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Interview mit dem Kriminologen Sebastian Scheerer

Aus dem HanfBlatt, 2004

„Rauschkultur als Form der Religiösität und des Hedonismus“

In den verwirrenden Gängen der Universität versteckt sich eine besondere Gattung: Der hängen gebliebene Student, gemeinhin Professor genannt. Gespräche mit dieser Spezies sind oft nicht spaßig – zu hoch ragt der Turm aus Elefantenstoßzähnen, zu dick die Mauer der Arroganz, zu verschlungen die Gänge der Gedanken. Aber es geht auch anders.

Ein Gespräch zwischen Sebastian Scheerer, Professor für Kriminologie an der Universität Hamburg und Jörg Auf dem Hövel.

HanfBlatt: Schön, daß Sie für das HanfBlatt Zeit haben.

Scheerer: Für das HanfBlatt doch immer.

Als Kriminologe beschäftigen Sie sich unter anderem mit der historischen Entstehung von Rechtsnormen, die heute den Umgang mit Cannabis, Alkohol und anderen Drogen bestimmen. Ein in der Rechtswissenschaft bisher nicht sehr populäres Forschungsgebiet, auf dem Sie Pionierarbeit leisten.

In Deutschland war ich wohl einer der Ersten, der sich genauer mit der Historie der Drogengesetzgebung auseinandergesetzt hat. In den USA gibt es David Musto, einen Medizinhistoriker an der Yale-University, der in seinem 1973 veröffentlichten Buch „The American Disease“ die amerikanische Betäubungsmittelgesetzgebung sehr genau untersucht. Inzwischen habe ich mich eingehender mit der Verbotsgeschichte einzelner Drogen beschäftigt. Opium, Morphium, Heroin und Kokain sind zwar in dem „1. Internationalen Opium Abkommen“ von Den Haag im Jahre 1912 zusammengepackt worden – welche Umstände aber zur Aufnahme der einzelnen Drogen in die Konvention geführt haben, ist kaum bekannt. Daß Kokain mit im Opium-Abkommen aufgeführt wurde, ist ja nicht selbstverständlich. Und auch weshalb man 1925 Cannabis in das Abkommen mitaufgenommen hat, ist relativ unbekannt.

Und wie kam Cannabis zu der Ehre?

Sebastian Scheerer
Sebastian Scheerer

Die übliche Geschichte wird von Howard S. Becker und Jack Herer erzählt: Da spielt der „Marihuana Tax Act“ von 1937 eine Rolle, ein Gesetz, welches formell ein Marihuana-Steuergesetz sein sollte, dem Inhalt nach aber das erste die gesamten USA umfassende Strafgesetz gegen Cannabis war. Dieses Gesetz wird dem sogenannten Moralunternehmer und Chef des damaligen „Federal Bureau of Narcotics“, Harry J. Anslinger, zugeschrieben. Das Problem dabei ist nur, daß dies 1937 war; international verboten war Cannabis aber schon seit 1925. Die Aktivitäten von Anslinger haben also keine Auswirkungen auf die Tatsache gehabt, daß Cannabis in einem Topf mit Opium und Heroin landete.

Der Vorschlag kam auf internationaler Ebene vielmehr aus den Ländern Türkei, Ägypten und Südafrika.

Mit welcher Motivation?

Das soll meine Forschung noch erhellen. Bekannt ist bisher folgendes: In Südafrika rauchten die schwarzen Bergarbeiter Cannabis. In Mosambique und Angola war Cannabis seit langer Zeit ein übliches Genußmittel. Das war für die Machthaber nicht interessant und exotisch, sondern irgendwie unheimlich. In der Geschichte der berauschenden Genußmittel ist immer wieder zu beobachten, daß Vorurteile gegen fremde „Rassen“ Hand in Hand gingen mit Vorurteilen gegen fremde Drogen. Irgendwann steht dann das eine für das andere und man glaubt, daß von der Droge selbst eine Gefahr ausgeht.

Und die Türkei und Ägypten?

In diesen Ländern spielten religiöse Gründe eine wichtige Rolle. Es gab immer wieder Sufi-Orden oder schiitische Minderheiten, die einen mystischen Weg der Erkenntnis wählten, in dem auch Rausch, Ekstase und Drogen eine wichtige Rolle spielten. Da diese Mystiker zugleich sehr kritisch gegenüber der Kirchenhierarchie, der sunnitischen Orthodoxie, waren, stand Cannabis in diesen Ländern dann als Synonym für Häresie. Aber nicht nur Cannabis, sondern auch Kaffee – jedenfalls noch im 16. Jahrhundert. Damals war in Konstantinopel Kaffee verboten, Kaffeehäuser wurden dem Erdboden gleich gemacht und Kaffeetrinker umgebracht. Dasselbe galt nebenbei auch für Tabakraucher. Und da Religion und Politik dort deckungsgleich waren…

Eine Säkularisierung hatte nicht stattgefunden…

…war eine religiös-häretische Richtung damit immer auch eine politische Bedrohung. In Ägypten lag der Fall anders: Dort und auch in Griechenland wurden Geisteskrankheiten und Cannabiskonsum in Verbindung gebracht.

Lassen sich allgemeine Aussagen über die Stellung von Cannabis im Islam treffen?

Der Status von Cannabis war und ist im Islam kontrovers: Cannabis war eine bevorzugte Droge der Armen und auch der armen religiösen Orden. Beide Gruppen stellten eine Gefahr für die herrschende Klasse da die Reichen die Cannabis-Konsumenten abschätzig betrachtete. In Rahmen dieser Politik war es einfacher und konsensfähiger, nicht die Leute, sondern die Droge zu verfolgen.

Das erinnert an Vorgänge in Europa und Amerika.

Ja. Während der Jugendrevolte von ´68 trampelte man auch gerne unter Vorhaltung medizinischer Gründen auf Cannabis herum. Schließlich konnte man schlecht sagen, daß einem die gesamte Art der Jugendlichen nicht gefiel. Das gab den Ressentiments einen objektiveren Anschein.

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Ein gewisses Muster ist wiedererkennbar. Immer wieder meint der Staat, für seine Bürger sagen zu müssen, welche Genußmittel sie zu konsumieren haben und welche nicht. Da hat sich auch für uns in Europa seit dem Mittelalter nicht viel geändert.

Praktisch hat sich Nichts verändert. Aber: Seit der französischen Revolution besteht der Anspruch, daß den Bürgern das erlaubt ist, was die Rechte andere nicht verletzt. Nur was die Realisierung dieses Rechts im Bereich der Genußmittel angeht, ist man auf der faktischen Ebene soweit wie vor 400 Jahren. Die allgemeine Handlungsfreiheit ist hier außer Kraft gesetzt.

Wie kam es später dazu, daß die Ärzte entscheiden, was gut ist und was nicht? Kann man sagen, daß die Wissenschaft immer nur das nachvollzogen hat, was auf sozial-moralischer Ebene schon vorentschieden wurde?

In dem Maße, in dem die Götter an Bedeutung verloren, wuchsen die Ärzte als „Halbgötter“ in die Rolle der Schiedsrichter zwischen Gut und Böse hinein. Allerdings segnen Sie meist nur pseudo-wissenschaftlich ab, was jeweils gerade „herrschende Meinung“ ist. Zu einer Zeit, als es hieß, daß Onanieren zum Rückenmarkschwund führe, fanden sich immer auch Mediziner, die das in dicken Büchern nachgewiesen haben. Und zu einer Zeit als der Nationalsozialismus bestimmte Vorstellungen von lebenswertem und lebensunwertem Leben verbreitete, fanden sich auch immer Mediziner, die das „bewiesen“. Was Drogen angeht, segnet die Medizin auch heute im wesentlichen die herrschenden Vorurteile ab, beziehungsweise hängt ihnen das Mäntelchen der Wissenschaft um.

Auch deswegen kommt Hans-Georg Behr ja zu der Behauptung: „Ich sehe keine Bewegung“. Was denken Sie, bewegt sich nichts in der Legalisierungsfrage von Cannabis?

Es passiert etwas in der Stimmung, in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung. Über die Hanfhäuser und die sonstige Vermarktung von allem, was mit Hanfblättern verziert ist, ändert sich die Sicht auf den Hanf. Das Hanfblatt ist nicht nur mehr ein Symbol der schweigenden Mehrheit, wie schrecklich gefährlich die Droge ist, sondern hat sich zu einem Symbol für das Gegenteil, nämlich für Natur und Ökologie und auch für eine gewisse Lässigkeit im Umgang mit diesem Genußmittel, gewandelt. Und insofern hat sich auf der symbolisch-kulturellen Ebene etwas bewegt. Nur: Von der symbolischen Ebene tröpfelt wenig runter in die Köpfe der Politiker. Selbst bei den Grünen sehe ich zu wenig Liberalität.

Dann ist die Kluft zwischen der Hanf-Bewegung, den Verfechtern des rauscharmen Hanfs, und den Streitern für eine Legalisierung der Droge ja obsolet.

Die betont harmlose Vermarktung weicht unter Umständen die Vorurteile gegen die Pflanze und auch die Leute, die diese Pflanze anders nutzen als zum anziehen, auf. Ansonsten bin ich kein Freund solcher Spaltungen. Dies gilt für die Leute, die sagen, sie wären für wirkstoffarme Anpflanzungen und gegen Rauschhanf genauso wie für den Gruppenegoismus von Cannabiskonsumenten gegenüber Kokain- oder Opiatkonsumenten. Ich habe früher mit Opiatkonsumenten gearbeitet. Dort habe ich viele Vorurteile gegenüber Alkoholkonsumenten erlebt. Dazu nur: Jede Droge hat ihre potentiellen Gefahren und Opfer. Es gibt keinen Grund zu sagen: „Auf die Leute, die mit Alkohol nicht zurecht kommen, schaue ich runter.“ Die Mehrheit der Opiat-, Kokain-, Alkohol- und Cannabiskonsumenten kommt mit den jeweiligen Substanz gut zurecht. Nur weil jemand ein gewisses Genußmittel präferiert, darf man ihn doch nicht strafrechtlich verfolgen. Das ist die grundlegende Absurdität!

Im Kern geht es allen Gruppen ja nur um den kurzzeitigen Rauschzustand. Der Konsument wird heute trotzdem mit strafrechtlichen Mitteln vor sich selber geschützt. Funktioniert dieser Schutz?

Ich kann eingeschliffene Frage und Antwortspiele nicht leiden. Es scheint ja eine Binsenweisheit zu sein, daß dieser Schutz nicht funktioniert. Aber gerade eine solche „Gewißheit“ sollte uns herausfordern, darüber neu nachzudenken…

… nun, ich kann meine Frage auch dahingehend konkretisieren, wie denn besserer Schutz aussehen könnte.

… ob es nicht doch Aspekte gibt, unter denen dieser momentane Schutz funktioniert. Sicher verschafft das straftrechtliche Verbot der Droge ein so schlechtes Image, daß viele Menschen mit ihr nicht in Verbindung kommen, die doch einmal in Versuchung kommen könnten, wenn es sie an jeder Ecke legal zu erwerben gäbe. So gesehen schützt man viele Menschen vor der Droge Cannabis. Zugleich nimmt man diesen Menschen aber das positive Potential der Droge und ein Stück Autonomie. Da müssen wir uns doch fragen: Wollen wir eine Gesellschaft, in der wir die Autonomie per Strafrecht abschneiden? Der momentane Schutz funktioniert nur in einem paternalistischen, entmündigenden Sinne.

Und der andere Schutz?

Bei der Sexualität sagt man ja auch nicht: „Du darfst nie Sex haben!“ Sondern man sieht ein, daß Sex eine wichtige Erfahrung ist, obwohl dabei Menschen immer wieder psychisch tief verletzt werden und sich ja zum Beispiel auch deswegen umbringen. Da sind sehr gewissenhafte Informationen, Verständnis und Hilfestellung gefragt – und das ist leider bei der Erziehung zu einer „guten Sexualität“ nicht anders als bei der Erziehung zum kundigen, vernünftigen Umgang mit Drogen.

Christian Rätsch schlägt so etwas wie einen Rauschkundeunterricht vor.

Sicherlich eine gute Idee. So wie der Staat eine Sexualaufklärung leistet, könnte er dies auch bei den Rauschmitteln tun. Zukünftig werden veränderte Wachbewußtseinszustände eine immer größere Rolle spielen. Es gibt ein gesellschaftliches Bedürfnis nach unterschiedlichen Erlebnissphären, nach inneren, seelischen Abenteuern. Im normalen Arbeitsalltag wird man einseitig gefordert und überfordert und es ist eine gute und richtige Entwicklung, daß man unter anderem durch eine Vielfalt von unterschiedlichen Bewußtseinszuständen, die man gezielt, aber auch kundig, anstrebt und erlebt, ein Gegengewicht zu diesen Normalwelten schafft. Dies hält das Bewußtsein von anderen Möglichkeiten wach oder schafft es neu.

Sie schreiben, daß sich die Gesellschaft daran gewöhnen muß, daß sich „im Zuge der allgemeinen Differenzierung der Lebensstile immer mehr Gruppen mit speziellen Genußpräferenzen herausbilden werden“. Die ravende Jugend mit ihrem Ecstasy und LSD-Konsum ist erst der Anfang?

Ja. Und für mich ein sympathischer Anfang. Ich teile nicht die Meinung, daß das den Weltuntergang bedeutet, wenn Leute eine Nacht lang durchtanzen. Die Leute sind risikobewußt und nicht risikofreudiger als Leute die Motorrad fahren. Viele Politiker und Polizisten glauben allerdings, das sei eine Bedrohung der Jugend und der gesamten Gesellschaft.

Die Angst der Mächtigen vor dem Rausch der Masse ist geblieben. Warum wird die Obrigkeit unruhig, wenn unter ihnen Ekstase herrscht?

Anthropologisch ist es so, daß der Rausch seine Faszination aus der Mischung von Risiko und Grenzüberschreitung bezieht. Der Mensch will als reflexives Tier diese Grenzen kennenlernen und periodisch überschreiten, ob im Karneval oder durch Drogen. Vor den Risiken dabei hat er aber -zurecht- Angst. Der Rausch ist ambivalent und nicht wegzudenken aus der menschlichen Existenz. Herrschaft und Machtwille bringen politische Ängste dazu, die in letzter Zeit eher größer als kleiner geworden sind. Das ist dann mehr der Blick des Fremden auf den Berauschten. Der Beobachter, der mit Vergrößerung der Distanz auch die Fähigkeit der Empathie verliert, hat eine chronische Angst, die Kontrolle über andere Menschen zu verlieren.

Wenn wir von Grenzüberschreitung sprechen, nähern wir uns den religiösen Erfahrungen. Welcher Zusammenhang besteht zwischen Drogen und mystischer Welterfahrung?

Diese Bereiche durchwirken sich. Es gibt zwar voll säkularisierte Rauschkulturen, aber man findet nur wenige mystische Erfahrungen, wo Drogen keine Rolle spielen und andererseits wenig Rauschkulturen, wo spirituellen Beweggründe keine Rolle spielen. Insofern können die heutigen Rauschkulturen nicht nur Zeichen der Ausdifferenzierung von Lebensstilen sein, sondern auch eine neue Form der Spiritualität und Religiösität. In Deutschland ist dies allerdings nicht so ausgeprägt, weil hier die Säkularisierung ausgesprochen erfolgreich gewesen ist. Hier steht der Hedonismus im Vordergrund.

Interessant ist auch der Zusammenhang von Drogenkultur und dem Internet. Ist darüber schon nachgedacht worden?

Von mir nicht. Aber sagen Sie mal was dazu.

Gesellschaftliche Randgruppen fanden im Internet schnell eine Plattform, um ihre Anliegen an eine spezielle Öffentlichkeit zu bringen. An keinem anderen Ort gibt es so vorurteilsfreie, fundierte Informationen über psychoaktive Substanzen. Und das ohne moralische Bewertung. Die Ideen der amerikanische Cyber-Bewegung fußen zum großen Teil auf Erfahrungen mit Drogen. Faszinierend scheint auch hier -wie bei den religiösen Erfahrungen- die gedachte Möglichkeit zu sein, als reale und virtuelle Person gleichzeitig zu existieren. Ich sitze vor dem Rechner, bin aber gleichzeitig als Diskussionsteilnehmer in Asien. Es erfüllt sich also der Wunsch nach Transzendenz.

Die die Menschen immer schon gesucht haben. Und es war immer schon mit das aufregendste und tiefreichendste Erlebnis für Menschen, die sonst unausweichlichen Bedingungen unserer Wahrnehmung, nämlich Raum und Zeit, zu überwinden.

Kant nahm ja an, daß Raum und Zeit a priori gegeben sind. Und es gibt ja durchaus Zustände, in denen das Subjekt feststellt, daß dem nicht so ist.

Kant sah Raum und Zeit eben als Bedingungen unserer Wahrnehmung und nicht als gegebene Objekte an. Ob Raum und Zeit existieren, darüber hat Kant nichts gesagt. Nur waren Raum und Zeit für ihn unverrückbare Teile unseres Bewußtseins; wir sind nach Kant unfähig, anders als in Zeit und Raum zu denken und wahrzunehmen. Die mystischen Erlebnisse, die Kant nur unzureichend gewürdigt hat…

…er saß ja lieber in seiner Stube in Königsberg.

…zeigen aber gerade die Möglichkeit, an diesen Gitterstäben unseres Gedankengefängnisses zu sägen. Und warum sollte es illegitim sein, aus diesem Gefängnis ausbrechen zu wollen? Und die mystischen Erfahrungen gehen seit Jahrhunderten ganz beharrlich genau auf diesen Punkt ein.

Zurück zu Konkretem. Wie wird juristisch begründet, daß der Staat in das durch das Grundgesetz normierte Persönlichkeitsrecht, welches ja auch die Wahl der Genußmittel einschließt, eingreifen darf?

Auch dieses in der Verfassung stehende Grundrecht hat Schranken. Dies sind zum einen die Rechte anderer, aber auch die allgemeinen Gesetze. Wenn also ein anderes Gesetz das Persönlichkeitsrecht einschränkt, dann ist das eine legitime Grenze. Dieses Gesetz wird dann bei Bedarf vom Bundesverfassungsgericht daraufhin untersucht, ob es im Lichte des allgemeinen Persönlichkeitsrecht dieses zu sehr einschränkt.

Die Schranken haben also ihre Schranken.

Nach den Gesetzen der formalen Logik kommt man da nicht sehr viel weiter. Letztlich wird geprüft, ob die Schranken verhältnismäßig sind. Nach 500 Seiten juristischer Argumentation ist man faktisch nicht sehr viel weiter, denn es stellt sich natürlich die Frage: Was sind die Kriterien für die Verhältnismäßigkeit? Das Verfassungsgericht stellte im Zusammenhang mit der Cannabis-Entscheidung dann zwei Fragen: Einerseits: Wie wichtig ist die Freiheit, psychoaktive Substanzen zu sich zu nehmen? Gehört Sie zum Kern des Persönlichkeitsrechts? Und andererseits: Wie groß ist das Risiko? Diese beiden Güter wurden gegeneinander abgewogen, wobei das Gericht sagte: die freie Wahl der Rauschmittel ist kein zentrales Recht, aber die damit verbundenen Risiken wären enorm hoch. Also darf der Gesetzgeber das verbot aussprechen beziehungsweise beibehalten.

Und ihre Meinung?

Ich halte es für den Kern des Kernbereichs, daß man darüber entscheiden darf, wie man sich nach außen darstellt: Ob man rote oder grüne Kleidung trägt, ob man die Haare lang oder kurz hält, ob man zum Mittag Kartoffelbrei, Tütensuppe oder einen griechischen Hirtensalat ißt; diese Entscheidungen sollten dem Menschen selbst überlassen bleiben. Und dies gilt für die Zusammenstellung aller Genußmittel.

Der Hüter der Verfassung ging einen anderen Weg.

Das Gericht zählte das Recht auf Rausch nicht zum Kernbereich der Freiheit. Das Gewicht des Rechts auf Rausch wog für die Richter nicht so schwer wie die Risiken, die auch benannt wurden: Drogenhandel, Gefährdung der Jugendlichen und unklare medizinische Auswirkungen. Für diese Argumentation braucht man eigentlich keine Juristerei. Die spezifisch juristischen Begründungen sind genaugenommen Vernebelung, denn sie führen von der Sache her nicht weiter. Auch die Quellen und Beweisaufnahmen die für die Entscheidungsfindung benutzt wurden, waren unter Niveau und nicht auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand.

Zum Ende: Wagen Sie einen Ausblick auf die zukünftige Entwicklung in Sachen Cannabis?

Die Befürchtung die ich früher stark hatte, daß die Cannabis-Legalisierungsdebatte zu Lasten der anderen Drogen geht, hat sich zerstreut. Die Pro-Cannabis Aktivitäten haben bisher nicht dazu geführt, daß Cannabis liberaler behandelt wird und andere Drogen stärker sanktioniert werden. Ich wollte nie reine Cannabis-Fälle politisch wie justiziell verarbeitet sehen, sondern die Freiheit jedweden Drogenkonsums erreichen.

Behr beispielsweise will das unbedingt getrennt behandeln.

Ich sehe nur, daß es offensichtlich sehr viel erfolgreicher war, Cannabis von den anderen Drogen zu trennen und einen Sonderweg zu gehen. Der ist zwar auch nicht so durchgreifend, wie ich erhofft hatte, aber ich habe heute nicht mehr die Befürchtung, daß diese Trennung zu Lasten der sogenannten harten Drogen ausschlägt. Insgesamt läßt sich feststellen, daß die veröffentlichte Meinung über Cannabis günstiger und teilweise objektiver als früher ist. Und das liegt maßgeblich an der Initiative von Wolfgang Neskovic. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist trotz allem immerhin ein winziger Schritt in Richtung auf die Normalisierung der Cannabis-Frage. Gegenreaktionen der Konservativen bleiben natürlich nicht aus, aber ich möchte bezweifeln, daß man die Debatte auf den Stand vor Neskovic zurückschrauben kann.

 

Sebastian Scheerer, geboren 1950, ist Mitherausgeber des Buches „Drogen und Drogenpolitik“, Frankfurt am Main, 1989. Im Rowohlt Verlag ist 1997 „Sucht“ erschienen.

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Interview mit James S. Ketchum über chemische Kriegsführung

telepolis, 15.08.2004

Chemische Kriegsführung

Ein Interview mit James S. Ketchum über fast vergessene Geheimnisse

Eine Menge wurde über die geheimen Experimente geschrieben, die die CIA während der Fünfziger und frühen Sechziger mit psychoaktiven Drogen, insbesondere LSD, durchgeführt hat. Diese Projekte namens „Bluebird“, später „Artichoke“ und „MKULTRA“ testeten den möglichen Einsatz zur Bewusstseinskontrolle und als Wahrheits-Serum. In zahlreichen Fällen wurden unwissenden Versuchspersonen diese Drogen verabreicht allein um zu beobachten, was passieren würde. Zu diesem Zweck führte die CIA sogar ein Bordell. Diese ziemlich anarchischen Aktivitäten im Rahmen des Kalten Krieges wurden in den Siebzigern öffentlich bekannt. Der Fall von Frank Olson, der kurz nachdem er LSD verabreicht bekommen hatte aus einem Fenster sprang oder geworfen wurde und starb, geriet ins Zentrum vieler Spekulationen. Außerdem wurde ein erheblicher Teil der umfangreichen wissenschaftlichen Forschung an LSD während dieser Zeit durch getarnte CIA-Fonds subventioniert.

Weniger bekannt ist die Tatsache, dass die US-Armee ihr eigenes chemisches Forschungszentrum hatte, das Edgewood Arsenal nordöstlich von Baltimore, wo sie auf wissenschaftlicher Basis eine Reihe von psychoaktiven Substanzen und ihre Anwendung als handlungsunfähig machende Wirkstoffe testete, darunter BZ und andere Belladonnoid-Glycolate und LSD.

Der Psychiater James S. Ketchum hat tatsächlich dort gearbeitet und den ersten umfassenden Bericht darüber geschrieben, was dort in den Sechzigern geschah. Sein kürzlich im Selbstverlag in Englisch veröffentlichtes autobiographisches Buch „Chemische Kriegsführung. Fast vergessene Geheimnisse. Eine persönliche Geschichte der Medizinischen Tests an Armee-Freiwilligen mit handlungsunfähig machenden chemischen Wirkstoffen während des Kalten Krieges (1955-1975)“ ist, reich bebildert und mit einzigartigen wissenschaftlichen Daten und Dokumenten bezüglich einiger ziemlich obskurer Substanzen vervollständigt, eine wahre Fundgrube sowohl für Sechziger Jahre-Historiker als auch Psychoaktiva-Afficionados.

Frage: Viele Menschen fürchten sich mehr vor psychoaktiven Substanzen, wenn sie als Waffen benutzt werden um Feinde in einer Kriegssituation handlungsunfähig zu machen, als vor den „traditionellen“ Waffen, Kugeln, Granaten und Bomben, die schwere körperliche Verletzungen oder den Tod sowohl von Soldaten als auch Zivilisten verursachen. Wie erklärst du dir diesen offensichtlichen Widerspruch?

James S. Ketchum: Meinem Gefühl nach hat die Öffentlichkeit im Angesicht exzessiver Geheimniskrämerei ein Mißtrauen gegenüber Regierungsabsichten entwickelt und wird dadurch von Kritikern in den Medien leicht dazu verführt zu glauben, dass jeder Gebrauch einer Chemikalie als Waffe zwangsläufig grausam und unmoralisch sei. Mangel an Wissen über handlungsunfähig machende Substanzen ist ein weiterer wichtiger Grund. Chemische Kriegsmaterialien mit geringem Tötungsrisiko werden unangebracht als Massenvernichtungswaffen klassifiziert. Das allgemeine Versäumnis, diese Unterscheidung zu treffen, ist bedauerlich. Es ähnelt dem Fehler Marijuana nicht von wirklich schädlichen Drogen wie Kokain und Heroin (ganz zu schweigen von Alkohol und Tabak) zu unterscheiden.

Frage: Von 1955 bis 1975 wurden insgesamt 3200 Freiwillige chemischen Wirkstoffen ausgesetzt, die ihnen zum Zwecke militärischer Forschung verabreicht wurden. Wie müssen wir uns vorstellen, was im Edgewood Arsenal geschah?

James S. Ketchum: Ich denke, das Bild sollte eines von ernsthafter Forschung sein, die mit bereitwilligen Freiwilligen gemacht wurde, mit dem Ziel angemessene Abwehrmöglichkeiten gegen möglicherweise einsetzbare chemische Waffen zu finden, indem man ihre Wirkungen auf den Menschen in einer Laborumgebung studierte, die darauf angelegt war, Sicherheit zu gewährleisten und widrige Wirkungen zu minimieren. Ein zweites Ziel war es alternative, humanere Waffen zu liefern, um bestimmte Missionen mit minimaler Todesrate durchführen zu können.

Frage: Du hast ausführlich BZ und andere Belladonnoide untersucht, die ähnlich den Nachtschatten-Alkaloiden Atropin und Skopolamin wirken, aber viel länger, 72 Stunden und mehr. Die Menschen unter ihrem Einfluss tendieren dazu lächerliche und sinnlose Dinge zu tun, zumindest aus Sicht eines Beobachters, und erinnern nicht viel, wenn sie wieder in die Normalität zurückkehren. Hast du jemals länger anhaltende Komplikationen nach den kontrollierten Tests mit den Belladonnoiden oder LSD beobachtet oder davon gehört?

James S. Ketchum: Ich weiss, dass einige Veteranen heute behaupten, 30 bis 50 Jahre nach einem kurzen Kontakt als Freiwilliger mit einer oder mehrerer Chemikalien in Edgewood, dass sie in Folge eines unerwarteten verzögerten toxischen Effektes auf Grund ihrer damaligen chemischen Erfahrung verschiedene Krankheiten entwickelt hätten. Wie auch immer, umfassende Nachuntersuchungen 1980 (für LSD) und 1982 (für Belladonnoide) haben keinen signifikanten Anstieg der Erkrankungsziffer oder der Sterblichkeit unter früheren Freiwilligen festgestellt, die eine Substanz erhielten, gegenüber denen, die keine bekamen. Man kann etwas Negatives niemals beweisen, aber es wäre meiner Ansicht nach bemerkenswert, wenn eine winzige Dosis einer Droge, die während der medizinischen Auswertung zwei Wochen nach der Zufuhr keine schädlichen Wirkungen erkennen ließ, auf irgendeine Weise Jahre später Schäden verursachen würde. So ist zum Beispiel nichts über verzögerte Schäden als Folge des persönlichen Gebrauchs von LSD in höheren Dosierungen oder größerer Frequenz, als wir sie getestet haben, bei diesen Konsumenten bekannt. (Geschätzte 10% der US-Bevölkerung haben LSD zumindest einmal genommen.) LSD ist heute nach wie vor als Freizeit- und psycho-spirituelle Droge beliebt.

Frage: Hat irgendjemand die Belladonnoid-Erfahrung genossen?

