Jörg Auf dem Hövel (* 7. Dezember 1965) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als freier Journalist u. a. für die Telepolis, den Spiegel und Der Freitag.
Der Autor und Journalist Jörg Fauser wäre dieses Jahr 60 geworden, aus Dank hetzt man in durch das Feuilleton, feiert sogar seinen Geburtstag mit einer Party in München. Warum?
Was ist so faszinierend an den Arbeiten des Mannes, die die Kritik im Niemandsland zwischen Junggesellenliteratur und Drogenroman geparkt hat? Die enorme Dichte der Erzählung? Die fast wütende Treibjagd der Worte, der enorme Druck, der den Leser durch den Text schiebt? Oder die in den Text übertragende Desparado-Stimmung eines Mannes, der immer rücksichtslos schrieb? Wahrscheinlich alles das und noch mehr. Jörg Fauser entzieht sich den Schubladen.
Der Faszination Fauser“ nachzuspüren waren an einem Samstag im Juli auch die Gäste der Jörg Fauser Nacht“ in der Reithalle in München gekommen. Da wurde wacker aus seiner Prosa vorgelesen und Franz Dobler rhythmisierte köstlich ein Gedicht Fausers, wortprächtig unterstützt von einem eingefleischten Fauser-Fan im Publikum, der an allen wichtigen Stellen Dobler vorgriff und ihm die Pointe brüllend wegschnappte. Dem Publikum war das zu viel der Begeisterung. Fauser hätte es wohl gefallen, so ein angetrashter Aufstand gegen die Versilberung seines Werkes.
Fauser, geboren 1944 im Taunus, verlässt 1967 vorzeitig den Zivildienst und landet im Tophane-Viertel in Istanbul, wo er ein Jahr die Türkei und das Heroin kennen lernt. Eine Zeit, die Leben und Werk lange bestimmt, seine Erlebnisse dort werden in seinen Schriftstücken immer wieder verarbeitet. Tophane“ erscheint 1972, die Harry Gelb Story“ 1973. Die Texte gelten als die erste ernst zu nehmende Beat-Literatur Deutschlands.
Fauser ist mittlerweile vom Heroin runter, keine Lust mehr auf den Untergrund, aber auch keine Lust im deutschen Literaturreigen mitzutanzen. 1981 erscheint Der Schneemann“, Hauptfigur ist ein sympathischer Tunichtgut, der eigentlich nur ein paar dänische Pornohefte an den Mann bringen will, aber in eine Mordgeschichte mit viel Koks reinstolpert. Fausers Stil ist kurz angehalten und treffend: Wichtig ist, wie immer im Leben, das Glück nur in kleinen Dosen zu sich zu nehmen, so verschmerzt man es leichter, wenn es einem entzogen wird. Denn das Glück, meine Herren, ist die teuerste Droge. Später wurde das Buch von Peter F. Bringmann mit Marius Müller-Westernhagen verfilmt. Erfolg stellt sich ein, Fauser bleibt getrieben.
1978 legt er scheinbar aus dem Nichts eine Marlon Brando Biographie vor, er der er sich nicht nur mit Brando, sondern mehr noch mit den Kulturverwesern beiderseits des Atlantiks beschäftigt:
Sie seichen, schleimen, und laichen, gemietete Schreiberlinge jeder Provenienz, bezahlte Zuträger der Macht, von den Managern der Bewusstseinsindustrie ins Fernsehen gehievt, ausgehalten von den Zuhältern jener Konzerne, die das Abendland und das Morgenland bis auf den letzten Quadratmeter ausplündern, um sich sodann dem Weltraum zuzuwenden.
Der Kulturindustrie gegenüber bleibt Fauser immer skeptisch, seine Kritik an den Verhältnissen mehr als bissig.
1984 erscheint Rohstoff, sein vermutlich bester Roman. Das gerade im Alexander-Verlag wieder aufgelegte Buch zeigt den Protagonisten in den Wirren der 68er-Zeit, und während die Anarchos das System stürzen wollen und die Hippies auf dem sanften Weg nach Innen sind, irrt die Hauptfigur zwischen Junk-Leben und der Arbeit an einem Roman durch die Weltgeschichte:
Nachdem das Opium alle war, kaufte ich eine Flasche billigen Kognak, und irgendwann am nächsten Morgen erreichte ich Saloniki. Ich hatte noch meinen Ausweis, etwa 500 türkische Lira, meine Brille und die Fetzen, die ich auf dem Leib trug, aber mein Roman war weg.
Fauser berichtet mitreißend real, journalistischer Stil paart sich mit literarischer Klasse. Er interviewt Charles Bukowski für den Playboy, für Achim Reichel schreibt er den Text zu dessen Hit Der Spieler, mit ihm zusammen taucht er bei Dieter-Thomas Hecks Hitparade in Boxerkutte auf.
Leben und Werk vermischen sich bei Fauser, aber statt des Sozialzynismus der Pop-Literaten, die ihr Muttersöhnchen-Dasein als Abräumhalde für Textschrott nutzen, sucht Fauser den urdemokratischen Zugang und will seine Worte da wieder finden, wo sie entstanden sind. Unten. So will er vom Schreiben, nicht aber mit dem Bürgertum leben. Für seine letzte große Reportage begleitet er 1987 Joschka Fischer im Wahlkampf und zeichnet ein scharfes Bild des Grünen auf dem Weg zur Macht. Es ist wohl dessen Realitätsnähe, die Fauser sich für Fischer begeistern lässt.
Im Juli 1987 wird der Fußgänger Fauser auf der Autobahn bei München überfahren. Was er da wollte, ist bis heute unklar. Fausers hinterlässt mit seinen Schriften kernige Kommentare auf die Zustände der Republik, unverhauene Romane, spannende Krimis und brillante Gedichte.
Die wichtigsten Werke von Jörg Fauser
Die Jörg Fauser Edition beim Alexander-Verlag, Berlin. Bd. 1: Marlon Brando, Der versilberte Rebell; Bd. 2: Rohstoff; Bd. 3: Der Schneemann; Bd. 4: Trotzki, Goethe und das Glück. Gedichte.
Rührige Gesamtausgabe von Fausers Werken.
Jörg Fauser: Blues für Blondinen. Essays zur populären Kultur. 1984. Frankfurt a.M.: Ullstein. Essays, Feuilletons, Kolumnen und Reportagen, die Fauser zwischen 1979 und 1983 u.a. in den Zeitschriften lui, TransAtlantik und in der Basler Zeitung veröffentlicht hat.
Matthias Penzel, Ambros Waibel: Rebell im Cola-Hinterland. Jörg Fauser. Berlin 2004. Edition Tiamat. Just erschienene Biographie, die Werk und Leben intensiv beschreibt.
Neue Lösungswege gesucht und gefunden. Wie der Staat mit Cannabis umgehen sollte
Das drogenpolitische Feld wird national und international von verhärteten Fronten dominiert. Auf der einen Seiten stehen Prohibitionisten, auf der anderen Legalisierer. Wer mit Diskussionsbeiträgen auf dieses Feld tritt, der muss sich schnell entscheiden und in die sichere Deckung der einen oder anderen Seite springen. So wird jede Studie, jede Forschungsarbeit, jeder Aufsatz und jeder Artikel schnell einer der Seiten zugeordnet. Unter diesen Bedingungen kann kaum vernünftige Wissenschaft, geschweige denn Politik betrieben werden. Bisher entsteht bei den Debatten mehr Hitze als Licht.
Gesucht ist ein Ausweg aus der leidvollen Ironie, das die Cannabis-Gesetze primär erlassen wurden, um den Konsumenten vor sich selbst zu schützen, diese Gesetze selbst aber die größte Gefahr für ihn darstellen. Also Freigabe? Die Idee der Legalisierung erfuhr auf politischer relevanter Seite schon immer äußerst wenig Unterstützung, während Entkriminaliserung in den frühen 70er durchaus en vogue war. In den USA beipielsweise, heute das Motherland des War on Drugs, entkriminalisierten 11 Staaten den Genuss und Besitz kleiner Mengen von Marihuana; die in den Jahren nachfolgenden Statistiken wiesen keinen Erhöhung des Konsums nach. Veränderte politische Großwetterlagen ließen keine weiteren Experimente zu.
Fest steht, dass die Prohibition gescheitert ist. Seit Jahrzehnten aber steht trotzdem hinter der Drogenpolitik der UNO und der globalen Regierungen der Glaube, dass immer mehr von demselben die Weltbevölkerung auf wundersame Weise zum drogenfreien Glück führt. Aber jede auch zukünftige Gesellschaft wird eine Drogenproblem haben, egal welche Drogenpolitik gewählt wird. Die Aufgabe ist, die Probleme zu minimieren, und zwar die Probleme, die durch den Drogenmissbrauch und durch die Politik selbst verursacht werden. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die Wissenschaft von den Drogen, die Drogenpolitik und deren staatliche Durchsetzung allzu sehr auf die relativ wenigen Süchtigen fokussiert. Diesen muss geholfen, die Anderen müssen in Ruhe gelassen werden.
Eine Drogenpolitik, die die fundamentale Erkenntnis leugnet, dass Drogenkonsum Spaß bringen kann, und das ein hoher Anteil von Menschen durch diesen Spaß auch keine psychischen oder physischen Probleme bekommt, darf sich nicht wundern, dass die Jugend die gut gemeinten Botschaften der Aufklärung nicht erhört.
Leider ist das durch Schule, BRAVO und Kumpels vermittelte Wissen über Drogen schlichtweg mangelhaft oder gar ungenügend (Setzen, 6!). Und weil sie zur Zeit keinen Alkohol- oder Kokainabhängigen Mitschüler kennen, glauben Schüler nicht daran, dass einer dieser forschen Typen in fünf Jahren seine Nase nicht mehr aus dem Puder kriegt.
Im Kern exisitieren fünf Modelle, wie der Umgang mit Hanf, dessen Produkten und dessen Konsum reguliert werden kann. In der Tabelle unten sind neben den Vor- und Nachteilen die Realisierungsaussichten des jeweiligen Modells aufgeführt.
(1) Unter dem Begriff Entpönalisierung sind die Regulierungs-Möglichkeiten aufgeführt, bei denen der Besitz von Cannabis weiterhin illegal bleibt, aber mit milderen Strafen als bisher belegt wird. Hierzu gehört auch das holländische Modell.
(2)Der Begriff der Entkriminalisierung trägt in seiner unterschiedlichen Verwendung zur Verwirrung bei. In der oft genutzten Form meint er, dass Produktion, Verteilung und Verkauf illegal bleiben, aber keine strafrechtlichen Verfolgung des Besitzes für den persönlichen Gebrauch existiert. Ein Beispiel für eine ersatzlose Entkriminalisierung durch die Herauslösung bestimmter Straftatbestände ist der Vorschlag von Sebastian Scheerer, Kriminologe an der Universität Hamburg, den § 29 BtMG so zu revidieren, daß Handel mit nicht geringen Mengen weiterhin mit Freiheitsstrafe bedroht wird, der Handel mit geringen Mengen als Ordnungswidrigkeit zu ahnden ist und nicht auf Handel bezogene Tatbestände gänzlich straffrei gestellt werden.
In einigen anderen Definitionen der Entkriminalisierung bleibt aber die Möglichkeit der Geldbußen bestehen, die, wenn sie nicht gezahlt werden, doch wieder zu Gefängnisstrafen führen können.
Darum wird die sagenumwobende Entkriminalisierung hier in einen neuen Begriff überführt: Partielle Prohibition. Das erlaubt den Besitz von kleinen Mengen und einigen Pflanzen. Wie hoch diese Mengen dann tatsächlich sind, darüber lässt sich in den Einzelheiten trefflich streiten, hier soll nur der prinzipiell-praktische Weg aufgezeichnet werden.
(3) Die über Lizenzen regulierte Abgabe ist die erste von drei Variante, die dem Staat Steuereinnahmen bringt. Eine weitere ist die Gleichstellung von Cannabis mit Alkohol und Tabak, erst die dritte und letzte nennt sich Legalisierung und beinhaltet die Freigabe des Hanfs.
Welche Folgen das Entstehen einer Cannabis-Wirtschaftzweig nach sich ziehen würde bleibt Spekulation. Die Szenarien reichen von einer völlige Banalisierung der Droge in Richtung eines jugendlichen Massenkonsumprodukts (Alkopops) über die Billig-Fusel-Variante (knallt toll – bis zur Verblödung) bishin zur Connaisseure-Welt, die, ähnlich wie bei hochwertigen Weinen, den Rausch und das dafür nötige Produkt zelebriert. Aus Sicht einer Drogenpolitik, die unter der Prämisse arbeitete, dass jeder Nichtkonsument ein guter Bürger ist, weist diese Art der Regulierung noch weitere Pferdefüße auf. Würde Cannabis eine der Waren im Kreislauf der Konsumgüterindustrie, wäre es auch dessen Gesetzen unterworfen. Gänzlich freigegeben wäre es ein Marketingobjekt, dessen Bewerbung vielleicht offiziell verboten wäre, dessen Konsumenten aber viel zu kaufkräftig wären, um nicht Zielgruppe der Werbestrategie großer Konzerne zu sein. Schon jetzt spiel die Industrie mit den Symbolen der Hanfbewegung, jede Gesetzeslücke würden in Zukunft sicher ausgenutzt werden, um potentielle Kiffer von der ganzen und reinigenden Kraft des göttlichen Krauts zu überzeugen.
Unter strikter Lizenz des Staates würde der Cannabis-Behörde die unheilvollen Rolle eines Dealers zukommen, der an der Abhängigkeit einiger Konsumenten verdient. Diese Doppelmoral ist von Alkohol und Tabak bekannt. Die zweckgebundene Verwendung der Einnahmen aus der Cannabissteuer wäre ein Trost, dessen heilsame Wirkung sich wiederum schwer in Zahlen fassen lässt.
