Aus dem HanfBlatt, 2004
„Rauschkultur als Form der Religiösität und des Hedonismus“
In den verwirrenden Gängen der Universität versteckt sich eine besondere Gattung: Der hängen gebliebene Student, gemeinhin Professor genannt. Gespräche mit dieser Spezies sind oft nicht spaßig – zu hoch ragt der Turm aus Elefantenstoßzähnen, zu dick die Mauer der Arroganz, zu verschlungen die Gänge der Gedanken. Aber es geht auch anders.
Ein Gespräch zwischen Sebastian Scheerer, Professor für Kriminologie an der Universität Hamburg und Jörg Auf dem Hövel.
HanfBlatt: Schön, daß Sie für das HanfBlatt Zeit haben.
Scheerer: Für das HanfBlatt doch immer.
Als Kriminologe beschäftigen Sie sich unter anderem mit der historischen Entstehung von Rechtsnormen, die heute den Umgang mit Cannabis, Alkohol und anderen Drogen bestimmen. Ein in der Rechtswissenschaft bisher nicht sehr populäres Forschungsgebiet, auf dem Sie Pionierarbeit leisten.
In Deutschland war ich wohl einer der Ersten, der sich genauer mit der Historie der Drogengesetzgebung auseinandergesetzt hat. In den USA gibt es David Musto, einen Medizinhistoriker an der Yale-University, der in seinem 1973 veröffentlichten Buch „The American Disease“ die amerikanische Betäubungsmittelgesetzgebung sehr genau untersucht. Inzwischen habe ich mich eingehender mit der Verbotsgeschichte einzelner Drogen beschäftigt. Opium, Morphium, Heroin und Kokain sind zwar in dem „1. Internationalen Opium Abkommen“ von Den Haag im Jahre 1912 zusammengepackt worden – welche Umstände aber zur Aufnahme der einzelnen Drogen in die Konvention geführt haben, ist kaum bekannt. Daß Kokain mit im Opium-Abkommen aufgeführt wurde, ist ja nicht selbstverständlich. Und auch weshalb man 1925 Cannabis in das Abkommen mitaufgenommen hat, ist relativ unbekannt.
Und wie kam Cannabis zu der Ehre?
Die übliche Geschichte wird von Howard S. Becker und Jack Herer erzählt: Da spielt der „Marihuana Tax Act“ von 1937 eine Rolle, ein Gesetz, welches formell ein Marihuana-Steuergesetz sein sollte, dem Inhalt nach aber das erste die gesamten USA umfassende Strafgesetz gegen Cannabis war. Dieses Gesetz wird dem sogenannten Moralunternehmer und Chef des damaligen „Federal Bureau of Narcotics“, Harry J. Anslinger, zugeschrieben. Das Problem dabei ist nur, daß dies 1937 war; international verboten war Cannabis aber schon seit 1925. Die Aktivitäten von Anslinger haben also keine Auswirkungen auf die Tatsache gehabt, daß Cannabis in einem Topf mit Opium und Heroin landete.
Der Vorschlag kam auf internationaler Ebene vielmehr aus den Ländern Türkei, Ägypten und Südafrika.
Mit welcher Motivation?
Das soll meine Forschung noch erhellen. Bekannt ist bisher folgendes: In Südafrika rauchten die schwarzen Bergarbeiter Cannabis. In Mosambique und Angola war Cannabis seit langer Zeit ein übliches Genußmittel. Das war für die Machthaber nicht interessant und exotisch, sondern irgendwie unheimlich. In der Geschichte der berauschenden Genußmittel ist immer wieder zu beobachten, daß Vorurteile gegen fremde „Rassen“ Hand in Hand gingen mit Vorurteilen gegen fremde Drogen. Irgendwann steht dann das eine für das andere und man glaubt, daß von der Droge selbst eine Gefahr ausgeht.
Und die Türkei und Ägypten?
In diesen Ländern spielten religiöse Gründe eine wichtige Rolle. Es gab immer wieder Sufi-Orden oder schiitische Minderheiten, die einen mystischen Weg der Erkenntnis wählten, in dem auch Rausch, Ekstase und Drogen eine wichtige Rolle spielten. Da diese Mystiker zugleich sehr kritisch gegenüber der Kirchenhierarchie, der sunnitischen Orthodoxie, waren, stand Cannabis in diesen Ländern dann als Synonym für Häresie. Aber nicht nur Cannabis, sondern auch Kaffee – jedenfalls noch im 16. Jahrhundert. Damals war in Konstantinopel Kaffee verboten, Kaffeehäuser wurden dem Erdboden gleich gemacht und Kaffeetrinker umgebracht. Dasselbe galt nebenbei auch für Tabakraucher. Und da Religion und Politik dort deckungsgleich waren…
Eine Säkularisierung hatte nicht stattgefunden…
…war eine religiös-häretische Richtung damit immer auch eine politische Bedrohung. In Ägypten lag der Fall anders: Dort und auch in Griechenland wurden Geisteskrankheiten und Cannabiskonsum in Verbindung gebracht.