James S. Ketchum: Ein Individuum, ein früherer Heroin-Süchtiger, erlebte einen ruhigen, angenehmen Zustand nach einer handlungsunfähig machenden Dosis Atropin. Tatsächlich sagte er, die beiden Drogen fühlten sich ähnlich an. Wie auch immer, im Allgemeinen fanden die Freiwilligen, die Belladonnoid-Drogen erhielten (im Gegensatz zu dem manchmal Euphorie hervorrufenden LSD) kein Vergnügen an den frühen Wirkungen der Droge, hauptsächlich auf Grund der Ruhelosigkeit, die große Dosierungen während der Anfangsphase meist bewirken. Im Anschluss an die Erholungsphase erinnerten die Probanden allerdings meist kein ernsthaftes Unbehagen mehr, und einige fühlten sich sogar belebt.
Wie ich in meinem Buch herausstelle, wurde Atropin um 1950 herum in der „Koma-Therapie“ in den USA, Japan und Polen (und vielleicht noch woanders) in Dosierungen bis zu 20 mal so hoch wie die handlungsunfähig machende Dosis benutzt. Es wurde psychiatrischen Patienten verabreicht, ohne dass es zu drogenbedingten Todesfällen oder bleibenden Hirnschäden kam. Ein hoch qualifizierter Akademiker, der als von schweren Zwangsvorstellungen geplagter Arzt beschrieben wurde, war in der Lage, in verbessertem Zustand erfolgreich in seine Praxis zurückzukehren nachdem er ein Dutzend oder mehr Behandlungen mit Atropin in Dosierungen von 50 bis 200 mg erhalten hatte (4 – 16 mal so hoch wie die höchste Dosis, die wir jemals unseren Freiwilligen verabreicht haben). Auch wenn sie üblicherweise nicht genossen, bis zu 72 oder 96 Stunden lang delirös zu sein, so waren zumindest ein Dutzend der Freiwilligen bereit, den Test (ohne irgendeinen Zwang) zu wiederholen. Ich fragte eine Versuchsperson, was er dafür verlangen würde, wenn wir ihm anbieten würden, ihn dafür zu bezahlen, eine zweite Dosis zu nehmen, und er antwortete nach einigem Nachdenken: „Etwa 25 Dollar“.

Frage: Was sind die hauptsächlichen Risiken des Gebrauchs von Belladonnoiden als handlungsunfähig machende Wirkstoffe?

James S. Ketchum: Wie ich es sehe, bestehen zwei Gefahren: Erstens kann in einer heißen Umgebung ein Hitzschlag drohen, wenn nicht rechtzeitig Behandlung erfolgt; zweitens könnte desorganisiertes Verhalten, besonders nach Wiedererlangen der Bewegungsfähigkeit, zu unbeabsichtigten Verletzungen und Tod führen. In beiden Fällen sind strenge medizinische Überwachung und unverzügliche Behandlung die Schlüssel um solche Probleme zu verhindern, wenn sie bevorzustehen scheinen.

Frage: Die Armee hat große Mengen BZ hergestellt. Was für eine Art von Szenario könnte das Vorspiel für den Einsatz von BZ als psychochemischer Waffe gewesen sein?

James S. Ketchum: Ich denke, BZ (oder jedes andere Belladonnoid) könnte nur effektiv sein, wenn es in einem definierten, vorzugsweise beschränkten Gebiet eingesetzt werden würde, aus dem ein Entkommen verhindert werden kann, und ausreichend Zeit besteht um die erwünschten Wirkungen zu erreichen. Wenn zum Beispiel feindliche Kämpfer eine Botschaft besetzen würden, könnten BZ-artige Wirkstoffe benutzt werden, um es sicherer zu machen einzudringen und Geiseln zu befreien, während man gleichzeitig die „Übeltäter“ festnimmt. Logistische und operative Entscheidungen würden taktische Experten erfordern, um die Details auszuarbeiten. Ich persönlich würde nicht vorschlagen, solch eine Waffe für den Gebrauch durch den normalen Soldaten zur Verfügung zu stellen, außer er hätte eine umfassende Spezialausbildung erhalten.

Frage: Ihr habt den Gebrauch des Kalabarbohnen-Alkaloides Physostigmin als ein effektives Gegenmittel um die Belladonnoid-Wirkungen zu verkürzen wiederentdeckt, eine ziemlich interessante Errungenschaft. Wurden im Edgewood Arsenal noch andere wissenschaftlich wertvolle Entdeckungen gemacht?

James S. Ketchum: Ich denke, dass die systematische Charakterisierung verschiedener Belladonnoid-Wirkstoffe (und einiger anderer) eine akademische Basis bietet, um für diese Substanzen Struktur-Aktivitäts-Beziehungen in einem Maß abzuleiten, wie es zuvor nicht möglich war, außer für Tiere. Die Entwicklung des ersten zuverlässigen Bluttestes für LSD und das Herausfinden, dass Thorazin-artige Drogen hier als Behandlung ungeeignet sind, sind andere Beispiele. Viele neue Evaluations- und Test-Prozeduren wurden erarbeitet, die bei zukünftigen Humanstudien an Freiwilligen behilflich sein könnten.

Frage: Wie verliefen die LSD-Trips in der kontrollierten Umgebung eines Armee-Forschungslabors? Wurden zumindest einige der Versuchspersonen während ihrer Trips spirituell beeindruckt oder erleuchtet?

James S. Ketchum: Es ist schwer zu sagen. Wir waren hauptsächlich an den Leistungsänderungen unter verschiedenen Dosierungen interessiert. Auf Grund sorgfältiger Auswahl und Vorbereitung sowie ausreichend Zeit, um mit dem Personal und den anderen Freiwilligen vertraut zu werden, fühlten sich die Versuchspersonen in der Testsituation normalerweise wohl. Wir beobachteten viele Variationen in den Details ihrer Reaktionen, aber wenige schlechte Trips. Ich beobachtete eine vorteilhafte Veränderung im Selbstbild eines Soldaten nachdem er das, was ein schlechter Trip zu sein schien, mit seinen Kameraden diskutiert hatte. Sie boten ihm Unterstützung, und er war in der Lage, seine Sorgen bezüglich seiner sexuellen Fantasien gegenüber den Krankenschwestern zu offenbaren, was seine Angst linderte. Als er in seine Heimat-Einrichtung zurückgekehrt war, erfuhren wir indirekt, dass seine Persönlichkeit weniger introvertiert geworden war und seine sozialen Kompetenzen sich verbessert hatten.
Weil es unsere Absicht war, Veränderungen in der Leistungsfähigkeit zu messen und nicht persönliche Erleuchtung, ist es schwer zu sagen, welche persönlichen Vorteile in der spirituellen Dimension stattgefunden haben mögen. Es wäre schön, glauben zu können, dass sie zumindest in einigen Versuchspersonen auftraten, aber wir haben zu diesem Aspekt keine systematischen Daten gesammelt.

Frage: Hattet ihr irgendeine Medikation um einen angsterfüllten und erschreckenden LSD-Trip zu beenden oder abzukürzen?

James S. Ketchum: Wie erwähnt, waren schlechte Trips selten. Ich kann mich nicht erinnern, bei den Versuchspersonen, die ich getestet habe, jemals Tranquilizer (wie Valium oder ein Barbiturat) geben zu müssen, aber da einige der Tests von anderen Ärzten überwacht wurden, kann ich keine definitive Antwort geben. Natürlich hätten wir ein Beruhigungsmittel verabreicht, wenn eine wirklich verstörende Wirkung aufgetreten wäre. Wie auch immer, die Dosierungen des LSD waren normalerweise klein oder moderat (das heißt 50-150 mcg), und panische Reaktionen treten in diesem Dosisbereich selten auf.
Frage: Was habt ihr über die Einsatzfähigkeit von LSD in einer Kampfsituation herausgefunden?

James S. Ketchum: Ich beobachtete, dass bei einem Test, der an der chemischen Forschungsanstalt in England in Porton Down gefilmt worden war, bei einer trainierten Gruppe britischer Kommandos LSD in Dosen von 150 mcg totale Desorganisation hervorrief. In sowohl den britischen als auch den amerikanischen Tests mit LSD wurden keine gewalttätigen Aggressionen beobachtet. Höhere Dosierungen tendierten allerdings dazu, mehr Reizbarkeit und verbale Feindseligkeit hervorzubringen. Mein Hauptbedenken bezüglich der Einsatzfähigkeit von LSD in einer Kampfsituation wäre der Verlust an Hemmungen und Disziplin. Weil der Betroffene noch in der Lage sein mag, Waffen abzuschießen oder Raketen abzufeuern. LSD würde gegen schwer bewaffnete Gegner eine gefährliche Wahl darstellen. Die Kommandeure am Edgewood Arsenal empfanden ebenso, und LSD wurde niemals zur Bewaffnung zugelassen.

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Frage: Seltsamerweise schafftest du es von 1966 bis 1968 eine zweijährige Studienphase an der Stanford Universität einzuschieben und hast so die Chance erhalten, den „Sommer der Liebe“ in San Francisco persönlich zu bezeugen. Du hast sogar an der Haight-Ashbury Free Clinic gearbeitet. Wie hast du den „Sommer der Liebe“ erlebt? Was hast du über diese jungen Leute gedacht, die einige der Drogen nahmen, die du als handlungsunfähig machende Wirkstoffe getestet hattest, insbesondere LSD?

James S. Ketchum: Ich war fasziniert vom Sommer der Liebe und schaffte es einige Male von Palo Alto nach San Francisco zu fahren und ihn aus erster Hand zu beobachten. Indem ich eine Nacht in der Woche als freiwilliger Arzt in der Klinik arbeitete, begegnete ich einer ziemlichen Vielfalt an LSD-Reaktionen. Ich versuchte außerdem mit einigen wenigen Individuen auf einer wöchentlichen Basis Psychotherapie zu machen. Es war mein Eindruck, dass diese frühen Hippies oft spirituell veranlagt waren und LSD für Einsicht und Selbst-Erleuchtung nutzten. Unglücklicherweise nahmen sie es manchmal zur falschen Zeit und am falschen Ort und oft in exzessiv hohen Dosen, was zu einer Welle von Notaufnahmestationsbesuchen führte.
Ich glaube nicht an die Sinnhaftigkeit einer Politik, die es Privatpersonen verbietet psychedelische Drogen einzunehmen, aber ich empfehle kenntnisreiche Supervision und gebührende Absichten. Wie auch immer, der Gebrauch bewusstseinsverändernder Drogen durch Teenager ist nicht ratsam und sollte aus Gründen der psychischen Gesundheit mißbilligt werden; Drogen können das Lernen beeinträchtigen und das Studium durch „High werden“ ersetzen, sich der Zeit und des klaren Verstandes für mehrere Stunden bemächtigen. Medizinische Behandlung für die, die nicht vom Drogenmißbrauch Abstand nehmen können, macht für mich viel mehr Sinn als Gefängnis, außer im Falle der Individuen, die sich auf gefährliches antisoziales Verhalten einlassen oder Anderen Schaden zufügen.
Frage: In den Sechzigern begann die Einnahme psychoaktiver Substanzen zur Unterhaltung Bestandteil westlicher (Jugend-)Kultur zu werden. Was denkst du, wie wir mit diesem Phänomen umgehen sollen?

James S. Ketchum: Die Politiker unseres Landes haben die negativen Auswirkungen von Drogen bis zu dem Punkt propagiert, an dem wir tausende ansonsten unschuldiger Individuen einsperren und Milliarden ausgeben um Drogen unerhältlich zu machen. Diese Strategie hat tatsächlich unsere Probleme verschlimmert, Kartelle bereichert, Morde gefördert und Geld aus unserer Ökonomie abgezogen, das besseren Zwecken gedient haben könnte. Von allen drogenbedingten Todesfällen, so schätzt man, werden 99 Prozent durch Zigaretten und Alkohol bedingt, während die den illegalen Drogen zuzuschreibenden Todesfälle nur 1 Prozent umfassen. Diese Strategie der Prävention zu überdenken und bessere Erziehung und attraktive Optionen zum Drogengebrauch zu bieten, würde gleichzeitig rationaler erscheinen und eine weniger kostspielige Herangehensweise an Drogenmißbrauchsprobleme darstellen.

Frage: Was denkst du im Rückblick über die Moralität und den Nutzen deiner Arbeit am Edgewood Arsenal?

James S. Ketchum: Ich war stolz auf die Arbeit, die wir in Edgewood machten, und glaubte, sie wäre moralisch gerechtfertigt, insbesondere im Kontext der Zeit. Wir befanden uns inmitten eines Kalten Krieges, dessen zukünftige Ausrichtung ungewiss war. Nichtsdestotrotz war es unsere Absicht, chemische Methoden der Schadensbegrenzung zu finden. Wir taten alles, was wir konnten, um wahre Informationen für mündige Entscheidungen zu liefern. Als abschließende Überlegung sollte die Wichtigkeit zu Lernen, wie man die Drogen, die wir studiert haben, behandelt und sie, wenn notwendig, einsetzt, gegen das minimale Risiko der Schädigung der Freiwilligen abgewogen werden.
Risiken sind jedem Experiment inhärent. Die Soldaten, die an unseren Studien teilnahmen, verrichteten einen wichtigen Dienst für ihr Land und sollten geschätzt werden für ihre Bereitwilligkeit Risiken einzugehen im Interesse der nationalen Verteidigungsfähigkeit im Falle einer psychochemischen Kriegsführung. Insofern da wir alles taten, was wir konnten, um die Tests so sicher wie möglich zu machen und uns um Zustimmung auf Basis wahrer Informationen bemühten (trotz Behauptungen des Gegenteils), glaube ich, dass unsere Arbeit tatsächlich ethisch war.
Das Buch:

James S. Ketchum
Chemical Warfare. Secrets almost forgotten. A Personal Story of Medical Testing of Army Volunteers with Incapacitating Chemical Agents During the Cold War (1955-1975)
Foreword: Alexander Shulgin
Hardcover, Großformat, 360 S., zahlreiche Abb.
Santa Rosa, California 2006
49.95 US-Dollar
ISBN 978-1-4243-0080-8

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Drogenpolitik Interviews Interviews Psychoaktive Substanzen

Interview mit Günther Amendt über Doping und die Pharmakologisierung des Alltags

telepolis, 15.08.2004

„Der Leistungssport wird seine ‚Unschuld‘ nie wieder zurückgewinnen“

Interview mit Günter Amendt, Experte für Drogenökonomie und Drogenpolitik, über Doping, die Pharmakologisierung des Alltags und das Scheitern der Prohibition

Amendt

Seit nunmehr 30 Jahren untersucht Günter Amendt die Wirkung von Drogen auf Menschen – auf diejenigen, die sie verkaufen, auf die, die sie konsumieren, und auf die, die sie kontrollieren. Schon 1972 veröffentlichte er das inzwischen mehrfach aktualisierte Buch „Sucht. Profit. Sucht“. Darin analysierte er zusammen mit Ulli Stiehler die politische Ökonomie des Drogenhandels. Seine Analyse des internationalen Kampfes gegen die Drogen führte Amendt über die Jahre immer mehr zu dem Schluss, dass die Prohibition einer der größten politischen Fehler des 20. Jahrhunderts gewesen sei. Sein Argument: Erst das Verbot schaffe den globalen Drogenhandel, darum sei dieser Schaden größer als das Risiko der Legalisierung. Im Interview lässt der Hobby-Radsportler Amendt, Jahrgang 1939, die Ereignisse der Tour de France Revue passieren, wagt einen Ausblick auf das Doping bei den Olympischen Spielen und weist auf die Gefahren einer medikamenten- und substanzfixierten Gesellschaft hin.

Herr Amendt, bei der diesjährigen Tour de France waren sich Radfahrer, Organisatoren und Sponsoren mal wieder einig: Doping ist die Ausnahme, Doping ist das, was die anderen machen. Ist das nicht ein bewusster Irrtum? Und wenn ja, warum wird er so vehement verteidigt?

Günter Amendt
Außer dem jungen Thomas Voeckler, der möglicherweise für eine neue Generation von Fahrern steht, die ohne chemische Hilfsmittel vorankommen wollen, war unter den Spitzenleuten der diesjährigen Tour kaum einer, der nicht bereits des Doping überführt worden wäre oder unter Dopingverdacht geraten ist. Juristisch gilt die Unschuldsvermutung, moralisch die Schuldvermutung, denn die Tour de France wird, wie der französische Sportminister es ausdrückte, beherrscht von einer „Kultur des Doping“. Daran hat sich nichts geändert. Niemand bei klarem Verstand glaubt dem Geschwätz der Funktionäre und der Sponsoren-Sprecher, wenn die das Gegenteil beteuern.
Wie gehen wir als Publikum und Radsportler mit diesem Wissen um? Diese Frage hat mich bei der diesjährigen Tour besonders beschäftigt. Da wir ein Gespräch über Doping im Sport verabredet haben, sollte ich zum besseren Verständnis vorausschicken, dass ich mich schon als Junge für Sport zu interessieren begann und dass ich seit Jahren auf dem Niveau eines Freizeitsportlers alleine oder mit einer Gruppe von Freunden auf dem Rennrad unterwegs bin. Ich lebe also im ständigen Widerspruch einer Leidenschaft für den Radsport (und den Fußball) und dem Wissen und den Erkenntnissen über deren Schattenseiten. Vor diesem Hintergrund kann ich nicht umhin, Armstrongs sechsten Toursieg als eine gigantische sportliche Leistung zu bewundern. Armstrongs Auftritt war die ebenso beeindruckende wie abstoßende Demonstration eines unbeugsamen Leistungswillens.

Aber was unterscheidet Armstrong von Voeckler? Der Glaubwürdigkeitsgrad seiner Beteuerungen? Anders gefragt: Kann man ohne Doping bei 3400 Kilometern mit über 40km/h Durchschnittsgeschwindigkeit überhaupt vorne mitfahren?

Günter Amendt
Armstrong ist ein Mann unter Verdacht. Voeckler nicht – vielleicht auch nur: noch nicht. Natürlich kann ich mir nicht vorstellen, wie man solche Spitzenleistungen ohne chemische Hilfsmittel zustande bringen soll. Ich werde jedoch den Verdacht nicht los, dass sich Teile des Publikums und der Medienöffentlichkeit längst mit der Dopingrealität arrangiert haben. In Europa findet eine Anpassung statt an US-amerikanische Verhältnisse, wo der Sportler als Gladiator wahrgenommen und akzeptiert wird. Armstrongs Status in Europa, die Antipathie, die ihm entgegenschlägt, hat weniger mit dem Dopingverdacht zu tun, dem er – zugegeben – massiv ausgesetzt ist, was ihm verübelt wird, ist diese spezifisch US-amerikanische Siegermentalität, die er cool nach außen trägt, was ihm den Ruf der Arroganz einträgt. Armstrong ist ein kalter Sportheld. Doch man muss sich entscheiden – wer professionellen Leistungssport will, muss in Kauf nehmen, dass unter den Bedingungen des Neoliberalismus sportethische Kriterien nichts mehr zählen. So ist das System. Das Gerede von Armstrongs Kannibalismus ist einfach nur lächerlich. Das ganze System ist kannibalisch. Und dazu gehört: der Gegner muss nicht nur besiegt, er soll auch gedemütigt werden. The winner takes it all für sich und für sein hierarchisch geführtes Team, das sich ganz in den Dienst seines Kapitäns zu stellen hat und im Gegenzug die Siegprämie beanspruchen darf. Das nennt man Professionalismus. Ich wüsste nicht, was es daran zu kritisieren gäbe. Und doch hat Armstrong die Schraube überdreht. Sich bei einem Ausreißversuch seines italienischen Intimfeindes an dessen Hinterrad zu hängen und den Sheriff zu spielen, war too much. Das hat ihn beim Buhlen um die Gunst des Publikums Punkte gekostet und selbst Sympathisanten abgestoßen. Dieser Typ von Amerikaner hat derzeit schlechte Karten in Europa.

Sportliche Großereignisse, Doping, die Massenmedien und der Staat

Wie bekommt der Sport das Doping in den Griff?

Günter Amendt
Doping ist mehr als nur ein sportinternes Problem. Bei allen sportlichen Großereignissen ist der Staat involviert. Weil sportliche Leistungen noch immer als Ausdruck der nationalen Leistungsfähigkeit weit über den Sport hinaus gelten, fördert der Staat seine Hochleistungssportler – oft über den Umweg der Armee und der Polizei. Olympische Spiele sind immer auch Armee- und Polizeifestspiele – innerhalb wie außerhalb der Stadien. Erhält ein Land den Zuschlag als Veranstalter eines Großereignisses, werden zusätzlich gigantische Summen aus Steuermitteln in Stadionneubauten und in Infrastrukturmaßnahmen gesteckt. Nach dem „Event“ stehen die Stadionbauten allzu oft als Investitionsruinen in der Landschaft herum. Jüngstes Beispiel für einen skandalösen Fehleinsatz staatlicher Mittel ist Portugal, das nach der Fußball-Europameisterschaft zwar überdimensionierte Stadien vorzuweisen hat, dafür aber nicht genügend Wasserflugzeuge und Hubschrauber bei der Waldbrandbekämpfung zur Verfügung hatte.

Folgt man dieser Logik, dann können Großveranstaltungen dieser Art nur noch in voll entwickelten Industrienationen stattfinden, wo Markt und Fans eh nach neuen Stadien rufen.

Günter Amendt
Ob die Fans tatsächlich nach neuen Stadien rufen, sei dahingestellt. Ich habe da meine Zweifel, wenn ich etwa an das Fan-Publikum von 1860 München denke, das sich gegen den Umzug vom Grünwalder- ins Olympiastadion stemmte. Wenn man mit Mitgliedern von Fan-Gruppen kleinerer Bundesligavereine spricht, wird man in seinen Zweifeln bestärkt. Da wird oft der Verdacht geäußert, mit dem Neubau von Stadien solle gleich auch das Publikum ausgetauscht werden. Aber das ist ein anderes Thema. Was die Veranstaltung von sportlichen Großereignissen betrifft, stimme ich Ihnen zu: nur entwickelte Industrienationen sind dazu in der Lage. Das heißt aber noch lange nicht, dass sich der ganze Aufwand am Ende ökonomisch rechnet. Mangelnde Auslastung, Leerstand und enorme Folgekosten belasten die Haushalte der kommunalen Träger oft über Jahre hinaus. Handelt es sich um private Träger, dann schlagen sich deren Verlustabschreibungen in Form von Steuermindereinnahmen in den Haushalten nieder.

Heißt das, der Staat soll sich aus der Sportförderung zurückziehen?

Günter Amendt
Als Gegenleistung für sein finanzielles Engagement verlangt der Staat einen „sauberen Sport“, denn nur ein „sauberer Sport“ kann die ihm zugedachte Rolle als Vermittler von Werten wahrnehmen. Doch um welche Werte geht es da eigentlich? In der diesjährigen Tourberichterstattung von ARD und ZDF wurde deutlich, dass es darüber keinen Konsens gibt. Als der Chef von T-Mobile Jan Ullrich bescheinigte, er sei keine „Bestie“ und kein „Killer“, gab der Ex-Profi Rolf Gölz als Co-Kommentator des ZDF zu bedenken, man könne das auch als Kompliment verstehen, während sein Kommentatoren-Kollege wie auch der Chef der ZDF-Sportredaktion sich diesen Vorwurf voll zueigen machten. Und kaum war ein Mitglied des T-Mobile-Teams an Ullrich vorbeigezogen, wurde die Frage aufgeworfen, ob Ullrich nicht die Kapitänsbinde an Andreas Klöden abgeben müsse. Mit seiner Weigerung, diesem Vorschlag auch nur gedanklich nahezutreten, setzte sich auch Klöden dem Verdacht aus, keine Bestie und kein Killer zu sein. Die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, die ihrerseits erhebliche Mittel für die Berichterstattung einsetzen, brauchen deutsche Siege, um ihren Mitteleinsatz zu rechtfertigen und das Publikum am Bildschirm zu halten. Über das T-Mobile-Team wird berichtet, als sei es die deutsche Radsport-Nationalmannschaft.

Nun, Ullrich, das „schlampige Genie“, wie er ja gerne genannt wird, ist ja nun mal auch ein nationaler Held. Und wenn es eine Nationalmannschaft gäbe, wäre Ullrich der Kapitän.

Günter Amendt
Mir ist es völlig egal, ob die Fans schwarz-rot-goldene oder magentafarbene Fahnen schwenken. Ich würde weder das eine noch das andere tun. Tatsache ist jedoch, dass Ullrich seinem Beruf als Radrennfahrer im Dienste eines Konzerns und nicht im Dienste der Bundesrepublik Deutschland nachgeht. Das ist einer der vielen Widersprüche in der Diskussion, den ich im Dopingkapitel meines Buches „No Drugs – No Future. Drogen im Zeitalter der Globalisierung“ bereits thematisiert habe: „Das Bemühen, Sport im Zeitalter der Globalisierung als nationale Klammer zu benutzen, ist eher gewachsen, steht allerdings in Konkurrenz zu den Anstrengungen global operierender Konzerne, an die Stelle von nationalen Symbolen die Logos von Firmen zu setzen.“
Dass eine öffentlich-rechtliche Anstalt als Sponsor eines Firmen-Teams auftritt, zu dessen Mitgliedern des Doping überführte oder des Doping verdächtigte Radsportler gehören, und dann auch noch anfeuernd über den Wettkampfeinsatz dieses Teams berichtet, ist und bleibt ein Medienskandal, auch wenn sich die Öffentlichkeit damit abgefunden hat. Was sich der ARD-Kommentator leistete, als er die nationale Karte zog, und dem CSC-Profi Jens Voigt vorwarf, den Etappensieg von Jan Ullrich, der für T-Mobile im Sattel saß, verhindert zu haben, hat mit kritischem Journalismus nichts aber auch gar nichts zu tun. Diese Art von Berichterstattung trägt zur Vermobbung der Massen am Straßenrand bei, wie sie beim Aufstieg nach Alpe d’Huez und dem Verhalten deutscher Fans gegenüber Lance Armstrong zu beobachten war.

Die US-amerikanische Leichtathletik befindet sich seit Monaten im größten Doping-Skandal ihrer Geschichte, Hunderte von Sportlern haben illegalen Muskelaufbau betrieben. Bei den nun beginnenden Olympischen Spielen in Athen will das IOC hart durchgreifen. Ist der Wille tatsächlich da, entschlossen gegen Doping vorzugehen? Und wie ist die Rolle der Anti-Doping-Agentur der USA (USADA) einzuschätzen?

Günter Amendt
Es wird den Fernsehanstalten auch diesmal gelingen, das Publikum vor dem Bildschirm zu versammeln. Getrommelt wird ja genug. Aber mal ehrlich: Wer interessiert sich noch für die Olympiade? Es gab einmal eine Zeit, als „die Sommerspiele“ ein geradezu festliches Ereignis waren, das alle Sportinteressierten in eine kindliche Vorfreude zu setzen vermochte. Das ist schon lange vorbei. Die inflationäre Aneinanderreihung von großen Events – die Fußball-Europameisterschaft, die Tour de France, die Sommerspiele – wertet die Olympiade zusätzlich ab. Und selbstverständlich stehen die Leichtathletikwettkämpfe, die als der Höhepunkt olympischer Sommerspiele gelten, für jeden einigermaßen informierten Zuschauer im Schatten des US-amerikanischen Dopingskandals. Das IOC will durchgreifen – hart und unerbittlich. Dabei weiß doch jeder, dass ein bei den olympischen Spielen des Doping überführter Sportler nur ein Depp ist, der es einfach nicht geschafft hat, seine Aufbausubstanzen rechtzeitig abzusetzen. Ich rechne mit einigen Dopingfällen bei sogenannten Randsportarten. Auch in der Leichtathletik wird es den einen oder anderen Dopingfall geben. Einige der US-Doper treten erst gar nicht an, weil sie von ihrem Verband gesperrt wurden. Der Rest ist zum Zeitpunkt des Wettbewerbs entweder clean oder auf dem aller neuesten Stand der Dopingtechnik, der einen Nachweis unmöglich macht. Dass die US-Anti-Doping-Agentur und die US-Sportverbände über Jahre hinweg eine äußerst dubiose Rolle spielten, ist hinlänglich bekannt. Ob man das auch jetzt noch, nach dem Bullenmastskandal (THG), weiter behaupten kann, weiß ich nicht. Diese Skandalgeschichte ist noch nicht zu Ende erzählt. Ich traue mir da im Augenblick kein Urteil zu.

Saubere Spiele und die Pharmakologisierung des Alltags

Sind denn „saubere Spiele“ ein realistisches und sind sie überhaupt ein wünschenswertes Ziel?

Günter Amendt
Der Leistungssport wird seine „Unschuld“ nie wieder zurückgewinnen. Den Anspruch auf einen „sauberen Sport“, soweit er sich auf den professionellen Hochleistungssport bezieht, sollte man schnellstens vergessen. „Sauberer Sport“, das ist eine Propagandaformel, und „propaganda all is phony“, erkannte schon Bob Dylan.

Aber was ist die Konsequenz? Die Freigabe des Dopings?

Günter Amendt
Es gibt Profisportler und Verbandsfunktionäre, die genau das fordern. Bei nüchterner Betrachtung liegt ihre Forderung, Doping freizugeben, in der Logik eines total pervertierten Hochleistungssports, der sich als Zirkusveranstaltung den Spielregeln der Unterhaltungsindustrie unterworfen hat. Diese Diskussion macht Sportlerinnen und Sportler, die clean sind, rasend, denn mit der Forderung, Doping zu legalisieren, wird der Generalverdacht, unter dem heute jeder steht, der sich am sportlichen Wettbewerb beteiligt, verstärkt und bestätigt.