Wie auch immer sich die Politik zukünftig bewegen wird, sie wird weitere Steuerungsverluste vermeiden wollen. Keiner weiß genau zu sagen, ob das Verlangen nach Cannabis nach einer Neuregulierung des Besitzes ansteigen oder nachlassen wird. Die Wissenschaft geht zwar eher davon aus, dass es zunächst leicht ansteigen, sich später aber wieder auf dem gewohnten Niveau einpendeln wird, festlegen lassen will sich da aber aus gutem Grund kein solider Wissenschaftler.
Zieht man dazu noch in Betracht, dass Die Seuche Cannabis (SPIEGEL Titel 27/2004) zur Zeit mal wieder auf einem Hoch der medialen Aufmerksamkeitswelle liegt, die nach dem Prinzip Horror-Droge in Anmarsch für mehr Verwirrung als Aufklärung sorgt, dann sieht es für die Evolution der Drogenpolitik weiterhin mies aus. Dabei wären alle der hier genannten fünf Regulierungsmodelle ein Fortschritt gegenüber der herrschenden Stagnation.
Wie der Staat mit Cannabis umgehen kann
Regulierungsmodell
Vorgehen
Vorteile
Nachteile
Realisierungsaussichten
Prohibition mit milderen Strafen (Entpönalisierung I)
– Strafen für Eigenbedarf werden herabgesetzt.– Strafbarkeit des Handels bleibt bestehen.
– Cannabis-Liebhaber werden nicht mehr „sehr hart“ für ihr Hobby bestraft. – Kann ein erster Schritt Richtung Normalisierung sein.
– Konsum ist weiterhin stigmatisert, Genießer werden bestraft.– Kleinstmöglicher Schritt, der fälschlicherweise als ausreichend angesehen werden könnte.– Polizei u. Gerichte weiterhin stark beschäftigt.
– Schwarzmarkt bleibt.
– Obwohl nur eine Normierung des Faktischen, da die Gerichte ohnehin schon oft milde Strafen ausstellen, ist eine Realisierung unwahrscheinlich: Die bei Politikern unbeliebte Cannabis-Diskussion wäre ausgedehnt, das Ergebnis dafür minimal.
– Konsum und Besitz von Eigenbarf sind keine Straftaten mehr, sondern werden zivilrechtlich behandelt (Ordnungswidrigkeit). – Evtl. werden Geldbußen verhängt.– Der Handel bleibt strafbar.
– Die Konsumenten sind nicht mehr vorbestraft. – Gerichts- und Polizeikosten fallen.– Hohes Maß an staatlicher Kontrolle möglich. Aus staatl. Fürsorgesicht blieben die Vorteile des prohibitiven Systems bestehen.
– Wer die Geldbußen nicht zahlt oder sich für unschuldig hält landet doch wieder vor Gericht (50% in Süd-Australien). – Schwarzmarkt bleibt. – Stigmatisierung der Konsumenten bleibt. – Evtl. erhöht Polizei Verfolgunsgsdruck (so in Kanada).
– Von den Gegnern würde das Schlagwort d. „falschen Signals“ aus der Mottenkiste der längst widerlegten Argumente gezerrt werden.– Den fallenden Gerichtskosten würde der Verwaltungsaufwand der Ordnungsämter gegenüberstehen (so in Spanien seit 1991).
Prohibition mit Zweckmäßigkeitsklausel (Entpönalisierung III: Niederlande)
– Der Besitz von bis zu 5g wird nicht verfolgt, obwohl er als Straftat gilt.– Bei über 5g Geldstrafen, bei über 30g Ermittlungsverfahren.– Coffeeshops dürfen 5g pro 18-jähr. und Tag verkaufen.
– Seit 25 Jahren erprobtes Modell. – Zumindest i. d. Niederlanden kein Anstieg der Konsumentenzahlen .
– Übertragbarkeit des Modells unsicher. – Rechtlich wässrig: Besitz illegal, aber erlaubt. – Coffee-Shop Hintertür-Problem. – Händler mit einem Bein im Gefängnis.
– Aufgrund der rechtlichen Unklarkeit in Deutschland unerwünscht.– Obwohl das niederl. Modell als erfolgreich gilt, haftet ihm aus Sicht der Prohibi- und Präventionisten der wilde Duft der Anarchie an.
Partielle Prohibition (Entkriminalisierung)
– Besitz kleiner Mengen für Erwachsene (10-40g) legal. – Besitz von bis zu 5 Pflanzen pro Haushalt legal. – Non-profit Weitergabe unter Erwachsenen erlaubt. – Kein Konsum in der Öffentlichkeit.
– Keine vorbestraften Kiffer. – Entlastung von Polizei u. Gerichten. – Tauschnetzwerke etabl. sich. – Abschreckung bleibt, da Handel und Produktion gr. Mengen illegal bleiben. – Entemotionalisierung möglich. – Drogenaufklärung glaubwürdiger. – Flexibles Modell, kann rückgängig gemacht werden.
– Die „Droge“ Cannabis bleibt verboten: der Schwarzmarkt bleibt bestehen. – Was ist mit männl. Pflanzen? – Vielfalt eingeschränkt: Tendenz zu großen und potenten Pflanzen möglich. – Für starke Raucher bleibt Verfolgungsdruck bestehen.
– Trotz bestechender Logik würde das Modell als „Legalisierung“ gebrandmarkt werden. – Politik hat Angst vor „Schleusenfunktion“. – Die Crux ist der Eigenanbau: Dieser ist politisch kaum durchzusetzen, aber ohne ihn bleibt die Versorgung illegal. – International eher zu realisieren, als in Deutschland. Aus positiven Auslandserfahrungen könnten Inlandsdruck resultieren.
Lizensierung
(Regulierte Abgabe)
– Vergabe von Kiffer-Lizenzen. – Kiffer werden registriert und dürfen festgelegtes Quantitätslimit nicht überschreiten.– Cannabis-Industrie oder Behörde leiten Coffee-Shops.– Zentr. Datenbank erfasst Käufer.
– Entzug der Lizenz bei Vergehen.
– Qualität ist gewährleistet.– Geschultes Personal verkauft.– Steuerneinnahmen.
– Überwachung der Raucher: Orwellscher Staat.– Arbeitgeber, Versicherungen usw. mit Zugang zu dem Register?– Austrocknung des Schwarzmarktes unsicher.
– Neuer Behördenwasserkopf.
– Ein Modell mit dem Charme des überdrehten Rechtsstaates. Von daher in Deutschland nicht ganz unwahrscheinlich.– Gegenargument wird sein: „Staat darf nicht zum Dealer werden.“
Partielle Regulierung
(Cannabis gleicht Alkohol und Tabak)
– Spezielle Behörde registriert Cannabis-Bauern.– Diese Behörde legt Steuern, Etikettierung, Reinheit und Potenz des Cannabis fest.– Lizensierte Abgabstelle verkaufen (an Erwachsene).
– Keine Werbung, kein öff. Konsum.
– Schwarzmarkt wird nahezu stillgelegt.– Qualitätskontrolle.– Steuereinnahmen.
– Glaubwürdige Drogenpolitik möglich: Drogenkonsum ist Teil der Gesellschaft.
– Polizei u. Gerichte sind entlastet.
– Der Staat verdient an den (wenigen) Cannabisabhängigen.– Ist Eigenanbau legal? Wenn ja, dann müsste dieser wie heute das „Bierbrauen im Privatkeller“ gelöst werden.
– Gering, da zu weit vom beliebten und herrschenden Modell der präventitiven Prohibition entfernt.– Noch eine Droge in der stets suchtgefährdeten Konsumgesellschaft? Das wollen wie wenigsten CDU u. SPD-Abgeordneten ihrem Wahlkreis erklären wollen: Zu anstrengend, zu wenig neue Wähler.
Legalisierung
(Freigabe mit Qualitätskontrolle)
– Das entscheidenste Drogengesetz ist das von Angebot und Nachfrage.– Steuern werden erhoben.– Cannabis ist ein Lebensmittel.
– Preis und Qualitätskontrollen sind dem Markt überlassen.– Schwarzmarkt bricht zusammen.– Polizei- und Gerichte mit mehr Zeit fürs Wesentliche.
– Trennung der Märkte.
– Werbung ist –wenn auch wie bei Tabak- möglich.– Wirtschaft und Staat verdienen an der Abhängigkeit.– Wie wird das Konsumverbot für Jugendliche geregelt?
– Nach kosmischer Zeitrechnung gut, nach irdischen Maßstäben gleich Null.
Comic-Sponti Gerhard Seyfried hält die Historie neuerdings lieber schriftlich fest. Letztes Jahr debütierte er mit Herero, einem Tatsachenroman über Namibia, sein neues Buch spielt in der Zeit der Schleyer-Entführung. Im Interview mit dem HanfBlatt spricht er über die 68er-Zeiten, die Kolonialgeschichte der Deutschen und chinesisches Opium.
Sicher, die Berge, das schmucke Barock-Örtchen Solothurn, und die freundlichen Schweizer, das alles trägt zum Wohlfühlen bei. Aber bevor es ihn in die schweizerische Provinz verschlug, lebte Gerhard Seyfried 26 Jahre in Berlin. In den 70er Jahren gestaltete er die radikalen Zeiten mit und wurde mit seinen Karikaturen zum Liebling der Haschisch- und Hausbesetzer-Szene.
Der Wechsel vom Kiez zur Kuh, 2002 vollzogen, war weniger eine Suche nach neuen Wegen oder Eindrücken als vielmehr eine Abkehr von Berlin. Dessen Hauptstadtallüren hatten aus Sicht Seyfrieds, 56, die Reste der anarchischen Subkultur der 80er Jahre zersetzt. In seinem Heimatbezirk Kreuzberg hatten die Autos die Herrschaft über die Straßen übernommen und mit den zahllosen Döner-Buden und Handy-Läden war, so Seyfried, Monokulti entstanden.
Vor zwei Jahren hattest du noch behauptet, nie einen Roman über Berlin schreiben zu können, weil du „kein Nostalgiker“ wärst. Und nun doch ein Buch über die 70er Jahre in Berlin und München. Liegen Heimweh und Nostalgie dicht beieinander?
Das hat wenig mit Heimweh zu tun, sondern damit, eine zum großen Teil erlebte Geschichte aus den 70ern zu erzählen. Ich bleibe damit der Geschichtsschreibung treu, wie mit den Comics begonnen und mit Herero fortgesetzt.
„Der schwarze Stern der Tupamaros“ beschreibt eine Liebe in den Zeiten der Stadt- und Spaßguerilla sowie des nachfolgenden Terrorismus. Wie hast du die Radikalisierung der Szene damals erlebt? Musste der Widerstand in einer dogmatischen Sackgasse enden?
Staat und militante Szene haben sich ja gegenseitig aufgeschaukelt, wobei dem Staat das Verdienst gebührt, angefangen zu haben. Der Widerstand hat zwar teils in der Sackgasse geendet, hat aber auch seine Fortsetzung in anderen Formen gefunden.
Wie konntet ihr die Nazis zulassen?, das war eine der wichtigen Fragen in der Zeit.
So notwendig die Auseinandersetzung war, so ungerecht war sie teilweise auch. Sicher, die Alten waren begeisterte Nazis gewesen, aber eben aus einem fatalen Irrtum heraus. Und wer dagegen war, dem waren oft die Hände gebunden. Wir müssen uns ja jetzt schon fragen lassen, warum wir nicht mehr gegen Atomkraftwerke getan haben.
Wenn du das Gefühl der damaligen Zeit in einen Satz fassen müsstest? … würde zu wenig dabei heraus kommen. In zwei Sätzen: Man hat uns gesagt, wir leben in einer Demokratie. Das haben wir ernst genommen, womit scheinbar niemand gerechnet hat.
Du willst wieder zurück nach Berlin. Genug der guten Luft hier?
Ein deutlicher Nachteil ist, dass jeder automatisch denkt man lebt in der Schweiz, weil man zu viel Geld hat. Das ist bitter, wenn es nicht stimmt.
Mit Herero hast du einen Roman über den deutschen Kolonialkrieg in Südwestafrika geschrieben. Was hat dich an dem Thema so beeindruckt, dass ein 600 Seiten-Roman daraus wurde?
Zum einen ist Geschichte ohnehin mein Steckenpferd, und als ich für das Goethe-Institut in Namibia war, da wusste ich schon einiges über das Land. Vor Ort hat mich dann das schöne Land begeistert, die ungeheure Spannung, die sich aus der Suche nach deutschen Spuren ergab. Der momentane Häuptling der Hereros heißt aber halt Alfons. Das Land ist wie unser eigener Wilder Westen; mit dieser endlosen Illusion von Freiheit. Und wie bei den Indianern spielte sich auch die Kolonialzeit ab: Betrug, Planwagen, Rinderkrankheiten, Alkohol.
Warum die detailgetreue Darstellung der technischen Szenerie vor Ort, wie beispielsweise der damals benutzten Geschütze und Eisenbahnen?
Tatsächlich kann ich mich in die Zeit nur rein versetzen, wenn das Detailwissen stimmt. Der Traum würde zerplatzen, wenn ich nicht genau wüsste, was die Hereros damals anhatten, wie die Gewehre funktionierten und wie das Wetter war.
Diese Tiefenschärfe wendest du auf die Menschen nicht an. Warum nicht?
Da will ich dem Leser mehr Spielraum lassen. Die Historie ist vorgegeben und die will ich möglichst genau schildern.
Und das spätere Verbot kann durchaus als Teil einer rassistischen Politik verstanden werden.
Das machen sie eben überall auf der Welt. Das ist eine Parallele zur Unterdrückung und Lächerlichmachung ethnischer Religionen und Gebräuche. Da wird alles genutzt, was der Zerstörung der urspünglichen Identität dient. Das Kiffen wird ebenfalls nicht ohne Grund verfolgt wie verrückt. Diese ungerechtfertigten Verbote grenzen für mich an Faschischmus.