Lassen sich allgemeine Aussagen über die Stellung von Cannabis im Islam treffen?
Der Status von Cannabis war und ist im Islam kontrovers: Cannabis war eine bevorzugte Droge der Armen und auch der armen religiösen Orden. Beide Gruppen stellten eine Gefahr für die herrschende Klasse da die Reichen die Cannabis-Konsumenten abschätzig betrachtete. In Rahmen dieser Politik war es einfacher und konsensfähiger, nicht die Leute, sondern die Droge zu verfolgen.
Das erinnert an Vorgänge in Europa und Amerika.
Ja. Während der Jugendrevolte von ´68 trampelte man auch gerne unter Vorhaltung medizinischer Gründen auf Cannabis herum. Schließlich konnte man schlecht sagen, daß einem die gesamte Art der Jugendlichen nicht gefiel. Das gab den Ressentiments einen objektiveren Anschein.
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Ein gewisses Muster ist wiedererkennbar. Immer wieder meint der Staat, für seine Bürger sagen zu müssen, welche Genußmittel sie zu konsumieren haben und welche nicht. Da hat sich auch für uns in Europa seit dem Mittelalter nicht viel geändert.
Praktisch hat sich Nichts verändert. Aber: Seit der französischen Revolution besteht der Anspruch, daß den Bürgern das erlaubt ist, was die Rechte andere nicht verletzt. Nur was die Realisierung dieses Rechts im Bereich der Genußmittel angeht, ist man auf der faktischen Ebene soweit wie vor 400 Jahren. Die allgemeine Handlungsfreiheit ist hier außer Kraft gesetzt.
Wie kam es später dazu, daß die Ärzte entscheiden, was gut ist und was nicht? Kann man sagen, daß die Wissenschaft immer nur das nachvollzogen hat, was auf sozial-moralischer Ebene schon vorentschieden wurde?
In dem Maße, in dem die Götter an Bedeutung verloren, wuchsen die Ärzte als „Halbgötter“ in die Rolle der Schiedsrichter zwischen Gut und Böse hinein. Allerdings segnen Sie meist nur pseudo-wissenschaftlich ab, was jeweils gerade „herrschende Meinung“ ist. Zu einer Zeit, als es hieß, daß Onanieren zum Rückenmarkschwund führe, fanden sich immer auch Mediziner, die das in dicken Büchern nachgewiesen haben. Und zu einer Zeit als der Nationalsozialismus bestimmte Vorstellungen von lebenswertem und lebensunwertem Leben verbreitete, fanden sich auch immer Mediziner, die das „bewiesen“. Was Drogen angeht, segnet die Medizin auch heute im wesentlichen die herrschenden Vorurteile ab, beziehungsweise hängt ihnen das Mäntelchen der Wissenschaft um.
Auch deswegen kommt Hans-Georg Behr ja zu der Behauptung: „Ich sehe keine Bewegung“. Was denken Sie, bewegt sich nichts in der Legalisierungsfrage von Cannabis?
Es passiert etwas in der Stimmung, in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung. Über die Hanfhäuser und die sonstige Vermarktung von allem, was mit Hanfblättern verziert ist, ändert sich die Sicht auf den Hanf. Das Hanfblatt ist nicht nur mehr ein Symbol der schweigenden Mehrheit, wie schrecklich gefährlich die Droge ist, sondern hat sich zu einem Symbol für das Gegenteil, nämlich für Natur und Ökologie und auch für eine gewisse Lässigkeit im Umgang mit diesem Genußmittel, gewandelt. Und insofern hat sich auf der symbolisch-kulturellen Ebene etwas bewegt. Nur: Von der symbolischen Ebene tröpfelt wenig runter in die Köpfe der Politiker. Selbst bei den Grünen sehe ich zu wenig Liberalität.
Dann ist die Kluft zwischen der Hanf-Bewegung, den Verfechtern des rauscharmen Hanfs, und den Streitern für eine Legalisierung der Droge ja obsolet.