Welche Rolle fällt dem Staat in einer mit Medikamenten gesättigten Gesellschaft zu, deren substanzorientierte Institution „Sport“ ja nur ein logischer Teil ihrer selbst ist?

Günter Amendt
Gegen staatliche Sportförderung ist nichts einzuwenden. Doch der Staat fördert nicht den Sport, er fördert die Höchstleistung. Wer die Pharmakologisierung des Alltags, die sich schleichend vollzieht, für einen Fortschritt hält, wird nichts dagegen einzuwenden haben, wenn der Staat und dessen politische Klasse chemisch erzeugte Höchstleistungen als Ausdruck des Leistungswillens der Bevölkerung aus Steuermitteln fördert. Das nennt sich dann Standortpolitik.

Nennen Sie bitte Zahlen, die diese kontinuierliche Pharmakologisierung untermauern.

Günter Amendt
Die These von der Pharmakologisierung des Alltags stützt sich auf allgemein zugängliche Quellen, wie die Geschäftsberichte der Pharmaindustrie, die Berichterstattung der Wirtschaftspresse und den jährlichen Report des Suchtstoffkontrollrates der Vereinten Nationen, der für diese Entwicklung, die leichtfertige Verschreibungspraxis der Ärzte und die Parallelproduktion der Pharmaindustrie zur Belieferung des illegalen Marktes verantwortlich macht. Das im Detail darzustellen, würde den Rahmen eines Interviews sprengen. Hinzu kommt, dass der Medikamentenhandel sich zunehmend in der Grauzone von Legalität und Illegalität abspielt. Denken Sie nur an den Handel im beziehungsweise über das Internet, wo Viagra der Renner ist. Viele Vertreter der Pharmabranche geben unumwunden zu, dass sie daran arbeiten, bestimmte Stoffe vom Image eines Medikamentes zu befreien und unter dem großen Dach des Life-Style-Segments zu vereinen. Das beginnt bei der Vitaminpille und führt zur Raucherentwöhnungspille, der Verhütungspille vor und nach dem Geschlechtsverkehr, der Entfettungspille, der Potenzpille und endet bei angstlösenden Pillen und Antidepressiva. Hinzu kommt die breite Palette der Anti-Aging-Produkte. In einer Analyse des Pharmamarktes bescheinigt das Wirtschaftsmagazin „Capital“ den Life-Style-Produkten ein „sicheres Wachstum“. Lag der Umsatz im Jahr 2000 noch bei 19,5 Milliarden Dollar, so sei für 2010 mit einem Umsatz von 41 Milliarden Dollar zu rechnen.

Der chemisch optimierbare Mensch

Was sind die Konsequenzen der Ausweitung dieser Pillenzone? Was spricht dagegen, dass sich Menschen mit geeigneten Mitteln Alltag oder Freizeit gestalten? Das gab es doch schon immer.

Günter Amendt
Dagegen spricht, dass viele Pillen nicht die Wirkung zeigen, die sie versprechen, dass sie Nebenwirkungen haben, die nicht tragbar sind, und dass sie über ein Suchtpotential verfügen, welches die Konsumenten abhängig macht. Darüber hinaus hat die Ausweitung der Pillenzone eine gesellschaftliche Dimension, die man nicht vernachlässigen sollte. Wenn Heranwachsende schon in frühester Kindheit daran gewöhnt werden, alle körperlichen und psychischen Probleme mit Hilfe einer Pille zu regeln, wird das Hirn so programmiert, dass die Fähigkeit, Probleme aus sich heraus zu lösen, verloren geht. Eine Jugendbefragung in Luxemburg hat herausgefunden, dass die Bereitschaft, illegale Substanzen wie Ecstasy und andere sogenannte Partydrogen zu schlucken, um so größer ist, je mehr Vorerfahrung die Betreffenden mit Pillen und Tabletten in ihrer Kindheit hatten. Der routinierte Griff zur Pille schließt die Bereitschaft ein, sich mit der Bekämpfung von Symptomen zu begnügen, und nach den Ursachen der Müdigkeit, des Stresses, der Antriebslosigkeit, des Schmerzes, der Traurigkeit, der Angst und der Depressivität nicht mehr zu fragen. Das führt zu einem Verlust aller gesellschaftlichen und politischen Bezüge.
Ich kann mich auch hier nur wiederholen: „Die schrankenlose Pharmakologisierung des Alltags führt dazu, dass wir den Menschen nicht mehr als soziales, sondern als manipulierbares und chemisch optimierbares Wesen wahrnehmen.“ Wem das keine Probleme bereitet, der ist bei den Sozialingenieuren der Pharmaindustrie gut aufgehoben.

In welcher Hinsicht hängen das ungebändigte Doping im Sport, die fortschreitende Pharmakologisierung des Alltags und der vehemente Pilleneinwurf der „Raving Society“ zusammen?

Günter Amendt
Den übermäßigen Konsum von Amphetamin und Amphetaminderivaten, wie des in der Raver-Szene so beliebten MDMA, habe ich schon immer als eine Form von Alltagsdoping verstanden. Insofern besteht da ein Zusammenhang. Die außerordentlichen körperlichen Leistungen, die sich ein hard-core Raver zumutet, verlangen nach einem Antriebsmittel. Freizeit ist Arbeitszeit, wobei der Energieverbrauch im Freizeitsektor oft weit über dem im Berufs- und Schulalltag liegt.

Die Raver-Generation der 90er Jahre hat die letzten Reste eines chemiekritischen Bewusstseins eliminiert

Die „psychedelische Bewegung“ der 90er sah – wie Teile der 68er-Generation – den „Weg nach Innen“ als die erfolgversprechende Variante zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse an. War das ein Trugschluss?

Günter Amendt
Es ist durchaus nicht abwegig, die 60er Jahre als das Jahrzehnt der Drogen zu bezeichnen. Doch anders als der öffentliche Diskurs glauben machen will, waren nicht Haschisch, Marihuana und LSD die damals bestimmenden Drogen, es war die Einführung von Valium und artverwandten Stoffe, die alle auf die Beeinflussung des Zentralnervensystems zielen, welche die 60er Jahre zu einem Drogenjahrzehnt machten. Was die 68er Generation betrifft, so gab es drei Strömungen in der Drogenfrage. Große Teile der Linken lehnten jeden Gebrauch von Drogen rundweg ab – dabei ging es vorwiegend um Cannabis und natürlich nicht um Alkohol. Unter den Drogenbefürwortern waren solche, die synthetische Drogen grundsätzlich ablehnten und solche, die für deren Gebrauch eintraten – dabei ging es vor allem um LSD und andere Trips. In der politisierten LSD- und Kifferszene war der Gedanke populär, mit Hilfe von drogenindizierter Bewusstseinsveränderung oder gar Bewusstseinserweiterung gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Ich persönlich habe davon nie viel gehalten. Es ist jedoch unbestreitbar, dass sich die kollektive Drogenerfahrung jener Jahre in der Wahrnehmung der Gesellschaft niedergeschlagen hat. Ein Beispiel ist die veränderte Wahrnehmung des Verhältnisses von Mensch und Natur, die wiederum Rückwirkungen hatte auf das sich in den 70er Jahren entwickelnde ökologische Bewusstsein. Zwischen der 90er Jahre Partyszene und der 68er Szene sehe ich nur wenige Gemeinsamkeiten. So viel ist aber sicher, die Raver-Generation der 90er Jahre hat es geschafft, unter den Jungen von heute die letzten Reste eines chemiekritischen Bewusstseins, das sich in den 70er Jahren herausgebildet hatte, zu eliminieren.

Aber auch unter den jungen Drogennutzern gibt es doch den Trend „Zurück zur Natur“. Ephedra statt Ecstasy, Coffein anstelle von Speed, lieber Kiffen als Koksen und Psilos seien besser als LSD. Was ist davon zu halten?

Günter Amendt
Auch ich habe diesen Trend registriert und interpretiere ihn als Abwehrreflex auf das, worum es in diesem Interview unter anderem geht – die schleichende Pharmakologisierung des Alltags. Diesem „Zurück zur Natur“ liegt die Erfahrung zugrunde, dass Drogen besser beherrschbar – sprich: besser dosierbar – sind, deren Rauschwirkung einzig auf dem Wirkstoffgehalt der Pflanze beziehungsweise auf einem Gärungs- und Fermentierungsprozess beruht. Schon vor Jahren bin ich in den Wäldern Nordkaliforniens auf eine Gruppe von Hippies gestoßen, die ihr Interesse an Rauschsubstanzen in Einklang mit ihrem ökologischen Bewusstsein zu bringen versuchten und deshalb alles Synthetische vehement ablehnten. Bezogen auf die Gesamtzahl aller Drogenkonsumentinnen und Konsumenten, handelt es sich hierbei jedoch um eine kleine Minderheit ökobewusster User. Hinzuzufügen wäre, dass auch der Konsum von psychoaktiven Pilzen und anderen Naturdrogen Risiken beinhaltet, die zu verringern Erfahrungswissen und die Bereitschaft sich zu informieren erfordert.

Der „Krieg gegen die Drogen“

Sie haben sich jetzt über 30 Jahre mit Drogen und Drogenpolitik beschäftigt und die sozialen und ökonomischen Auswirkungen der Prohibition erforscht. Trauen Sie sich eine Prognose zu, wie lange Deutschland und wie lange andere Länder noch am Dogma des Drogenverbots festhalten werden?

Günter Amendt
Das Ausmaß der Irrationalität in der drogenpolitischen Auseinandersetzung ist bedrückend. In meinem Buch habe ich Vorschläge gemacht, wie das so genannte Drogenproblem zu entschärfen wäre. Mit meinen Vorschlägen stehe ich im Kreis der internationalen Drogenfachleute nicht alleine. Auch bin ich davon überzeugt, dass die Mehrheit der Bevölkerung in den meisten westeuropäischen Staaten einen drogenpolitischen Kurswechsel mittragen würde, etwa in der Frage der Cannabis-Legalisierung. Das Problem ist die Politik. Die Zeichen stehen auf Kontrolle und Repression. Große Teile der politischen Klasse bis tief hinein in die Sozialdemokratie will sich diesen Repressionsknüppel nicht aus der Hand nehmen lassen. Drogen sind noch immer ein hoch emotionalisierendes Thema. Mit dem Angstpotential, das dem Thema innewohnt, lässt es sich politisch gut spielen. Doch die Hauptverantwortung für die herrschende Drogenpolitik, die ich für eine der gravierendsten Fehlentwicklungen des Globalisierungsprozesses halte, trägt die US-Regierung, egal welche Partei gerade den Präsidenten stellt. Drogenpolitik ist ein Instrument der US-amerikanischen Außenpolitik, der „war on drugs“ ein Übungs- und Rekrutierungsfeld der US-Geheimdienste. Voraussetzung für einen Kurswechsel wäre das Eingeständnis, dass der mit terroristischen Mitteln geführte „war on drugs“ gescheitert ist, soweit es um den Kampf gegen Drogen geht. Doch es geht eben um mehr. Es geht um die Sicherung von Einflusssphären, die militärische Kontrolle von Unruhegebieten, die Sicherung von Ölbohrstellen und von Verkehrsverbindungen. Das alles im Namen des „war on drugs“. Solange die in der UN versammelte Weltöffentlichkeit diesen Krieg aktiv mitträgt oder teilnahmslos geschehen lässt, wird das Prohibitionstabu, aus dem dieser Krieg seine Legitimation bezieht, nicht angetastet werden. Darauf wird man noch lange warten müssen.

 

Literatur:
Günter Amendt: No Drugs. No Future. Drogen im Zeitalter der Globalisierung. Aktualisierte Neuausgabe 2004. 207 Seiten plus 48-seitige Beilage, Frankfurt a.M.: 2001, 15,90 EUR.

* Nachtrag 15. März 2011: Günther Amendt verstarb am Samstag, dem 12.3.2011, bei einem Autounfall in Hamburg Eppendorf. Damit fehlt eine der wichtigsten Stimmen für eine genauso vernünftige wie menschliche Drogenpolitik. Amendt war scheu und zugleich im persönlichen Umgang von ausgesprochener Herzlichkeit, immer an der Sache interessiert, den Blick auf das Ganze gerichtet, nämlich die wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse, in denen Drogen und Medikamente konsumiert werden. Er nahm eine einmalige Stellung ein, nie zu nah an den Apologeten eines übermäßigen Konsums, die von globalen Drogenkultur reden, aber das irre Zuballern der vereledeten Randgruppen gerne übersehen. Und ein überzeugter Gegner einer Drogenverbotspolitik, die alles nur noch schlimmer macht. Mit Amendt ist ein Mann mit profunden Wissen aus dem Leben gerissen worden. Es ist nicht zu sehen, wie diese Lücke wissenschaftlich und menschlich geschlossen werden kann.

 

 

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Interview mit Franjo Grotenhermen

hanfblatt, 2003

Zwei Schritte vor, einer zurück

Interview mit Dr. med. Franjo Grotenhermen

Dr. med. Franjo Grotenhermen ist Mitarbeiter des nova-Instituts für ökologische Innovation in Hürth (Rheinland) und Vorsitzender der Internationalen Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin (IACM) mit Sitz in Köln. Er führt zudem die Geschäftsführung der deutschen Sektion, der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin (ACM). Grotenhermen ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher, darunter den Standardwerken „Cannabis und Cannabinoide: Pharmakologie, Toxikologie und therapeutisches Potenzial“ (Huber-Verlag) und „Cannabis, Straßenverkehr und Arbeitswelt (Springer-Verlag).

Hanfblatt: Jahrtausendelang wurde Hanf weltweit in traditionellen Kontexten medizinisch genutzt. Im 19. Jahrhundert wurde schließlich auch in Europa mit alkoholischen Extrakten aus getrockneten Hanfblüten experimentiert, wurden zahlreiche Indikationen postuliert und überprüft. Doch es gelang nicht, einen eindeutigen Wirkstoff zu isolieren und zuverlässig wirksame standardisierte Extrakte zu entwickeln. Auch empfand man die psychoaktive Wirkung bei vielen Anwendungen als störend. Man konzentrierte sich von Seiten der Pharmaindustrie auf andere Pharmazeutika, bevorzugt synthetische oder teilsynthetische Reinsubstanzen. Cannabis indica galt schließlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als medizinisch obsolet. Die weltweite Verteufelung des Konsums von Hanf als psychoaktives Genussmittel durch die in den Zwanziger Jahren beginnende Prohibitionspolitik und die ab den Dreissiger Jahren ausgehend von den USA inszenierte Anti-Marihuana-Hysterie schien der Erforschung medizinischer Nutzungsmöglichkeiten den Gnadenstoß zu versetzen. Wann genau begann nun das Interesse hieran wieder aufzuflammen, und wie erklärt sich dieses Phänomen?

Grotenhermen: Die fehlende Standardisierung medizinischer Cannabiszubereitungen war tatsächlich einer der wesentlichen Gründe, möglicherweise der wichtigste Grund für das Verschwinden dieser Medikamente aus den Apotheken Europas und Nordamerikas. Erst Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts gelang es einer israelischen Arbeitsgruppe die genaue Struktur des Delta-9-Tetrahydrocannbinol (kurz: Delta-9-THC oder THC) zu entschlüsseln. Dies war ein wichtiger Impuls für die moderne Cannabinoid-Forschung. Neben diesem laborchemischen Grund für eine starke Zunahme der Forschungsvorhaben zu Beginn der siebziger Jahre förderte die Zunahme des Cannabiskonsums unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen der westlichen Industriestaaten auch das wissenschaftliche Interesse an den Wirkungen der Droge und ihrer Inhaltsstoffe auf den Menschen. Mitte der siebziger Jahre gab es die ersten klinischen Studien mit THC, in denen man mögliche therapeutische Wirkungen untersuchte, wie seine Wirksamkeit bei Erbrechen und Übelkeit im Rahmen einer Krebschemotherapie, den appetitanregenden Effekt oder die Senkung des Augeninnendrucks beim Glaukom (grüner Star).Dieser ersten Welle der modernen Cannabisforschung folgte etwa zwanzig Jahre später die zweite, noch größere Welle, die erneut durch eine grundlegende Entdeckung ausgelöst worden war. Ende der achtziger Jahre und Anfang der neunziger Jahre wurde das körpereigene Cannabinoidsystem entdeckt, das aus spezifischen Bindungsstellen für Cannabinoide und körpereigenen Bindungsstoffen besteht. Die spezifischen Bindungsstellen heißen Cannabinoid-Rezeptoren und die körpereigenenen Bindungsstoffe heißen endogene Cannabinoide oder Endocannabinoide, von denen Anandamid, 2-Arachidonylglyzerol und Noladinäther die drei wichtigsten sind. Dieses körpereigene Cannabinoidsystem, das wurde bald klar, spielt eine Rolle bei vielen Körperprozessen, wie etwa bei der Verarbeitung von Sinneseindrücken, bei der Verarbeitung von Schmerzen, bei der Regulierung des Appetits. Das Verständnis der natürlichen Funktionen des Cannabinoidsystems beinhaltet das Verständnis der Wirkmechanismen bei therapeutisch gewünschten Wirkungen, wie etwa der Schmerzlinderung, und bei möglicherweise unerwünschten Wirkungen, wie etwa der Störung des Gedächtnisses.

Hanfblatt: Welche medizinischen Indikationen haben sich in den letzen Jahren für die Anwendung von Cannabis und Cannabinoiden als erfolgversprechend erwiesen?

Grotenhermen: Am besten erforscht sind die therapeutischen Cannabis- bzw. THC-Wirkungen bei Übelkeit und Erbrechen, wie sie bei der Krebschemotherapie auftreten können, sowie bei Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust im Zusammenhang mit der Aids-Erkrankung. Als am wichtigsten scheinen sich jedoch heute die Behandlung chronischer Schmerzen unterschiedlichster Ursache und der Einsatz bei verschiedenen neurologischen Erkrankungen, wie etwa multiple Sklerose und Querschnittserkrankungen nach Verletzung der Wirbelsäule, herauszukristallisieren. Bei einer Umfrage der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin in Zusammenarbeit mit dem Institut für onkologische und immunologische Forschung in Berlin aus dem Jahre 2001 zur medizinischen Verwendung von Dronabinol (THC) und natürlichen Cannabisprodukten (Marihuana, Cannabistinktur, Haschisch) nahmen etwa ein Viertel der teilnehmenden Patienten diese Substanzen wegen chronischer Schmerzen, wie Migräne, Phantomschmerzen, Menstruationsbeschwerden, Arthritis, Colitis ulzerosa, Fibromyalgie etc, ein weiteres Viertel wegen neurologischer Symptome. Die verbleibende Hälfte verteilte sich auf eine Vielzahl weiterer Erkrankungen wie Aids, Krebs, Hepatitis C, Juckreiz, Asthma, Depressionen, Angststörungen, Schlafstörungen, Alkoholismus, Opiatabhängigkeit, Glaukom, Epilepsie, etc. Cannabisprodukte werden also bei vielen Krankheiten und Symptomen erfolgreich verwendet. Man muss aber wissen, dass sie nicht immer das Mittel der ersten Wahl darstellen. So wird man beispielsweise bei Asthma, Glaukom und vielen anderen Erkrankungen zunächst andere Medikamente versuchen oder zunächst nicht-medikamentöse Verfahren ausprobieren, im Falle von Schlafstörungen zum Beispiel Entspannsungsübungen. Zudem wirken Cannabisprodukte nicht immer oder nicht immer im gewünschten Umfang. Viele Indikationen sind kaum erforscht, so dass sich nicht sagen lässt, wie hoch der Prozentsatz der Patienten mit einer der oben genannten Erkrankungen ist, der von einer Behandlung profitieren würde. Ich kenne aber Patienten aus allen oben genannten Indikationsbereichen, die von einer Behandlung mit Cannabisprodukten profitieren.

Hanfblatt: Wo liegen gegenwärtig die Forschungsschwerpunkte?

Grotenhermen: Die Themen der Cannabinoid- und Cannabisforschung sind heute breit gestreut. Während Mitte der achtziger Jahre in der medizinischen Datenbank Medline jährlich etwa 250 neue Artikel mit aktuellen Forschungsergebnissen zu den Bereichen Cannabinoide, Cannabis und Marihuana aufgeführt wurden, waren es im vergangenen Jahr etwa 800 mit weiter steigender Tendenz. Man kann vielleicht folgende wichtige Bereiche ausmachen: (1) Grundlagenforschung zum besseren Verständnis der Bedeutung und Funktionsweise des menschlichen Cannabinoidsystems, (2) Forschung zur besseren Abschätzung möglicher schädlicher Langzeitwirkungen und anderer Wirkungen des Cannabiskonsums, (3) Forschung zur Überprüfung der Wirksamkeit von Cannabinoiden bei verschiedenen Erkrankungen und zur Entwicklung neuer Medikamente, die das Cannabinoidsystem beeinflussen. Solche neuen Medikamente können wie das THC, die Cannabinoid-Rezeptoren stimulieren, eventuell aber auch die Konzentration der Endocannabinoide beeinflussen oder die Cannabinoid-Rezeptoren blockieren. Hier werden heute viele Ansätze erprobt, und ich gehe davon aus, dass in den nächsten 10 Jahren eine Anzahl von Medikamenten auf den Markt kommen wird, die auf unterschiedliche Art und Weise das Cannabinoidsystem modulieren.

Hanfblatt: Was muss noch geschehen, damit jeder Mensch, dem Cannabis, bei der Heilung seiner Krankheit oder bei der Linderung von Beschwerden helfen könnte, auch problemlos Zugang zum richtigen Medikament erhalten kann?

Grotenhermen: Das Thema ist stark ideologisiert, in dem Sinne, dass Prinzipien oft über Vernunft und gesunden Menschenverstand gesetzt werden. Eines dieser Prinzipien, das zunächst einmal sehr vernünftig ist, lautet: In Deutschland dürfen nur qualitätsgeprüfte Medikamente verwendet werden. Dabei scheut man sich jedoch vor der Beantwortung der Frage, ob denn umgekehrt ein Schwerkranker, der keinen Zugang zu einem qualitätsgeprüften Medikament auf Cannabisbasis hat, beispielsweise weil die Krankenkasse die Finanzierung einer Behandlung mit Dronabinol (THC) ablehnt, und der sich Hanfpflanzen auf seinem Balkon zieht, vor ein Gericht gestellt und eventuell ins Gefängnis gesteckt werden sollte. Möglicherweise werden erst die Gerichte der Politik klar machen müssen, dass die Gesetzgebung in diesem Bereich überholungsbedürftig ist. Es gibt hier erste Anzeichen. Die Erfahrungen aus anderen Ländern, in denen die öffentliche Diskussion schon länger geführt wird als hierzulande, wie beispielsweise in Kanada und Großbritannien, zeigen, dass solche Entwicklungen viele Jaher dauern. Einen Zugang zur direkten medizinischen Verwendung von Cannabisprodukten im Sinne einer tolerierten oder wie auch immer erlaubten Selbstmedikation wird es vermutlich nur geben, wenn aus politischer oder höchstrichterlicher Sicht die Verfügbarkeit von Cannabisprodukten aus den Apotheken nicht zu einer ausreichenden medizinischen Versorgung der Bevölkerung führt. Dies könnte beispielsweise der Fall sein, wenn die Krankenkassen sich auch in Zukunft in vielen Fällen weigern, die Kosten zu erstatten und die Medikamente weiterhin im Vergleich zu illegalem Cannabis sehr teuer sind.

Hanfblatt: Wer sollte auf keinen Fall Cannabisprodukte zu sich nehmen, weder als Medikament, noch zu Genusszwecken? Was sind sozusagen die Kontraindikationen?

Grotenhermen: Ganz allgemein kann man sagen, dass jemand der Cannabis nicht verträgt, es auch nicht nehmen sollte. Das ist eine einfache Regel, die aber oft nicht befolgt wird. So werde ich gelegentlich von Cannabiskonsumenten kontaktiert, die mir berichten, dass sie seit einiger Zeit unangenehme psychische Erlebnisse, wie etwa Angstzustände, beim Konsum erleben, jedoch weiterhin konsumieren möchten. Der Abschied von der Droge fällt oft auch bei schlechter Verträglichkeit nicht leicht. Darüber hinaus gibt es einige Personengruppen, bei denen die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass ihnen der Konsum schaden kann. Dazu zählen Personen, die an einer schizophrenen Psychose leiden, weil der Krankheitsverlauf ungünstig beeinflusst werden kann. Auch bei anderen schweren psychiatrischen Störungen ist die Wahrscheinlichkeit einer schlechten Verträglichkeit bzw. eines gesundheitlichen Schadens größer als bei psychisch Gesunden. Eine Schwangerschaft stellt eine relative Kontraindiaktion dar. Zwar sind die Schäden für den Embryo bzw. Fetus vermutlich auch bei starkem Konsum im Vergleich mit anderen Drogen gering, aber man sollte den Fetus nicht unnötig fremden Substanzen, die über den mütterlichen Kreislauf in seinen Kreislauf gelangen, aussetzen. Wer an Schwangerschaftserbrechen leidet oder anderen schwangerschaftsbedingten Beschwerden, die durch Cannabis gelindert werden können, dem würde ich allerdings durchaus zuraten, es einmal mit Hanf zu versuchen, und wenn er wirkt, ihn auch zu verwenden.

Hanfblatt: Was kann man aus medizinischer Sicht denjenigen empfehlen, die Cannabis als Genussmittel konsumieren, um eventuelle Risiken möglichst gering zu halten?

Grotenhermen: Beim Cannabiskonsum gibt es zwei Hauptthemen, wenn von möglichen Schäden die Rede ist. Das eine sind mögliche Schäden durch das Rauchen, die vermutlich weitgehend denen des Tabakrauchens ähneln, da beide Pflanzen und auch ihr Rauch bis auf das Nikotin und die Cannabinoide weitgehend ähnlich zusammengesetzt sind. Durch das Verbrennen von getrocknetem Pflanzenmaterial entsteht eine Anzahl von Substanzen, die die Schleimhäute schädigen und krebserregend wirken können, wie zum Biespiel Benzpyren oder Nitrosamine. Die Empfehlung lautet also: Weniger rauchen. Dies kann beispielsweise durch oralen Konsum (Kekse, Tee) oder durch das Rauchen THC-reicher Sorten erzielt werden. Das zweite Thema bezieht sich auf mögliche psychische und soziale Folgen des Konsums. Es besteht die Gefahr, dass mögliche positive Auswirkungen des Cannabiskonsums auf das seelische Befinden und das soziale Leben sich in ihr Gegenteil verkehren. Wie beim Umgang mit anderen potenziell suchtauslösenden, schönen und Freude bereitenden Aktivitäten sollte man darauf achten, dass man mit diesen Aktivitäten gestaltend und schöpferisch umgeht, dass man also nicht mit der Zeit psychisch von dieser Aktivität abhängig und sozial gelähmt wird. Man sollte als Konsument in dieser Frage selbstkritisch sein. Dabei kann bei gewohnheitsmäßigem Konsum von Drogen auch eine gelegentliche Konsumpause von einigen Wochen sinnvoll sein. Nach meiner Auffassung ist die Diskussion um die Frage, ob Cannabiskonsum körperlich abhängig machen kann oder nicht, eine wenig hilfreiche Diskussion, da auch eine psychische Abhängigkeit sehr stark sein kann und es letztlich unwichtig ist, ob vermehrtes Schwitzen und Schlafstörungen, die beim Absetzen auftreten können, psychische oder körperliche Symptome darstellen. Nach meinen Erfahrungen, die sich mit der wissenschaftlichen Erkenntnis decken, treten bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen schädliche psychische und soziale Folgen häufiger auf als bei Erwachsenen. Ein gewohnheitsmäßiger Konsum bei Jugendlichen ist vergleichsweise häufiger als bei älteren Erwachsenen ein problematischer und abhängiger Konsum.

Hanfblatt: Immer wieder wird darum gestritten, warum man nicht gleich zur medizinischen Anwendung die als Genussmittel bereits bewährten getrockneten Hanfblüten oder das daraus gewonnene Harz oder einen Extrakt verschreibt, anstatt sehr teure industriell gewonnene Reinsubstanzen. Wo liegen hier kurzgesagt die Vor- und Nachteile? Oder anders gefragt, braucht man die Hanfpflanze dann eigentlich überhaupt noch, wenn man alle sinnvollen Präparate auf chemischem Wege synthetisieren kann?

Grotenhermen: Synthetisches THC bietet keine relevanten Vorteile gegenüber natürlichem Cannabis. Alles, was gegen eine Verwendung sonst illegaler Cannabisprodukte vorgebracht wird, wie etwa fehlende Reinheit oder mangelnde Standardisierung, sind in Wahrheit Argumente gegen ihre Illegalität, da sie bei einem legalen Zugang gut kontrolliert werden könnten. Die Frage, ob man Hanf noch braucht, wenn man synthetisches THC hat, stellt sich eigentlich umgekehrt: Synthetisches THC wird eigentlich nicht gebraucht, weil es Hanf gibt. Die Vorlieben der Ärzte und Patienten hinsichtlich definierter Einzelstoffe und natürlicher Kombinationspräparaten variieren allerdings, so dass ich dafür plädiere, beides anzubieten: Einzelsubstanzen und Ganzpflanzenzubereitungen. Zudem gibt es Hinweise auf Unterschiede hinsichtlich Wirksamkeit und Verträglichkeit bei zumindest einigen Patienten, ein Thema, das allerdings bisher nicht durch kontrollierte Untersuchungen geklärt wurde. Vorteile gegenüber Cannabinoiden wie THC, die psychische Effekte ausüben, weisen einige nicht-psychotrope Cannabinoide auf, die sich heute in klinischen Studien befinden, darunter Dexanabinol und CT-3 (ajulämische Säure). Diese synthetischen Cannabinoide decken allerdings nur einen Teil des therapeutischen Potenzials von THC bzw. Cannabis ab, da eine Anzahl von Wirkungen über Cannabinoidrezeptoren vermittelt wird, die auch psychische Wirkungen hervorrufen. CT-3 wird gegen entzündlich bedingte Schmerzen, wie beispielsweise chronische Gelenkentzündungen getestet. Es wirkt etwa so wie Aspirin, ohne allerdings mit den Aspirin-typischen Nebenwirkungen auf Magen und Nieren verbunden zu sein. Zum Thema THC, synthetische Cannabinoide und pflanzliches Cannabis vertrete ich die Auffassung, dass alles verfügbar gemacht werden sollte, wenn es mit einem echten Nutzen für die Behandlung von Kranken verbunden ist.