War das ein Grund für deine Auswanderung von Deutschland in die Schweiz?
Ich rauche jetzt seit 35 Jahren und irgendwie habe ich mich an den illegalen Zustand gewöhnt. Ich renne nicht mit Riesentüten auf der Straße rum und habe bisher auch keine Probleme bekommen. Aber die Schweizer haben gutes Gras, stimmt.
Du sitzt bereits an deinem neuen Roman, er handelt in der Zeit des Boxeraufstands in China.
Ja, und wiederum ist es eine anstrengende, aber spannenden Recherchearbeit.
Ist der Boxeraufstand tatsächlich ein Resultat der Opiumkriege im ausgehenden 19. Jahrhundert, die Großbritannien mit China führte, um das Land weiterhin zur Einfuhr von Opium zu zwingen?
Nur zum Teil. China war für die Westmächte ein riesiger Markt, voller Bodenschätze und militärisch schwach. Das galt es auszunützen. Die Boxerbewegung richtete sich ursprünglich gegen die herrschenden Mandschu, danach gegen die fremden Teufel, die als Ursache allen Unglücks angesehen wurden. Boxer war übrigens ein Spitznahme der Engländer für die Bewegung, die sich Faustkämpfer für Gerechtigkeit nannte. Die beiden Opiumkriege hatten der chinesischen Führung die Überlegenheit Großbritanniens vorgeführt. Es ging darum, die Bevölkerung vor dem Gift zu schützen. Da man gegen den mit Gewalt durchgesetzten britischen Import nicht ankam, versuchte man, selbst anzubauen, um die Kontrolle über den Verbrauch zu gewinnen. Gleichzeitig spaltete sich China in Traditionalisten, die von den Fremden nichts wissen wollten, und Modernisten, die der Ansicht waren, China müsse, ähnlich wie Japan, zu einer modernen Macht werden, um den aggressiven Kolonialmächten gewachsen zu sein. Diese Spaltung prägte auch den Bürgerkrieg während der sogenannten Boxerwirren.
Darf man schon mehr vom Inhalt des Romans wissen?
Eine Liebesgeschichte zwischen einer jungen deutschen Frau und einem Seeoffizier, vor dem Hintergrund der geschichtlichen Ereignisse in China, die ich sorgfältig recherchiere. Ein Teil spielt im von Deutschland besetzten Tsingtau, heute Qingdao, was ja eine Art deutsches Hongkong werden sollte. Die Deutschen haben dort ihre Aktivitäten damals anders organisiert als ein Jahrzehnt zuvor in Afrika. Gründliche Ausbeutung: ja, aber mit weniger Gewalt. Es wurden sogar Krankenhäuser und eine deutsch-chinesische Universität gebaut. Das Paar gerät dann in die Wirren des Boxeraufstands in Peking und die 55-tägige Belagerung der Gesandtschaften. Schon das ist spannend, mehr noch, weil das ja von den beteiligten Mächten zum Anlass genommen wurde, sich riesige Happen aus dem chinesischen Kuchen rauszusäbeln. Gleichzeitig war es der ersten große internationale Einsatz auf der Welt, bei welchem sich Nationen zusammen geschlossen hatten, um ein Ziel zu verfolgen. Es ging um die Sicherung wirtschaftlicher Interessen, wie man gewalttätigen Imperialismus damals wie heute nannte und nennt.
Wie näherst du dich der Denkweise der Deutschen von damals an?
Liest man Reiseberichte aus der Zeit um 1900, fällt einem schon die Überheblichkeit der Deutschen, Engländer, Franzosen etc. auf. Trotzdem nähere ich mich ihnen neutral. Man kann sich nicht hinstellen und sagen: „Ihr ward Arschlöcher“. Sind sie vielleicht von unserem heutigen Standpunkt aus, klar, aber wenn man als Autor so denkt, dann versteht man sie, und damit die Geschichte nicht. Sie haben halt geglaubt es richtig zu machen, nicht anders als wir heute.
Woher diese Lust am Schreiben und die Abkehr von den Comics?
Zum einen habe ich das Medium Comics sehr lange ausgeschöpft und nie genug damit verdient. Zum anderen ist es eine Herausforderung für mich eine Geschichte ohne Bilder zu beschreiben. Aus meiner Sicht gebe ich dem Leser einen größeren Freiraum für die Fantasie, wenn ich ihm kein fertiges Bild vorgebe.
Die wichtigsten Werke aus der Seyfried-Biographie
Verdammte Deutsche, Albrecht Knaus Verlag, München 2012
Gelber Wind oder Der Aufstand der Boxer, Eichborn, Berlin 2008
Seyfried & Ziska: Die Comics. Alle! Zweitausendeins. Frankfurt a.M. 2007
Herero, Eichborn Berlin 2003 Der schwarze Stern der Tupamaros, Eichborn Berlin 2004
Wo Soll Das Alles Enden, Rotbuch-Verlag Berlin 1978
„Rauschkultur als Form der Religiösität und des Hedonismus“
In den verwirrenden Gängen der Universität versteckt sich eine besondere Gattung: Der hängen gebliebene Student, gemeinhin Professor genannt. Gespräche mit dieser Spezies sind oft nicht spaßig – zu hoch ragt der Turm aus Elefantenstoßzähnen, zu dick die Mauer der Arroganz, zu verschlungen die Gänge der Gedanken. Aber es geht auch anders.
Ein Gespräch zwischen Sebastian Scheerer, Professor für Kriminologie an der Universität Hamburg und Jörg Auf dem Hövel.
HanfBlatt: Schön, daß Sie für das HanfBlatt Zeit haben.
Scheerer: Für das HanfBlatt doch immer.
Als Kriminologe beschäftigen Sie sich unter anderem mit der historischen Entstehung von Rechtsnormen, die heute den Umgang mit Cannabis, Alkohol und anderen Drogen bestimmen. Ein in der Rechtswissenschaft bisher nicht sehr populäres Forschungsgebiet, auf dem Sie Pionierarbeit leisten.
In Deutschland war ich wohl einer der Ersten, der sich genauer mit der Historie der Drogengesetzgebung auseinandergesetzt hat. In den USA gibt es David Musto, einen Medizinhistoriker an der Yale-University, der in seinem 1973 veröffentlichten Buch „The American Disease“ die amerikanische Betäubungsmittelgesetzgebung sehr genau untersucht. Inzwischen habe ich mich eingehender mit der Verbotsgeschichte einzelner Drogen beschäftigt. Opium, Morphium, Heroin und Kokain sind zwar in dem „1. Internationalen Opium Abkommen“ von Den Haag im Jahre 1912 zusammengepackt worden – welche Umstände aber zur Aufnahme der einzelnen Drogen in die Konvention geführt haben, ist kaum bekannt. Daß Kokain mit im Opium-Abkommen aufgeführt wurde, ist ja nicht selbstverständlich. Und auch weshalb man 1925 Cannabis in das Abkommen mitaufgenommen hat, ist relativ unbekannt.
Und wie kam Cannabis zu der Ehre?
Die übliche Geschichte wird von Howard S. Becker und Jack Herer erzählt: Da spielt der „Marihuana Tax Act“ von 1937 eine Rolle, ein Gesetz, welches formell ein Marihuana-Steuergesetz sein sollte, dem Inhalt nach aber das erste die gesamten USA umfassende Strafgesetz gegen Cannabis war. Dieses Gesetz wird dem sogenannten Moralunternehmer und Chef des damaligen „Federal Bureau of Narcotics“, Harry J. Anslinger, zugeschrieben. Das Problem dabei ist nur, daß dies 1937 war; international verboten war Cannabis aber schon seit 1925. Die Aktivitäten von Anslinger haben also keine Auswirkungen auf die Tatsache gehabt, daß Cannabis in einem Topf mit Opium und Heroin landete.
Der Vorschlag kam auf internationaler Ebene vielmehr aus den Ländern Türkei, Ägypten und Südafrika.
Mit welcher Motivation?
Das soll meine Forschung noch erhellen. Bekannt ist bisher folgendes: In Südafrika rauchten die schwarzen Bergarbeiter Cannabis. In Mosambique und Angola war Cannabis seit langer Zeit ein übliches Genußmittel. Das war für die Machthaber nicht interessant und exotisch, sondern irgendwie unheimlich. In der Geschichte der berauschenden Genußmittel ist immer wieder zu beobachten, daß Vorurteile gegen fremde „Rassen“ Hand in Hand gingen mit Vorurteilen gegen fremde Drogen. Irgendwann steht dann das eine für das andere und man glaubt, daß von der Droge selbst eine Gefahr ausgeht.
Und die Türkei und Ägypten?
In diesen Ländern spielten religiöse Gründe eine wichtige Rolle. Es gab immer wieder Sufi-Orden oder schiitische Minderheiten, die einen mystischen Weg der Erkenntnis wählten, in dem auch Rausch, Ekstase und Drogen eine wichtige Rolle spielten. Da diese Mystiker zugleich sehr kritisch gegenüber der Kirchenhierarchie, der sunnitischen Orthodoxie, waren, stand Cannabis in diesen Ländern dann als Synonym für Häresie. Aber nicht nur Cannabis, sondern auch Kaffee – jedenfalls noch im 16. Jahrhundert. Damals war in Konstantinopel Kaffee verboten, Kaffeehäuser wurden dem Erdboden gleich gemacht und Kaffeetrinker umgebracht. Dasselbe galt nebenbei auch für Tabakraucher. Und da Religion und Politik dort deckungsgleich waren…
Eine Säkularisierung hatte nicht stattgefunden…
…war eine religiös-häretische Richtung damit immer auch eine politische Bedrohung. In Ägypten lag der Fall anders: Dort und auch in Griechenland wurden Geisteskrankheiten und Cannabiskonsum in Verbindung gebracht.
Lassen sich allgemeine Aussagen über die Stellung von Cannabis im Islam treffen?
Der Status von Cannabis war und ist im Islam kontrovers: Cannabis war eine bevorzugte Droge der Armen und auch der armen religiösen Orden. Beide Gruppen stellten eine Gefahr für die herrschende Klasse da die Reichen die Cannabis-Konsumenten abschätzig betrachtete. In Rahmen dieser Politik war es einfacher und konsensfähiger, nicht die Leute, sondern die Droge zu verfolgen.
Das erinnert an Vorgänge in Europa und Amerika.
Ja. Während der Jugendrevolte von ´68 trampelte man auch gerne unter Vorhaltung medizinischer Gründen auf Cannabis herum. Schließlich konnte man schlecht sagen, daß einem die gesamte Art der Jugendlichen nicht gefiel. Das gab den Ressentiments einen objektiveren Anschein.
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Ein gewisses Muster ist wiedererkennbar. Immer wieder meint der Staat, für seine Bürger sagen zu müssen, welche Genußmittel sie zu konsumieren haben und welche nicht. Da hat sich auch für uns in Europa seit dem Mittelalter nicht viel geändert.
Praktisch hat sich Nichts verändert. Aber: Seit der französischen Revolution besteht der Anspruch, daß den Bürgern das erlaubt ist, was die Rechte andere nicht verletzt. Nur was die Realisierung dieses Rechts im Bereich der Genußmittel angeht, ist man auf der faktischen Ebene soweit wie vor 400 Jahren. Die allgemeine Handlungsfreiheit ist hier außer Kraft gesetzt.
Wie kam es später dazu, daß die Ärzte entscheiden, was gut ist und was nicht? Kann man sagen, daß die Wissenschaft immer nur das nachvollzogen hat, was auf sozial-moralischer Ebene schon vorentschieden wurde?
In dem Maße, in dem die Götter an Bedeutung verloren, wuchsen die Ärzte als „Halbgötter“ in die Rolle der Schiedsrichter zwischen Gut und Böse hinein. Allerdings segnen Sie meist nur pseudo-wissenschaftlich ab, was jeweils gerade „herrschende Meinung“ ist. Zu einer Zeit, als es hieß, daß Onanieren zum Rückenmarkschwund führe, fanden sich immer auch Mediziner, die das in dicken Büchern nachgewiesen haben. Und zu einer Zeit als der Nationalsozialismus bestimmte Vorstellungen von lebenswertem und lebensunwertem Leben verbreitete, fanden sich auch immer Mediziner, die das „bewiesen“. Was Drogen angeht, segnet die Medizin auch heute im wesentlichen die herrschenden Vorurteile ab, beziehungsweise hängt ihnen das Mäntelchen der Wissenschaft um.
Auch deswegen kommt Hans-Georg Behr ja zu der Behauptung: „Ich sehe keine Bewegung“. Was denken Sie, bewegt sich nichts in der Legalisierungsfrage von Cannabis?
Es passiert etwas in der Stimmung, in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung. Über die Hanfhäuser und die sonstige Vermarktung von allem, was mit Hanfblättern verziert ist, ändert sich die Sicht auf den Hanf. Das Hanfblatt ist nicht nur mehr ein Symbol der schweigenden Mehrheit, wie schrecklich gefährlich die Droge ist, sondern hat sich zu einem Symbol für das Gegenteil, nämlich für Natur und Ökologie und auch für eine gewisse Lässigkeit im Umgang mit diesem Genußmittel, gewandelt. Und insofern hat sich auf der symbolisch-kulturellen Ebene etwas bewegt. Nur: Von der symbolischen Ebene tröpfelt wenig runter in die Köpfe der Politiker. Selbst bei den Grünen sehe ich zu wenig Liberalität.
Dann ist die Kluft zwischen der Hanf-Bewegung, den Verfechtern des rauscharmen Hanfs, und den Streitern für eine Legalisierung der Droge ja obsolet.