Die betont harmlose Vermarktung weicht unter Umständen die Vorurteile gegen die Pflanze und auch die Leute, die diese Pflanze anders nutzen als zum anziehen, auf. Ansonsten bin ich kein Freund solcher Spaltungen. Dies gilt für die Leute, die sagen, sie wären für wirkstoffarme Anpflanzungen und gegen Rauschhanf genauso wie für den Gruppenegoismus von Cannabiskonsumenten gegenüber Kokain- oder Opiatkonsumenten. Ich habe früher mit Opiatkonsumenten gearbeitet. Dort habe ich viele Vorurteile gegenüber Alkoholkonsumenten erlebt. Dazu nur: Jede Droge hat ihre potentiellen Gefahren und Opfer. Es gibt keinen Grund zu sagen: „Auf die Leute, die mit Alkohol nicht zurecht kommen, schaue ich runter.“ Die Mehrheit der Opiat-, Kokain-, Alkohol- und Cannabiskonsumenten kommt mit den jeweiligen Substanz gut zurecht. Nur weil jemand ein gewisses Genußmittel präferiert, darf man ihn doch nicht strafrechtlich verfolgen. Das ist die grundlegende Absurdität!
Im Kern geht es allen Gruppen ja nur um den kurzzeitigen Rauschzustand. Der Konsument wird heute trotzdem mit strafrechtlichen Mitteln vor sich selber geschützt. Funktioniert dieser Schutz?
Ich kann eingeschliffene Frage und Antwortspiele nicht leiden. Es scheint ja eine Binsenweisheit zu sein, daß dieser Schutz nicht funktioniert. Aber gerade eine solche „Gewißheit“ sollte uns herausfordern, darüber neu nachzudenken…
… nun, ich kann meine Frage auch dahingehend konkretisieren, wie denn besserer Schutz aussehen könnte.
… ob es nicht doch Aspekte gibt, unter denen dieser momentane Schutz funktioniert. Sicher verschafft das straftrechtliche Verbot der Droge ein so schlechtes Image, daß viele Menschen mit ihr nicht in Verbindung kommen, die doch einmal in Versuchung kommen könnten, wenn es sie an jeder Ecke legal zu erwerben gäbe. So gesehen schützt man viele Menschen vor der Droge Cannabis. Zugleich nimmt man diesen Menschen aber das positive Potential der Droge und ein Stück Autonomie. Da müssen wir uns doch fragen: Wollen wir eine Gesellschaft, in der wir die Autonomie per Strafrecht abschneiden? Der momentane Schutz funktioniert nur in einem paternalistischen, entmündigenden Sinne.
Und der andere Schutz?
Bei der Sexualität sagt man ja auch nicht: „Du darfst nie Sex haben!“ Sondern man sieht ein, daß Sex eine wichtige Erfahrung ist, obwohl dabei Menschen immer wieder psychisch tief verletzt werden und sich ja zum Beispiel auch deswegen umbringen. Da sind sehr gewissenhafte Informationen, Verständnis und Hilfestellung gefragt – und das ist leider bei der Erziehung zu einer „guten Sexualität“ nicht anders als bei der Erziehung zum kundigen, vernünftigen Umgang mit Drogen.
Christian Rätsch schlägt so etwas wie einen Rauschkundeunterricht vor.
Sicherlich eine gute Idee. So wie der Staat eine Sexualaufklärung leistet, könnte er dies auch bei den Rauschmitteln tun. Zukünftig werden veränderte Wachbewußtseinszustände eine immer größere Rolle spielen. Es gibt ein gesellschaftliches Bedürfnis nach unterschiedlichen Erlebnissphären, nach inneren, seelischen Abenteuern. Im normalen Arbeitsalltag wird man einseitig gefordert und überfordert und es ist eine gute und richtige Entwicklung, daß man unter anderem durch eine Vielfalt von unterschiedlichen Bewußtseinszuständen, die man gezielt, aber auch kundig, anstrebt und erlebt, ein Gegengewicht zu diesen Normalwelten schafft. Dies hält das Bewußtsein von anderen Möglichkeiten wach oder schafft es neu.
Sie schreiben, daß sich die Gesellschaft daran gewöhnen muß, daß sich „im Zuge der allgemeinen Differenzierung der Lebensstile immer mehr Gruppen mit speziellen Genußpräferenzen herausbilden werden“. Die ravende Jugend mit ihrem Ecstasy und LSD-Konsum ist erst der Anfang?
Ja. Und für mich ein sympathischer Anfang. Ich teile nicht die Meinung, daß das den Weltuntergang bedeutet, wenn Leute eine Nacht lang durchtanzen. Die Leute sind risikobewußt und nicht risikofreudiger als Leute die Motorrad fahren. Viele Politiker und Polizisten glauben allerdings, das sei eine Bedrohung der Jugend und der gesamten Gesellschaft.