Hanfblatt: Cannabisfreunde versprechen sich von der Debatte um die medizinischen Nutzungsmöglichkeiten der Hanfpflanze nicht nur eine Versorgung teilweise schwer Kranker mit einer gut verträglichen Medizin, sondern auch eine Entspannung im Umgang der Gesellschaft und der Strafverfolgungsbehörden mit denjenigen, die Hanf einfach nur als Genussmittel konsumieren. Manche gehen da sogar soweit, sich vorzustellen, man könne dann in Ruhe sein Pfeifchen schmauchen, das wäre dann ja Medizin, gut gegen Alles sozusagen. Wie schätzen Sie da die gesellschaftlichen Perspektiven ein, wenn es zu einer erleichterten und häufigeren Verschreibung von Cannabispräparaten kommen sollte?

Grotenhermen: Die Diskussion um die medizinische Verwendung von Cannabisprodukten hat erheblich dazu beigetragen, die Diskussion um den Genuss- oder Freizeitkonsum zu versachlichen, denn im Zusammenhang mit der therapeutischen Verwendung taucht automatisch die Frage möglicher Nebenwirkungen und ihres Ausmaßes auf, beispielsweise die Frage: Schadet langzeitiger Cannabiskonsum der geistigen Leistungsfähigkeit? Zudem führt die medizinische Cannabisverwendung dazu, dass viele Menschen – Patienten, ihre Verwandten und Ärzte – einen legalen Kontakt mit der Droge bekommen. Meistens stellen sie dabei fest, dass die Warnungen vor den Nebenwirkungen in den vergangenen Jahren übertrieben waren, dass Cannabis bzw. THC sogar überwiegend sehr gut verträglich sind. Die medizinische Verwendung von Cannabis ist in der Lage, das Image der Pflanze auch bei solchen Personen positiv zu verändern, die bisher ein übertrieben negatives Bild von ihr hatten. Andererseits muss man natürlich sagen, dass Medikamente im Allgemeinen nicht gesund sind, sondern der Behandlung von Krankheiten dienen. Aus dem gelegentlich zur Rechtfertigung für den eigenen Konsum vorgetragenen Argument, Cannabis sei schließlich eine Medizin, kann daher im Umkehrschluss nicht gefolgert werden, Cannabiskonsum sei gesund für Gesunde. Die Frage, ob Cannabis auch für Gesunde positive Auswirkungen auf Leben und Befinden haben kann, entscheidet sich an der Frage des verantwortlichen Umgangs mit der Droge. Die Droge selbst ist dafür kein Garant.

Hanfblatt: Immer wieder lösen sich aus Medizinerkreisen die großen Warner, die den konservativen Kräften im Staatsapparat genehm, mit dem erhobenen Zeigefinger vor den schrecklichen Gefahren einer Verharmlosung und Entkriminalisierung eines schrecklichen Rauschgiftes warnen, um möglichst viele Forschungsgelder zum Beweis, dessen, was man insgeheim bereits bewiesen glaubt, abzuzweigen und sich als Gesundheitsapostel und selbsternannte Drogenexperten auf dem Medizinerolymp zu etablieren. Wie soll man diesen aus meiner Sicht an einer dogmatischen auf Gängelung basierenden Gesellschaft klebenden Feinden der freien persönlichen Lebensentfaltung gegenübertreten? Oder anders gefragt: Wird es jemals einen rationalen Umgang mit Cannabis und Cannabinoiden geben?

Grotenhermen: Nach meinem Eindruck haben sich die öffentliche Wahrnehmung und das Diskussionsniveau bereits merklich im Sinne eines rationalen Umgangs verändert. Dies ist ein Prozess, der sich wie alle Veränderungen, die Einstellungsänderungen voraussetzen, nur langsam vollzieht. Ich erfahre auch heute noch regelmäßig von Patienten, die ihren Arzt auf die Verschreibung von THC (Dronabinol) angesprochen haben, dass er dies mit dem Hinweis, er würde keine Drogensucht fördern, oder mit ähnlich ignoranten Bemerkungen grundsätzlich ausgeschlossen hat. Aber dennoch sind viele gesellschaftlich relevante Gruppen wie Journalisten, Mediziner, Juristen und auch Politiker heute insgesamt besser informiert als vor 10 Jahren. Aber es ist auch richtig, dass das Thema Cannabis auch heute noch vielen Eltern, Politikern und anderen Personengruppen Angst macht, was rationales Handeln manchmal erschwert. Die Ängste muss man übrigens ernst nehmen. Mit dem Thema Konservativismus wird zusätzlich ein Aspekt angesprochen, der über den Bereich des rationalen Umgangs mit Drogen hinausgeht. Konservativismus beinhaltet Haltungen, die nicht nur im Drogenbereich moralisierend und normierend massive Eingriffe in das Privatleben rechtfertigen oder als notwendig erachten, beispielsweise auch wenn es um den so genannten Kampf gegen den Terrorismus geht. Der rationale Umgang mit Cannabis oder anderen Drogen führt also nicht automatisch dazu, dass gängelnde Einschränkungen der individuellen Freiheiten verschwinden werden. In den letzten Jahren hat sich auch die Argumentation zur Rechtfertigung des Cannabisverbotes verschoben bzw. verändert. Wurde früher vor allem die Gefährlichkeit der Droge, auch im Vergleich zu Tabak und Alkohol, betont, so heißt es heute oft, Tabak und Alkohol würden bereits große gesundheitliche und soziale Schäden anrichten, die nicht durch die Legalisierung einer weiteren Droge vergrößert werden sollten. Solche Argumentationsverschiebungen stellen nicht nur ein Eingeständnis dar, dass die frühere Propaganda oder Überzeugung falsch war, sondern auch dass Prohibitionsbefürworter durchaus flexibel reagieren, beim Versuch, den gegenwärtigen Zustand zu erhalten. Ich bin kein Hellseher und kann nicht sagen, wohin die Entwicklung letztlich führt. Nach meinem Eindruck funktioniert die Bewegung im Cannabisbereich seit vielen Jahren wie bei der Echternacher Springprozession: Zwei Schritte vor, einer zurück. Da bleibt ja als positive Differenz immerhin ein Schritt nach vorn.

 

 

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Cannabis Drogenpolitik Interviews Interviews Psychoaktive Substanzen

Interview mit dem Suchttherapeuten Helmut Kuntz

hanfblatt, Nov. 2003

Dem Kiffer (mit Problemen) kann geholfen werden

Fragen an den Suchttherapeuten Helmut Kuntz

Legalisierungsbefürworter fordern frei nach dem Motto „Kein Knast für Hanf“ eine Beendigung der Strafverfolgung von Cannabisgebrauchern. Über Cannabisfreunden schwebt nämlich immer noch das Damoklesschwert der staatlichen Bestrafung und der sozialen Ausgrenzung durch beispielsweise Arbeitsplatz- oder Führerscheinverlust. In vielen Berufen und gesellschaftlichen Kreisen kann ein Outing als Cannabiskonsument unangenehme Folgen haben. Die Gefahr der Diskriminierung trägt sicherlich nicht zu einer freien und offenen Auseinandersetzung als Grundlage einer Prävention und Behandlung selbstschädigenden Konsumverhaltens bei. Denn, dass es auch eine Minderheit von Konsumenten gibt, die Cannabis nehmen, obwohl es ihnen offensichtlich nicht gut tut, oder so, dass es sie in unerwünschter Weise in ihren Handlungsmöglichkeiten einschränkt, die also einen problematischen Konsum betreiben, dafür sprechen Umfrageergebnisse und die Berichte von Therapeuten, an die sich Kiffer mit Problemen wenden. Einer dieser Helfer in der Not ist der Familientherapeut Helmut Kuntz. Er hat seine Erfahrungen in dem interessanten Ratgeber „Cannabis ist immer anders“ (siehe unten) zusammengefasst.

az: Mag für die große Mehrheit der Gebraucher der Cannabiskonsum eine Bereicherung in ihrem Leben darstellen, so gibt es doch auch vereinzelt Konsumenten, bei denen sich alles nur ums Kiffen dreht, und die darüber das, was eigentlich in ihrer aktuellen Lebenssituation notwendigerweise zu tun wäre, nicht auf die Reihe kriegen. Wann beginnt Ihrer Einschätzung nach der Konsum von Cannabis problematisch zu werden, und wie äußert sich das?

Kuntz: Es ist vielleicht „hanfpolitisch“ wenig genehm und kratzt am Mythos von Cannabis als relativ harmloser Droge, doch ich kann auf Grund meiner Erfahrungen leider nicht mehr bestätigen, dass es nur vereinzelte Konsumenten sind, welche durch ihren Cannabiskonsum in Schwierigkeiten geraten. Teilweise bestehen die Schwierigkeiten in ihrem Leben schon vor dem Konsum, und der Gebrauch speziell von Cannabis findet in der trügerischen Hoffnung auf Erleichterung statt. Grundsätzlich ist der Konsum von Cannabis problematisch, wenn er zur Besänftigung bedrückender Gefühle dienen soll. Kritisch ist in jedem Falle der gewohnheitsmäßige, tägliche oder mehrfach tägliche Einsatz der Droge zu werten. Auch der „nicht bestimmungsgemäße“ Gebrauch von „Gras“ oder „Shit“ in der Schule oder am Arbeitsplatz spricht nicht für kompetente Konsumenten. Der chronische Gebrauch von Cannabis birgt in hohem Maße die Gefahr, die tragenden sozialen Beziehungen zu belasten oder sogar zu zerstören. Entwertende Äußerungen wie „Das ist mir doch egal“ oder „Du hast mir gar nichts zu sagen“ können verräterische Alarmzeichen sein. Das Risiko steigt mit den „harten“ Gebrauchsmustern wie „Bhong-“ oder „Eimer-Rauchen“. Es steht außer Frage, dass sie ein weitaus höheres Abhängigkeitspotential bergen, als das Genießen von Joints. Absolut „verpeilte“ Konsumenten mit solchen Gebrauchsmustern, z.T. sogar mit psychiatrischen Auffälligkeiten in Form psychotisch anmutender Symptome sind keine Seltenheit im Beratungsbereich. Das größte Risiko der Konsumenten ist aber weniger die Droge an sich, sondern die eigene Überheblichkeit im Umgang mit ihr, die Illusion, jederzeit alles im Griff zu haben und jede persönliche Gefährdung zu verleugnen.

az: Was sind aus Ihrer Sicht die Ursachen für die Entwicklung selbstschädigender Konsummuster?

Kuntz: Selbstschädigende Konsummuster entwickeln sich auf Grund schädigender sozialer und gesellschaftlicher Beziehungen. Die Konsumgesellschaft, die nach dem Motto „Immer mehr, immer weiter, immer schneller, immer höher“ lebt, ist bereits in ihrem Wesen eine süchtig kranke Gesellschaft. Wo sie als gnadenlose Ellenbogengesellschaft Menschen zunehmend ausgrenzt, ohne Schulabschluss, Lehrstelle, Arbeitsplatz oder Wohnung zurücklässt, nimmt sie den Menschen vielfach ihren Selbstwert. Fehlendes Selbstwertgefühl ist der ideale Nährboden für Suchtmittelmissbrauch. Wie soll jemand gut und fürsorglich mit sich umgehen, der kaum die Erfahrung gemacht hat, respektvoll behandelt zu werden?

az: Wer ist besonders gefährdet, in destruktiver Weise zu konsumieren? In welchen Lebensabschnitten besteht eine besondere Gefahr der Entwicklung problematischen Konsumverhaltens?

Kuntz: Ganz normale Suchtkranke kommen aus ganz normalen Familien. Wer den Platz im Leben nicht findet, wo er sich aufgehoben fühlt und wo er etwas Sinnvolles bewirken kann, entwickelt eher destruktive Verhaltensweisen als jemand, der sich in seiner Haut wohlfühlt. Aber selbstverständlich ist der steinige mühevolle Weg der Pubertät und des Erwachsenwerdens eine besonders anfällige Zeit für Drogengebrauch. Da stellen sich eine Lebensaufgabe und ein Reifungsschritt nach dem anderen: Schulabschluss, Berufsorientierung, Ablösung vom Elternhaus, den Platz in der Gruppe finden, Umgang mit Liebesbeziehungen und Trennungen usw.. Menschen können daran reifen und im besten Sinne „erwachsen“ werden oder scheitern. In diesem Zusammenhang gesehen, muss uns die Tendenz sorgen, dass Jugendliche heute immer früher den Einstieg in den Suchtmittelgebrauch riskieren. Weder körperlich noch seelisch sind 11-, 12-, 13- oder 14-jährige Jungen und Mädchen darauf eingestellt, in diesem frühen Alter mit den Wirkungen potenter eigenmächtiger Rauschmittel zu tun zu bekommen. Dabei spielt es keine große Rolle, ob das Zigaretten, Alkohol oder andere psychoaktive Drogen sind.

az: Was können Kiffer selbst tun, wenn sie mit ihrem Konsumverhalten unglücklich sind und dies verändern wollen? Wohin können sie sich wenden, falls sie das Gefühl haben, Hilfe zu brauchen, und wie wird dann geholfen?

Kuntz: Die Frage enthält bereits den entscheidenden Punkt. Nur derjenige kann und wird etwas verändern, der dies auch will, und zwar ernsthaft und nicht nur halbherzig. Innerlich motivierte Kiffer haben gute Chancen auf positive Veränderungen, selbst wenn sie ganz tief im Schlamassel stecken. Sie können sich an jede örtliche Sucht- und Drogenberatungsstelle wenden, wenn sie erst die Hemmschwelle überwunden haben. Berater haben Schweigepflicht. Niemand muss also befürchten, sich in zusätzliche Schwierigkeiten zu bringen, wenn er Hilfe sucht. Wie die Hilfe aussehen kann, wird im Einzelfall zusammen entschieden. Da es allerdings eine Arbeit zwischen Menschen aus Fleisch und Blut ist, muss die „Beziehungschemie“ stimmen. Wer sich als Hilfesuchender bei einem Berater menschlich oder fachlich nicht gut aufgehoben fühlt, sollte weiter suchen.

az: Wie können Freunde und Angehörige jemandem helfen, der anscheinend über das Kiffen Beziehungen, Schule oder Beruf vernachlässigt?

Kuntz: In ihrer Selbst- und Fremdwahrnehmung beeinträchtigte Kiffer unterschätzen häufig, was ihre Kifferei mit Freunden oder Angehörigen macht. Für Hilfsmöglichkeiten gibt es keine Patentantwort. Angehörige wie Freunde können allerdings nur dann helfen, wenn sie selbst mit ihren heftig widerstreitenden Gefühlen dem Kiffer gegenüber umzugehen wissen. Um die typischen Beziehungsfallen und Fehler im Verhalten zu vermeiden, müssen Angehörige zudem wisssen, was das Wesen der süchtigen Dynamik ausmacht. Wichtig ist klares konsequentes Verhalten. Unter Umständen müssen sich Angehörige darauf einstellen, Kiffer monate- oder sogar jahrelang durch viele Schwierigkeiten hindurch zu begleiten. Das ist ein überaus belastendes „Geduldsspiel“. Wo die Kifferei ein Ausmaß annimmt, dass sie in Diebstahl und tätliche Gewalt ausartet, können Angehörige die Grenze ziehen und dem Kiffer die Tür weisen, durch die er dann zu gehen hat. Andere entscheiden sich, ihr Kind niemals fallen zu lassen und unter allen Umständen die Beziehung zu halten. Für Eltern sind in solch schwierigen Situationen die Elterngruppen in Beratungsstellen sehr hilfreich zur eigenen Unterstützung. Freunde können einem Kiffer eigentlich nur sein Verhalten und seine Persönlichkeitsveränderung spiegeln. Aber weder Freunde noch Angehörige können jemandem helfen, der sich nicht helfen lassen möchte. Irgendwann muss man ihm dann die alleinige Verantwortung für sein Tun überlassen.

az: Es ist zu vermuten, dass auch im Falle einer Entkriminalisierung von Cannabisgebrauchern ein kleiner Teil der Konsumenten zumindest phasenweise in für sie problematischer Weise kiffen würde. Es wäre aber vermutlich ein weniger angstbesetzter, ideologisch verbrämter und damit offenerer Umgang möglich. Deshalb meine Frage: Beeinträchtigt die aktuelle Kriminalisierung der Cannabisgebraucher nicht die Möglichkeiten therapeutischer Hilfe und ehrlicher präventiver Aufklärungsarbeit?

Kuntz: In meiner persönlichen präventiven, beratenden oder therapeutsichen Arbeit fühle ich mich durch die Kriminalisierung der Cannabisgebraucher nicht wirklich beeinträchtigt. Ich brauche kein Blatt vor den Mund zu nehmen und kann offen über alle Aspekte des Cannabsikonsums sprechen. Als Berater habe ich einerseits Schweigepflicht und andererseits bin ich in keinem Zusammenhang zu Aussagen über Klienten gegenüber Dritten verpflichtet. Beratungsstellen sind insofern ein geschützter Raum.

az: Und zum Schluß dann noch die Gretchenfrage: Sie haben beruflich wohl in erster Linie mit Problemkiffern zu tun. Ihrem Buch kann man aber auch entnehmen, dass sie das weite Feld der integrierten Konsumenten kennen und durchaus respektieren. Obendrein verfügen Sie über eigene Konsumerfahrungen. Wie stehen Sie zur Frage einer Entkriminalisierung? Was muss gewährleistet sein oder noch erreicht werden, um eventuelle negative Konsequenzen des Cannabiskonsums möglichst gering zu halten?

Kuntz: Die Kriminalisierung von Cannabiskonsumenten nutzt in der Tat niemandem. Jeder Kiffer muss ein Eigeninteresse haben, das „11. Gebot“ zu beachten: „Du sollst dich nicht erwischen lassen.“ Erstaunlicherweise gibt es bei den Konsumenten noch verbreitete Missverständnisse in Bezug auf Tolerierung und Legalisierung des Cannabiskonsums. Eine Tolerierung haben wir in Grenzen erreicht. Für eine völlige Legalisierung wird es keine politische Mehrheit geben. Vor allem wird Legalisierung niemals bedeuten, Cannabis ebenso frei zu verkaufen, wie derzeit Zigaretten und Alkohol. Wir haben mit diesen beiden Suchtmitteln bereits Probleme genug. Angestrebt werden können pragmatischere Lösungen im Umgang mit Cannabis, wobei die Diskussion um mögliche „Coffeeshop“-Modelle mehr ideologisch als alltagstauglich geführt wird. Bei der praktischen Umsetzung solcher Denkmodelle stecken die Probleme im Detail: Wo soll Cannabis verkauft werden? Welche Qualifikation muss ein Verkäufer aufweisen? Wer darf ab welchem Alter wieviel erwerben? Selbst ein „Coffeshop“ kann wohl kaum an 11-, 12- oder 13-jährige Kiffer offiziell Cannabis verkaufen. Wo wenden die sich dann hin? Für den problematischen Umgang unserer gesamten Gesellschaft mit Suchtmitteln aller Art gibt es keine wirkliche Lösung. Es sei denn, wir könnten so zufrieden oder gar glücklich leben, dass wir es nicht nötig hätten, unser Leben durch die Wirkungen von Rauschmitteln zu „bereichern“. Aber dann hätten wir eine andere Gesellschaft.

Lesetip:

Helmut Kuntz
„Cannabis ist immer anders.
Haschisch und Marihuana: Konsum-Wirkung-Abhängigkeit.
Ein Ratgeber.“
Beltz Taschenbuch, Weinheim/Basel 2002
278 Seiten
ISBN 3-407-22832-5
14.90 Euro

Helmut Kuntz
„Ecstasy-auf der Suche nach dem verlorenen Glück.
Vorbeugung und Wege aus Sucht und Abhängigkeit.“
Beltz Taschenbuch, Weinheim/Basel, 2. erweiterte Neuausgabe 2001 (1. Aufl. 1998)
245 Seiten
ISBN 3-407-22830-9
10,90 Euro

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Drogenpolitik Interviews

Interview mit Gundula Barsch

HanfBlatt, Nr. 85, Juli 2003

Interview

„Wir haben in unserer Gesellschaft insgesamt ein Problem mit dem Genießen“

Prof. Gundula Barsch ist Mitglied in der Nationalen Drogen- und Suchtkommission im Bundesgesundheitsministerium. Sie lehrt an der Fachhochschule Merseburg im Gebiet „Drogen und soziale Arbeit“. Im Gespräch erörtert Barsch, Jahrgang 1958, ihr Konzept der „Drogenmündigkeit“, das einen neuen Weg bei der Verminderung der gesellschaftlichen Probleme im Umgang mit Drogen aufzeigen will.

Sehr geehrte Frau Professor Barsch, warum muss Repression scheitern?

Barsch: Wenn Sie mich so allgemein fragen würden, dann würden Sie sehr viel Unverständnis auslösen. In einer Gesellschaft wie der unsrigen, die sich wie viele andere westliche Kulturen als freiheitlich demokratisch verfasste Gesellschaften versteht, würde die Frage nach der Berechtigung von Repression Kopfschütteln, vielleicht auch Empörung auslösen. Längst wähnt man sich entfernt von Zeiten, in denen eine staatliche Macht mit Gewalt Vorgaben durchsetzt, wie Menschen ihr Leben zu leben haben. Vielmehr werden den sozialen Akteuren, seien es nun Individuen, Familien oder sozialen Gruppen, immer größere Wahl- und Freiheitsgrade für die Gestaltung ihres Lebens eingeräumt. Diese Entwicklung vollzieht sich so rasant, dass eher gefragt wird, ob die Entwicklung von Fähigkeiten und Verantwortung, mit diesen immer größer werdenden Optionen umzugehen, mit diesem Tempo überhaupt mithalten kann oder ob nicht auch Überforderungen und Zumutungen eintreten. Wie dem auch sein, diese enormen Möglichkeiten der differenzierten Gestaltung des Lebens abseits von vorgegebenen Mustern, wird in der Regel als Bereicherung aufgegriffen und umgesetzt. Unübersehbarer Beweis dafür ist die Pluralisierung von Lebensstilen in unserer Gesellschaft. Soweit so gut. Erstaunlicherweise sieht die Wahrnehmung der Freiräume, mit denen psychoaktive Substanzen konsumiert werden, ganz anders aus. Völlig gegen den grundlegenden Entwicklungstrend in unserer Gesellschaft werden in diesem Bereich Vorgaben gesetzt, mit denen den einzelnen unter Androhung von Strafen vorgeschrieben wird, welche Substanzen in ihrem Lebensstil eine Bedeutung erhalten dürfen und welche nicht. Drogenpolitik ebenso wie Drogenkonsum sind jedoch keine separaten Bereiche im Leben der Menschen – sie sind in das Gesamtgeflecht der Lebenstätigkeiten und sozialen Entwicklungen eingebunden, werden von diesen beeinflusst, begründet, geformt und limitiert. Sie lassen sich aus dieser Gesamtheit nicht wie ein einzelner Ziegelstein herauslösen, ohne dass das Gesamtbauwerk ins Rutschen kommt. Die Separierung der Betrachtung von Drogenpolitik auf der gesellschaftlichen Ebene und von Drogenkonsum auf der individuellen Ebene ist nicht nur unverständlich. Sie führt auch dazu, dass übersehen wird, dass das Aufrechterhalten von Drogenrepression den ansonsten in allen Bereichen der Gesellschaft geltenden Aufforderungen zu Eigenverantwortung und Ausschreiten von Entwicklungsmöglichkeiten entgegensteht und deshalb umso mehr in Frage gestellt und hintergangen wird, je mehr sich die sozialen Akteure emanzipieren. Man wird diese Entwicklung vielleicht behindern, aber wohl kaum aufhalten können.

An der Stelle der Repression wollen Sie Ihr Konzept der „Drogenmündigkeit“ sehen.

Barsch: Nicht ganz. An Stelle der bisherigen, sehr totalitär durchgesetzten Orientierung auf Abstinenz plädiere ich für eine grundsätzliche, also paradigmatische Umorientierung in den gesellschaftlichen Zielen in bezug auf den Umgang mit psychoaktiven Substanzen. Die Forderung nach Abstinenz verbleibt in ihrem Wesen auf der gleichen Grundanschauung wie die Argumentation mit Abhängigkeit. Wie Sie wissen, ist Abhängigkeit ein Konstrukt, das die Unfähigkeit der Menschen mit Drogen umzugehen beschreibt. Die Forderung nach Abstinenz rückt von dieser Grundidee nicht ab. Auch sie geht davon aus, dass der Mensch mit psychoaktiven Substanzen nicht umgehen kann. Deshalb wird Abstinenz als einzige Möglichkeit gesehen, möglichen Risiken zu entkommen. Diesem Grundmuster setze ich den Gedanken der Drogenmündigkeit entgegen. Das Gegenteil von Abhängigkeit ist nicht Abstinenz, wie fälschlicherweise oft argumentiert wird. Das Gegenteil von Abhängigkeit ist Mündigkeit oder wie auch immer der kompetente, autonom kontrollierte und emanzipierte Umgang mit Drogen bezeichnet werden mag.

Ihre Idee ist, vor allem jungen Menschen den Umgang mit Drogen aller Art erlernen zu lassen?

Barsch: Drogenmündigkeit sehe ich als die Fähigkeit, sich eigenständig, in vielfältigen Alltagssituationen orientieren und zu jeweils angemessenen Formen im Umgang mit Drogen finden zu können. Das ist natürlich eine lebenslange Entwicklungsaufgabe. Ein Blick auf die Alkoholprobleme der Erwachsenen zwischen 30 und 50 Jahren im Umgang mit Alkohol, auf die Medikamentenprobleme vor allem der älteren Menschen oder die Alkoholprobleme im Altenheimen zeigen mehr als deutlich, dass mit einer Veränderung von Lebenssituationen auch der Umgang mit psychoaktiven Substanzen immer wieder neu überdacht und den jeweiligen Erfordernissen angepasst werden muss. Insofern ist die Entwicklung von Drogenmündigkeit keine Thema nur für Jugendliche, sondern viel umfassender zu verstehen.

Sie setzen dabei auf vier Kernbereiche: Drogenkunde, Genussfähigkeit, Kritikfähigkeit und Risikomanagement. Zum ersten: Was beinhaltet Drogenkunde?

Barsch: Die bisherige gesellschaftliche Umgangsweise mit psychoaktiven Substanzen hat dazu geführt, dass das allgemein vorhandene Wissen zu psychoaktiven Substanzen, ihre kulturellen Wurzeln, ihre Wirkungsweise und die Möglichkeiten und Grenzen einer Umgangsweise mit ihnen sehr rudimentär ist. Zu vielen Substanzen existiert nur ein sehr oberflächliches Wissen, das oft nicht nur sehr bruchstückhaft, sondern von Halbwahrheiten und Mythen durchzogen ist. Denken Sie nur an die bis heute kursierende These von Cannabis als Einstiegsdroge oder die große Verwunderung darüber, dass Heroin nicht nur injiziert werden kann, sondern auch andere, weniger riskante Konsumformen dazu möglich sind. Dieses Halbwissen ist nicht wirklich verwunderlich. Oft wird ja schon dem Begehren, mehr zu bestimmten Zusammenhängen wissen zu wollen, mit Misstrauen und Kritik begegnet. Hier zu einer sachgerechten Aufklärung zu kommen, die eben nicht nur die Grenzen, sondern auch die Möglichkeiten eines Umgangs thematisiert, ohne gleich als Verführung zum Drogenkonsum gedeutet zu werden, scheint mir ein wichtiger Schritt. Und – um auf Ihre Frage nach der Zielgruppe zurückzukommen – kurioser Weise muss sich diese Aufklärung wohl vorrangig an die Älteren (Eltern, Lehrer, Sozialarbeiter, Ärzte) wenden, die im Vergleich zu den Jugendlichen oft über deutlich mehr Wissensdefizite und vorurteilsbeladene Informationen verfügen.

Was ist an der Art des Genuss´ der Droge so relevant, dass sie diese Fähigkeit zu einem Teil ihres Konzepts der Drogenmündigkeit machen?