Die betont harmlose Vermarktung weicht unter Umständen die Vorurteile gegen die Pflanze und auch die Leute, die diese Pflanze anders nutzen als zum anziehen, auf. Ansonsten bin ich kein Freund solcher Spaltungen. Dies gilt für die Leute, die sagen, sie wären für wirkstoffarme Anpflanzungen und gegen Rauschhanf genauso wie für den Gruppenegoismus von Cannabiskonsumenten gegenüber Kokain- oder Opiatkonsumenten. Ich habe früher mit Opiatkonsumenten gearbeitet. Dort habe ich viele Vorurteile gegenüber Alkoholkonsumenten erlebt. Dazu nur: Jede Droge hat ihre potentiellen Gefahren und Opfer. Es gibt keinen Grund zu sagen: „Auf die Leute, die mit Alkohol nicht zurecht kommen, schaue ich runter.“ Die Mehrheit der Opiat-, Kokain-, Alkohol- und Cannabiskonsumenten kommt mit den jeweiligen Substanz gut zurecht. Nur weil jemand ein gewisses Genußmittel präferiert, darf man ihn doch nicht strafrechtlich verfolgen. Das ist die grundlegende Absurdität!
Im Kern geht es allen Gruppen ja nur um den kurzzeitigen Rauschzustand. Der Konsument wird heute trotzdem mit strafrechtlichen Mitteln vor sich selber geschützt. Funktioniert dieser Schutz?
Ich kann eingeschliffene Frage und Antwortspiele nicht leiden. Es scheint ja eine Binsenweisheit zu sein, daß dieser Schutz nicht funktioniert. Aber gerade eine solche „Gewißheit“ sollte uns herausfordern, darüber neu nachzudenken…
… nun, ich kann meine Frage auch dahingehend konkretisieren, wie denn besserer Schutz aussehen könnte.
… ob es nicht doch Aspekte gibt, unter denen dieser momentane Schutz funktioniert. Sicher verschafft das straftrechtliche Verbot der Droge ein so schlechtes Image, daß viele Menschen mit ihr nicht in Verbindung kommen, die doch einmal in Versuchung kommen könnten, wenn es sie an jeder Ecke legal zu erwerben gäbe. So gesehen schützt man viele Menschen vor der Droge Cannabis. Zugleich nimmt man diesen Menschen aber das positive Potential der Droge und ein Stück Autonomie. Da müssen wir uns doch fragen: Wollen wir eine Gesellschaft, in der wir die Autonomie per Strafrecht abschneiden? Der momentane Schutz funktioniert nur in einem paternalistischen, entmündigenden Sinne.
Und der andere Schutz?
Bei der Sexualität sagt man ja auch nicht: „Du darfst nie Sex haben!“ Sondern man sieht ein, daß Sex eine wichtige Erfahrung ist, obwohl dabei Menschen immer wieder psychisch tief verletzt werden und sich ja zum Beispiel auch deswegen umbringen. Da sind sehr gewissenhafte Informationen, Verständnis und Hilfestellung gefragt – und das ist leider bei der Erziehung zu einer „guten Sexualität“ nicht anders als bei der Erziehung zum kundigen, vernünftigen Umgang mit Drogen.
Christian Rätsch schlägt so etwas wie einen Rauschkundeunterricht vor.
Sicherlich eine gute Idee. So wie der Staat eine Sexualaufklärung leistet, könnte er dies auch bei den Rauschmitteln tun. Zukünftig werden veränderte Wachbewußtseinszustände eine immer größere Rolle spielen. Es gibt ein gesellschaftliches Bedürfnis nach unterschiedlichen Erlebnissphären, nach inneren, seelischen Abenteuern. Im normalen Arbeitsalltag wird man einseitig gefordert und überfordert und es ist eine gute und richtige Entwicklung, daß man unter anderem durch eine Vielfalt von unterschiedlichen Bewußtseinszuständen, die man gezielt, aber auch kundig, anstrebt und erlebt, ein Gegengewicht zu diesen Normalwelten schafft. Dies hält das Bewußtsein von anderen Möglichkeiten wach oder schafft es neu.
Sie schreiben, daß sich die Gesellschaft daran gewöhnen muß, daß sich „im Zuge der allgemeinen Differenzierung der Lebensstile immer mehr Gruppen mit speziellen Genußpräferenzen herausbilden werden“. Die ravende Jugend mit ihrem Ecstasy und LSD-Konsum ist erst der Anfang?
Ja. Und für mich ein sympathischer Anfang. Ich teile nicht die Meinung, daß das den Weltuntergang bedeutet, wenn Leute eine Nacht lang durchtanzen. Die Leute sind risikobewußt und nicht risikofreudiger als Leute die Motorrad fahren. Viele Politiker und Polizisten glauben allerdings, das sei eine Bedrohung der Jugend und der gesamten Gesellschaft.
Die Angst der Mächtigen vor dem Rausch der Masse ist geblieben. Warum wird die Obrigkeit unruhig, wenn unter ihnen Ekstase herrscht?
Anthropologisch ist es so, daß der Rausch seine Faszination aus der Mischung von Risiko und Grenzüberschreitung bezieht. Der Mensch will als reflexives Tier diese Grenzen kennenlernen und periodisch überschreiten, ob im Karneval oder durch Drogen. Vor den Risiken dabei hat er aber -zurecht- Angst. Der Rausch ist ambivalent und nicht wegzudenken aus der menschlichen Existenz. Herrschaft und Machtwille bringen politische Ängste dazu, die in letzter Zeit eher größer als kleiner geworden sind. Das ist dann mehr der Blick des Fremden auf den Berauschten. Der Beobachter, der mit Vergrößerung der Distanz auch die Fähigkeit der Empathie verliert, hat eine chronische Angst, die Kontrolle über andere Menschen zu verlieren.
Wenn wir von Grenzüberschreitung sprechen, nähern wir uns den religiösen Erfahrungen. Welcher Zusammenhang besteht zwischen Drogen und mystischer Welterfahrung?
Diese Bereiche durchwirken sich. Es gibt zwar voll säkularisierte Rauschkulturen, aber man findet nur wenige mystische Erfahrungen, wo Drogen keine Rolle spielen und andererseits wenig Rauschkulturen, wo spirituellen Beweggründe keine Rolle spielen. Insofern können die heutigen Rauschkulturen nicht nur Zeichen der Ausdifferenzierung von Lebensstilen sein, sondern auch eine neue Form der Spiritualität und Religiösität. In Deutschland ist dies allerdings nicht so ausgeprägt, weil hier die Säkularisierung ausgesprochen erfolgreich gewesen ist. Hier steht der Hedonismus im Vordergrund.
Interessant ist auch der Zusammenhang von Drogenkultur und dem Internet. Ist darüber schon nachgedacht worden?
Von mir nicht. Aber sagen Sie mal was dazu.
Gesellschaftliche Randgruppen fanden im Internet schnell eine Plattform, um ihre Anliegen an eine spezielle Öffentlichkeit zu bringen. An keinem anderen Ort gibt es so vorurteilsfreie, fundierte Informationen über psychoaktive Substanzen. Und das ohne moralische Bewertung. Die Ideen der amerikanische Cyber-Bewegung fußen zum großen Teil auf Erfahrungen mit Drogen. Faszinierend scheint auch hier -wie bei den religiösen Erfahrungen- die gedachte Möglichkeit zu sein, als reale und virtuelle Person gleichzeitig zu existieren. Ich sitze vor dem Rechner, bin aber gleichzeitig als Diskussionsteilnehmer in Asien. Es erfüllt sich also der Wunsch nach Transzendenz.
Die die Menschen immer schon gesucht haben. Und es war immer schon mit das aufregendste und tiefreichendste Erlebnis für Menschen, die sonst unausweichlichen Bedingungen unserer Wahrnehmung, nämlich Raum und Zeit, zu überwinden.
Kant nahm ja an, daß Raum und Zeit a priori gegeben sind. Und es gibt ja durchaus Zustände, in denen das Subjekt feststellt, daß dem nicht so ist.
Kant sah Raum und Zeit eben als Bedingungen unserer Wahrnehmung und nicht als gegebene Objekte an. Ob Raum und Zeit existieren, darüber hat Kant nichts gesagt. Nur waren Raum und Zeit für ihn unverrückbare Teile unseres Bewußtseins; wir sind nach Kant unfähig, anders als in Zeit und Raum zu denken und wahrzunehmen. Die mystischen Erlebnisse, die Kant nur unzureichend gewürdigt hat…
…er saß ja lieber in seiner Stube in Königsberg.
…zeigen aber gerade die Möglichkeit, an diesen Gitterstäben unseres Gedankengefängnisses zu sägen. Und warum sollte es illegitim sein, aus diesem Gefängnis ausbrechen zu wollen? Und die mystischen Erfahrungen gehen seit Jahrhunderten ganz beharrlich genau auf diesen Punkt ein.
Zurück zu Konkretem. Wie wird juristisch begründet, daß der Staat in das durch das Grundgesetz normierte Persönlichkeitsrecht, welches ja auch die Wahl der Genußmittel einschließt, eingreifen darf?
Auch dieses in der Verfassung stehende Grundrecht hat Schranken. Dies sind zum einen die Rechte anderer, aber auch die allgemeinen Gesetze. Wenn also ein anderes Gesetz das Persönlichkeitsrecht einschränkt, dann ist das eine legitime Grenze. Dieses Gesetz wird dann bei Bedarf vom Bundesverfassungsgericht daraufhin untersucht, ob es im Lichte des allgemeinen Persönlichkeitsrecht dieses zu sehr einschränkt.
Die Schranken haben also ihre Schranken.
Nach den Gesetzen der formalen Logik kommt man da nicht sehr viel weiter. Letztlich wird geprüft, ob die Schranken verhältnismäßig sind. Nach 500 Seiten juristischer Argumentation ist man faktisch nicht sehr viel weiter, denn es stellt sich natürlich die Frage: Was sind die Kriterien für die Verhältnismäßigkeit? Das Verfassungsgericht stellte im Zusammenhang mit der Cannabis-Entscheidung dann zwei Fragen: Einerseits: Wie wichtig ist die Freiheit, psychoaktive Substanzen zu sich zu nehmen? Gehört Sie zum Kern des Persönlichkeitsrechts? Und andererseits: Wie groß ist das Risiko? Diese beiden Güter wurden gegeneinander abgewogen, wobei das Gericht sagte: die freie Wahl der Rauschmittel ist kein zentrales Recht, aber die damit verbundenen Risiken wären enorm hoch. Also darf der Gesetzgeber das verbot aussprechen beziehungsweise beibehalten.
Und ihre Meinung?
Ich halte es für den Kern des Kernbereichs, daß man darüber entscheiden darf, wie man sich nach außen darstellt: Ob man rote oder grüne Kleidung trägt, ob man die Haare lang oder kurz hält, ob man zum Mittag Kartoffelbrei, Tütensuppe oder einen griechischen Hirtensalat ißt; diese Entscheidungen sollten dem Menschen selbst überlassen bleiben. Und dies gilt für die Zusammenstellung aller Genußmittel.
Der Hüter der Verfassung ging einen anderen Weg.
Das Gericht zählte das Recht auf Rausch nicht zum Kernbereich der Freiheit. Das Gewicht des Rechts auf Rausch wog für die Richter nicht so schwer wie die Risiken, die auch benannt wurden: Drogenhandel, Gefährdung der Jugendlichen und unklare medizinische Auswirkungen. Für diese Argumentation braucht man eigentlich keine Juristerei. Die spezifisch juristischen Begründungen sind genaugenommen Vernebelung, denn sie führen von der Sache her nicht weiter. Auch die Quellen und Beweisaufnahmen die für die Entscheidungsfindung benutzt wurden, waren unter Niveau und nicht auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand.
Zum Ende: Wagen Sie einen Ausblick auf die zukünftige Entwicklung in Sachen Cannabis?
Die Befürchtung die ich früher stark hatte, daß die Cannabis-Legalisierungsdebatte zu Lasten der anderen Drogen geht, hat sich zerstreut. Die Pro-Cannabis Aktivitäten haben bisher nicht dazu geführt, daß Cannabis liberaler behandelt wird und andere Drogen stärker sanktioniert werden. Ich wollte nie reine Cannabis-Fälle politisch wie justiziell verarbeitet sehen, sondern die Freiheit jedweden Drogenkonsums erreichen.
Behr beispielsweise will das unbedingt getrennt behandeln.
Ich sehe nur, daß es offensichtlich sehr viel erfolgreicher war, Cannabis von den anderen Drogen zu trennen und einen Sonderweg zu gehen. Der ist zwar auch nicht so durchgreifend, wie ich erhofft hatte, aber ich habe heute nicht mehr die Befürchtung, daß diese Trennung zu Lasten der sogenannten harten Drogen ausschlägt. Insgesamt läßt sich feststellen, daß die veröffentlichte Meinung über Cannabis günstiger und teilweise objektiver als früher ist. Und das liegt maßgeblich an der Initiative von Wolfgang Neskovic. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist trotz allem immerhin ein winziger Schritt in Richtung auf die Normalisierung der Cannabis-Frage. Gegenreaktionen der Konservativen bleiben natürlich nicht aus, aber ich möchte bezweifeln, daß man die Debatte auf den Stand vor Neskovic zurückschrauben kann.
Sebastian Scheerer, geboren 1950, ist Mitherausgeber des Buches „Drogen und Drogenpolitik“, Frankfurt am Main, 1989. Im Rowohlt Verlag ist 1997 „Sucht“ erschienen.