Die Angst der Mächtigen vor dem Rausch der Masse ist geblieben. Warum wird die Obrigkeit unruhig, wenn unter ihnen Ekstase herrscht?
Anthropologisch ist es so, daß der Rausch seine Faszination aus der Mischung von Risiko und Grenzüberschreitung bezieht. Der Mensch will als reflexives Tier diese Grenzen kennenlernen und periodisch überschreiten, ob im Karneval oder durch Drogen. Vor den Risiken dabei hat er aber -zurecht- Angst. Der Rausch ist ambivalent und nicht wegzudenken aus der menschlichen Existenz. Herrschaft und Machtwille bringen politische Ängste dazu, die in letzter Zeit eher größer als kleiner geworden sind. Das ist dann mehr der Blick des Fremden auf den Berauschten. Der Beobachter, der mit Vergrößerung der Distanz auch die Fähigkeit der Empathie verliert, hat eine chronische Angst, die Kontrolle über andere Menschen zu verlieren.
Wenn wir von Grenzüberschreitung sprechen, nähern wir uns den religiösen Erfahrungen. Welcher Zusammenhang besteht zwischen Drogen und mystischer Welterfahrung?
Diese Bereiche durchwirken sich. Es gibt zwar voll säkularisierte Rauschkulturen, aber man findet nur wenige mystische Erfahrungen, wo Drogen keine Rolle spielen und andererseits wenig Rauschkulturen, wo spirituellen Beweggründe keine Rolle spielen. Insofern können die heutigen Rauschkulturen nicht nur Zeichen der Ausdifferenzierung von Lebensstilen sein, sondern auch eine neue Form der Spiritualität und Religiösität. In Deutschland ist dies allerdings nicht so ausgeprägt, weil hier die Säkularisierung ausgesprochen erfolgreich gewesen ist. Hier steht der Hedonismus im Vordergrund.
Interessant ist auch der Zusammenhang von Drogenkultur und dem Internet. Ist darüber schon nachgedacht worden?
Von mir nicht. Aber sagen Sie mal was dazu.
Gesellschaftliche Randgruppen fanden im Internet schnell eine Plattform, um ihre Anliegen an eine spezielle Öffentlichkeit zu bringen. An keinem anderen Ort gibt es so vorurteilsfreie, fundierte Informationen über psychoaktive Substanzen. Und das ohne moralische Bewertung. Die Ideen der amerikanische Cyber-Bewegung fußen zum großen Teil auf Erfahrungen mit Drogen. Faszinierend scheint auch hier -wie bei den religiösen Erfahrungen- die gedachte Möglichkeit zu sein, als reale und virtuelle Person gleichzeitig zu existieren. Ich sitze vor dem Rechner, bin aber gleichzeitig als Diskussionsteilnehmer in Asien. Es erfüllt sich also der Wunsch nach Transzendenz.
Die die Menschen immer schon gesucht haben. Und es war immer schon mit das aufregendste und tiefreichendste Erlebnis für Menschen, die sonst unausweichlichen Bedingungen unserer Wahrnehmung, nämlich Raum und Zeit, zu überwinden.
Kant nahm ja an, daß Raum und Zeit a priori gegeben sind. Und es gibt ja durchaus Zustände, in denen das Subjekt feststellt, daß dem nicht so ist.
Kant sah Raum und Zeit eben als Bedingungen unserer Wahrnehmung und nicht als gegebene Objekte an. Ob Raum und Zeit existieren, darüber hat Kant nichts gesagt. Nur waren Raum und Zeit für ihn unverrückbare Teile unseres Bewußtseins; wir sind nach Kant unfähig, anders als in Zeit und Raum zu denken und wahrzunehmen. Die mystischen Erlebnisse, die Kant nur unzureichend gewürdigt hat…
…er saß ja lieber in seiner Stube in Königsberg.
…zeigen aber gerade die Möglichkeit, an diesen Gitterstäben unseres Gedankengefängnisses zu sägen. Und warum sollte es illegitim sein, aus diesem Gefängnis ausbrechen zu wollen? Und die mystischen Erfahrungen gehen seit Jahrhunderten ganz beharrlich genau auf diesen Punkt ein.
Zurück zu Konkretem. Wie wird juristisch begründet, daß der Staat in das durch das Grundgesetz normierte Persönlichkeitsrecht, welches ja auch die Wahl der Genußmittel einschließt, eingreifen darf?