Gundula Barsch
Gundula Barsch

 

Barsch: Wir haben in unserer Gesellschaft insgesamt ein Problem mit dem Genießen. Als Konsumgesellschaft geht es oft eher darum, schneller, mehr und umfassender zu konsumieren, als um Genuss. Denken Sie nur daran, wie in den gegenwärtigen Diskussionen darüber nachgedacht wird, wie man die Konsumlust der Menschen wieder ankurbeln könnte, damit wir aus der Talsohle der wirtschaftlichen Entwicklung herauskommen. Übertragen auf den Drogenkonsum ist ein solches Konsumdenken sehr unproduktiv, denn auch für den Genuss von psychoaktiven Substanzen ist Weniger oft Mehr bzw. der schrankenlose Konsum eher mit vielen Risiken für Körper, Geist und soziales Zusammenleben verbunden. Dabei ist der Genuss von Drogen den Menschen nicht naturwüchsig gegeben, sondern das Ergebnis eines Lernprozesses. Es geht dabei um Fähigkeiten, sich auf den Genuss einer Droge durch die angemessene Wahl der Menge und der Applikationsform einstellen, Wirkungserwartungen formulieren und durch entsprechende Konsumstile anstreben und schließlich durch die bewusste Gestaltung von Set und Setting das Angebot einer Droge auch nutzen zu können. Durch das oft sehr verbreitete substanzfixierte Denken ist den meisten Menschen gar nicht deutlich, dass eine Droge nicht allein durch ihre Pharmakologie in eine bestimmte Richtung wirkt, sondern hier ein großer Gestaltungsspielraum besteht. Vielleicht fällt es uns wieder auf, wenn wir an verschiedene Sorten von Raucher denken: der hastige Zigarettenraucher, der seine Zigarette beiläufig im Mundwinkel hat und angespannt vor seinem Rechner sitzt und arbeitet, konsumiert seine Drogen ganz anders als der Pfeifenraucher, der sich ein oder zwei Mal in der Woche in einer ruhigen Stunde ein Pfeifchen gönnt, schon das Stopfen der Pfeife in stiller Vorfreude zelebriert und schließlich schmachtend dem Geschmack des Tabaks und der Ruhe des Augenblicks ergeben ist.

Ein solcher bewusster Umgang mit einer Droge muss Ihrer Ansicht nach mit Kritikfähigkeit einher gehen. Was genau verstehen Sie darunter?

Barsch: Wer seinen Drogenkonsum so gestalten will, dass Selbst- und Fremdschädigung ausbleiben, benötigt Kritikfähigkeit um Situationen in bezug auf ihre Eignung für Drogenkonsum einschätzen zu können. Kritisch zu prüfen sind beispielsweise, ob Ort, Zeit, Menge und Art der Droge – also die Art und Weise, in der der Drogenkonsum gestaltet wird – wirklich mit der Situation, in der sich der einzelne befindet, harmonieren. Diese Einschätzung muss jedoch auch in das Verhältnis zu den Besonderheiten der jeweiligen Person gesetzt werden. Ich will dabei nicht auf die immer wieder benannte Situation schwangerer Frauen aufmerksam machen, in der Drogenkonsum natürlich auf besondere Weise abgewogen werden muss. Denken Sie einfach an Erfahrungen, die wohl jeder in bezug auf Alkohol längst gesammelt hat: Es gibt Tage, an denen Sie vielleicht wenig gegessen und getrunken haben, dafür aber durch Stress ziemlich ausgepowert wurden. Jetzt ein Bier und Sie sind sofort so trunken, dass Autofahren unverantwortlich wäre, auch wenn der Gesetzgeber es erlaubt. An anderen Tagen aber können Sie zu der gleichen Frage großzügiger reagieren. Zu dieser Kritikfähigkeit gehört meiner Einsicht nach aber auch, sich in bezug auf die Konsumnormen der Gemeinschaft, in der man sich gerade befindet, kritisch vergewissern zu können; sie also nicht unhinterfragt zu akzeptieren oder abzulehnen. Die Nachlässigkeit, mit der viele Menschen beispielsweise mit Medikamenten umgehen, um Missstimmigkeiten und Krankheit zu überdecken und leistungsbereit zu sein, obwohl Körper und Geist etwas anderes einfordern, lässt mich als wichtige Dimension von Kritikfähigkeit schließlich auch den Respekt vor der inneren und äußeren Natur des Menschen anführen. Das Schlagwort „Doping“ erhellt wohl unzweideutig, was ich damit meine. Kritikfähigkeit hat also viele Dimensionen – analytische, reflexive und ethische. Sie werden nötig, weil nicht alle Situationen sich für Drogenkonsum eignen; in manchen Situationen sind nur bestimmte Mengen oder nur bestimmte Drogen angemessen; bestimmte Konsummuster müssen dagegen Ausnahmesituationen vorbehalten bleiben. Mich hat einmal ein Bericht von einem Pilzritual beeindruckt, an dem Menschen, die in sehr verantwortlichen und anspruchsvollen Berufen arbeiten (Ärzte, Piloten, Rechtsanwälte, Richter), teilnahmen. Sie hatten diesen Drogenkonsum lange in ihren Kalendern als ein besonderes Ereignis geplant, für das auch eine angemessene Vor- und Nachbereitungszeit vorgesehen war. Zu diesem Ritual traf man sich in der Abgeschiedenheit der Natur in die keine beruflichen Pflichten hineinreichen konnten. So widmeten sie sich dem Pilzkonsum, dem sie sich ausgiebig zuwandten. In ihrem verantwortlichen Alltag kamen erst wieder an, als alle Effekte des Drogenkonsums vorüber waren. Ist die Forderung, sehr eingreifenden Drogenkonsum in Ausnahmesituationen zu zelebrieren sehr unrealistisch?

Zumindest ist die dazu nötige Modifikation der Gebrauchsmuster nur über einen längeren Zeitraum vorstellbar. Wer setzt wo und wann also bei der Schulung eines mündigen Umgangs mit geistbewegenden Substanzen an? Wäre eine Art „Rauschkundeunterricht“ ein Schritt?

Barsch: Scheinbar können wir uns Bildung nur in den institutionellen Formen von Schule vorstellen, die ich als alleinig verantwortliche Institution allerdings nicht wirklich geeignet halte, die Entwicklung von Drogenmündigkeit zu unterstützen. Ich stell mir die Normalisierung des Themas „Drogen“ so vor, dass es zunächst einmal selbstverständlich wieder in unsere allgemeine Bildung zurückgeholt wird. Geschichte, Kunst, Musik, Literatur, Ethik, Lebenskunde bieten heute über die Biologie hinaus so viele interessante Anknüpfungspunkte, ohne Exotisierung und Geheimniskrämerei das Thema anzusprechen und Impulse für das eigene Nachdenken zu geben. Das würde aber wohl nur den mehr kognitiven Teil der Auseinandersetzung mit dem Drogen betreffen. Aber wesentlich prägender wird sich wohl die emotionale und soziale Auseinandersetzung damit gestalten. Wie es bei Sexualität nicht allein um Bau und Funktion der Geschlechtsorgane geht, geht es bei Drogenmündigkeit auch nicht allein um Stoffkunde und Einweisung in bestimmte Praktiken. Die von mir bereits beschriebenen Aspekte von Drogenmündigkeit haben das hoffentlich längst aufgeblendet. Meiner Einsicht nach haben nicht nur Familien und Jugendeinrichtungen, die die Kinder und Jugendlichen bei ihren ersten Näherungen an den Umgang mit legalisierten und illegalisierten Drogen beratend und reflektierend begleiten eine wichtige Funktion, die sie nicht einfach an andere Institutionen delegieren können. Ganz besonders wichtig für die Sozialisation von Drogenmündigkeit halte ich Drogenkulturen, die von den Drogenkonsumentinnen und -konsumenten ausgehen, in denen Erfahrungen und Wissen in Sitten und Bräuchen festgeschrieben sind und die sich gegenseitig bei der Stilbildung und damit beim Hineinwachsen in einen mündigen Umgang mit psychoaktiven Substanzen unterstützen können. Eve&Rave und JES – die Selbsthilfe der Junkies, Ehemaligen und Substituierten führen mit ihrer Arbeit vor Augen, welche bisher viel zu wenig beachteten Möglichkeiten in diesem Bereich liegen. Aber auch gut geführte Coffeeshops in den Niederlanden machen auf mögliche Potenzen für den Entwicklungsprozess von Drogenmündigkeit aufmerksam. Kurzum, es wäre geradezu fatal, wenn man in bezug auf Drogenmündigkeit wieder nur an die Institution Schule denken würde.

Folgt man Ihrer Ansicht, so hat die bisherige Kriminalisierung der Drogenkonsumenten die Entwicklung einer funktionierenden Drogenkultur extrem behindert. Wo würden Sie bei einer Änderung der momentanen Verhältnisse zuerst ansetzen wollen: Ist es realistisch auf die politischen Parteien einzuwirken? Oder muss es zunächst zu einer weiteren gesellschaftlichen Enttabuisierung des Drogenkonsums kommen, die ja zumindest im Bereich von Cannabis weit fortgeschritten ist?

Barsch: Tja, die schwere Frage, wo soll man anfangen, wenn so viel Arbeit anliegt. Ich denke, auch hier darf man nicht auf ein Pferd allein setzen. Natürlich werden Politiker immer nur so viel drogenpolitisches Neuland betreten, wie sie glauben, dass sie damit in der Bevölkerung, vor allem bei den meinungstragenden Schichten auch Pluspunkte sammeln und Stimmenmehrheiten erringen können. Insofern muss man natürlich zu einem allgemeinen Bildungsprozess zum Drogenthema in der Bevölkerung kommen, mit dem sich Entdramatisierung und Normalisierung durchsetzen. Andererseits kann dieser Prozess durch ein drogenpolitisch verändertes Klima sehr unterstützt und gefördert werden. Vor diesem Hintergrund sind viele Zungenschläge und zum Teil auch bewusst eindimensional gestalteten Veröffentlichungen und Stellungnahmen von Politikern sehr dysfunktional und mehr als ärgerlich, weil sie oft die in Sisyphusarbeit erreichten Fortschritte schnell wieder zum Wanken bringen können. Aber dass es sich bei drogenpolitischen Veränderungen um Sisyphusarbeit handelt, die mehr als die Lebenszeit einer einzelnen Generation beanspruchen wird, davon bin ich überzeugt. Aber als Ostdeutsche, die von den Ereignissen der Wende, vor allem ihrem plötzlichen, friedlichen und erfolgreichen Verlauf überrascht wurde, habe ich ein wenig Hoffnung, dass die fatalen jetzigen drogenpolitischen Ansätze vielleicht eines Tages auch implosionsartig in sich zusammenfallen werden, um einem Pragmatismus Platz zu machen. Daraus nehme ich für mich jedenfalls meinen Optimismus und die Kraft, mich immer wieder in die Debatten einzumischen.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

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Cannabis Hanf Interviews

Interview mit Mathias Bröckers

hanfblatt, 2003

Der ganze Drogenkrieg kippt…

Ein Interview mit Mathias Bröckers

Der Journalist und Autor Mathias Bröckers gehört zweifellos zu den umtriebigsten und präsentesten Promis auf dem Hanfaktivistenolymp. Anlass genug für das Hanfblättli, ihn einmal wie einen Hanfsamen auszuquetschen. Fangen wir harmlos an…

HanfBlatt: Du beschäftigst dich seit nunmehr drei Jahrzehnten von verschiedenen Seiten aus mit dem Thema Hanf. Zu deiner Legende gehört die Freundschaft zu dem leider verstorbenen großzügig bekiffte Weisheit und Poesie brabbelnden Hanfsadhu Wolfgang Neuss. Wie kam es dazu?

Bröckers: Das war 1981. Ich war damals Kultur-Redakteur der „taz“. Es war die Zeit der Hausbesetzungen in Berlin, und Freunde, die für das Radio arbeiteten, hatten ihn dazu interviewt. Das heisst, sie hatten eine einzige Frage gestellt und Neuss hatte darauf einen seiner genialischen Monologe abgelassen: „Also Hausbesetzer ist schon mal das falsche Wort, Hausbenutzer würde ich da erst mal sagen, denn sie benutzen ja nur etwas, was ungenutzt rumsteht…“ so ungefähr fing das an und kam dann vom hundertsten ins tausendste und wieder zurück. Ich war völlig hingerissen von diesem assoziativen Mix, der immer wieder auf den Punkt, die Pointe kam, und das in einer unerhörten politischen Schärfe und Genauigkeit, so dass ich beim nächsten Mal, als der zweite Teil des Interviews gemacht werden sollte, mitgekommen bin und ihn gefragt habe, ob er nicht eine wöchentliche Kolumne für die „taz“ machen will. Dass wir uns dann so gut kennengelernt haben und Freunde wurden, hatte mit den Bedingungen zu tun, die er für diese Kolumne stellte: Du mußt drei mal in der Woche hier vorbeikommen, einmal um das Thema zu besprechen, dann zwei Tage später den Text abholen, und dann das Honorar vorbeibringen und von den Reaktionen berichten – „und jedesmal mußt du mit mir rauchen!“ Ich stimmte zu, ahnte aber noch nicht, was da Besonderes auf mich zukommt…

HanfBlatt: Was war das Besondere?

Bröckers: Dass sich in jedem seiner von ausgewählten Fachleuten gerollten Joints exakt 1,5 Gramm bestes Haschisch befanden und von diesen Raketen täglich mindestens 20 gezündet wurden – und ich war anfangs schon nach zwei Zügen völlig platt. War es schon im Wachzustand schwer, der Geschwindigkeit seiner Intelligenz und dem Wortwitz zu folgen, blickte ich jetzt gar nichts mehr und dämmerte vor mich hin. Die ersten Kolumnen apportierte ich stolz – und mußte zu Hause sofort ins Bett. Ich sagte dann: „Wolfgang, ich kann nicht so viel rauchen bei dir, ich krieg erst Hunger und dann Durst und dann werde ich völlig breit im Kopf, kann mich nicht mehr konzentrieren, werde dösig und dämmerig…“ – „Bröckers“, meinte er dann, “ du mußt üben. Du bildest dir das alles nur ein mit dem Hunger, dem Durst, der Verwirrung, der Müdigkeit. Wer bei der besten Zeitung Deutschlands das angeturnteste Feuilleton machen will, muß doch wissen, wie man mit Drogen – mit Ekstase – richtig umgeht. Du mußt lernen, high zu sein und gleichzeitig hellwach, entspannt und gleichzeitig hochkonzentriert, auf der Erde, top-professionell, und gleichzeitig im Himmel, völlig abgefahren…“ Unter seine Briefe schrieb er gern: „Nach Diktat abgefahren“.

HanfBlatt: Und, hast Du was gelernt?

Bröckers: Zumindest war ich bis zu seinem Tod 1989 einer der fleissigsten Studenten, auch wenn ich die Neuss’sche Meisterschaft nie erreicht habe. Der konnte ja auch 20 starke LSD-Trips auf einmal nehmen und klar und ruhig sitzen bleiben – so wie Neem Karoli Baba, der indische Guru von Tim Learys Harvard-Kollegen Richard Alpert (Ram Dass). Was Hanf betrifft, habe ich tatsächlich gelernt, die meisten unerwünschten Nebenwirkungen zu kompensieren und nur die jeweils erwünschten zuzulassen. Weil ich ab 1982 als Vater von Zwillingen nach Büroschluss keine Zeit für regelmäßige Feierabend- Sessions bei Neuss hatte, verlegten wir von da an unsere Treffen auf 7 Uhr früh. Das war nun eine echte Herausforderung, denn um 10 war die Redaktionskonferenz der „taz“ und danach musste die aktuelle Zeitung gemacht werden. Wolfgang war oft schon seit 5 Uhr wach und hatte nicht schon einige Tüten, sondern auch alle Morgen-Zeitungen intus. Wir frühstückten dann an der Ecke im Café Möhring und danach in der Wohnung stellte ich das Tonband an, der Vulkan sprudelte los und ließ Lokalklatsch und Globalstrategien, Privatclinch und Weltkrieg, Kleinkunst und Großkultur, Tagesaktualität und Ewigkeit kollidieren, in einem Satz. So sind dann die meisten seiner Kolumnen entstanden – und ich habe nebenbei über die Jahre gelernt, stoned zu sein und gleichzeitig wach, konzentriert und arbeitsfähig.

HanfBlatt: Das ist allerdings eine Leistung, die Anfängern bisweilen Schwierigkeiten macht. Mag sein, dass es auch ein wenig von der Persönlichkeit abhängt. Was können wir heute noch vom Spassmeister Neuss lernen?

Bröckers: Nun, was seinen Haschisch-Verbrauch angeht, kann er sicher nicht als Vorbild dienen. Andererseits muss man die Vorgeschichte sehen, er war ein Superstar des Wirtschaftswunderlands in den 50ern, mit seinem Partner Wolfgang Müller eine Art Laurel & Hardy auf deutsch, dann in den 60ern die Nr. 1 des Kabaretts, allseits geliebt, hochbezahlt, ständig auf Achse, aber ständig auf Aufputsch-und Schlaf-Tabletten und Alkohol. Hätte er so weiter gemacht, hätte er die 70er nicht überlebt: „Ich rauche den Strick an dem ich hängen würde“ meinte er später und hat, außer etwas Opium gegen die Krebsschmerzen in den letzten Monaten, keinerlei Pillen oder Alkohol je wieder konsumiert. Ausser Hanf (und Psychedelika) ließ er nie wieder eine Substanz an sich heran. Also insofern können wir selbst aus dieser extremen Drogengeschichte etwas lernen. Darüberhinaus ist Neuss (geb. 1923) für mich einer der herausragenden Künstler-Heroen der „Stalingrad“-Generation – ein kleiner brauner Fleischergeselle, der sich im Schützengraben den Finger abschießt, um ins Lazarett zu kommen, dort als Witzeerzähler und Frontkomiker erstmals Beifall erhält, die Komik als lebensrettend entdeckt, zum opportunistischen Medien- und Filmstar avanciert, aber dann politisch wird, als Vordenker und Lautsprecher der 68er Kultur-Revolution. Und noch in seiner angeblichen „Verkommenheit“ später, als letzter Hippie und erster Punker der Republik, ein höchst sensibler und sprachgewaltiger Seismograph gesellschaftlicher Entwicklungen. Der intelligenteste Mensch dem ich je begegnet bin, dieser Schlachtergeselle aus Breslau. Und was das Professionelle betrifft ein wahrer Großmeister seines Fachs. Nehmen wir nur den aktuellen Champion Harald Schmidt: Was heute eine 30-köpfige Redaktion an Witz in die abendlichen Konferenzen einbringt, zauberte Neuss jeden Tag locker im Alleingang. Ich habe diese „Early Morning Shows“ jahrelang erlebt und mir bei verschiedenen Fernsehfritzen den Mund fusselig geredet, aber leider gab es in den 80ern noch kein entsprechendes TV-Format, sonst wäre das Ungeheuer von Loch Neuss garantiert noch einmal ganz groß herausgekommen. Wolfgang als zugeschaltetes Orakel der Harald Schmidt Show wäre eine unschlagbare Kombination. Aber ich will hier nicht schwärmen, sondern den Lesern seine Bücher und CDs empfehlen. Die alten Sachen in Volker Kühns Werkausgabe „Das Wolfgang Neuss Buch“ bei Zweitausendeins, die neueren auf CD bei Conträr. Das Buch, das ich aus seinen taz-Kolumnen zusammengestellt habe („Der gesunde Menschenverstand ist reines Gift“, Heyne-Verlag 1986) ist leider lange vergriffen, aber die besten Texte wurden in die letzte Auflage des Zweitausendeins-Bands aufgenommen.

HanfBlatt: Den eigentlichen Treffer hast Du selbst aber erst mit der Wiederentdeckung eines bereits in mehreren unübersichtlichen und zusammengeschustert wirkenden Auflagen erschienenen Buches namens „The Emperor wears no Clothes“ gelandet. Was hat Dich bewogen dieses Werk eines alten amerikanischen Hippies namens Jack Herer in einer ansprechenden Form auf Deutsch neu herauszugeben?

Bröckers: Die erste Ausgabe von Herers Buch landete 1987 bei mir. Kurz danach bekam ich einen Auftrag des Magazins „Transatlantik“, eine Reportage über die Cannabis-Szene in Deutschland zu schreiben. In diese Geschichte baute ich die industriepolitischen Hintergründe des Hanfverbots von 1937 aus dem „Emperor“ ein, gab die Buchquelle an und dachte mir, jetzt wird sich sicher ein Verlag dafür interessieren und das Buch auf deutsch herausbringen. Dem war aber nicht so, bis ich 1992 Lutz Kroth von Zweitausendeins beiläufig von der Story erzählte. Der fand Jacks Buch sehr spannend, aber zu chaotisch, und meinte: „Wenn Du die Redaktion übernimmst, machen wir es.“ Und ich sagte: „Ich mache es nur, wenn wir es auf Hanfpapier drucken.“ So kam dann nicht nur das Buch, sondern auch das HanfHaus ins Rollen. Ich organisierte die Hanfpapier-Produktion, und plötzlich wollten alle dieses Papier und die anderen Produkte aus Hanf. Als die Übersetzung fertig war und mein Teil über die europäische und deutsche Industrie-Geschichte des Hanfs ebenso, klang das ganze so plausibel, dass es uns niemand abgnommen hätte. Viele hätten einen Fake vermutet. Deshalb bat ich das Katalyse-Institut um eine wissenschaftliche Studie über den Rohstoff Hanf, die wir quasi als offizielle Bestätigung anhängten. Außerdem checkte ich alle Quellen und Dokumente, aber ich fand keinen Haken – und bisher hat auch niemand einen gefunden. Bis auf eine in der 2. Ausgabe korrigierte falsche Zahl über den Ölertrag hat uns seitdem niemand einen Fehler nachgewiesen – und das Buch hat mittlerweile eine Auflage von 140.000.

HanfBlatt: Wie war die Zusammenarbeit mit Jack Herer, der dadurch wohl zu den Ehren kam, von denen er immer geträumt hatte?

Bröckers: Wir lernten uns im Sommer ’93 in Paris auf einer Hanf-Konferenz kennen, da war die deutsche Ausgabe schon fast fertig. Jack war wunderbar einquartiert, auf einem Hausboot auf der Seine mitten in der Stadt, und wir redeten vom Abend bis zum Morgengrauen. Als ich ihm die Kopie der „Lustigen Hanffibel“ von 1943 zeigte, die ich gerade zuvor in der Staatsbibliothek entdeckt hatte, war er völlig aus dem Häuschen – dass auch die Nazis „Hemp for Victory“ anpflanzen ließen, schien ihm wie das Tüpfelchen aufs i. Meine anfänglichen Bedenken, so ein Nazi-Dokument zu veröffentlichen, wischte er energisch vom Tisch. Jack ist Jude, seine Eltern kamen in den 30ern aus Polen in die USA. „Wir müssen das veröffentlichen“, meinte er, „die Cannabis-Raucher sind doch die Juden von heute, sie werden verfolgt und eingesperrt für NOTHING. Wenn du ein faschistisches System kennenlernen willst, komm nach USA. Sie fordern die Kinder in der Schule auf, die Eltern zu denunzieren wenn sie Pot rauchen und bevor du einen Job kriegst, wollen sie deinen Urin schnüffeln.“ So kam also die Hanf-Fibel in die deutsche und auch in die nächste US-Ausgabe. Was die Ehre betrifft, hatte Jack die in USA schon genug, aber was nützt die tollste Geltung wenn man kein Geld hat. Das habe ich ihm mit der deutschen Ausgabe endlich mal verschafft und bin deshalb natürlich sein dickster Buddy. Er hat sich keinen Benz davon gekauft, sondern wie bei ihm üblich die Bewegung damit gepusht. Dass Hanf in Kalifornien zumindest als Medizin für Schwerkranke mittlerweile legal ist, verdankt sich auch seinem unermüdlichen Einsatz. Weil er aber zuviel isst und sich zuwenig bewegt, hat letztes Jahr sein Herz gestreikt – seitdem muss er sehr langsam tun.

Mathias Bröckers und Roger Liggenstorfer bei der Vorstellung ihres Buches über Albert Hofmann, Basel 2006.
Mathias Bröckers und Roger Liggenstorfer bei der Vorstellung ihres Buches über Albert Hofmann, Basel 2006.

HanfBlatt: „Hanf – Die Wiederentdeckung der Nutzpflanze Cannabis Marihuana“ ist ein echter Bestseller geworden und ein Motor der Veränderungen, die in Sachen Hanf in den letzten Jahren hierzulande stattgefunden haben. Nicht vergessen darf man dabei allerdings das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994, das praktisch eine teilweise Entkriminalisierung des Besitzes geringer Mengen Rauschhanfs zur Folge hatte und die ganze Hanfwelle mit mehreren Zeitungen und einem Boom an Head- und Grow-Shops, sowie mancherorts von den Strafverfolgungsbehörden ignorierten Coffeeshop-artigen Erwerbsläden initialzündete. Wie erklärt sich aus deiner Sicht der Erfolg des Buches? Was hat es bewirkt?

Bröckers: Erstmal eine generelle, grundsätzliche Imageverbesserung. Dieser ganze Dämonisierungs-Humbug schwirrte ja, seit den 30er Jahren implantiert, nach wie vor mächtig in den Köpfen, und das wurde mit der geballten Faktenladung des Buchs zurechtgerückt. Dieser Re-Education-Effekt war das Entscheidende für den Erfolg. Die Tatsache, dass z.B. viele Schüler und Jugendliche das Buch ihren Lehrern und Eltern in die Hand drücken konnten und das Tabu, über das Pfui-Bah-Thema „Rauschgift“ zu reden, gebrochen war. Plötzlich war tatsächlich wieder von Hanf die Rede und nicht nur von Hasch & Drogen. Hans Georg-Behrs Buch, das ja so hieß, „Von Hanf ist die Rede“, hatte das zehn Jahre zuvor noch nicht geschafft, weil es den ökologischen Aspekt der Hanfnutzung nicht berücksichtigte. Dass nun Jack Herer und mir die Vaterschaft der Hanf-Renaissance zugeschrieben wird, wurmt ihn ein bißchen, und deshalb erzählt er jedem, der es nicht hören will, wir hätten alles bei ihm abgeschrieben. Das ist natürlich Unsinn, auch wenn, ebenso natürlich, alle nützlichen Informationen aus seinem Buch in unseres eingeflossen sind, aber eben auch noch einiges mehr. Und dieses Mehr, die Tatsache, dass jetzt die ganze Pflanze, statt nur der Rausch-Aspekt, Thema war, brachte die entscheidende Wende. Als ich die ersten zehn Exemplare des Buchs frisch aus der Druckerei bekam, schickte ich sieben davon nach Karlsruhe an die sieben Verfassungsrichter. So wie die hervorragende Arbeit von Wolfgang Neskovic auf der juristischen Seite, hat das Buch auf der publizistischen Seite wohl entscheidend zu der Trendwende in Sachen Hanf beigetragen. Dazu kam dann das Gerichtsverfahren um den Anbau von Nutzhanf, das wir mit der „Hanfgesellschaft e.V.“ initiiert hatten und das 1996 erfolgreich war. So kam Hanf zurück auf die Felder. Und das HanfHaus, das als erstes Unternehmen in Deutschland wieder Produkte aus Hanf auf den Markt brachte, löste einen wahren Gründerboom aus. Seitdem ist die Pflanze fast in jeder Stadt wieder präsent. Und wie bei jedem Pionier-Boom üblich – am IT-Markt haben wirs gerade erlebt – folgt solch stürmischen Wachstumsphasen zwangsläufig ein Tief. In der Hanfbranche setzte das 1998 ein, zusätzlich forciert durch die Verschärfung der Gesetze zum Samenverkauf. So ganz tatenlos wollte die Kohl-Regierung den blühenden Hanflandschaften dann doch nicht zusehen. Auch die Schikanen in Sachen Führerschein, die dann einsetzten, sind ja nichts als ein plumper Versuch, hinterrücks auf die Hanfbremse zu treten – wo doch das Verfassungsgericht beim Gesetzgeber eigentlich angemahnt hatte, die Repressionen zu lockern. Was die legalen Hanfprodukte betrifft, so blieb von allen Produkten, die das HanfHaus auf den Markt brachte, kein einziges unbeschlagnahmt – ob Hosen, Shampoo, Möbelöl oder Unterhosen. Solche Schikanen machen den Aufbau neuer Märkte für den Rohstoff Hanf nicht leichter – ganz abgesehen davon, dass es nachwachsende Rohstoffe gegen die petro-chemische Konkurrenz sowieso schon schwer genug haben. Aber trotz all dieser Schwierigkeiten, bin ich als Schreiberling mit der Wirkung des Buchs mehr als zufrieden. Es bestätigt den Schmetterlingseffekt der Chaostheorie: Auch ein kleiner Furz kann, im richtigen Moment gelassen, weltbewegende Wirkung haben. Und dieses Buch, das eine Weltauflage von über 500.000 hat, hat tatsächlich schon einiges bewegt in der Welt und tut es weiter. 70 Jahre Desinformation lassen sich nicht in 7 Jahren umdrehen, aber es fehlt nicht mehr viel! Der ganze Drogenkrieg kippt… und ein Cannabis-Friede wird der Anfang vom Ende dieses Kriegs sein.