Restaurant Roma ROMA
Hofweg 7
22085 Hamburg
Tel. 040 – 220 25 54
Montags bis Donnerstags 12.00 – 15.00 Uhr, 18.30 – 23.00 Uhr
Freitags 12.00 – 15.00 Uhr, 18.30 – 24.00 Uhr
Samstags 18.30 – 24.00 Uhr
Sonntags 18.30 – 23.00 Uhr
Hauptgerichte 16-26 Euro
AmEx, Visa, EC, Eurocard
Bus 6 Mundsburger Brücke oder Bus 8 Hofweg
Meine Mutter sagt: „Das Roma war mal gut.“ Das klingt nach Vorvergangenheit, aber wie ist es heute? Die Räume atmen Anstand und Zahmheit des rechten Alsterufers. Fresken in Ockertönen, dazwischen schreitet der Ober, der – gut geschult – einen Chardonnay empfiehlt: ein karamelliger Volltreffer. Der passt tatsächlich zum auf den Punkt gegrillten Pulpo. Der Wein hebt uns, die Pasta mit Pfifferlingen in Sahnesoße drücken uns, so bleiben wir in der Mitte und genießen unseren Platz am Fenster. Die Küche im Roma lebt von einfachen, aber hochwertigen Zutaten. So wie bei der Kalbsleber mit Zwiebeln – Genuss ohne viel Schnickschnack. Das abschließende Panna Cotto mit frischen Früchten rundet das Menü ab. „Mutter, du darfst wieder im Präsens sprechen.“
FAZIT: Stilvoll, aber bodenständig, kostspielig, aber den Preis wert.
Ein Interview mit James S. Ketchum über fast vergessene Geheimnisse
Eine Menge wurde über die geheimen Experimente geschrieben, die die CIA während der Fünfziger und frühen Sechziger mit psychoaktiven Drogen, insbesondere LSD, durchgeführt hat. Diese Projekte namens „Bluebird“, später „Artichoke“ und „MKULTRA“ testeten den möglichen Einsatz zur Bewusstseinskontrolle und als Wahrheits-Serum. In zahlreichen Fällen wurden unwissenden Versuchspersonen diese Drogen verabreicht allein um zu beobachten, was passieren würde. Zu diesem Zweck führte die CIA sogar ein Bordell. Diese ziemlich anarchischen Aktivitäten im Rahmen des Kalten Krieges wurden in den Siebzigern öffentlich bekannt. Der Fall von Frank Olson, der kurz nachdem er LSD verabreicht bekommen hatte aus einem Fenster sprang oder geworfen wurde und starb, geriet ins Zentrum vieler Spekulationen. Außerdem wurde ein erheblicher Teil der umfangreichen wissenschaftlichen Forschung an LSD während dieser Zeit durch getarnte CIA-Fonds subventioniert.
Weniger bekannt ist die Tatsache, dass die US-Armee ihr eigenes chemisches Forschungszentrum hatte, das Edgewood Arsenal nordöstlich von Baltimore, wo sie auf wissenschaftlicher Basis eine Reihe von psychoaktiven Substanzen und ihre Anwendung als handlungsunfähig machende Wirkstoffe testete, darunter BZ und andere Belladonnoid-Glycolate und LSD.
Der Psychiater James S. Ketchum hat tatsächlich dort gearbeitet und den ersten umfassenden Bericht darüber geschrieben, was dort in den Sechzigern geschah. Sein kürzlich im Selbstverlag in Englisch veröffentlichtes autobiographisches Buch „Chemische Kriegsführung. Fast vergessene Geheimnisse. Eine persönliche Geschichte der Medizinischen Tests an Armee-Freiwilligen mit handlungsunfähig machenden chemischen Wirkstoffen während des Kalten Krieges (1955-1975)“ ist, reich bebildert und mit einzigartigen wissenschaftlichen Daten und Dokumenten bezüglich einiger ziemlich obskurer Substanzen vervollständigt, eine wahre Fundgrube sowohl für Sechziger Jahre-Historiker als auch Psychoaktiva-Afficionados.
Frage: Viele Menschen fürchten sich mehr vor psychoaktiven Substanzen, wenn sie als Waffen benutzt werden um Feinde in einer Kriegssituation handlungsunfähig zu machen, als vor den „traditionellen“ Waffen, Kugeln, Granaten und Bomben, die schwere körperliche Verletzungen oder den Tod sowohl von Soldaten als auch Zivilisten verursachen. Wie erklärst du dir diesen offensichtlichen Widerspruch?
James S. Ketchum: Meinem Gefühl nach hat die Öffentlichkeit im Angesicht exzessiver Geheimniskrämerei ein Mißtrauen gegenüber Regierungsabsichten entwickelt und wird dadurch von Kritikern in den Medien leicht dazu verführt zu glauben, dass jeder Gebrauch einer Chemikalie als Waffe zwangsläufig grausam und unmoralisch sei. Mangel an Wissen über handlungsunfähig machende Substanzen ist ein weiterer wichtiger Grund. Chemische Kriegsmaterialien mit geringem Tötungsrisiko werden unangebracht als Massenvernichtungswaffen klassifiziert. Das allgemeine Versäumnis, diese Unterscheidung zu treffen, ist bedauerlich. Es ähnelt dem Fehler Marijuana nicht von wirklich schädlichen Drogen wie Kokain und Heroin (ganz zu schweigen von Alkohol und Tabak) zu unterscheiden.
Frage: Von 1955 bis 1975 wurden insgesamt 3200 Freiwillige chemischen Wirkstoffen ausgesetzt, die ihnen zum Zwecke militärischer Forschung verabreicht wurden. Wie müssen wir uns vorstellen, was im Edgewood Arsenal geschah?
James S. Ketchum: Ich denke, das Bild sollte eines von ernsthafter Forschung sein, die mit bereitwilligen Freiwilligen gemacht wurde, mit dem Ziel angemessene Abwehrmöglichkeiten gegen möglicherweise einsetzbare chemische Waffen zu finden, indem man ihre Wirkungen auf den Menschen in einer Laborumgebung studierte, die darauf angelegt war, Sicherheit zu gewährleisten und widrige Wirkungen zu minimieren. Ein zweites Ziel war es alternative, humanere Waffen zu liefern, um bestimmte Missionen mit minimaler Todesrate durchführen zu können.
Frage: Du hast ausführlich BZ und andere Belladonnoide untersucht, die ähnlich den Nachtschatten-Alkaloiden Atropin und Skopolamin wirken, aber viel länger, 72 Stunden und mehr. Die Menschen unter ihrem Einfluss tendieren dazu lächerliche und sinnlose Dinge zu tun, zumindest aus Sicht eines Beobachters, und erinnern nicht viel, wenn sie wieder in die Normalität zurückkehren. Hast du jemals länger anhaltende Komplikationen nach den kontrollierten Tests mit den Belladonnoiden oder LSD beobachtet oder davon gehört?
James S. Ketchum: Ich weiss, dass einige Veteranen heute behaupten, 30 bis 50 Jahre nach einem kurzen Kontakt als Freiwilliger mit einer oder mehrerer Chemikalien in Edgewood, dass sie in Folge eines unerwarteten verzögerten toxischen Effektes auf Grund ihrer damaligen chemischen Erfahrung verschiedene Krankheiten entwickelt hätten. Wie auch immer, umfassende Nachuntersuchungen 1980 (für LSD) und 1982 (für Belladonnoide) haben keinen signifikanten Anstieg der Erkrankungsziffer oder der Sterblichkeit unter früheren Freiwilligen festgestellt, die eine Substanz erhielten, gegenüber denen, die keine bekamen. Man kann etwas Negatives niemals beweisen, aber es wäre meiner Ansicht nach bemerkenswert, wenn eine winzige Dosis einer Droge, die während der medizinischen Auswertung zwei Wochen nach der Zufuhr keine schädlichen Wirkungen erkennen ließ, auf irgendeine Weise Jahre später Schäden verursachen würde. So ist zum Beispiel nichts über verzögerte Schäden als Folge des persönlichen Gebrauchs von LSD in höheren Dosierungen oder größerer Frequenz, als wir sie getestet haben, bei diesen Konsumenten bekannt. (Geschätzte 10% der US-Bevölkerung haben LSD zumindest einmal genommen.) LSD ist heute nach wie vor als Freizeit- und psycho-spirituelle Droge beliebt.
Frage: Hat irgendjemand die Belladonnoid-Erfahrung genossen?
James S. Ketchum: Ein Individuum, ein früherer Heroin-Süchtiger, erlebte einen ruhigen, angenehmen Zustand nach einer handlungsunfähig machenden Dosis Atropin. Tatsächlich sagte er, die beiden Drogen fühlten sich ähnlich an. Wie auch immer, im Allgemeinen fanden die Freiwilligen, die Belladonnoid-Drogen erhielten (im Gegensatz zu dem manchmal Euphorie hervorrufenden LSD) kein Vergnügen an den frühen Wirkungen der Droge, hauptsächlich auf Grund der Ruhelosigkeit, die große Dosierungen während der Anfangsphase meist bewirken. Im Anschluss an die Erholungsphase erinnerten die Probanden allerdings meist kein ernsthaftes Unbehagen mehr, und einige fühlten sich sogar belebt.
Wie ich in meinem Buch herausstelle, wurde Atropin um 1950 herum in der „Koma-Therapie“ in den USA, Japan und Polen (und vielleicht noch woanders) in Dosierungen bis zu 20 mal so hoch wie die handlungsunfähig machende Dosis benutzt. Es wurde psychiatrischen Patienten verabreicht, ohne dass es zu drogenbedingten Todesfällen oder bleibenden Hirnschäden kam. Ein hoch qualifizierter Akademiker, der als von schweren Zwangsvorstellungen geplagter Arzt beschrieben wurde, war in der Lage, in verbessertem Zustand erfolgreich in seine Praxis zurückzukehren nachdem er ein Dutzend oder mehr Behandlungen mit Atropin in Dosierungen von 50 bis 200 mg erhalten hatte (4 – 16 mal so hoch wie die höchste Dosis, die wir jemals unseren Freiwilligen verabreicht haben). Auch wenn sie üblicherweise nicht genossen, bis zu 72 oder 96 Stunden lang delirös zu sein, so waren zumindest ein Dutzend der Freiwilligen bereit, den Test (ohne irgendeinen Zwang) zu wiederholen. Ich fragte eine Versuchsperson, was er dafür verlangen würde, wenn wir ihm anbieten würden, ihn dafür zu bezahlen, eine zweite Dosis zu nehmen, und er antwortete nach einigem Nachdenken: „Etwa 25 Dollar“.
Frage: Was sind die hauptsächlichen Risiken des Gebrauchs von Belladonnoiden als handlungsunfähig machende Wirkstoffe?
James S. Ketchum: Wie ich es sehe, bestehen zwei Gefahren: Erstens kann in einer heißen Umgebung ein Hitzschlag drohen, wenn nicht rechtzeitig Behandlung erfolgt; zweitens könnte desorganisiertes Verhalten, besonders nach Wiedererlangen der Bewegungsfähigkeit, zu unbeabsichtigten Verletzungen und Tod führen. In beiden Fällen sind strenge medizinische Überwachung und unverzügliche Behandlung die Schlüssel um solche Probleme zu verhindern, wenn sie bevorzustehen scheinen.
Frage: Die Armee hat große Mengen BZ hergestellt. Was für eine Art von Szenario könnte das Vorspiel für den Einsatz von BZ als psychochemischer Waffe gewesen sein?
James S. Ketchum: Ich denke, BZ (oder jedes andere Belladonnoid) könnte nur effektiv sein, wenn es in einem definierten, vorzugsweise beschränkten Gebiet eingesetzt werden würde, aus dem ein Entkommen verhindert werden kann, und ausreichend Zeit besteht um die erwünschten Wirkungen zu erreichen. Wenn zum Beispiel feindliche Kämpfer eine Botschaft besetzen würden, könnten BZ-artige Wirkstoffe benutzt werden, um es sicherer zu machen einzudringen und Geiseln zu befreien, während man gleichzeitig die „Übeltäter“ festnimmt. Logistische und operative Entscheidungen würden taktische Experten erfordern, um die Details auszuarbeiten. Ich persönlich würde nicht vorschlagen, solch eine Waffe für den Gebrauch durch den normalen Soldaten zur Verfügung zu stellen, außer er hätte eine umfassende Spezialausbildung erhalten.
Frage: Ihr habt den Gebrauch des Kalabarbohnen-Alkaloides Physostigmin als ein effektives Gegenmittel um die Belladonnoid-Wirkungen zu verkürzen wiederentdeckt, eine ziemlich interessante Errungenschaft. Wurden im Edgewood Arsenal noch andere wissenschaftlich wertvolle Entdeckungen gemacht?
James S. Ketchum: Ich denke, dass die systematische Charakterisierung verschiedener Belladonnoid-Wirkstoffe (und einiger anderer) eine akademische Basis bietet, um für diese Substanzen Struktur-Aktivitäts-Beziehungen in einem Maß abzuleiten, wie es zuvor nicht möglich war, außer für Tiere. Die Entwicklung des ersten zuverlässigen Bluttestes für LSD und das Herausfinden, dass Thorazin-artige Drogen hier als Behandlung ungeeignet sind, sind andere Beispiele. Viele neue Evaluations- und Test-Prozeduren wurden erarbeitet, die bei zukünftigen Humanstudien an Freiwilligen behilflich sein könnten.
Frage: Wie verliefen die LSD-Trips in der kontrollierten Umgebung eines Armee-Forschungslabors? Wurden zumindest einige der Versuchspersonen während ihrer Trips spirituell beeindruckt oder erleuchtet?