Auch dieses in der Verfassung stehende Grundrecht hat Schranken. Dies sind zum einen die Rechte anderer, aber auch die allgemeinen Gesetze. Wenn also ein anderes Gesetz das Persönlichkeitsrecht einschränkt, dann ist das eine legitime Grenze. Dieses Gesetz wird dann bei Bedarf vom Bundesverfassungsgericht daraufhin untersucht, ob es im Lichte des allgemeinen Persönlichkeitsrecht dieses zu sehr einschränkt.
Die Schranken haben also ihre Schranken.
Nach den Gesetzen der formalen Logik kommt man da nicht sehr viel weiter. Letztlich wird geprüft, ob die Schranken verhältnismäßig sind. Nach 500 Seiten juristischer Argumentation ist man faktisch nicht sehr viel weiter, denn es stellt sich natürlich die Frage: Was sind die Kriterien für die Verhältnismäßigkeit? Das Verfassungsgericht stellte im Zusammenhang mit der Cannabis-Entscheidung dann zwei Fragen: Einerseits: Wie wichtig ist die Freiheit, psychoaktive Substanzen zu sich zu nehmen? Gehört Sie zum Kern des Persönlichkeitsrechts? Und andererseits: Wie groß ist das Risiko? Diese beiden Güter wurden gegeneinander abgewogen, wobei das Gericht sagte: die freie Wahl der Rauschmittel ist kein zentrales Recht, aber die damit verbundenen Risiken wären enorm hoch. Also darf der Gesetzgeber das verbot aussprechen beziehungsweise beibehalten.
Und ihre Meinung?
Ich halte es für den Kern des Kernbereichs, daß man darüber entscheiden darf, wie man sich nach außen darstellt: Ob man rote oder grüne Kleidung trägt, ob man die Haare lang oder kurz hält, ob man zum Mittag Kartoffelbrei, Tütensuppe oder einen griechischen Hirtensalat ißt; diese Entscheidungen sollten dem Menschen selbst überlassen bleiben. Und dies gilt für die Zusammenstellung aller Genußmittel.
Der Hüter der Verfassung ging einen anderen Weg.
Das Gericht zählte das Recht auf Rausch nicht zum Kernbereich der Freiheit. Das Gewicht des Rechts auf Rausch wog für die Richter nicht so schwer wie die Risiken, die auch benannt wurden: Drogenhandel, Gefährdung der Jugendlichen und unklare medizinische Auswirkungen. Für diese Argumentation braucht man eigentlich keine Juristerei. Die spezifisch juristischen Begründungen sind genaugenommen Vernebelung, denn sie führen von der Sache her nicht weiter. Auch die Quellen und Beweisaufnahmen die für die Entscheidungsfindung benutzt wurden, waren unter Niveau und nicht auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand.
Zum Ende: Wagen Sie einen Ausblick auf die zukünftige Entwicklung in Sachen Cannabis?
Die Befürchtung die ich früher stark hatte, daß die Cannabis-Legalisierungsdebatte zu Lasten der anderen Drogen geht, hat sich zerstreut. Die Pro-Cannabis Aktivitäten haben bisher nicht dazu geführt, daß Cannabis liberaler behandelt wird und andere Drogen stärker sanktioniert werden. Ich wollte nie reine Cannabis-Fälle politisch wie justiziell verarbeitet sehen, sondern die Freiheit jedweden Drogenkonsums erreichen.
Behr beispielsweise will das unbedingt getrennt behandeln.
Ich sehe nur, daß es offensichtlich sehr viel erfolgreicher war, Cannabis von den anderen Drogen zu trennen und einen Sonderweg zu gehen. Der ist zwar auch nicht so durchgreifend, wie ich erhofft hatte, aber ich habe heute nicht mehr die Befürchtung, daß diese Trennung zu Lasten der sogenannten harten Drogen ausschlägt. Insgesamt läßt sich feststellen, daß die veröffentlichte Meinung über Cannabis günstiger und teilweise objektiver als früher ist. Und das liegt maßgeblich an der Initiative von Wolfgang Neskovic. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist trotz allem immerhin ein winziger Schritt in Richtung auf die Normalisierung der Cannabis-Frage. Gegenreaktionen der Konservativen bleiben natürlich nicht aus, aber ich möchte bezweifeln, daß man die Debatte auf den Stand vor Neskovic zurückschrauben kann.
Sebastian Scheerer, geboren 1950, ist Mitherausgeber des Buches „Drogen und Drogenpolitik“, Frankfurt am Main, 1989. Im Rowohlt Verlag ist 1997 „Sucht“ erschienen.