HanfBlatt: Ich möchte gerne nochmal den inhaltlichen Aspekt des Buches ansprechen. Kernthese des Buches ist, dass Hanf nämlich eine anspruchslose und dabei ungeheuer produktive und äusserst vielseitig nutzbare Pflanze ist. Hanf allein könnte als nachwachsender Rohstoff einen Großteil der Probleme beseitigen, die gegenwärtig dadurch entstehen, dass insbesondere zur Cellulose-, Baustoff-, Faser-, und Ölgewinnung unersetzbare Rohstoffe ausgebeutet werden, namentlich Rohöl und Holz. Auf diese Weise könne Hanf sozusagen die Welt retten. Eine sicherlich verführerische These für jeden Hanffreund. Kritische Stimmen erheben allerdings Bedenken und warnen vor den ökologischen Konsequenzen einseitiger Hanf-Monokulturen. Auch sei die traditionelle Aufschliessung der Hanffasern durch die sogenannte Hanfröste ein Wasser verschwendendes und stark verunreinigendes Verfahren. Was hälst du diesen Bedenken entgegen?

Bröckers: Verglichen mit den Pestizid-Orgien des industriellen Baumwollanbaus ist die Wasserröste doch ein völlig harmloses Verfahren – kein Gramm Chemie kommt zum Einsatz, auch wenn die Brühe, in der die Hanfstengel aufgeweicht wurden, natürlich nicht einfach in den nächsten Fluß geleitet werden kann. Wenn sie aber, wie das z.B. in Rumänien geschieht, als Düngung wieder auf die Felder kommt ist das ökologisch absolut in Ordnung – ein Kreislauf. Dennoch können so altertümliche Verfahren in Zukunft nicht konkurrenzfähig sein, schon gar nicht von der Baumwolle irgendwelche nennenswerten Marktanteile im Textilsektor zurückerobern. Dazu müssen modernere Technologien des Faseraufschlusses, die bereits existieren, vom Labormaßstab in die Praxis umgesetzt werden.
Die These, dass Hanf die Welt retten kann, war natürlich zugespitzt und plakativ, aber ich unterschreibe sie immer noch, auch wenn eine Lösung für die komplexen Probleme des Planeten defintiv nicht ausreicht. Aber Hanf weist überall in die richtige Richtung, ökologisch, ökonomisch, medizinisch und spirituell. Dass der Rohstoff Hanf nach 70 Jahren der Verbote und des Vergessens die Weltmärkte nicht im Sturm zurückerobern kann, ist klar – aber ebenso klar ist, dass er auf ewig als Rohstoff nicht konkurrenzfähig sein wird, solange die Umweltschäden des Baumwollanbaus oder der Waldvernichtung für Papier aus Holz, nicht in die Preise dieser Produkte eingehen. Würde ein konsequentes Verursacherprinzip eingeführt, sind Hanfprodukte schon jetzt konkurrenzfähig und erst recht, wenn sie massenhaft produziert würden. Mono-Kulturen sind dabei übrigens nicht zu befürchten. Hanf ist eine ideale Zwischenfrucht und hinterlässt die Äcker für die Nachfolgepflanzen in optimalem, giftfreien Zustand.

HanfBlatt: Die zweite zentrale These eures Buches lautet: Die rassistische zunächst gegen diskriminierte Minderheiten wie Mexikaner und Schwarze und mit ihnen verkehrende Weisse gerichtete „Marihuana“-Verteufelung, die in den 30er Jahren in den USA unter Harry J. Anslinger, dem langjährigen Leiter des U.S. Narcotics Bureau, begann, diente in erster Linie der Diskreditierung des Hanfes. Es existierte eine Verschwörung von Grössen aus der Holz- und Chemieindustrie, die dadurch den lästigen Konkurrenten Hanf ausschalten wollten. Hier führen Kritiker an, dass der Hanf, sofern er der Berauschung diente, auch schon vor Anslinger in vielen Ländern umstritten war und bekämpft wurde, in manchen Ländern wie Ägypten schon seit Jahrhunderten. Auch die internationalen Gesetze gegen Opium, Opiate und Kokain schlossen den „Indischen Hanf“ schon in den 20er Jahren mit ein. Die Verteufelung habe also vielerorts eine erheblich längere Geschichte. Einen nicht unerheblichen Teil daran habe auch die westliche Medizin und die Pharmaindustrie gehabt. Auf der anderen Seite sei der Hanf z.B. in Deutschland schon Ende des 19. Jahrhunderts auf Grund zu hoher Verarbeitungskosten gegenüber ausländischen Faserpflanzen (wie Baumwolle, Jute etc.) nicht mehr konkurrenzfähig gewesen. Erst während des Ersten Weltkrieges und zur Vorbereitung des Zweiten Weltkrieges entsann man sich wieder seiner Qualitäten als einheimische Nutzpflanze. Danach verschwand er wieder langsam in der Versenkung. Der Anbau selbst wurde in der Bundesrepublik ja erst Anfang 1982 verboten. Hat es diese Verschwörung also wirklich gegeben?

Bröckers: Letztes Jahr habe ich mich als Herausgeber des „Lexikons der Verschwörungstheorien“ von Robert Anton Wilson eingehend mit der Struktur von Verschwörungen beschäftigt, die ja eigentlich die selbstverständlichste Sache der Welt sind: A und B verabreden sich heimlich, um sich gegenüber C einen Vorteil zu verschaffen. Das kommt in jedem Fischteich, jedem Biotop vor und auch in jeder Gesellschaft. Ein weiterverbreiteter Irrglaube ist allerdings, das solche Verschwörungen lange, gar über Jahrhunderte andauern. Insofern ist es sicher Unsinn, heute noch von einer Anti-Hanf-Verschwörung zu sprechen – dass aber die Barone der US-Petrochemie wie Irenee DuPont und Andrew Mellon (Gründer von Gulf-Oil) in den 30ern die Fäden für die erste Prohibitions-Kamgagne gezogen haben ist evident: Das Geld für die erste offizielle Anti-Marihuana.Kamgane kam von ihnen und dass ihr Leiter Harry Anslinger Mellons Schwiegerneffe war, ist nicht einfach ein Zufall. Eine großindustrielle Nutzung von preiswertem Faserhanf, die dank der neu entwickelten Maschinen gerade ins Haus stand und vom US-Landwirtschaftsministerium propagiert wurde, hätte die Markteinführung der DuPont-Kunstfasern aus Öl ganz erheblich erschwert. Dennoch ist dieser industriepolitische Hintergrund nicht die einzige Ursache für das Hanf-Verbot, aber er erklärt die Dynamik der Kampagne, die sich dann ja bis in die Single-Convention der UN durchgeschlagen hat. Neben den Geschäftsinteressen der petro-chemischen Industrie spielten auch rassistische, repressive Motive dabei eine wichtige Rolle. Die Hetzpresse von Hearst hatte schon in den 20ern begonnen, eingewanderte Mexikaner und Schwarze als Kriminelle und Drogenabhängige zu denunzieren, der Überhang an Verfolgungsapparat am Ende der Alkohol-Prohibition tat ein übriges. Da passte alles zusammen. Und sorgte dafür, dass die Hanfnutzung bis heute nicht an die technische Moderne angeschlossen ist. Die wunderbaren Fasern meines Hanf-T-Shirts, dass ich auch bei aktuellen 34 Grad Temperatur mehrere Tage tragen kann ohne verschwitzt zu riechen, werden noch so gewonnen wie zu Urgroßvaters Zeiten. Was die eigentlichen Schweinereien der Herren DuPont, Hearst und anderer betrifft, gehen die übrigens weit über ein bißchen Drehen an der Hanf-Repressions-Schraube hinaus. Ein Forscher aus Kentucky hat ausgehend von Jack Herers Dokumentation herausgefunden, dass DuPont als glühender Rassist und Antisemit u.a. den Aufbau einer faschistischen Organisation in den USA nach Vorbild der SS (Black Legion) finanzierte und Hearst ab 1934 von Nazi-Propagandaminister Goebbels 400.000 $ pro Jahr erhielt – und der „Readers Digest“ von da an auf nazi-freundliche Berichterstattung umschwenkte. Mittenmang in diesem braunen Fan-Club waren übrigens auch der Banker George Walker, der Urgroßvater des heutigen Präsidenten George W. Bush, dem er das Dabbelju in seinem Namen verdankt, und dessen Schwiegersohn Prescott Bush. Sie ergatterten in den 30er Jahren das heutige Vermögen des Clans, vor allem durch Geschäfte mit dem aufrüstenden Hitler-Deutschland. Prescott kam 1942 vor Gericht, wegen „Dealing with the enemy“ und weil er faschistische Gruppen in den USA unterstützt hatte. Dass Walker und Bush „zu den wichtigsten amerikanischen Unterstützern Hitlers“ zählten, wie ein zeitgenössischer Journalist schrieb, bleibt in den Biographien über die Familie heute natürlich ausgespart. Und dass DuPont, der in den 30ern General Motors kontrollierte, der Nazi-Wehrmacht ihr wichtigstes Transportfahrzeug, den Opel Blitz, lieferte, kommt in den Firmen-Biographien des weltgrößten Chemiekonzerns heute natürlich auch nicht mehr vor. Die Autos für den Blitzkrieg hätten ohne Treibstoff freilich nicht rollen können, deshalb verkaufte DuPont auch noch das Patent für die Gewinnung von „Holzgas“, also die Gewinnung von Treibstoff aus nachwachsenden und fossilen Rohstoffen, an die Nazis. Für die USA hatten die Ölbarone DuPont vor einer Nutzung dieses Patents gewarnt, es hätte Wettbewerb für ihren Sprit aus Öl bedeutet, aber Hitlers Wehrmacht durfte er damit ins Rollen bringen. „Holzgas“ wird im übrigen auch in der „Lustigen Hanffibel“ von 1942 erwähnt – inwieweit damals konkrete Versuche mit Hanf als Energiepflanze gemacht wurden, versuche ich gerade herauszubekommen.

HanfBlatt: Welche Visionen hast Du für eine Zukunft mit Hanf?

Bröckers: Wie schon gesagt glaube ich, dass ein Cannabis-Friede der Anfang vom Ende des Drogenkriegs sein wird. Dass wir das Problem mit Drogen, Sucht und Elend nicht durch Krieg in den Griff bekommen, dass der Kampf gegen Drogen mehr Probleme verursacht als löst – diese Erkenntnis setzt sich mehr und mehr durch, auch in konservativen Kreisen. Und doch fällt es der Gesellschaft natürlich schwer, erstmal Ja zu sagen zu Drogen, den Dämon sozusagen zu umarmen, seine Anwesenheit und Notwendigkeit zu akzeptieren – doch nur so kann er seinen Schrecken verlieren. Das heißt nicht, dass nicht auch dann noch Menschen Probleme damit bekommen – von 100 Bewohnern im globalen Dorf werden immer 3 oder 4 schwere Sucht und Abhängigkeiten entwickeln und weitere 3 oder 4% sind möglicherweise gefährdet, aber für die restlichen über 92% überwiegen die Vorteile bei weitem die Nachteile – egal um welche Substanz es sich handelt. Beim Hanf ist das von allen illegalen Drogen am leichtesten einzusehen – und deshalb denke ich, dass hier in den nächsten Jahren eine Wende erfolgen wird. Die Schweiz könnte als Laboratorium einmal mehr Vorreiter sein. Was die deutschen Gesetze betrifft, hoffe ich, in meinem Rechtsstreit um den Verkauf von Vogelfutter im HanfHaus vielleicht ein bißchen an dem 1998 ergangenen Samenverbot rütteln zu können. Vorerst steht da für mich aber erstmal das Gegenteil – 17 Monate auf Bewährung – im Raum. Die nächste Instanz wird voraussichtlich erst kommendes Jahr stattfinden. Falls sich bis dahin Rot-Grün zu einem Hauch von Reform aufrafft, oder zumindest einer Ankündigung derselben, könnte das der Wahrhheitsfindung des Gerichts sicher dienlich sein. Mit einer Entkriminalsierung des Besitzes und der Erlaubnis zum Anbau für den Eigenbedarf werden 90.000 von den 94.000 Justizverfahren, die im Jahr 2000 in Sachen Cannabis Kosten verursachten, überflüssig. Das wäre ein erster sinnvoller Schritt. Und was die Nutzung von Hanf als Rohstoff angeht, ist meiner Meinung nach ein besonderes Wiedergutmachungsprogramm nötig, sprich Zusatz-Förderung für Forschung, Entwicklung und Vermarktung von Hanf als Rohstoff. In das große Bio-Anbau-Programm, dass Renate Künast annonciert hat, passt Hanf ja wie der Faust aufs Gretchen….

HanfBlatt: Arbeitest Du an irgendwelchen konkreten Projekten?

Bröckers: Als aktiver Geschäftsführer des HanfHauses bin ich in diesem Sommer ausgestiegen – aber als Berater und Gesellschafter weiter an Bord. Ich werde in Zukunft wieder mehr schreiben. Gerade ist die Taschenbuchausgabe meines letzten Buchs über das Übernatürliche erschienen („Können Tomaten träumen?“ – Königsfurt-Verlag), und die da ventilierten Themen – Kosmologie, Quantenphysik, Katastrophentheorie, Bewußtseinsforschung usw. – beschäftigen mich weiter. Auch das Thema Verschwörungen. Und natürlich Hanf. Ich suche gerade nach Finanzierung für einen asketisch-luxuriösen, hanfgebundenen Fotoband – Mäzene bitte melden! Ja, und dann gibt es ein noch nicht ganz konkretes Projekt, das ich deshalb auch noch nicht ausplaudern kann, von dem ich mir aber viel verspreche. Es könnte einen ähnlichen Kick auslösen wie es das gelbe Buch in Deutschland getan hat – aber auf globaler Ebene. Es gibt immer noch viel zu tun – pflanzen wirs an!

Von oder mit Mathias Bröckers sind unter anderem der Bildband „Cannabis“ und natürlich das hier besprochene Buch von Jack Herer erschienen . Leicht zu bestellen über Amazon, neu oder gebraucht:

 

 

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Interview mit Ronald „Blacky“ Miehling

HanfBlatt, Nr. 83, Mai 2003 (mit Update 2007)

Der Lawinen-Lieferant

Interview mit dem ehemaligen Kokainhändler Ronald Miehling, der über Jahre den deutschen Markt mit Kokain versorgt hat.


Er kehrte in den Koka-Labors in den Wäldern Kolumbiens ein und aus, wies seinen Kurieren den Weg nach Deutschland und Europa und organisierte die kiloweise Verteilung von Kokain an die Zwischenhändler. Er wurde reich, seine Mitarbeiter auch, und zog ganz nebenbei noch „mindestens zwei Kilo durch die Nase“. Ein Leben im Rausch. Dann, 1994, war das „lustige Geschäft“, wie er den Kokainhandel selber nennt, vorbei. Observiert hatte man in schon zwei Jahre lang, ein Einsatzkommando nahm ihn in Venezuela hoch, nach der Auslieferung verurteilte man ihn in Deutschland zu 12 1/2 Jahren Haft. Der Richter vermutete, dass im Prozess nur an der „Spitze des Eisbergs“ gekratzt wurde. Über acht Jahre hat Ronald „Blacky“ Miehling nun hinter sich, davon die ersten zwei in Isolationshaft. „Ein Wunder, dass ich dabei nicht beknackt geworden bin“, sagt er. Jetzt ist seine Lebensgeschichte als Buch erschienen. Im Interview berichtet Miehling von der Kunst des Schmuggelns, der Moral des Dealens und dem ordnungsgemäßen Konsum von Kokain.

Frage
Wie fing deine Tätigkeit im Kokain-Business an?

Miehling
Tja, das waren Verknüpfungen glücklicher und unglücklicher Umstände. Angefangen habe ich hier in Hamburg mit Gramm-packets. Ein paar Jahre später stand ich auf der Plantage und noch ein viertel Jahr später stand ich direkt in der Koka-Küche. Das Prinzip ist doch immer das gleiche überall auf der Welt: Man lernt die richtigen Leute zum richtigen Zeitpunkt kennen.

Ronald Miehling, © Jörg Auf dem Hövel
Ronald Miehling, © Jörg Auf dem Hövel

Später waren Deine Kontakte so gut, dass Du in Kolumbien direkt vom Hersteller beziehen konntest. Welchen Weg nimmt das Kokain von dort aus?

Wie man weiß, wachsen in Kolumbien Bananen. Die werden dort geerntet, verschifft, kommen hier an und werden dann gegessen. Genau so läuft das bei Kokain ab. Der Unterschied ist nur, dass die Arbeit in geheimen Dschungel-Labors ablaufen muss. Die Bauern sammeln die Blätter, irgendein Konsortium backt das zu Koks zusammen und dann wird´s verkauft.

Und je direkter der Kontakt, umso preiswerter die Lieferung.

Klar, zuletzt habe ich 800 Mark für das Kilo bezahlt, und zwar direkt an die Polizei.

An den Beamten vor Ort?

Die verdienen dort unten halt sehr wenig und manchmal haben sie Glück und können Kokain beschlagnahmen. Ein Teil davon wird einfach gegen Attrappen ausgetauscht und meistbietend abgegeben. Wenn es ganz gut läuft, dann bringen sie einem das sogar noch auf´s Schiff.

Wo es dann unter falscher Deklaration nach Europa verschifft wird?

Oder es wird in wasserdichten Metallkästen an den Schiffsrumpf angeschweißt. Oder im Steuerkasten versteckt. Oder ein Crewmitglied nimmt es mit. Es gibt viele Wege, bekannte und unbekannte.

Dann bitte einen unbekannten.

Na, bleiben wir mal ruhig bei den bekannten. Zunächst gilt es zu wissen, wie die Leute an den Grenzen funktionieren. Und da kann ich sagen: Alle Zöllner dieser Welt funktionieren gleich, alle Bullen dieser Welt funktionieren gleich. Alle haben gewisse Konstanten in ihrem Verhalten. Jetzt muss man nur etwas finden, was in ihr Bild passt und daneben die eigentliche Ware durchschieben. Das ist der ganze Trick.

Ein Beispiel, bitte.

Am Flugplatz stehen die Scouts der Zöllner rum und achten darauf, dass sich jemand auffällig benimmt. Der wird dann rausgepickt und untersucht. Was sie nicht mit kriegen ist, dass nebenan eine ganze Karawane durchläuft. Das nennt man den Hasen jagen. Das hat früher gut funktioniert, heute wohl nicht mehr.

Hört sich eher nach Kleinhandel an.

Na ja, das ging um bis zu 70 Kilo in einer Fuhre. Das ist kaum noch Kleinhandel.

Damit war der Monatsbedarf für Euren „Verein“ gedeckt?

Ungefähr. Unser damaliger Monatsbedarf lag zwischen 50 und 200 Kilo.

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Welches Gebiet konntest Du damit abdecken?

Das hat mich nie interessiert. Ich habe nur bemerkt, dass der Preis erheblich fiel, wenn ich den Markt voll geschmissen habe und anstieg, wenn ich es zurück hielt. Teilweise habe ich darum unter Preis verkauft, dann solange gewartet, bis die anderen Händler, die in Holland teuer gekauft hatten, an den niedrigen Preisen erstickt sind und verzweifelt in andere Städte abtransportiert haben. Dann habe ich den Markt zugemacht, den Preis erhöht und mein Defizit doppelt wieder drin gehabt. Das nennt sich Marktwirtschaft.

Wobei die Illegalität Eure Gewinnspannen in die Höhe trieb.

Wenn du ein Kilo in Südamerika kaufst und hierher transportierst, dann gibst du maximal 5000 Euro aus, eher sogar 2500 Euro. Hier erzielst du im schnellen Verkauf 30.000 Euro, im Großhandel 20.000 Euro und im Straßenverkauf, tja, rund eine viertel Million. Da fließen enorme Gelder. In Deutschland liegt heute so viel Kokain rum, dass selbst bei einer Schließung aller Grenzen der Markt noch mindestens drei Monate beliefert werden könnte. Würde man Holland noch dazu rechnen, dann würde dieser Zeitraum sogar auf ein halbes Jahr anwachsen.

Wenn man Dich so hört, dann könnte man auf die Idee kommen, dass der Handel mit Kokain eine großer Spaß für die ganze Familie ist.

Du musst es mal so sehen: Ich habe in Holland immer zwischen zwei und vier Leuten nur zum Knallen gehabt.

Knallen?

Ja, Leute, die Probleme mit der Waffe bereinigen. Aber die habe ich nie gebraucht und darauf bin ich stolz. Alle meine Konkurrenten haben die benutzt, weil es halt ein hartes Business ist. Ab einer gewissen Größenordnung gibt es nur noch zwei Arten von Geschäftsleuten: Gerade oder Tote.

Und wie sichert man sich da ab?

Du kannst dich nicht absichern, kein Menschen kann sich absichern, nicht mal der amerikanische Präsident kann sich absichern. Das heißt: entweder du hast einen Namen in der Branche und bist als korrekt bekannt oder du bist ein toter Geschäftspartner.

Wurde irgendwann das Geschäft zu groß oder woran lag es, dass die Polizei aufmerksam wurde?

Das lag an meinem falschen Personal. Siehst Du, ob ich eine Mark oder eine Million in der Tasche habe, das merkst du mir nicht an. Ich bin immer der gleiche Mensch…

Das kommt selten vor.

Ja, aber für mich ist Geld nur ´ne Menge Chips und die tausche ich gegen Spaß ein. Mehr ist das nicht. Ab einer bestimmen Summe ist Geld uninteressant. Mit 5000 Euro im Monat kannst du alles abdecken um normal zu leben, alles darüber ist Luxus. Wenn der da ist – gut, wenn nicht – auch gut. Einige Leute, die mit mir zusammen gearbeitet haben, die sahen das anders. Die hatten vorher noch nie einen Tausender gesehen und plötzlich hatten sie ´ne Million in der Tasche. Und plötzlich waren alle anderen nur noch Penner für sie. Wenn man so denkt, dann überschätzt man sich.

Und das ist schlecht für das Geschäft?

… dann geht das irgendwann nach hinten los. Das war ein Grund, weshalb das Geschäft scheiterte: die Leute haben nicht richtig funktioniert.

Gab es noch andere Gründe?

Ich hatte verboten auf St.Pauli zu verkaufen und ich hatte verboten an Kleindealer und Junkies zu verkaufen. Einer meiner Leute garantierte aber immer häufiger für irgendwelche Kleindealer und sprach diese „gut“. So nach dem Motto: „Der ist in Ordnung.“ Dieses ewige Gutsprechen. Na ja, und dann hat er einen erwischt, der war nicht gut. Dieser V-Mann hatte selbst Probleme mit seinem Drogenkonsum, er stand unter Druck, er musste also was liefern. Mein Mann hatte ihm sehr Reines gegeben und behauptet, er können davon mehr besorgen. So hat der V-Mann die passende Geschichte dazu erfunden und bei der Polizei gesungen: „Ein Schiff wird kommen.“

Aber es kam gar keines.

Jedenfalls nicht das, auf welches die Polizei in Bremerhaven wartete. Leider traf ich den V-Mann ebenfalls und so entstand meine Akte. Zwei Jahre lang haben sie mich beschattet – ohne etwas nachweisen zu können. Dann kam der nächste Fehler und wieder nur, weil Leute nicht richtig funktioniert haben.

Wie viele Schritte sind es vom Labor in Südamerika bis zur Linie auf dem Spiegel?

In den Labors in Kolumbien wird Kokain mit einem Reinheitsgehalt von 88 bis 96 Prozent hergestellt. Dann landet es in Europa und wird zum Beispiel in den Labors in Holland sofort in die große Mischmaschine geworfen und um 50 Prozent gestreckt.

Streckmittel?

Unterschiedlich. Koffein, Mannitol, Lidocain, Speed – einmal Bayer Leverkusen hoch und runter. Alles was knallt. Die Koks-Konsumenten brauchen diesen Kick. Reines Kokain macht keinen Kick, das wissen die nur nicht. So, dann fahren die Zwischenhändler rüber und kaufen das in Kilo-Portionen für 20 bis 25 Tausend Euro. Ist es in Deutschland gelandet, wird es wieder Eins zu Eins gestreckt. Dann geben diese Dealer das weiter an ihre Kleinhändler und die, nun die strecken wiederum Eins zu Eins. Bis es auf dem Markt ankommt hat es – wenn man Glück hat – also noch 10 Prozent. Wenn du eine Top-Quelle hat, dann kriegst du vielleicht mal 20-prozentiges. Da ist doch einfacher in die Apotheke zu gehen, sich ein paar Chemikalien zu holen und sich die in die Birne zu knallen. Billiger ist es zudem.

Und gesünder.

Wahrscheinlich auch. Dabei lässt sich reines sehr einfach von unreinem Kokain unterscheiden.

Wie?

Wenn sie auf Steine, also stark gepresstes, krümeliges Kokain treffen, denken viele, sie hätten gutes Koks vor sich. Quatsch. Gutes Kokain ist immer Pulver und wird höchstens dadurch gepresst, dass es feucht verpackt wird. Es ist nie steinig. Im Gegenteil, bestes Kokain ist kristalin, staubfein oder flockig. Zum Testen nimmt man eine sehr, sehr kleine Menge, streut es auf ein Stück Silberfolie und erwärmt diese von unten mit einem Feuerzeug. Dann fängt es an zu schmelzen und muss – das ist wichtig – einen scharfkantigen Hügel bilden. Wenn es an den Seiten brodelt, dann ist es mit Mannitol gestreckt. Zudem darf die erwärmte Masse nicht chemisch oder süß stinken. Wer einmal gutes Kokain gerochen hat, erkennt es immer wieder. Nach dem vorsichtigen, mehrmaligen Erwärmen darf nur ein Nagellacktupfer übrig bleiben. Streicht man über diesen mit dem Finger, dann darf das nicht kratzen, sondern muss wie lackiert sein.

Aber wer kriegt solches Kokain unter den Nagel?

Klar, der Test kann den Leuten nur zeigen, was sie sich für einen Müll reinziehen.

Ronald Miehling, © Jörg Auf dem Hövel
Ronald Miehling, © Jörg Auf dem Hövel

Ist es Deiner Meinung nach die chemische Verunstaltung der Substanz, die die Probleme für den Konsumenten schafft?

Zum einen sicher. Zum anderen: Welcher Wein- oder Whiskeyliebhaber kommt auf die Idee, sich seinen Alkohol intravenös zu spritzen? Keiner.

Also sind – wenn man schon Drogen nehmen will – die natürlichen Wege vorzuziehen?

So ist es. Ich habe mindestens zwei Kilo durch meine Nase geblasen. Und? Ich habe kein Bedürfnis, sehe klar aus und bin hell in der Birne.

Das klingt nach einem Hohelied auf Kokain.

Es ist doch einfach so: Jeder Mensch hat seine persönliche Dosierung. Wenn ich meine Dosierung treffe, dann bin ich tatsächlich das Monster im Bett, der Weltmeister in der Disco und habe auch noch eine Bewusstseinserweiterung. Nehme ich aber ein bisschen zu viel, dann geht das direkt nach hinten los. Richtiges Kokain wirkt rund vier Stunden, bei korrekter Dosierung kann man alle paar Stunden nachtanken und den Zustand so über zwei Tage erhalten.

Um sich danach direkt in die psychiatrische Anstalt zu begeben?

Nach einem solcher Tour muss man mindestens eine Woche Pause machen. Ich habe oft zwei, sogar vier Wochen nichts genommen und hatte danach wieder mit äußerst geringen Mengen von einem Zehntel Gramm meinen Spaß. Man muss Genießer sein und dann ist diese Droge in Ordnung.

Unter der Voraussetzung, dass man mit der reinen Substanz hantiert.

Das ist natürlich richtig. Jeder Dealer, der das mit irgendwelchen linken Mitteln streckt ist für mich ein Verbrecher. Ganz einfach. Ansonsten ist der Handel mit Kokain für mich kein Verbrechen. Die Alkohol- und Tabakdealer werden ja auch nicht bestraft.

Warum dann die Kokaindealer?

Weil das Kokaingeschäft ein riesiger Wirtschafts- und damit Machtfaktor ist. Ab einer gewissen Größenordnung nimmt man nicht nur viel Geld ein, man hat auch bestimmte Kontakte, Verbindungen und es entstehen gegenseitige Abhängigkeiten. Wenn eine Gruppe die enormen Geldströme bündeln würde, was dann? Dann könnte diese sich Politiker und Beamten kaufen. Jeder Mensch hat seinen Preis. Hier in Europa sind die Leute ein wenig teurer, in Südamerika sind sie ein wenig billiger. Nicht die Schädlichkeit der Droge stinkt dem Staat, sondern die politische Macht in ihrem Dunstkreis.

Wusstest Du, dass einige deiner Kunden mit der Droge nicht richtig umgehen können?

Nein, dass war mir nicht klar, denn wir haben in die Schickeria geliefert. Zudem müsste, wenn man so denkt, jeder Alkoholhersteller den Moralisten raushängen lassen und seinen Laden schließen. Ich zum Beispiel bin nikotinsüchtig, aber dafür mache ich doch nicht den Zigarettenhersteller verantwortlich. Klar, Moral ist gut, aber wo fängt sie an und wo hört sie auf?

Das fragt sich wohl auch die CIA, die in den Kokainhandel in Kolumbien verstrickt ist.

Ja, damit werden Kriege sowie halb- und ganz illegale Aktionen in Südamerika finanziert. Die Gewinnspannen sind einfach so hoch, dass einige Regierungen überhaupt kein Interesse daran haben, die Illegalität von Kokain abzuschaffen. Wenn du von zehn Transporteinheiten á einem Kilo nur zwei durchkriegst, dann hast du immer noch Gewinn. Bei dem Geschäft kann man nicht verlieren.

Außer die Freiheit.