James S. Ketchum: Es ist schwer zu sagen. Wir waren hauptsächlich an den Leistungsänderungen unter verschiedenen Dosierungen interessiert. Auf Grund sorgfältiger Auswahl und Vorbereitung sowie ausreichend Zeit, um mit dem Personal und den anderen Freiwilligen vertraut zu werden, fühlten sich die Versuchspersonen in der Testsituation normalerweise wohl. Wir beobachteten viele Variationen in den Details ihrer Reaktionen, aber wenige schlechte Trips. Ich beobachtete eine vorteilhafte Veränderung im Selbstbild eines Soldaten nachdem er das, was ein schlechter Trip zu sein schien, mit seinen Kameraden diskutiert hatte. Sie boten ihm Unterstützung, und er war in der Lage, seine Sorgen bezüglich seiner sexuellen Fantasien gegenüber den Krankenschwestern zu offenbaren, was seine Angst linderte. Als er in seine Heimat-Einrichtung zurückgekehrt war, erfuhren wir indirekt, dass seine Persönlichkeit weniger introvertiert geworden war und seine sozialen Kompetenzen sich verbessert hatten.
Weil es unsere Absicht war, Veränderungen in der Leistungsfähigkeit zu messen und nicht persönliche Erleuchtung, ist es schwer zu sagen, welche persönlichen Vorteile in der spirituellen Dimension stattgefunden haben mögen. Es wäre schön, glauben zu können, dass sie zumindest in einigen Versuchspersonen auftraten, aber wir haben zu diesem Aspekt keine systematischen Daten gesammelt.
Frage: Hattet ihr irgendeine Medikation um einen angsterfüllten und erschreckenden LSD-Trip zu beenden oder abzukürzen?
James S. Ketchum: Wie erwähnt, waren schlechte Trips selten. Ich kann mich nicht erinnern, bei den Versuchspersonen, die ich getestet habe, jemals Tranquilizer (wie Valium oder ein Barbiturat) geben zu müssen, aber da einige der Tests von anderen Ärzten überwacht wurden, kann ich keine definitive Antwort geben. Natürlich hätten wir ein Beruhigungsmittel verabreicht, wenn eine wirklich verstörende Wirkung aufgetreten wäre. Wie auch immer, die Dosierungen des LSD waren normalerweise klein oder moderat (das heißt 50-150 mcg), und panische Reaktionen treten in diesem Dosisbereich selten auf.
Frage: Was habt ihr über die Einsatzfähigkeit von LSD in einer Kampfsituation herausgefunden?
James S. Ketchum: Ich beobachtete, dass bei einem Test, der an der chemischen Forschungsanstalt in England in Porton Down gefilmt worden war, bei einer trainierten Gruppe britischer Kommandos LSD in Dosen von 150 mcg totale Desorganisation hervorrief. In sowohl den britischen als auch den amerikanischen Tests mit LSD wurden keine gewalttätigen Aggressionen beobachtet. Höhere Dosierungen tendierten allerdings dazu, mehr Reizbarkeit und verbale Feindseligkeit hervorzubringen. Mein Hauptbedenken bezüglich der Einsatzfähigkeit von LSD in einer Kampfsituation wäre der Verlust an Hemmungen und Disziplin. Weil der Betroffene noch in der Lage sein mag, Waffen abzuschießen oder Raketen abzufeuern. LSD würde gegen schwer bewaffnete Gegner eine gefährliche Wahl darstellen. Die Kommandeure am Edgewood Arsenal empfanden ebenso, und LSD wurde niemals zur Bewaffnung zugelassen.
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Frage: Seltsamerweise schafftest du es von 1966 bis 1968 eine zweijährige Studienphase an der Stanford Universität einzuschieben und hast so die Chance erhalten, den „Sommer der Liebe“ in San Francisco persönlich zu bezeugen. Du hast sogar an der Haight-Ashbury Free Clinic gearbeitet. Wie hast du den „Sommer der Liebe“ erlebt? Was hast du über diese jungen Leute gedacht, die einige der Drogen nahmen, die du als handlungsunfähig machende Wirkstoffe getestet hattest, insbesondere LSD?
James S. Ketchum: Ich war fasziniert vom Sommer der Liebe und schaffte es einige Male von Palo Alto nach San Francisco zu fahren und ihn aus erster Hand zu beobachten. Indem ich eine Nacht in der Woche als freiwilliger Arzt in der Klinik arbeitete, begegnete ich einer ziemlichen Vielfalt an LSD-Reaktionen. Ich versuchte außerdem mit einigen wenigen Individuen auf einer wöchentlichen Basis Psychotherapie zu machen. Es war mein Eindruck, dass diese frühen Hippies oft spirituell veranlagt waren und LSD für Einsicht und Selbst-Erleuchtung nutzten. Unglücklicherweise nahmen sie es manchmal zur falschen Zeit und am falschen Ort und oft in exzessiv hohen Dosen, was zu einer Welle von Notaufnahmestationsbesuchen führte.
Ich glaube nicht an die Sinnhaftigkeit einer Politik, die es Privatpersonen verbietet psychedelische Drogen einzunehmen, aber ich empfehle kenntnisreiche Supervision und gebührende Absichten. Wie auch immer, der Gebrauch bewusstseinsverändernder Drogen durch Teenager ist nicht ratsam und sollte aus Gründen der psychischen Gesundheit mißbilligt werden; Drogen können das Lernen beeinträchtigen und das Studium durch „High werden“ ersetzen, sich der Zeit und des klaren Verstandes für mehrere Stunden bemächtigen. Medizinische Behandlung für die, die nicht vom Drogenmißbrauch Abstand nehmen können, macht für mich viel mehr Sinn als Gefängnis, außer im Falle der Individuen, die sich auf gefährliches antisoziales Verhalten einlassen oder Anderen Schaden zufügen.
Frage: In den Sechzigern begann die Einnahme psychoaktiver Substanzen zur Unterhaltung Bestandteil westlicher (Jugend-)Kultur zu werden. Was denkst du, wie wir mit diesem Phänomen umgehen sollen?
James S. Ketchum: Die Politiker unseres Landes haben die negativen Auswirkungen von Drogen bis zu dem Punkt propagiert, an dem wir tausende ansonsten unschuldiger Individuen einsperren und Milliarden ausgeben um Drogen unerhältlich zu machen. Diese Strategie hat tatsächlich unsere Probleme verschlimmert, Kartelle bereichert, Morde gefördert und Geld aus unserer Ökonomie abgezogen, das besseren Zwecken gedient haben könnte. Von allen drogenbedingten Todesfällen, so schätzt man, werden 99 Prozent durch Zigaretten und Alkohol bedingt, während die den illegalen Drogen zuzuschreibenden Todesfälle nur 1 Prozent umfassen. Diese Strategie der Prävention zu überdenken und bessere Erziehung und attraktive Optionen zum Drogengebrauch zu bieten, würde gleichzeitig rationaler erscheinen und eine weniger kostspielige Herangehensweise an Drogenmißbrauchsprobleme darstellen.
Frage: Was denkst du im Rückblick über die Moralität und den Nutzen deiner Arbeit am Edgewood Arsenal?
James S. Ketchum: Ich war stolz auf die Arbeit, die wir in Edgewood machten, und glaubte, sie wäre moralisch gerechtfertigt, insbesondere im Kontext der Zeit. Wir befanden uns inmitten eines Kalten Krieges, dessen zukünftige Ausrichtung ungewiss war. Nichtsdestotrotz war es unsere Absicht, chemische Methoden der Schadensbegrenzung zu finden. Wir taten alles, was wir konnten, um wahre Informationen für mündige Entscheidungen zu liefern. Als abschließende Überlegung sollte die Wichtigkeit zu Lernen, wie man die Drogen, die wir studiert haben, behandelt und sie, wenn notwendig, einsetzt, gegen das minimale Risiko der Schädigung der Freiwilligen abgewogen werden.
Risiken sind jedem Experiment inhärent. Die Soldaten, die an unseren Studien teilnahmen, verrichteten einen wichtigen Dienst für ihr Land und sollten geschätzt werden für ihre Bereitwilligkeit Risiken einzugehen im Interesse der nationalen Verteidigungsfähigkeit im Falle einer psychochemischen Kriegsführung. Insofern da wir alles taten, was wir konnten, um die Tests so sicher wie möglich zu machen und uns um Zustimmung auf Basis wahrer Informationen bemühten (trotz Behauptungen des Gegenteils), glaube ich, dass unsere Arbeit tatsächlich ethisch war.
Das Buch:
James S. Ketchum
Chemical Warfare. Secrets almost forgotten. A Personal Story of Medical Testing of Army Volunteers with Incapacitating Chemical Agents During the Cold War (1955-1975)
Foreword: Alexander Shulgin
Hardcover, Großformat, 360 S., zahlreiche Abb.
Santa Rosa, California 2006
49.95 US-Dollar
ISBN 978-1-4243-0080-8
„Der Leistungssport wird seine ‚Unschuld‘ nie wieder zurückgewinnen“
Interview mit Günter Amendt, Experte für Drogenökonomie und Drogenpolitik, über Doping, die Pharmakologisierung des Alltags und das Scheitern der Prohibition
Seit nunmehr 30 Jahren untersucht Günter Amendt die Wirkung von Drogen auf Menschen auf diejenigen, die sie verkaufen, auf die, die sie konsumieren, und auf die, die sie kontrollieren. Schon 1972 veröffentlichte er das inzwischen mehrfach aktualisierte Buch „Sucht. Profit. Sucht“. Darin analysierte er zusammen mit Ulli Stiehler die politische Ökonomie des Drogenhandels. Seine Analyse des internationalen Kampfes gegen die Drogen führte Amendt über die Jahre immer mehr zu dem Schluss, dass die Prohibition einer der größten politischen Fehler des 20. Jahrhunderts gewesen sei. Sein Argument: Erst das Verbot schaffe den globalen Drogenhandel, darum sei dieser Schaden größer als das Risiko der Legalisierung. Im Interview lässt der Hobby-Radsportler Amendt, Jahrgang 1939, die Ereignisse der Tour de France Revue passieren, wagt einen Ausblick auf das Doping bei den Olympischen Spielen und weist auf die Gefahren einer medikamenten- und substanzfixierten Gesellschaft hin.
Herr Amendt, bei der diesjährigen Tour de France waren sich Radfahrer, Organisatoren und Sponsoren mal wieder einig: Doping ist die Ausnahme, Doping ist das, was die anderen machen. Ist das nicht ein bewusster Irrtum? Und wenn ja, warum wird er so vehement verteidigt?
Günter Amendt
Außer dem jungen Thomas Voeckler, der möglicherweise für eine neue Generation von Fahrern steht, die ohne chemische Hilfsmittel vorankommen wollen, war unter den Spitzenleuten der diesjährigen Tour kaum einer, der nicht bereits des Doping überführt worden wäre oder unter Dopingverdacht geraten ist. Juristisch gilt die Unschuldsvermutung, moralisch die Schuldvermutung, denn die Tour de France wird, wie der französische Sportminister es ausdrückte, beherrscht von einer „Kultur des Doping“. Daran hat sich nichts geändert. Niemand bei klarem Verstand glaubt dem Geschwätz der Funktionäre und der Sponsoren-Sprecher, wenn die das Gegenteil beteuern.
Wie gehen wir als Publikum und Radsportler mit diesem Wissen um? Diese Frage hat mich bei der diesjährigen Tour besonders beschäftigt. Da wir ein Gespräch über Doping im Sport verabredet haben, sollte ich zum besseren Verständnis vorausschicken, dass ich mich schon als Junge für Sport zu interessieren begann und dass ich seit Jahren auf dem Niveau eines Freizeitsportlers alleine oder mit einer Gruppe von Freunden auf dem Rennrad unterwegs bin. Ich lebe also im ständigen Widerspruch einer Leidenschaft für den Radsport (und den Fußball) und dem Wissen und den Erkenntnissen über deren Schattenseiten. Vor diesem Hintergrund kann ich nicht umhin, Armstrongs sechsten Toursieg als eine gigantische sportliche Leistung zu bewundern. Armstrongs Auftritt war die ebenso beeindruckende wie abstoßende Demonstration eines unbeugsamen Leistungswillens.
Aber was unterscheidet Armstrong von Voeckler? Der Glaubwürdigkeitsgrad seiner Beteuerungen? Anders gefragt: Kann man ohne Doping bei 3400 Kilometern mit über 40km/h Durchschnittsgeschwindigkeit überhaupt vorne mitfahren?
Günter Amendt
Armstrong ist ein Mann unter Verdacht. Voeckler nicht – vielleicht auch nur: noch nicht. Natürlich kann ich mir nicht vorstellen, wie man solche Spitzenleistungen ohne chemische Hilfsmittel zustande bringen soll. Ich werde jedoch den Verdacht nicht los, dass sich Teile des Publikums und der Medienöffentlichkeit längst mit der Dopingrealität arrangiert haben. In Europa findet eine Anpassung statt an US-amerikanische Verhältnisse, wo der Sportler als Gladiator wahrgenommen und akzeptiert wird. Armstrongs Status in Europa, die Antipathie, die ihm entgegenschlägt, hat weniger mit dem Dopingverdacht zu tun, dem er – zugegeben – massiv ausgesetzt ist, was ihm verübelt wird, ist diese spezifisch US-amerikanische Siegermentalität, die er cool nach außen trägt, was ihm den Ruf der Arroganz einträgt. Armstrong ist ein kalter Sportheld. Doch man muss sich entscheiden – wer professionellen Leistungssport will, muss in Kauf nehmen, dass unter den Bedingungen des Neoliberalismus sportethische Kriterien nichts mehr zählen. So ist das System. Das Gerede von Armstrongs Kannibalismus ist einfach nur lächerlich. Das ganze System ist kannibalisch. Und dazu gehört: der Gegner muss nicht nur besiegt, er soll auch gedemütigt werden. The winner takes it all für sich und für sein hierarchisch geführtes Team, das sich ganz in den Dienst seines Kapitäns zu stellen hat und im Gegenzug die Siegprämie beanspruchen darf. Das nennt man Professionalismus. Ich wüsste nicht, was es daran zu kritisieren gäbe. Und doch hat Armstrong die Schraube überdreht. Sich bei einem Ausreißversuch seines italienischen Intimfeindes an dessen Hinterrad zu hängen und den Sheriff zu spielen, war too much. Das hat ihn beim Buhlen um die Gunst des Publikums Punkte gekostet und selbst Sympathisanten abgestoßen. Dieser Typ von Amerikaner hat derzeit schlechte Karten in Europa.
