, durch sein Tod, oder sei es nur aus Bosheit, weil’s ihm doch ein bisschen weh getan hat, das lange, aussichtslose Hängen am Kreuz.

Gerald Roman Radler: Deine Kerze flackert / Der Fliegenpilz (77)

erwachen

Die Kerze flackert leicht. Ein Zauberer starrt in die Flamme. Sein Umhang ist zugleich sein quietschendes Flügelpaar, mit magischen Symbolen besetzt, in schwarzem Samt. Ich atme mit geblähter Nase, bevor ich uns bedecke. Hoffentlich stürzt er sich nicht ins Wachs. Er war vom Fliegenschwamm aufgeflogen und hat nicht gesprochen, doch sein Kopf sah wie ein Totenschädel aus. Der Nachtfalter hatte sich nach der gelebten Magie verändert und war zu dem geworden, was ich jetzt sah.

Im Geist fliegt ein Vogel über den nachtblauen Himmel. Jetzt lachst du im Schlaf. Ich möchte etwas sagen, doch ich träume wohl schon. Wieder flattert ein Vogel über das Haus, diesmal erkenne ich ihn, es ist ein pfeifender Sperber. Du spielst auf einer gläsernen Geige. Ich kann die Melodie nicht hören, der Wind in meinem Körper braust so stark. Da sitze ich schon aufrecht unter der Verhörlampe des abnehmenden Mondes. Ich drücke das Polster über mein Gesicht. Du weinst im Schlaf und ich begreife endlich unsere schreckliche Wahrheit.

Verzeih, ich bin ein Monster gewesen, weil ich mich nicht erkannte.
Der Falter fällt dumpf zu Boden, der Vorhang raschelt, es ist wieder still…

Auf einem viel zu langen Weg,
verlor ich mein Selbst,
verlor meinen Körper.
Auf einem viel zu langen Weg,
verlor ich dich.
Ich konnte nicht aufpassen,
dabei wollte ich es so sehr.
Ich war so stolz,
weil ich auf uns aufpassen wollte.
Auf einem viel zu langen Weg,
verschrieb ich mich einem tödlichen Freund.
Aber die Dinge am Anfang waren schon so klein,
dass ich sie nicht mehr erkennen konnte.
Ich sah nur mehr das Abbild,
von meinem Selbst,
von meinem Körper
und von dir.

Gerald Roman Radler: Anita ammus caria / Der Fliegenpilz (76)

durchbruch

ANITA AMMUS CARIA

Unter graden Tannen
Und in angehitzten Pfannen
Roh und pur
In Wald und Flur
Mit offenem Mund
Lachen ohne Grund
Mit zugemachter Hose pischen
Hasen am Schweif erwischen
Mit X-Beinen watzen
Und wie Strolche schlatzen
In die Handflache rotzen
Auf Steine kotzen
In schimmernde Lacken
Geräuschvoll kacken
Das ist der Rausch, der unsere Sinne verwirrt.
Das ist der Taumel, in dem man nichts mehr spürt.

Gerald Roman Radler: Eine Annäherung / Der Fliegenpilz (75)

ausderhaut

EINE ANNÄHERUNG

Er schrieb in der Ichform, wie der heilige Antonius gefühlt, gelebt und vielleicht gelitten haben könnte.

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Nach der Veröffentlichung des „Reiseberichts aus Altmelon“ vor einigen Wochen werden auf den Seiten des „Fliegenpilz-Museums“ nun – anlässlich seines fünfzigsten Geburtstages – vier weitere Werke des Wiener Schriftstellers Gerald Roman Radler vorgestellt: Kurze, sehr prägnante Texte, die, vom Wortkünstler komponiert, daran erinnern, dass der Pilz mitunter auch Schatten zu spenden vermag.

Die diesem und den folgenden Beiträgen beigefügten Fotos zeigen Fliegenpilze verschiedener Entwicklungsstadien und tragen die Titel „Aus der Haut“, „Durchbruch“, „Erwachen“ und „Traum“.