Genau, und die habe ich verloren, weil ich nicht monströs genug war. Ich verstehe zwar, wie die Kolumbianer denken, aber selbst so denken kann man als Mitteleuropäer nicht. Die Illegalität ist ein Mordsgeschäft und wird von den Regierungen benutzt, um Politik zu machen. Denen geht es nicht um die Droge.

Das Verbot trifft demnach die Falschen?

Der Mensch sitzt da und denkt, „das ist nicht alles“. Dann macht er Sex, trinkt Alkohol, geht in die Disco, raucht und probiert anderes aus. Das kriegt man durch Verbote nicht aus ihm raus, dieses Verlangen. Er muss also lernen, was und wie viel davon gut für ihn ist.

Stärkung der Eigenverantwortlichkeit ist demnach das Thema.

Das ist der Weg. Restriktionen führen auf Dauer zu nix, im Gegenteil; es gibt genug Leute, die lassen sich immer wieder was neues einfallen, wie man diese Verbote umgehen kann. Ein Kolumbianer sagte mal zu mir: „Eine Tür geht zu, zehn andere öffnen sich. Wo ist das Problem?“ Er hatte Recht.

Wie siehst du den Kokain-Markt heute?

Früher war das eine Art Gentleman-Geschäft. Es gab Räuberbanden, so wie ich eine hatte. Dann hat die Polizei fast alle deutschen Gruppen weggefangen und jetzt haben wir ausländische Gruppen. Die haben bekanntlich eine etwas andere Mentalität. Toll, sage ich da, jetzt haben wir die organisierte Kriminalität, die so lange beschrieen wurde. Selbst Schuld. Jetzt wird bei jeder Gelegenheit geballert und die Gewinne werden sofort ins Ausland transferiert. Da kann man den Behörden nur zu ihren unbestreitbaren Erfolgen beglückwünschen – gute Arbeit, Jungs!

Hast du noch Kontakt zu den alten Geschäftspartner?

Blöde Frage.

Klingelt mal jemand? Schreibt mal jemand einen Brief?

Ich habe keine Feinde und viele Freunde. Denn ich verrate keine Wege und keine Freunde. Das habe ich nie und werde ich auch nicht. Ich hätten diesen Knast gar nicht antreten müssen, die DEA hat mir ein Angebot gemacht, da hätten andere nicht nein gesagt.

Über zwei Drittel der Strafe hast du um. Sind die Zustände im Knast so bestürzend, wie oft beschrieben?

Schlimmer. Das ist Villa Kunterbunt da.

Drogen aller Art?

Ein Wunschkonzert. Alles vorhanden, da wird jeder glücklich. Was in letzter Zeit weniger geworden ist, ist Alkohol, der ist zu groß zum transportieren. Wir haben ein Top-Strafvollzugsgesetz, da drin ist alles geregelt – es hält sich nur keiner danach. Es herrscht Gutsherrenmentalität unter den Beamten. Die wollen, dass man losgeht und den reuigen Sünder spielt und sich von ihnen sagen lässt, wie man zu leben hat. Die Knakis werden so belogen und schikaniert, bis sie den Glauben an die Gerechtigkeit verlieren und nach ihrer Entlassung bald wieder als treue Kunden zurückkehren. Große Firmen nennen so was „Kundenbindung“.

Das nennt sich Resozialisierung.

So ist es. Aber ich habe einen dicken Kopf und ich bin in meinem Leben immer gut klar gekommen. Wo ich hingekackt habe, da haben die noch nie hingerochen. Ich sage mir, wenn ich mir jetzt den Finger in den Arsch stecken lasse, dann steckt mir draußen jeder den Finger in den Arsch.

Mit dieser Einstellung wird es sicher nicht einfacher dort.

Klar. Ihr Versuch mich zu beugen fing ja schon mit der Isolationshaft an. Zwei Jahre lang habe ich nur den Schließer gesehen und mit niemanden gesprochen. Weißt du, in der Türkei, da werden die Leute verhauen, da siehst du blaue Flecken, aber hier ziehen sie so ´ne Nummern mit dir durch, denn auf der Seele siehst du keine Narben.

Danke für das Gespräch.

Literatur

Im Rowohlt Verlag ist von Ronald Miehling und Helge Timmerberg ein Buch mit dem Titel „Schneekönig“ erschienen. Leicht neu oder gebraucht zu bestellen über Amazon:

Update 2007

Drei Jahre nach seiner Freilassung wurde Ronald Miehling im November 2006 in Hamburg wieder verhaftet. Der Vorwurf: Schmuggel von mindestens 40 Kilogramm Kokain von Kolumbien nach Deutschland. Im Mai 2007 wurde er erneut verurteilt, das Landesgericht Hamburg sprach knappe acht Jahre Haft aus.

Update 2013

Ein Doku-Film über Ronald Miehling ist erschienen. Der Schneekönig.

 

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Interview mit Wolf-Dieter Storl

HanfBlatt 2002

Der Kosmos am Wegesrand

Interview mit Wolf-Dieter Storl

Wolf-Dieter Storl ist Kenner psychoaktiver und germanisch-keltischer Heilpflanzen und weiß bildhaft von deren Mythen und Geschichten zu berichten. Er selbst lebt in einem Verhältnis zur Natur, das stark von seiner Verbindung zu den lebenden Pflanzen geprägt ist. In seinen Büchern, wie beispielsweise „Pflanzendevas“, vermittelt Storl die Perspektive, dass die menschliche Kultur maßgeblich von Pflanzen bestimmt wurde und wird und dass wir direkt von den Pflanzen lernen können. Wir treffen den „Wurzelsepp“ nach einem Vortrag, den er im Rahmen des Hamburger Hanffest gehalten hat. Storl fühlt sich in der Großstadt sichtlich unwohl, seine Augen fangen immer wieder dann an zu leuchten, wenn es um Pflanzen und alte Mythen geht.

HanfBlatt
Es entspannt sehr, durch den Garten zu schlendern und hier und dort einen Grashalm auszuzupfen, ihn zu zerreiben und daran zu riechen. Wie aber bist du darauf gekommen, in den Pflanzen ein Wesen zu entdecken? Wo wir vielleicht noch den Geschmack ersinnen, entdeckst du in jeder Pflanze eine besondere Wesenheit, die sich mitteilt. Das klingt für mich sehr esoterisch.

Storl
Als ich als Junge nach Amerika kam, bin ich anstatt Baseball zu spielen in die Wälder gegangen. In Ohio auf dem Land gab es Schlangen, Schildkröten, Waschbären, Opossums, und vor allem Pflanzen. Dort gibt es noch heute fast zehn mal so viele Pflanzenarten wie hier in Deutschland. Alleine 150 verschiedene Laubbäume – das war enorm faszinierend. Ich habe dann die Lehrer nach den Pflanzen gefragt und die antworteten nur: „God dammed weeds, they are not interesting“. Ich fand sie aber sehr wohl interessant und meine ganze Freizeit war ich im Wald und auf den Bäumen. Es gab keine Bücher darüber, keinerlei intellektuelle Information, und so saß ich da, habe die Pflanzen beobachtet und einen Spürsinn für sie entwickelt.

HanfBlatt
Also ein sehr frühes Interesse. In den 50er Jahren in den USA dürftest du dabei vom Hanf wenig mitbekommen haben. Es herrschte die Verteufelung des Hanfs.

Storl
Man sah nie eine Hanfpflanze, ich hätte nie gewusst, wie eine aussieht. Es war irgendein Rauschgift, dass die Leute zum Wahnsinn treibt, zu Mord und zu ausschweifender, perverser Sexualität.

HanfBlatt
Wenn man den Mord streicht, eigentlich alles Dinge die wir uns wünschen.

Storl (lacht)
Nicht wenn ihr im Mittleren Westen der USA aufwachst. Dort war Sexualität das Werk des Teufels. Eine vollkommen schizophrene Entwicklung.

HanfBlatt
Die sich bis heute durch die amerikanischen Gesellschaft zieht.

Storl
Klar, schau dir nur den Clinton mit seiner Tussi an. Hanf habe ich aber erst bei einer Reise nach Kalifornien kennen gelernt. Ich hatte enorme Angst vor dem Rauchen. Ich studierte dann Botanik, hörte damit aber bald wieder auf, weil ich nur im Labor stand und ich wollte ja raus in die Natur.

HanfBlatt
Das muss am Anfang der Hippie-Bewegung gewesen sein.

Storl
Auf den Campus kamen um 1964 die ersten Leute die Indien bereist hatten. Sie hatten lange Haare, sie hatten natürliche Klamotten, fließende Gewänder, sie haben Sachen gerne geteilt, sie hatten Zeit und saßen gerne im Grünen. Es waren Blumenkinder. Davon war ich natürlich begeistert. Der Begriff der „Hippies“ kam erst auf, als Journalisten in New York fragten: „Hey, was ist das für ein neuer Trend?“. Beatniks waren das nicht, Hipsters auch nicht, denn das waren die Leute aus dem Ghetto, die wussten, wo es die Drogen gibt. Aber gekifft haben sie, also nannte man sie Hippies. Das war die Zeit in der die ersten Flugzeuge regelmäßig nach Indien flogen. Dort entdeckten die Abenteuerlustigen eine völlig neue Welt. Die Inder konnten nicht wissen, wer diese Menschen waren, vielleicht ja Shiva und Parvati? Also nahmen die Ärmsten sie in ihre Hütten auf, haben sie bewirtet. Diese Leute haben auch die Sadhus kennen gelernt, Cannabis geraucht und kamen völlig ekstatisch zurück nach Amerika. Sie brachten ein Element der Ekstase mit. Lange Zeit hatte sie jeder gerne, Probleme mit der Polizei gab es kaum. Dies entwickelte sich erst, als die Bewegung politisiert wurde und Klassenkampf-Parolen Einzug hielten.

HanfBlatt
Was lehrte dich das Botanik-Studium?

Storl
Im Studium habe ich gleich gespürt, dass die Pflanzen wie tote Gegenstände behandelt wurden, die Wirkstoffe akkumulieren, Zellulose anhäufen und das war’s. Das waren reine Materialisten die dort lehrten. Sie sagten: „Die Pflanze lässt ihre Wurzeln nicht wachsen um Nährstoffe zu suchen. Dies würde ihr ein Motiv zusprechen, was nicht vorhanden ist.“ Ihrer Ansicht nach ist alles in der Natur einfach eine chemisch-mechanische Reaktion.

HanfBlatt
Seelenlose Biomassefabriken.

Storl
Genau. Ich wusste, dass stimmt nicht. Ich hatte über Jahre im Wald gesessen und die Natur empfunden. Ein Teil dieser Ansicht war sicherlich auch dadurch bestimmt, dass ich in meiner frühen Jugend einige Bücher der Romantik gelesen hatte. Aber das amerikanische Ethos unterscheidet zwischen „Kultur“ und „Natur“. Kultur ist zivilisiert und kontrolliert, die Natur ist wild. Dementsprechend wurden die Indianer behandelt. Genauso sind Wildkräuter aus dieser Sicht wertlos. Mir scheint es fast anders herum: Das was Kultur ist, dieser kurzgemähte Rasen, die ganze Entseelung. Der Wald ist für mich viel wertvoller und mit viel mehr Seele ausgestattet. Ja, ja, so ist es.

HanfBlatt
Das kam mir bei den Vegetariern schon immer etwas merkwürdig vor. Im Grunde genommen ist es auch ein Akt der Grausamkeit, wenn man eine Pflanze schlachtet, tötet.

Storl
Dann muss man es wie die Jains machen, die kein Karma mehr verursachen wollen. Sie setzen sich hin und nach 40 bis 60 Tagen entschweben sie ins Nirwana.

HanfBlatt
Schneller noch, wenn sie das Atmen eingestellt haben.

Storl
Es gibt keine Naturvölker, die Vegetarier sind, aber die Tiere werden respektvoll von ihnen behandelt. Vegetarismus ist eine späte zivilisatorische Entwicklung, die entstand, als die indische Gesellschaft um 500 v.u.Z. eine Krise durchmachte. Die ganzen Sekten wie der Buddhismus und Jainismus sich den Brahmanen gegenüber brüsteten, dass sie viel heiliger wären, weil sie keine Tiere essen würden.

HanfBlatt
Wie aber nimmt man Kontakt zu Pflanzen auf. Was können wir, als „Vertreter der gelangweilten genusssüchtigen Konsumkultur“, wie du es einmal nanntest, lernen?

Storl
Eine bequeme Antwort wäre: man pfeift sich eine Menge Shit rein, dies öffnet die „Pforten der Wahrnehmung“, wie Aldous Huxley das sagte und dann geschieht das. Ich denke nicht, dass dies automatisch geschieht. Als ich Ethnologie und Anthropologie studierte, unternahm ich eine Feldforschung unter Gärtnern in Genf. Ich tarnte mich als Gärtner, um die Gruppe dort zu studieren. Was mir dort auffiel: Wenn man stundenlang in einem Garten hackt, jätet und arbeitet, dann wirkt das wie das monotone schamanische Trommeln. Wenn man es schafft, das schnell schnatternde Gehirn zur Seite zu legen, dann kommt die Natur und spricht einfach. Dann kommen Sachen rüber. Das ist nicht etwas, was man mal eben am Wochenende macht, sondern das geschieht über eine lange Zeit. Zum Beispiel stand ich bei einem Busch, der viele Blattläuse hatte. Da dachte ich: „Eigentlich sollten hier ein paar Marienkäfer sein“. Ein Jahr später sah ich tatsächlich viele Marienkäfer an dem Busch.

HanfBlatt
Das hatte sich rumgesprochen.

Storl (lacht)
Ja. Wenn man solche Beobachtungen lange und öfter macht, dann merkt man, dass die Natur zuhört und reagiert. Natur ist nicht tot, sondern sie besitzt einen seelisch-geistigen Aspekt, der für uns meistens unsichtbar ist.

HanfBlatt Von diesem Prozess sind wir aufgrund der Kulturation stark entfremdet.

Storl
Vor kurzem war der älteste Medizinmann der Cheyenne, George Elkshoulder, ein guter Freund von mir, bei einer Schamanen-Tagung in Garmisch. Dort waren viele Schamanen aus der ganzen Welt und George war in der Hoffnung dahin gekommen, das diese Schamanen zusammen daran arbeiten, das der ganze destruktive Prozess auf dem Globus umgekehrt wird. Sein Eindruck war allerdings das dort nur, wie er es ausdrückte, „Ceremonial people“ waren, „Showmen“. Und er fragte mich, weshalb ich ihn überhaupt eingeladen hätte. Ich sagte: „Weil wir alles verloren haben. Wir haben keine sakralen Lieder, keine sakralen Tänze, und wir wissen nicht wie man mit der Natur umgeht.“ George sagte: „Ihr habt überhaupt nichts verloren. Ihr habt doch die Berge, die Tiere, Bäume und Pflanzen. Fragt sie. Fragt sie doch. Die sagen euch, was ihr wissen wollt.“ Dass der springende Punkt ist, dass wir nicht mal mehr wissen, wie wir fragen sollen, das hat er nicht begriffen.“

HanfBlatt
Müssen wir uns nur trauen zu fragen?

Storl
Dazu muss man wohl erst einmal die beengenden Annahmen der Psychoanalyse abstreifen. Selbst Jung deutet alle unsere Ideen als Projektion in eine leere Welt hinein – solch ein Kontakt zur Natur besteht danach nur in unserer Fantasie. Das ist eine Annahme, die nie irgendjemand bei den Naturvölkern haben würde. Das ist ein klares Produkt unserer kranken Zivilisation.

HanfBlatt
Projektionen sind ein wichtiges Stichwort.

Storl
Projektionen finden ja auch statt. Und viele Phänomene der New Age-Szene sind voller Projektionen. Diese Menschen hören ja überhaupt nicht zu, sie projizieren alle ihre Wünschen und Vorstellungen hinein. Wie viele Cleopatras sind inzwischen reinkarniert worden!

HanfBlatt
Und die Männer werden Napoleon.

Storl
Gleichwohl ist eine Kommunikation mit der Außenwelt, der Natur, möglich.

HanfBlatt
Aber wie kommuniziert die Natur?

Storl
In den Schulen wird uns eingedrillt nur nach der objektiven Außenwelt zu schauen. Alles muss wägbar, messbar, analysierbar sein. Das ist ein Kult. Aber es gibt auch eine andere Art der Wahrnehmung. Die kann man als innerliche Resonanz mit der Umwelt bezeichnen. Dies erlangt man, indem man sich seines Inneren bewusst wird. Dann sieht man die Welt mit dem Spiegel der Seele, nicht nur mit den äußeren Augen. Die Seele des Menschen kommuniziert dann mit der Seele der Natur.

HanfBlatt
Dagegen arbeitet eine wissenschaftliche Tradition, die alles einteilen will. Alle Pflanzen sind eigentlich individuell, jeden Moment anders, es herrscht buntes Chaos. Wir nennen es Löwenzahn, aber es könnte auch viele andere Namen haben.

Storl
Das ist ein Teil der äußeren Wahrnehmung und gegen diese Kategorisierung ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Ein Löwenzahn kann mit den nach außen gerichteten Sinnen wahrgenommen werden, aber eben auch mit den inneren. Wir haben einen Seelenspiegel, der das innere Wesen des Löwenzahn wahrnehmen kann. Man kommuniziert nicht mit dem äußeren Wesen, sondern mit dem inneren. In den westlichen Industrieländern herrscht seelische Hungersnot. Und wir werden abgespeist mit einer Massenmedien-Industrie, die letztlich nur seelisches Junkfood bietet. Darum sind die sogenannten Drogen auch so bedrohlich. Es ist der Versuch etwas zu finden – wieder Zugang zu den seelischen Aspekten der Welt zu erhalten.

HanfBlatt
Kann das klappen?

Storl
Manche Pilze beispielsweise klinken den Menschen in die makrokosmische Intelligenz der Erde ein. Ganja kann den Menschen Zugang zur göttlichen Seele offenbaren – dazu muss man aber die innere Bereitschaft haben.

HanfBlatt
Zeit scheint mir eine große Rolle zu spielen. Und die nehmen wir uns wenig. Ein Wochenendseminar unter dem Titel „Jetzt höre ich meiner Pflanze zu“ kann es ja wohl nicht sein.

Storl
„Mit der Pflanze sein“ oder „Mit dem Tier sein“; dazu bedarf es schon Geduld. Ich bin davon überzeugt, dass unsere Konsumgesellschaft von dem Frust des verlorenen Kontaktes zur Natur lebt. Wenn man nicht befriedigt ist, dann greift man zur Ersatzbefriedigung. Neue Klamotten, ein neues Auto. Das sich Finden in einem sprechenden und göttlichen Universum bringt Seelenheil. So geht man beispielsweise eine Straße entlang und sieht zwischen zwei Gehwegplatten einen Storchenschnabel hervorwachsen. Man riecht daran, stellt sich vor wie eine Ameise den Samen in die Ritze transportiert hat, und erinnert sich an alte Geschichten. Daran, dass der Geruch Depressionen lindert oder man erinnert sich an Adebar, den Storch. Schon geht man durch eine ganz interessante und beseelte Landschaft und rennt an den vielen Schaufenstern glatt vorbei. Pflanzen können dabei helfen uns mit der Heiligkeit des Seins zu verbinden. Aber wenn Mafiastrukturen einen Pflanzenmarkt beherrschen und Leute mit Knarren rumrennen, zudem der Staat Katz und Maus spielt, dann können sich die Leute hier die Rübe vollrauchen und sind trotzdem blöd und entfremdet. Ich habe Leute kennen gelernt, die rauchen Unmengen Cannabis, natürlich mit Tabak, obwohl der eine entgegengesetzte Wirkung hat und sind trotzdem so schlecht drauf wie vorher. Vielleicht hören sie die Musik, die sie gerne haben, ein wenig besser.

HanfBlatt
Hardcore! Die denken viel hilft viel.

Storl
Weiter geführte Konsummentalität. Ich höre Leute rauchen Skunk: Es ist eine Qual für eine heilige Pflanze unter Kunstlicht, in Nährlösungen und geschlossenen Räumen aufzuwachsen. Die Leute die das rauchen sind dann genau so wie die Pflanzen, denn die Pflanzen vermitteln das was sie sind.

HanfBlatt
In der Natur reicht es einem ja meist auch aus etwas sensibilisiert zu sein.

Storl
Ich habe vor vielen Jahren einen letzten LSD-Trip in der Natur genommen und ich fand das irritierend.

HanfBlatt
Zu „artificial“?

Storl
Ja, wie eine Plastikwelt. Aber selbst die psilocybinhaltigen Pilze bergen Gefahren. Ich habe Leute kennen gelernt, die ständig Pilze genommen haben. Die waren in einer Art Pilzwelt gefangen. Auch Terence McKenna, ein großer Pilzexperte, hat sich mit seiner „Time Wave Zero“ verrannt. Beschleunigte Geschichte, ein Attraktor und ein Kumulationspunkt, der zufällig genau auf seinen Geburtstag fiel: das ist typisch Pilzfreak.

HanfBlatt
Respektvoller Umgang ist auch bei Pilzen wichtig. Damit man sie nicht das ganze Jahr nimmt, wachsen sie ja auch im Herbst.

Storl
Bei den Naturvölkern ist es Tradition, dass die sakralen Pflanzen nur zu bestimmten Jahreszeiten genommen werden. Erdbeeren isst man auch nur im Juni und Juli. Der Fliegenpilz wird in den nordpolaren Kulturen zur Wintersonnenwendzeit genommen, weil er das Licht der Erde sichtbar macht. Auch Wein war einmal eine hochekstatische wilde Pflanze, dem Dyonisos geweiht. Und was haben wir heute? So völlig verschrumpelte Leute, die was von „wunderbares Bouquet“ und „Chateau Sowieso“ faseln. Eine totale Überästhetisierung.

HanfBlatt
Wen trifft man in den Weinkellern Würzburgs? Die spießigsten und konservativsten aller alten Knacker bei einer Mumienversammlung. Im pseudogepflegten Stil wird sich da die Kante gegeben.

Storl (lacht)
Das sind dann die wilden Mänaden. Oder nehmt das Beispiel Tabak in den indianischen Kulturen: Das wurde in genau bemessenen Dosierungen genommen und dann wurde -zack- die Seele aus dem Alltag rausgehauen um in die Welt der Geister zu gehen. Und bei uns? Dieses gelangweilte Rauchen bis einem die Zunge dick wird ist wieder Ausdruck der ewigen Konsumlust. Ich sehe diese Entwicklung auch beim Ganja. Mein Gott, was die jungen Leute da reinstopfen! Die stopfen viel rein, es kommt aber nicht viel raus.

HanfBlatt
Eine deiner Leistungen ist die Öffnung der Tür zu den Mythen, Geschichten und Betrachtungsweisen traditioneller Kulturen. Da hast du nicht nur eine Geschichte zu erzählen; manchmal erscheint es, als gäbe es Tausende. Die Menschen haben sich früher offenbar sehr intensiv mit den sie umgebenden Pflanzen auseinandergesetzt.

Storl
Die Kelten und auch die nordamerikanischen Indianer haben diese Geschichten von den Pflanzen bekommen. Das Wissen darüber habe ich den Cheyenne zu verdanken. Über 1 ½ Jahre bin ich mit einem alten Medizinmann oft durch die Wälder Montanas gewandert. Der sagte zu mir: „Bilde dir nicht ein, dass du die Rituale oder den Zugang zu den Pflanzen erfindest. Die Pflanzen suchen dich! Die Heilpflanze weiß, wenn du kommst. Sie geben dir die Rituale.“ Praktisch sieht das so aus, dass die Pflanze einem das Ritual gibt, wie man zukünftig den Kontakt aufnimmt. Das können Worte sein oder etwas Feuer. Die Pflanze gibt einem sozusagen ihre Telefonnummer und das Wählen ist das Ritual. Wenn man nicht richtig zugehört hat, dann kommt kein Kontakt zustande und man kann nur fantasieren. Genau dies sagen uns doch die Naturvölker auf der ganzen Welt: Wir sind nicht die einzigen Aktiven, die Pflanzen nehmen Kontakt auf. Vielleicht sind wir gar nicht so aktiv wie wir meinen.

HanfBlatt
Im Grunde genommen verdanken wir den Pflanzen und der Sonne das Leben.

Storl
Aus der Dialektik von Sonne und Erde besteht unser Planet. Die Sonne gibt die Energie und die verschiedenen Pflanzen nehmen verschiedene Aspekte dieser Energie auf und transformiert sie je nach Standort auf der Erde auf ihre Weise. Beim Essen vermittelt jede Pflanze diese Kräfte.

HanfBlatt
Und wir rasen mit Autos durch die Pflanzen, degenerieren sie zu Schnittblumen und stellen Plastikblumen her.

Storl
In Los Angeles ist es mittlerweile Aufgabe der Stadtgärtner, die großen Plastikpalmen an den Boulevards einmal im Monat abzuwaschen.

HanfBlatt
Bestehst du auf die pure Nutzung von Pflanzen und Heilpflanzen oder wie stehst du Extraktion und Synthetisierung gegenüber? Wo würdest du da die Grenze ziehen wollen?

Storl
Ich würde da keine Grenze ziehen. Wenn die Möglichkeit gegeben ist barfuss zu laufen, dann laufe ich lieber barfuss. So einfach und natürlich wie möglich. Klar, Destillieren, Potenzieren, dass macht ja auch Spaß. Aber wenn es um Heilung geht, um das heil werden, dann würde ich so nah wie möglich am Heil sein der Natur arbeiten. Bei den Kelten reichte eine Schale, Wasser, Feuer, die Pflanze und ein Segensspruch: „Hier das hilft.“ Das ist genügend. Die Einfachheit betrügt einen sehr selten im Leben.

HanfBlatt
Alchemie und Chemie dürsten nach der Vervollkommnung.

Storl
Dahinter steht die Vorstellung, dass die Natur unvollkommen ist – wir, die Menschen, müssten sie vorwärts bringen und das sei eine ehrenwerte Aufgabe. Davon halte ich nicht viel. Die Natur ist göttlich und vollkommen in Ordnung. In der Einfachheit und dem Leben mit der Natur sind wir am besten dran. Das ist alte daoistische Weisheit und das ist auch die Weisheit, welche die Naturvölker leben.

adh und az

Wolf-Dieter Storl hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht. Die einheimischen Kräuter behandeln tut „Heilkräuter und Zauberpflanzen zwischen Haustür und Gartentor“, die Praxis der Naturrituale erklären tut „Naturrituale. Mit schamanistischen Ritualen zu den eigenen Wurzeln finden“. Beide Bücher und andere Werke sind neu oder gebraucht zu bestellen bei Amazon:

 

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Drogenpolitik Interviews

Interview mit Hans-Georg Behr II

HanfBlatt 2/2001 “

Sind wir durch mit dem Interview?”

Zu Besuch beim Haschisch-Rebellen Hans-Georg Behr

Vor kurzem wurde Behrs „Von Hanf ist die Rede“, wahrscheinlich der Klassiker unter den deutschsprachigen Büchern zur Politik und Kultur des Hanfs, neu aufgelegt. Wir treffen Behr vor seiner Haustür in Hamburger Stadtteil Winterhude und erhalten sofort die erste Packung berechtigte Ungnade. „Es wäre schön, wenn sie pünktlich gewesen wären“, schnarrt er mit österreichischem Akzent. Wir singen den Schwamm drüber Blues und steigen die Treppe hoch. „Eckhard“, ruft Behr in der Wohnung, „Eckhard, machst du uns bitte Kaffee?“. So lange, schlägt Behr vor, sollten wir in die Kneipe gehen. Also stapfen wir wieder runter. In der Kneipe wird Behr vom Wirt und einigen Gästen begrüßt – man kennt ihn. Wir setzen uns und bestellen drei Bier, zwei Kleine, ein Großes. Als Behr-Kenner haben wir auf einen Leitfaden für das Interview verzichtet, weniger aus Demotivationsgründen, vielmehr weil wir ahnten, dass Behr zügig aus dem aus dem Nähkästchen plaudern würde. Und so kam es dann auch.

Behr, mittlerweile 64 Jahre alt, klagt über seine Gesundheit. Reisen in seine österreichische Heimat fallen ihm zunehmend schwer –körperlich wie geistig anstrengend sind sie-, aber zur Betreuung seiner kranken Mutter reiste er zwischen 1995 und 1996 nach Wien und linderte ihre Schmerzen mit einer gar nicht so geheimnisvollen Tinktur.

 Behr

Ich bin seit 1962 glücklich von Österreich weg. Auch gelegentliche Besuche dort sind nicht unbedingt angenehm. In Wien ist es besonders widerlich: Am Anfang hatte ich eine wunderbare Anonymität, und als ich dann meine alte Dame durch die Stadt geschoben habe, war ich zunächst „Der Sani“. Später merkte man, dass die Dame erstens immer denselben Sani hat und zweitens dieser auch kein Sani zu sein scheint. Ab da wurde ich belauert.

HB

Das klingt nach einer kleinkarierten Szene.

 

Behr

In Fotokopie wäre es ein Moire: Die Karos sind so klein, dass man sie schon nicht mehr sieht. Ich komme aus einer sehr alten Wiener Familie vor der die Großeltern der jetzigen Yuppies noch gebuckelt haben. Irgendwo muss man doch dafür Rache nehmen.

HB

Meine Assoziation zu Österreich kommt eher vom Kaffee her.