Sportliche Großereignisse, Doping, die Massenmedien und der Staat
Wie bekommt der Sport das Doping in den Griff?
Günter Amendt
Doping ist mehr als nur ein sportinternes Problem. Bei allen sportlichen Großereignissen ist der Staat involviert. Weil sportliche Leistungen noch immer als Ausdruck der nationalen Leistungsfähigkeit weit über den Sport hinaus gelten, fördert der Staat seine Hochleistungssportler – oft über den Umweg der Armee und der Polizei. Olympische Spiele sind immer auch Armee- und Polizeifestspiele – innerhalb wie außerhalb der Stadien. Erhält ein Land den Zuschlag als Veranstalter eines Großereignisses, werden zusätzlich gigantische Summen aus Steuermitteln in Stadionneubauten und in Infrastrukturmaßnahmen gesteckt. Nach dem „Event“ stehen die Stadionbauten allzu oft als Investitionsruinen in der Landschaft herum. Jüngstes Beispiel für einen skandalösen Fehleinsatz staatlicher Mittel ist Portugal, das nach der Fußball-Europameisterschaft zwar überdimensionierte Stadien vorzuweisen hat, dafür aber nicht genügend Wasserflugzeuge und Hubschrauber bei der Waldbrandbekämpfung zur Verfügung hatte.
Folgt man dieser Logik, dann können Großveranstaltungen dieser Art nur noch in voll entwickelten Industrienationen stattfinden, wo Markt und Fans eh nach neuen Stadien rufen.
Günter Amendt
Ob die Fans tatsächlich nach neuen Stadien rufen, sei dahingestellt. Ich habe da meine Zweifel, wenn ich etwa an das Fan-Publikum von 1860 München denke, das sich gegen den Umzug vom Grünwalder- ins Olympiastadion stemmte. Wenn man mit Mitgliedern von Fan-Gruppen kleinerer Bundesligavereine spricht, wird man in seinen Zweifeln bestärkt. Da wird oft der Verdacht geäußert, mit dem Neubau von Stadien solle gleich auch das Publikum ausgetauscht werden. Aber das ist ein anderes Thema. Was die Veranstaltung von sportlichen Großereignissen betrifft, stimme ich Ihnen zu: nur entwickelte Industrienationen sind dazu in der Lage. Das heißt aber noch lange nicht, dass sich der ganze Aufwand am Ende ökonomisch rechnet. Mangelnde Auslastung, Leerstand und enorme Folgekosten belasten die Haushalte der kommunalen Träger oft über Jahre hinaus. Handelt es sich um private Träger, dann schlagen sich deren Verlustabschreibungen in Form von Steuermindereinnahmen in den Haushalten nieder.
Heißt das, der Staat soll sich aus der Sportförderung zurückziehen?
Günter Amendt
Als Gegenleistung für sein finanzielles Engagement verlangt der Staat einen „sauberen Sport“, denn nur ein „sauberer Sport“ kann die ihm zugedachte Rolle als Vermittler von Werten wahrnehmen. Doch um welche Werte geht es da eigentlich? In der diesjährigen Tourberichterstattung von ARD und ZDF wurde deutlich, dass es darüber keinen Konsens gibt. Als der Chef von T-Mobile Jan Ullrich bescheinigte, er sei keine „Bestie“ und kein „Killer“, gab der Ex-Profi Rolf Gölz als Co-Kommentator des ZDF zu bedenken, man könne das auch als Kompliment verstehen, während sein Kommentatoren-Kollege wie auch der Chef der ZDF-Sportredaktion sich diesen Vorwurf voll zueigen machten. Und kaum war ein Mitglied des T-Mobile-Teams an Ullrich vorbeigezogen, wurde die Frage aufgeworfen, ob Ullrich nicht die Kapitänsbinde an Andreas Klöden abgeben müsse. Mit seiner Weigerung, diesem Vorschlag auch nur gedanklich nahezutreten, setzte sich auch Klöden dem Verdacht aus, keine Bestie und kein Killer zu sein. Die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, die ihrerseits erhebliche Mittel für die Berichterstattung einsetzen, brauchen deutsche Siege, um ihren Mitteleinsatz zu rechtfertigen und das Publikum am Bildschirm zu halten. Über das T-Mobile-Team wird berichtet, als sei es die deutsche Radsport-Nationalmannschaft.
Nun, Ullrich, das „schlampige Genie“, wie er ja gerne genannt wird, ist ja nun mal auch ein nationaler Held. Und wenn es eine Nationalmannschaft gäbe, wäre Ullrich der Kapitän.
Günter Amendt
Mir ist es völlig egal, ob die Fans schwarz-rot-goldene oder magentafarbene Fahnen schwenken. Ich würde weder das eine noch das andere tun. Tatsache ist jedoch, dass Ullrich seinem Beruf als Radrennfahrer im Dienste eines Konzerns und nicht im Dienste der Bundesrepublik Deutschland nachgeht. Das ist einer der vielen Widersprüche in der Diskussion, den ich im Dopingkapitel meines Buches „No Drugs – No Future. Drogen im Zeitalter der Globalisierung“ bereits thematisiert habe: „Das Bemühen, Sport im Zeitalter der Globalisierung als nationale Klammer zu benutzen, ist eher gewachsen, steht allerdings in Konkurrenz zu den Anstrengungen global operierender Konzerne, an die Stelle von nationalen Symbolen die Logos von Firmen zu setzen.“
Dass eine öffentlich-rechtliche Anstalt als Sponsor eines Firmen-Teams auftritt, zu dessen Mitgliedern des Doping überführte oder des Doping verdächtigte Radsportler gehören, und dann auch noch anfeuernd über den Wettkampfeinsatz dieses Teams berichtet, ist und bleibt ein Medienskandal, auch wenn sich die Öffentlichkeit damit abgefunden hat. Was sich der ARD-Kommentator leistete, als er die nationale Karte zog, und dem CSC-Profi Jens Voigt vorwarf, den Etappensieg von Jan Ullrich, der für T-Mobile im Sattel saß, verhindert zu haben, hat mit kritischem Journalismus nichts aber auch gar nichts zu tun. Diese Art von Berichterstattung trägt zur Vermobbung der Massen am Straßenrand bei, wie sie beim Aufstieg nach Alpe d’Huez und dem Verhalten deutscher Fans gegenüber Lance Armstrong zu beobachten war.
Die US-amerikanische Leichtathletik befindet sich seit Monaten im größten Doping-Skandal ihrer Geschichte, Hunderte von Sportlern haben illegalen Muskelaufbau betrieben. Bei den nun beginnenden Olympischen Spielen in Athen will das IOC hart durchgreifen. Ist der Wille tatsächlich da, entschlossen gegen Doping vorzugehen? Und wie ist die Rolle der Anti-Doping-Agentur der USA (USADA) einzuschätzen?
Günter Amendt
Es wird den Fernsehanstalten auch diesmal gelingen, das Publikum vor dem Bildschirm zu versammeln. Getrommelt wird ja genug. Aber mal ehrlich: Wer interessiert sich noch für die Olympiade? Es gab einmal eine Zeit, als „die Sommerspiele“ ein geradezu festliches Ereignis waren, das alle Sportinteressierten in eine kindliche Vorfreude zu setzen vermochte. Das ist schon lange vorbei. Die inflationäre Aneinanderreihung von großen Events – die Fußball-Europameisterschaft, die Tour de France, die Sommerspiele – wertet die Olympiade zusätzlich ab. Und selbstverständlich stehen die Leichtathletikwettkämpfe, die als der Höhepunkt olympischer Sommerspiele gelten, für jeden einigermaßen informierten Zuschauer im Schatten des US-amerikanischen Dopingskandals. Das IOC will durchgreifen – hart und unerbittlich. Dabei weiß doch jeder, dass ein bei den olympischen Spielen des Doping überführter Sportler nur ein Depp ist, der es einfach nicht geschafft hat, seine Aufbausubstanzen rechtzeitig abzusetzen. Ich rechne mit einigen Dopingfällen bei sogenannten Randsportarten. Auch in der Leichtathletik wird es den einen oder anderen Dopingfall geben. Einige der US-Doper treten erst gar nicht an, weil sie von ihrem Verband gesperrt wurden. Der Rest ist zum Zeitpunkt des Wettbewerbs entweder clean oder auf dem aller neuesten Stand der Dopingtechnik, der einen Nachweis unmöglich macht. Dass die US-Anti-Doping-Agentur und die US-Sportverbände über Jahre hinweg eine äußerst dubiose Rolle spielten, ist hinlänglich bekannt. Ob man das auch jetzt noch, nach dem Bullenmastskandal (THG), weiter behaupten kann, weiß ich nicht. Diese Skandalgeschichte ist noch nicht zu Ende erzählt. Ich traue mir da im Augenblick kein Urteil zu.
Saubere Spiele und die Pharmakologisierung des Alltags
Sind denn „saubere Spiele“ ein realistisches und sind sie überhaupt ein wünschenswertes Ziel?
Günter Amendt
Der Leistungssport wird seine „Unschuld“ nie wieder zurückgewinnen. Den Anspruch auf einen „sauberen Sport“, soweit er sich auf den professionellen Hochleistungssport bezieht, sollte man schnellstens vergessen. „Sauberer Sport“, das ist eine Propagandaformel, und „propaganda all is phony“, erkannte schon Bob Dylan.
Aber was ist die Konsequenz? Die Freigabe des Dopings?
Günter Amendt
Es gibt Profisportler und Verbandsfunktionäre, die genau das fordern. Bei nüchterner Betrachtung liegt ihre Forderung, Doping freizugeben, in der Logik eines total pervertierten Hochleistungssports, der sich als Zirkusveranstaltung den Spielregeln der Unterhaltungsindustrie unterworfen hat. Diese Diskussion macht Sportlerinnen und Sportler, die clean sind, rasend, denn mit der Forderung, Doping zu legalisieren, wird der Generalverdacht, unter dem heute jeder steht, der sich am sportlichen Wettbewerb beteiligt, verstärkt und bestätigt.
Welche Rolle fällt dem Staat in einer mit Medikamenten gesättigten Gesellschaft zu, deren substanzorientierte Institution „Sport“ ja nur ein logischer Teil ihrer selbst ist?
Günter Amendt
Gegen staatliche Sportförderung ist nichts einzuwenden. Doch der Staat fördert nicht den Sport, er fördert die Höchstleistung. Wer die Pharmakologisierung des Alltags, die sich schleichend vollzieht, für einen Fortschritt hält, wird nichts dagegen einzuwenden haben, wenn der Staat und dessen politische Klasse chemisch erzeugte Höchstleistungen als Ausdruck des Leistungswillens der Bevölkerung aus Steuermitteln fördert. Das nennt sich dann Standortpolitik.
Nennen Sie bitte Zahlen, die diese kontinuierliche Pharmakologisierung untermauern.
Günter Amendt
Die These von der Pharmakologisierung des Alltags stützt sich auf allgemein zugängliche Quellen, wie die Geschäftsberichte der Pharmaindustrie, die Berichterstattung der Wirtschaftspresse und den jährlichen Report des Suchtstoffkontrollrates der Vereinten Nationen, der für diese Entwicklung, die leichtfertige Verschreibungspraxis der Ärzte und die Parallelproduktion der Pharmaindustrie zur Belieferung des illegalen Marktes verantwortlich macht. Das im Detail darzustellen, würde den Rahmen eines Interviews sprengen. Hinzu kommt, dass der Medikamentenhandel sich zunehmend in der Grauzone von Legalität und Illegalität abspielt. Denken Sie nur an den Handel im beziehungsweise über das Internet, wo Viagra der Renner ist. Viele Vertreter der Pharmabranche geben unumwunden zu, dass sie daran arbeiten, bestimmte Stoffe vom Image eines Medikamentes zu befreien und unter dem großen Dach des Life-Style-Segments zu vereinen. Das beginnt bei der Vitaminpille und führt zur Raucherentwöhnungspille, der Verhütungspille vor und nach dem Geschlechtsverkehr, der Entfettungspille, der Potenzpille und endet bei angstlösenden Pillen und Antidepressiva. Hinzu kommt die breite Palette der Anti-Aging-Produkte. In einer Analyse des Pharmamarktes bescheinigt das Wirtschaftsmagazin „Capital“ den Life-Style-Produkten ein „sicheres Wachstum“. Lag der Umsatz im Jahr 2000 noch bei 19,5 Milliarden Dollar, so sei für 2010 mit einem Umsatz von 41 Milliarden Dollar zu rechnen.
Der chemisch optimierbare Mensch
Was sind die Konsequenzen der Ausweitung dieser Pillenzone? Was spricht dagegen, dass sich Menschen mit geeigneten Mitteln Alltag oder Freizeit gestalten? Das gab es doch schon immer.
Günter Amendt
Dagegen spricht, dass viele Pillen nicht die Wirkung zeigen, die sie versprechen, dass sie Nebenwirkungen haben, die nicht tragbar sind, und dass sie über ein Suchtpotential verfügen, welches die Konsumenten abhängig macht. Darüber hinaus hat die Ausweitung der Pillenzone eine gesellschaftliche Dimension, die man nicht vernachlässigen sollte. Wenn Heranwachsende schon in frühester Kindheit daran gewöhnt werden, alle körperlichen und psychischen Probleme mit Hilfe einer Pille zu regeln, wird das Hirn so programmiert, dass die Fähigkeit, Probleme aus sich heraus zu lösen, verloren geht. Eine Jugendbefragung in Luxemburg hat herausgefunden, dass die Bereitschaft, illegale Substanzen wie Ecstasy und andere sogenannte Partydrogen zu schlucken, um so größer ist, je mehr Vorerfahrung die Betreffenden mit Pillen und Tabletten in ihrer Kindheit hatten. Der routinierte Griff zur Pille schließt die Bereitschaft ein, sich mit der Bekämpfung von Symptomen zu begnügen, und nach den Ursachen der Müdigkeit, des Stresses, der Antriebslosigkeit, des Schmerzes, der Traurigkeit, der Angst und der Depressivität nicht mehr zu fragen. Das führt zu einem Verlust aller gesellschaftlichen und politischen Bezüge.