Behr

Das Kaffeehaus ist als zweites Wohnzimmer entstanden – eine Art Salon, wo man Leute treffen kann. Daheim, in einer Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung von 35 qm mit fünf Kindern, konnte man doch niemanden empfangen. Diese Kaffehauskultur haben Sie in ihrem Coffee-Shop in Hamburg auch. Das Illegale gehörte immer dazu. Ich erinnere mich an das „Cafe Sport“ in Wien, dass muss um 1963 gewesen sein, als der Hanf „endlich“ illegal war. Dort stand eine Musik-Box, die mit verschiedenen Platten von Stammgästen bestückt worden war. Griechische und algerische Lieder, asiatisches Klanggezirpe und so weiter. Öfters betrat ein Gast den Raum, warf Geld in die Musikbox und spielte ein bestimmtes Lied. Dann wusste man „Ahh, der hat jetzt Afghanen oder Türken“. Sozusagen ein Inserat, das man in die Musikbox einwarf.

HB

Das läuft heute profaner ab.

Wir verlassen das Lokal. Durch die Wohnung streicht der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee. In dem kleinen Wohnzimmer stapeln sich an den Wänden Bücher und Kunstbände. Filigrane Jugendstilvasen, Beistelltischen aus Holz, schwere Decken auf der Couch. Der Raum atmet die Boheme. Schnell bewegen darf man sich nicht, jede Drehung des Körpers könnte die Zerstörung einer Kostbarkeit aus dem 19. Jahrhundert nach sich ziehen. Nachdem wir sicher in einer Couch versinken, die so aussieht als ob sie mindestens 200 psychoanalytische Therapiesitzungen hinter sich hat, fragen wir Behr nach den Gründen für die neue Auflage seines Buches „Von Hanf ist die Rede“.

Behr

Ich wollte eigentlich eine neue Ausgabe schreiben, aber das war ich dem Verleger dann doch nicht wert. Nun gut, man fügt sich und schreibt ein kleines Vorwörtchen, in dem man feststellt, dass die alte Ausgabe fast noch aktuell ist.

HB

Und auch um die Geschichte mit ihrer Mutter bereichert wurde.

Behr

Ich hielt es für richtig, sie zu erwähnen.

HB

Unbedingt, ist es doch ein Beispiel für die konkrete Anwendung von Hanf, abseits von theoretischen…

Behr (ungeduldig)

… Hanf ist ein Antidepressivum ohne Nebenwirkungen. Es ist mit allen anderen Medikamenten verträglich und es gibt kein anderes Präparat, was das tut.

 

HB

Eine schöne Pflanze ist es vor allem auch.

Behr (atmet schwer aus)

Diese Ästhetik interessiert mich in solchen Situationen wenig.

Eckhard kommt in den Raum und bietet Weißwein und Wasser an.

Behr

Die Ärztekammern haben auf der einen Seite wahnsinnigen Schiss, dass sie mit Cannabisprodukten ins Gerede kommen, geben aber auf der anderen Seite ihren Segen dazu, solange es zu keinem Skandal kommt. Die eigentlichen Entwicklungen finden derzeit in stillschweigenden Übereinkünften statt. Dabei nerven die „Legalize-It“-Gebrüllchen, denn sie verhindern jede Normalisierung. Schon die Kampagne „Wir entdecken Hanf als nützliche Pflanze, die die Umwelt retten kann“, war ein Fluch, der die Geschichte um Jahre zurück geworfen hat. „Aha“, sagen sich da doch die Leute, „einmal ist es die ökologische Seite, einmal die Medizinische – den Kiffern ist kein Mittel unrecht, um kiffen zu dürfen“.

HB

Und viele der Ökologen und Mediziner stellen sich als Puritaner dar. Einerseits…

Behr

… aber ich bitte Sie. Nach so viel Jahren Kohl ist man gewohnt, dass man nur noch Lügen darf, wenn man in der Öffentlichkeit steht. Oder Schweigen, wenn es um Spender geht.

HB

Hat das so abgefärbt?

Behr

Aber natürlich! Entschuldigen Sie, aber wer sich mit Dreck einlässt darf sich nicht wundern, wenn er bekleckert ist. Und die Sozialdemokratie verinnerlicht diese Verlogenheit auch noch. Aber das bringt mir demnächst ein Kilo vom Besten ein.

HB

Wie darf man das verstehen?

Behr

Das „Bündnis Hanfparade“ hat doch meine Wette angenommen. Die haben im Überschwang des Regierungswechsels tatsächlich geglaubt, unter den Sozialdemokraten würde sich an der Cannabis-Gesetzgebung etwas ändern. [1] Unter der CDU war es ja einfacher, denn so lange nicht darüber geredet wird, wird darüber geschwiegen. So hatten wir wenigstens eine Art katholischen Wildwuchs. Und heute? Nickel ist eine Krankenschwester – die weiß, wo der Giftschrank steht. Däubler-Gmelin wird sich doch genieren zuzugeben, dass sie selbst Ende der Sechziger dran genuckelt hat. Außerdem lässt sie sich nichts aus der Hand nehmen. Es ist eine deutsche Wesenheit, Böcke zu Gärtnern zu machen, Anthroposophen zu Innenministern, also warum nicht dieses in Sachen der Gesundheitspolitik? Endlich kommt einmal der Unterbau wüst wuchernd nach oben. „Wacht auf Verdammte dieser Erde!“, oder heißt es „Verklemmte“? Die predigen doch alle Wasser!

HB

Aber Sie werden auch von offizieller Seite immer wieder konsultiert, wenn es um Cannabis geht. Von wem genau?

Behr

Darüber spricht man nicht, denn die nennen mich auch nicht als Quelle. Es ist ganz angenehm, sich manchmal mit Richtern zu unterhalten. Es sind die Gewissensfragen, die die Richter meist beschäftigen. Ist es pädagogisch wertvoll, wenn ich den Menschen jetzt bestrafe?

HB

Kann es ja kaum sein!

Behr

Es ist problematisch. Ich wurde letztens für ein Verfahren vor dem Bundesgerichtshof als Gutachter benannt. Ich habe dann einen sehr freundlichen Absagebrief erhalten, dass ich als „bekennender“ Kiffer ja wohl zu parteiisch sei, um als unabhängiger Gutachter zu gelten. Insofern werde ich mich hüten, dazu was zu sagen. Gut und schön, dass ich kiffe, weiß man, dass ich von dem Zeug was verstehe, weiß man auch. Ich werde nicht meine prinzipiellen Ansichten auf den Tisch legen, nicht einmal vor irgendeiner Geheimpolizei. So lange das offen bleibt, kann ich mich ja auf den anderen einstellen. Wenn ich sage, dass ich das gesamte Strafsystem für Stammestänze um einen fiktiven, längst zerfressenen Totem halte, kann ich mich ja entblößen. Wenn dann einer anderer Ansicht ist, wird er alles andere, was ich sage, auch negieren. So sage ich gar nichts, höre mir das Ganze an und sage dann vorsichtig, wie es einem alten, gebrechlichen Mann ansteht, als würde ich Glatteis überqueren, meine Meinung.

HB

Steigt die Seriosität mit dem Alter?

Behr

Man hat sich an mich gewöhnt. Entweder sind diejenigen, mit denen ich mich gefetzt habe, verstorben oder emeritiert. Ich bin ja auch schon an der Grenze. Manche Richter Mitte 30 unterhalten sich halt gerne mit einem alten Daddy.

HB

Das wäre dann ja der Respekt vor dem Kenner, den ich meine.

Behr

Das hat nichts mit Respekt, eher mit einer Gewissensnostalgie zu tun. Ich gehöre mittlerweile ja schon zur Generation der Großeltern der heutigen jungen Kiffer. Ich war stolz, als ich letztens ein Exemplar des „Haschisch Kochbuchs“ von dem Sohn eines Psychiaters erhielt, der sich´s als Gymnasiast geleistet hat.

HB

In dem Kochbuch waren die Dosierungen recht hoch angegeben.

Behr (verschmitzt)

Ja, aber das war doch ein Witz.

HB

Den Witz hat manch einer ernsthaft nachgekocht.

Behr zeigt uns den Entwurf eines Plakats für eine Ausstellung. „Mein Kampf“ steht dort in altdeutschen Lettern, wobei das „Kampf“ durchgesprüht und mit Hanf ersetzt ist. „Subjektive Annäherungen an kein objektives Thema“ steht im Untertitel.

Behr

Das „Annäherungen“ im Titel ist ein Jünger-Zitat.

HB

Haben sie Ernst Jünger kennen gelernt?

Behr (scharf)

Ja.

Pause.

HB

U…N…D ?

Behr

Man hat den Jünger, je älter er wurde, immer besser gefunden. Und als dann auch noch Kohl und Mitterand anreisten, hat er sich nicht dagegen verwahrt, von miesen Leuten heimgesucht zu werden, sondern er fühlte sich geehrt. Was soll ich über den Mann sagen? Hinter seinem Sarg – als wäre er der Hauptleidtragende – ist der Hochhuth mit einer weißen Rose gegangen – das habe ich dem Jünger gegönnt. Seine Haschisch-Erfahrungen waren natürlich schlechte: Er hatte sich in Papas Apotheke in Hannover verirrt und den Löffel zu tief ins Ölfass gehalten. Gekokst hat er bis zuletzt, das hat ihn auch frisch gehalten. Morphinist war er auch eine Weile seines Lebens. Aber was wollen Sie hören? Furchtbar alt ist er geworden – so alt, dass die Leute vergessen haben was er früher war.

HB

„Name dropping“, mehr davon…

Behr

Ernst Bloch beispielsweise war ein wunderbarer Mensch. [2] Dass er das „Prinzip Hoffnung“ geschrieben hat, das nehme ich ihm heute noch übel – aber ich habe ja auch mal daran geglaubt. Er begab sich zum Philosophenkongress 1968 in Wien. Bloch wurde so wie ein Totemtier reingeführt, sank in den Stuhl und wurde am Ende wieder geweckt und raus geführt. Längere Zeit stehen konnte er nur, wenn hübsche Frauen in der Nähe waren. Irgend etwas Schönes muss also in der Nähe gewesen sein, denn wir unterhielten uns auf dem Flur. „Wissen Sie, Herr Bloch“, sagte ich, „was Sie da über ihre Erfahrungen mit Walter Benjamin und Haschisch beschreiben, dass finde ich doch etwas doof.“ Ich erklärte ihm das, und er hörte zu, denn er war wie viele Philosophen ein guter Zuhörer. Schließlich antwortete er mir: „Sie müssen das verstehen, Herr Behr, unser Vertrauen in die deutsche Chemie war damals größer als in die Natur. Aber ich bin gerne bereit, einmal Natürliches zu rauchen.“ [3] Das haben wir dann auch getan. Daraufhin lud er mich nach Tübingen ein: Ich solle ihn doch besuchen, aber bitte 200 Gramm von dem Haschisch mitbringen. Er hat sogar einen Scheck beigelegt.

HB

Das ist korrekt. Haben sie den Scheck noch?

Behr

Nein. Ich habe ihn gelegentlich noch besucht und…

HB

Entschuldigung, aber was stand denn in der „Betreff“-Leiste?

Behr

Nichts, ich bitte sie! Bloch hatte eine wunderbare Eigenschaft: Er wusste wann seine Frau Carola den Raum betrat. Carola war eine schreckliche Philosophen-Frau, allerdings eine gute Witwe. Bloch reichte mir den Joint immer im richtigen Moment rüber, denn Sekunden später betrat Carola den Raum. Ich glaube, es war beim dritten oder vierten Besuch, ich war dabei, das Haus zu verlassen, ging in die Graderobe, nahm meinen Mantel, denn es war Herbst, da sagte Carola Bloch zu mir: „Sie sind so ein netter junger Mann. Warum müssen sie eigentlich immer dieses ekelhafte Zeug rauchen?“ Das Amüsante: Ich kam bei den Blochs nur dann zum Rauchen, wenn Carola den Raum betrat… Vielleicht hat sie das sogar gewusst und es mir so durch die Blume zu verstehen gegeben.

HB

Das nenne ich Erfahrungen in Philosophie.

Behr

Der Nicolai Hartmann dagegen, den die Leute ja damals als „Philosoph in grauen Flanell“ beschimpften, der hatte auch eine Frau – die wollte allerdings an dem Zeug mitziehen. Hartmann war der große Mann der Phänomenologie. Er hat darunter gelitten, dass der Edmund Husserl [4] damit angefangen hatte, trotzdem steht Hartmann neben Wittgenstein. Er wollte unbedingt auch kiffen, um diese Erfahrungen zu machen. Ich sagte ihm:  „Das wird aber etwas metaphysisch, Herr Professor“. „Das will ich ja wissen“, war seine Antwort.

HB

Und wurde es metaphysisch?

Behr

Ich weiß nicht, ich hatte am nächsten Tag auf jeden Fall nicht mehr genug für mich. Er wurde immer gelöster in der Unterhaltung und seine Frau sagte: „Ich weiß nicht – entweder ist es die Wirkung dessen, oder aber… Ich komme mir auch sehr entspannt vor. Da habe ich bislang einiges versäumt.“ Darauf hin konnte ich ja nicht anders, als meine Vorräte großzügig zu teilen. Ich glaube nicht, dass er es weiter geraucht hat, aber in ihrer Handtasche war es jedenfalls.

HB

Und heute? Wie sehen sie die kiffende Jugend?

Behr

Es war so klassisch auf der Hanfparade 2000. Ich stand mit Krawatte und Anzug am Brandenburger Tor und beobachtete das Durchtröpfeln der Parade. Ein paar Teenies standen abseits und besprachen mit hochroten Köpfen ihr weiteres Vorgehen. Einer, der als der Kesseste galt, wurde auserkoren, mich anzuquatschen. „Wissen Sie, wo Sie hier sind?“, fragte er mich. „Soweit ich weiß, ist dies das Brandenburger Tor“, war meine Antwort. „Ja, aber wissen Sie, wo Sie hier rein geraten sind?“ Da habe ich gelangweilt an meiner Krawatte runter geschaut, die mit Hanfblättern bedruckt war. Die waren ganz perplex, dass so ein alter Mann mit einer mit Hanfblättern garnierten Krawatte es wagt, auf einem Jugendtreffpunkt zu erscheinen. Die tun immer so, als ob sie den Hanf erst entdeckt haben! Den gab es vorher für die gar nicht! Aber was soll es: Die Berliner Hanfparade ist doch nur ein kurzer Massenaufmarsch, bei dem keiner was sieht, man brav hinter dem nächsten Joint hertrotten und sich vorher noch an den U-Bahnhöfen demütig filzen lassen muss. Ich schaue doch auch keinem Karnevalsumzug zu! Da fand ich das Hamburger Hanffest sehr viel gelungener. Es war ein Jahrmarkt der Blödheiten, es wurde auch als Jahrmarkt genommen. Man konnte hingehen, und am Abend sind die Eltern der Kids gekommen. Die wollten sich anschauen, wo ihre Kinder sich rumgetrieben hatten, und fanden es nicht unangenehm.

HB

Waren Sie mal in der Schweiz?

Behr

Ja.

HB

Und was ist ihr Eindruck: Was treibt die Menschen dort dazu, in Sachen Cannabispolitik am weitesten in Europa vorzupreschen?

Behr

Ganz einfach, eine politische Pragmatik, die keine andere ist als bei den Holländern. Nur wollen die Schweizer das alles noch so legal wie bei ihren Nummernkonten haben. Die Schweizer sind selbst Minderheit im eigenen Land – entweder man ist französisch, deutsch oder italienisch beeinflusst. Da gibt es Verschiebungen, sobald man in die nächste Generation tritt. Dadurch haben gewisse Minderheiten, die nicht besonders auffallen, einen größeren Freiraum. Der ist aber nicht von Natur aus gegeben. Die Schweizer Junkie-Szene ist die deprimierenste in Europa, denn wenn jemand aus diesem Familienverbund „Schweiz“ fällt, dann fällt er ins Bodenlose. Am Anfang haben sie die Kiffer genau so gejagt – bis es immer mehr wurden. Dann wurde ihnen klar, dass sie noch keine verelendeten Kiffer gesehen hatten und dass sie in die Klos keine blaue Lampen einbauen müssen, damit sich die Kiffer keine Joints anzünden. Sie haben also geschaut und nun das Vernünftigste getan. Außerdem sind sie natürlich stolz und bewusst autark: Wenn der Hanf im eigenen Land wächst, dann kann er nicht schlecht sein.

HB

Das wäre ja auch in Deutschland eine Möglichkeit.

Behr

Man schätzt, dass die Bundesrepublik mittlerweile zu 65 Prozent Selbstversorger ist. „Gut“, könnte man sagen, „lassen wir das Ganze zu einer Sache von Hobbygärtnern verkommen“. Dann sind zum einen die Kiddies beschäftigt und zum anderen wird die organisierte Kriminalität mit lauter Hobbygärtnern wenig anfangen können. Man könnte sich das Wachstum der Coffee-Shops anschauen, und wenn neun das gleiche Gras haben und der zehnte ein anderes, dann schließt man die neun. Nachwachsen werden genug, die Sortenvielfalt ist garantiert und der Zugriff einer zuhälterischen Organisation ist gebannt. Darüber müssten dann alle ihr Maul halten, das schaut man sich fünf Jahre an, und wie es sich dann entwickelt hat, so reguliert man es. Das wäre in etwa das Schweizer System. Aber: Erstens können leider die Legalisierungsfreaks ihr Maul nicht halten, zweitens die Gegner auch nicht und drittens und viertens und… Egalisieren, eine Ruhepause, das wäre nötig, aber so etwas findet nicht statt. Wenn ich erkältet bin, dann nehme ich Codein, weil meine Schleimhäute in der Nacht nicht durch Hustenanfälle gereizt werden und sich erholen können. Man kann den Husten nicht direkt bekämpfen. Genau so müsste man es in der Drogenpolitik machen, aber dazu steht keiner bereit, denn so ein wunderbar lächerliches Thema, das alle betroffen macht, findet man nicht wieder.

HB

Amüsant eben nur, dass dies ausgerechnet in der Schweiz geschieht, einem eher auf konservative Werte ausgerichteten Staat.

Behr

Das kann nur in der Schweiz oder konnte nur in den Niederlanden passieren. Das kann nur in kleinen, von der Fiktion der Gemeinsamkeit überzeugten Gemeinwesen entstehen. Nur dann kann man auf solche paternalistischen Regelungen, wie wir sie in größeren Länder ertragen müssen, verzichten. Pragmatischere Politik hat man schon immer eher im Dorf als in der Großstadt gemacht.

HB

Das klingt plausibel.

Behr

Habe ich jetzt die ganze Zeit die sportliche Zigarette gehalten?

HB

Nein, die ging schon rum.

Behr

Dann bin ich beruhigt.

HB

Was wäre sonst passiert?

Behr

Ich hätte mich entschuldigt und angeführt, dass ich in Gedanken war.

HB (lachend)

Und Sie glauben, damit hätten wir uns zufrieden gegeben?

Behr

Ich hätte das so charmant vorgetragen, dass Sie sich damit hätten zufrieden geben müssen.

HB

Da wir ja auch höflich sind, hätten wir uns damit zufrieden gegeben.

Behr

Woher soll ich das wissen? Ich kenne Sie ja nicht! Sie kennen doch diesen herrlichen jiddischen Witz, in dem zwei Juden über die Straße gehen, und auf einmal kommt ein Hund angekläfft. Grün geht automatisch etwas schneller und Blau sagt: „Na, was rennsde denn, du weest doch, Kelef die bellen beißen nicht.“ Sagt Blau: „Ja weeß ich, aber weeß ich, ob Kelef das weeß?“

HB

Wir kennen uns zwar nicht, aber wir kennen ja etwas von Ihrem Werk.

Behr

Sehen sie, diesen Vorteil habe ich auch nicht.

HB

Höchstens wenn Sie mal in das HanfBlatt schauen würden.

Behr

Ins HanfBlatt schaue ich gelegentlich. Dort erscheint sogar ein kleine Serie von mir: „Stoned Age“, Geschichten aus der Urzeit des Kiffens.

HB

Darüber werden sich die Burschen dort freuen.

Behr (dies mal in bayrischem Dialekt)

Woos wass i, woos die Leut freit.

HB

Freuen tun sie sich über eine Wasserbett im Schlafzimmer, eine Harley Davidson vor der Tür und wenn das Telefon nicht allzu oft klingelt. Aber das dürfen wir nicht drucken. Themenverschiebung: Langsam gehen die Hanf-Läden pleite.

Behr

Ja, Gott sei Dank! Der Textilienmarkt mit Hanf ist versorgt. Natürlich, die Pariser Modeschöpfer ordern ab und zu einen Ballen feinsten Bologneser Hanfs. Wollen Sie heute Textilien verkaufen, die 150 Jahre halten? Das wäre das Ende jeder Wirtschaft. Diese Serviette hier ist aus dem Jahre 1850 und wurde garantiert 1000 Mal gewaschen; sie sieht noch wie neu aus. Diese Qualität war damals neun Mal so teuer wie feinstes Leinen. Wenn man 200 Mark für den Meter hinlegt, dann erhalten Sie immer noch so eine Qualität. Das werden Sie in einem Hanfhaus nicht umsetzen. Als Dämmmaterial ist Hanf zu teuer, braucht zuviel Dünger und versaut damit den Boden.

HB

Die Vision, mit gewaltigen Monokulturen von Hanf alle Rohstoffprobleme zu lösen, hat sich erledigt.

 

Behr

Natürlich. Als Öl ist es beispielsweise erheblich weniger haltbar als das Öl anderer Pflanzen. Was soll auch das Gerede? Hanf wurde doch nicht wegen seiner Fasern verboten. Es wurde ja auch nicht verboten, weil man sagte, Nylon ist da und wir brauchen nichts anderes. So idiotisch war niemand, auch wenn Herer das behauptet. Diese Verschwörungen haben nicht stattgefunden. Auf der anderen Seite hat die Faserhanf-Bewegung eins erreicht: Grundsätzlich will jeder, der sich in die Politik begibt, keine heißen Eisen anfassen. Die Politiker sehen im Hintergrund nur die Kiffer, die auf diese Weise ein legales Hintertürchen finden wollen. Das hat alle Versuche der Normalisierung völlig diskreditiert, wir können nicht mehr einmal über Cannabis als Medikament reden.

HB

Politikerschicksale und das Kiffen, das wäre mal eine Story.

Behr

Die Heide Moser hat sich für das Kiffen auch erst dann interessiert, als ihre Tochter in dem Alter war. Später wurde Ecstasy zum Thema. Man könnte das Familienleben an den Aktionen in der Politik gut nachvollziehen. Das Apothekenmodell habe ich immer für saublöd gehalten. Haschisch war nie eine Mittel der Apotheken, dann soll man es lieber in die Drogerie neben die Seife stellen. Hier die seelische Befleckung und da die Reinigung. Hier die Sünde, da die …. Ich weiß nicht wie viele Jahre wir in der deutschen Sprache brauchen werden um das blöde Wort „Drogen“ loszukriegen. Das herrscht seit 15 Jahren und hat schlimmer eingeschlagen als ein Grippevirus.

HB

Existiert ihrer Meinung nach ein vierter Trieb wie uns Ronald Siegel weismachen will; ein Trieb nach Rausch?

Behr

Sicherlich, genauso wie ein Trieb nach Sex besteht. Und die weitere Frage?

 

HB

Was schlussfolgert sich daraus?

Behr

Ganz einfach, dass wir zwar soziale Wesen sind und uns der Herde gerne fügen, aber ab und zu gerne jenseits des Weidezauns grasen wollen. Und wenn man uns diesen Weidezaun zementiert, dann werden wir zu neurotischen Herdentieren, und es fehlt uns das Private, das Individuelle. Es soll mir kein Mensch erzählen, dass er 24 Stunden am Tag ein soziales Wesen sein kann. Wenn eine politische Größe wie Karl-Heinz Ehlers, der Rechtsaußen der CDU, dem bekanntlich kein Gedanke zu doof ist, als dass er ihn nicht ausspricht, sagt, „Einen Urlaub von der Gesellschaft können wir nicht gestatten“, dann muss ich doch fragen, ob unsere Gesellschaft eine geschlossene Anstalt ist?

HB

Für ihn zumindest dürfte keine Ausgangsgenehmigung existieren.

Behr

Aber diese Bedürfnisse nach Extase sind genau so wichtig wie das Bedürfnis einer Ziege, auf der anderen Seite des Zaunes, wo das Gras bekanntlich besonders süß ist, auch mal grasen zu können.

 

HB

Primärgras ist besser als Sekundärgras.

Behr

Ich würde so nicht unterscheiden wollen. Das Jenseits des Üblichen ist der Ort unserer Sehnsucht. Wozu erfinden wir einen Himmel, wenn uns die Erde reichen würde? Wozu brauchen wir einen Gott, wenn uns unsere Regierung reicht? Diese Bedürfnisse sind natürlich. Man kann alles zum Trieb erklären, wie man alles zur Sucht erklären kann. Wenn Berthold Brecht geschrieben hat, dass die dümmsten Kälber ihre Schlächter selber wählen wollen, dann sind wir mittlerweile mit BSE verseucht.

HB

Damit ist doch der Bogen zum Einstieg gespannt…

 

Behr

Ja dann los damit, ich bin ja auch gespannt darauf, was die Leute von mir denken. Sie sagen es mit ja nicht, sie hören immer nur zu und… Wie hieß es neulich bei Ihnen im HanfBlatt über mich: Unbelehrbar oder uneinsichtig?

HB

Und wir verdienen auch noch Geld damit.

Behr

Das Kriterium der Bezahlung hat mich nie so sehr interessiert, sonst hätte ich nie so gelebt wie ich gelebt habe. Sonst wäre ich eine Nutte geworden. Wahrscheinlich wollten Sie wissen, wie viele Legastheniker Sie unter ihren Lesern haben.

HB

Schauen wir mal, wie wir dieses Interview verwerten.

 

Behr

Das ist Ihr Problem. Wenn Sie das auch noch von mir wissen wollen, dann verlange ich Geld. Sind wir durch mit dem Interview?

HB

Ja, jetzt kommen die Komplimente.

Langsam geht das Interview tatsächlich dem Ende zu. Bedürfnisse treiben mich aufs Klosett, dort ist die Stimmung gut. So richtig fertig ist Behr aber noch nicht, durch die Tür sagt er laut zu mir: „Wenn sie ihre Erleuchtung gehabt haben, bin ich bereit, noch ein paar Sätze zu sagen.“ Eigentlich wollte er uns schon lange rausschmeißen,  aber dann serviert er uns die Vorspeise: Einen warmen Strudel mit Rotkohl gefüllt. Wir schwelgen.

Behr

Ich traf Robert Anton Wilson einmal auf einer Buchmesse. Er klagte unter Erschöpfungszuständen und hat mich gefragt, ob ich ihm mein kleines Döschen gebe. Das habe ich auch getan, nach einer Weile kam er zurück und das Döschen war leer und ich war sauer. Das war von mir für vier Messetage bemessen!

 

HB

Nepalese?

Behr

Nein, „Hallo Wach“.

HB

Und dann schrieb er den „Neuen Prometheus“?

 

Behr

Nein, das war davor. Sozusagen als Entschädigung hat er mir in diesem Zustand einen Limerick gedichtet:

There were to young ladys in Birmingham

And this is a story concerning them

They liftet the frog and tickelt the cock

Of the bishop who was confirming them

 

Ich fand das zu billig für das halbe Gramm.

HB

Och.

Behr

Das sind angenehme Erlebnisse. Auf der Hanfparade genoss ich meine Erholungszigarette und neben mir stand so eine typische DDR-Bulette. „Oh, Marokkaner“, sagte sie und grinste mich mit ungefähr 90 Kilo Lebendgewicht an. Ich gab ihr unauffällig den Joint, sie schaute nach Links und Rechts, nahm einen heimlichen Zug und gab ihn mir wieder zurück. Diese überraschenden Erlebnisse machen das Leben jetzt noch so angenehm. Ich habe mich genug mit Eltern und in Schulen herumgeschlagen, ich habe mich genug vor Gerichten herumgeschlagen. Jetzt will ich genießen, die fröhliche Ernte einfahren und nicht ewig das Feld beackern. Und es werden bestimmt nur wenige Augenblicke sein, die man im Leben so erlebt, aber wenn man die als Lohn nimmt, dann ist das keine schlechte Bezahlung.

 

HB

Das ist bescheiden.

Behr

Nein, das ist der höchste Anspruch, den man haben kann.

 

az + adh

 


[1] Das Bündnis Hanfparade und H.G. Behr wetteten im April 1998 um ein Kilo Marihuana, ob sich nach dem Regierungswechsel Hanf legalisiert wird. Behr wartet auf das Päckchen aus Berlin und will dann zu einem Smoke-In einladen. Das HanfBlatt wird berichten…

 

[2] Ernst Bloch (1885 – 1977), Autor von „Das Prinzip Hoffnung“, einem Standardwerk der neueren marxistischen Philosophie. Das Werk sucht das „Noch-Nicht“, wie es sich in Erwartungen und Wunschträumen, aber auch in Utopien und religiösen Erweckungsvorstellungen manifestiert, als existentielles Prinzip zu erfassen.

 

[3] Bloch spielt hier auf eine Cannabis-Tinktur an, die er probiert hatte.

 

[4] Edmund Husserl (1859 – 1938). Der Philosoph entwickelte eine Lehre von den im Bewusstsein aufweisbaren Strukturen und wird als Begründer der Phänomenologie angesehen.

 

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