Ich kann mich auch hier nur wiederholen: „Die schrankenlose Pharmakologisierung des Alltags führt dazu, dass wir den Menschen nicht mehr als soziales, sondern als manipulierbares und chemisch optimierbares Wesen wahrnehmen.“ Wem das keine Probleme bereitet, der ist bei den Sozialingenieuren der Pharmaindustrie gut aufgehoben.
In welcher Hinsicht hängen das ungebändigte Doping im Sport, die fortschreitende Pharmakologisierung des Alltags und der vehemente Pilleneinwurf der „Raving Society“ zusammen?
Günter Amendt
Den übermäßigen Konsum von Amphetamin und Amphetaminderivaten, wie des in der Raver-Szene so beliebten MDMA, habe ich schon immer als eine Form von Alltagsdoping verstanden. Insofern besteht da ein Zusammenhang. Die außerordentlichen körperlichen Leistungen, die sich ein hard-core Raver zumutet, verlangen nach einem Antriebsmittel. Freizeit ist Arbeitszeit, wobei der Energieverbrauch im Freizeitsektor oft weit über dem im Berufs- und Schulalltag liegt.
Die Raver-Generation der 90er Jahre hat die letzten Reste eines chemiekritischen Bewusstseins eliminiert
Die „psychedelische Bewegung“ der 90er sah – wie Teile der 68er-Generation – den „Weg nach Innen“ als die erfolgversprechende Variante zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse an. War das ein Trugschluss?
Günter Amendt
Es ist durchaus nicht abwegig, die 60er Jahre als das Jahrzehnt der Drogen zu bezeichnen. Doch anders als der öffentliche Diskurs glauben machen will, waren nicht Haschisch, Marihuana und LSD die damals bestimmenden Drogen, es war die Einführung von Valium und artverwandten Stoffe, die alle auf die Beeinflussung des Zentralnervensystems zielen, welche die 60er Jahre zu einem Drogenjahrzehnt machten. Was die 68er Generation betrifft, so gab es drei Strömungen in der Drogenfrage. Große Teile der Linken lehnten jeden Gebrauch von Drogen rundweg ab – dabei ging es vorwiegend um Cannabis und natürlich nicht um Alkohol. Unter den Drogenbefürwortern waren solche, die synthetische Drogen grundsätzlich ablehnten und solche, die für deren Gebrauch eintraten – dabei ging es vor allem um LSD und andere Trips. In der politisierten LSD- und Kifferszene war der Gedanke populär, mit Hilfe von drogenindizierter Bewusstseinsveränderung oder gar Bewusstseinserweiterung gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Ich persönlich habe davon nie viel gehalten. Es ist jedoch unbestreitbar, dass sich die kollektive Drogenerfahrung jener Jahre in der Wahrnehmung der Gesellschaft niedergeschlagen hat. Ein Beispiel ist die veränderte Wahrnehmung des Verhältnisses von Mensch und Natur, die wiederum Rückwirkungen hatte auf das sich in den 70er Jahren entwickelnde ökologische Bewusstsein. Zwischen der 90er Jahre Partyszene und der 68er Szene sehe ich nur wenige Gemeinsamkeiten. So viel ist aber sicher, die Raver-Generation der 90er Jahre hat es geschafft, unter den Jungen von heute die letzten Reste eines chemiekritischen Bewusstseins, das sich in den 70er Jahren herausgebildet hatte, zu eliminieren.
Aber auch unter den jungen Drogennutzern gibt es doch den Trend „Zurück zur Natur“. Ephedra statt Ecstasy, Coffein anstelle von Speed, lieber Kiffen als Koksen und Psilos seien besser als LSD. Was ist davon zu halten?
Günter Amendt
Auch ich habe diesen Trend registriert und interpretiere ihn als Abwehrreflex auf das, worum es in diesem Interview unter anderem geht – die schleichende Pharmakologisierung des Alltags. Diesem „Zurück zur Natur“ liegt die Erfahrung zugrunde, dass Drogen besser beherrschbar – sprich: besser dosierbar – sind, deren Rauschwirkung einzig auf dem Wirkstoffgehalt der Pflanze beziehungsweise auf einem Gärungs- und Fermentierungsprozess beruht. Schon vor Jahren bin ich in den Wäldern Nordkaliforniens auf eine Gruppe von Hippies gestoßen, die ihr Interesse an Rauschsubstanzen in Einklang mit ihrem ökologischen Bewusstsein zu bringen versuchten und deshalb alles Synthetische vehement ablehnten. Bezogen auf die Gesamtzahl aller Drogenkonsumentinnen und Konsumenten, handelt es sich hierbei jedoch um eine kleine Minderheit ökobewusster User. Hinzuzufügen wäre, dass auch der Konsum von psychoaktiven Pilzen und anderen Naturdrogen Risiken beinhaltet, die zu verringern Erfahrungswissen und die Bereitschaft sich zu informieren erfordert.
Der „Krieg gegen die Drogen“
Sie haben sich jetzt über 30 Jahre mit Drogen und Drogenpolitik beschäftigt und die sozialen und ökonomischen Auswirkungen der Prohibition erforscht. Trauen Sie sich eine Prognose zu, wie lange Deutschland und wie lange andere Länder noch am Dogma des Drogenverbots festhalten werden?
Günter Amendt
Das Ausmaß der Irrationalität in der drogenpolitischen Auseinandersetzung ist bedrückend. In meinem Buch habe ich Vorschläge gemacht, wie das so genannte Drogenproblem zu entschärfen wäre. Mit meinen Vorschlägen stehe ich im Kreis der internationalen Drogenfachleute nicht alleine. Auch bin ich davon überzeugt, dass die Mehrheit der Bevölkerung in den meisten westeuropäischen Staaten einen drogenpolitischen Kurswechsel mittragen würde, etwa in der Frage der Cannabis-Legalisierung. Das Problem ist die Politik. Die Zeichen stehen auf Kontrolle und Repression. Große Teile der politischen Klasse bis tief hinein in die Sozialdemokratie will sich diesen Repressionsknüppel nicht aus der Hand nehmen lassen. Drogen sind noch immer ein hoch emotionalisierendes Thema. Mit dem Angstpotential, das dem Thema innewohnt, lässt es sich politisch gut spielen. Doch die Hauptverantwortung für die herrschende Drogenpolitik, die ich für eine der gravierendsten Fehlentwicklungen des Globalisierungsprozesses halte, trägt die US-Regierung, egal welche Partei gerade den Präsidenten stellt. Drogenpolitik ist ein Instrument der US-amerikanischen Außenpolitik, der „war on drugs“ ein Übungs- und Rekrutierungsfeld der US-Geheimdienste. Voraussetzung für einen Kurswechsel wäre das Eingeständnis, dass der mit terroristischen Mitteln geführte „war on drugs“ gescheitert ist, soweit es um den Kampf gegen Drogen geht. Doch es geht eben um mehr. Es geht um die Sicherung von Einflusssphären, die militärische Kontrolle von Unruhegebieten, die Sicherung von Ölbohrstellen und von Verkehrsverbindungen. Das alles im Namen des „war on drugs“. Solange die in der UN versammelte Weltöffentlichkeit diesen Krieg aktiv mitträgt oder teilnahmslos geschehen lässt, wird das Prohibitionstabu, aus dem dieser Krieg seine Legitimation bezieht, nicht angetastet werden. Darauf wird man noch lange warten müssen.
Literatur:
Günter Amendt: No Drugs. No Future. Drogen im Zeitalter der Globalisierung. Aktualisierte Neuausgabe 2004. 207 Seiten plus 48-seitige Beilage, Frankfurt a.M.: 2001, 15,90 EUR.
* Nachtrag 15. März 2011: Günther Amendt verstarb am Samstag, dem 12.3.2011, bei einem Autounfall in Hamburg Eppendorf. Damit fehlt eine der wichtigsten Stimmen für eine genauso vernünftige wie menschliche Drogenpolitik. Amendt war scheu und zugleich im persönlichen Umgang von ausgesprochener Herzlichkeit, immer an der Sache interessiert, den Blick auf das Ganze gerichtet, nämlich die wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse, in denen Drogen und Medikamente konsumiert werden. Er nahm eine einmalige Stellung ein, nie zu nah an den Apologeten eines übermäßigen Konsums, die von globalen Drogenkultur reden, aber das irre Zuballern der vereledeten Randgruppen gerne übersehen. Und ein überzeugter Gegner einer Drogenverbotspolitik, die alles nur noch schlimmer macht. Mit Amendt ist ein Mann mit profunden Wissen aus dem Leben gerissen worden. Es ist nicht zu sehen, wie diese Lücke wissenschaftlich und menschlich geschlossen werden kann.
Vom Versuch sich zu vermarkten ohne sich selbst zu verkaufen. Mit „Container-Alex“ und seiner Freundin Sam auf den Azoren.
Es war ein „ganz normaler Sonntag“, wie Sam versichert, als Alex ihr einen Heiratsantrag machte. „Wir waren auf dem Weg vom Sonnenstudio in die Videothek, da sagte der Alex, dass heiraten ja auch nicht schlecht wäre.“ Sam will gerade mit der romantischen Geschichte fortfahren, aber die Dame von RTL ist nicht zufrieden und sagt deshalb „Schnitt, noch mal, bitte.“
Urlaub in der Wetterküche Europas, auf den Azoren, einer Inselgruppen auf halben Wege zwischen Europa und Amerika. „Container-Alex und Sam zur Verlobung auf den Trauminseln“, so sollen die Headlines prangen und darum hat die Tourismus-Zentrale der Azoren geladen. Seit Jahren stagniert der Touristenstrom, zusammen mit einer Münchener Medienagentur sind daher das Ziel und die Mittel festgelegt worden: Das Glamour-Paar soll den Bundesbürgern die Inseln wieder schmackhaft machen. „Promotion“, nennt sich das. Die Presse und deren Opfer kommen in einem Ressort an der Steilküste unter, wunderschön gelegen, ein aparter Erich Honecker-Charme durchweht die Räume und die Servietten sind stets aus gestärkten Leinen.
Alle verstehen sich gut, menschlich sowieso, denn Alex und Sam sind handzahm. Aber auch dienstlich probt man den Gleichklang. Den einen geht es um die Erhellung von mausgrauen Alltags-Wohnzimmern, um die Übertragung des Glanzes eines bunt-schillernden Pärchens auf abgeschuftete Gesichter. Den anderen geht es einfach darum, einen steten Platz im kollektiven Tratsch-Gedächtnis der Gesellschaft zu ergattern, dort zu hocken, wo Boris, Babs und Bohlen sich schon räkeln. Freizeit oder Arbeit? Das bleibt die nächsten Tage unklar, denn das Programm ist dicht gestrickt. Ab jetzt beobachten die mitgereisten Medien jeden Schritt der beiden. Das vierköpfige Kamerateam filmt für RTL-Explosiv, der einsame Journalist schreibt eifrig Notizen in seine Kladde. Erste Station: Der Hafen von Vila Franca, ein sechs Meter Schlauchboot. Es geht hinaus aufs Meer, „Dolphin-Watching“. Die kleinen Racker sind tatsächlich zugegen, ein 30 Tiere großes Rudel Fleckendelphine durchpflügt plötzlich das lauwarme Wasser. Der Bootsmann gibt Gas, den Kindern der Schaumkronen bringt die Geschwindigkeit von fast 80 Stundenkilometern sichtlich Spaß. Ein Delphin schießt sich drei Meter hoch und setzt eine Mords-Arschbombe ins Wasser. Die Kamera läuft, ein gewagter Schwenk zwischen Sams Beine. „Wir brauchen einen O-Ton!“, bestimmt die Frau von RTL. Also raus das Mikro: „Ein tolles Erlebnis“, sagt Sam. Danke, Schnitt.
Nächster Drehtort: Eine Kirche am See. Die Stimmung wird romantisch, Sam und ihr „Großer Bruder“ knutschen. Das Problem dabei: Der Azoren-Plot wird zunehmend beschaulich, dies will kein Programmdirektor sehen. So würde es hier niemand formulieren, aber eigentlich müssen entweder die Titten von Sam ins Bild, Alex sich beim Rafting einen Fuß brechen oder die beiden über ihre Erfahrungen mit Analsex plaudern. Soweit sind die Konstrukteure des medialen Vollgenuss´ auf ihrer Suche nach einer heißen Story hier erfreulicherweise noch nicht. Gleichwohl kann sich das B-Promi-Traumpaar nie sicher sein, ob die sie ständig umschwirrenden Medienvertreter nicht letztlich nur auf einen vielleicht neuen, sicherlich aber schäbigen Skandal warten.
Abendessen, der 1963 geborene Alex betritt der Raum. Eine mannhafte Mischung aus Zorro und Marlon Brando, Panzerkette um den Hals, Silberkette ums Handgelenk. RTL, Schreiberlinge und das verlobte Paar sitzen alle wieder an einem Tisch. Privatsphäre? Davon bleibt zunehmend wenig, denn Sam erzählt mit Begeisterung von Ereignissen aus Pool und Bad.
Brandy, eine Zigarre, kommod lehnt sich Alex zurück. Mittlerweile sitzt man in der Bar des Caloura-Hotels, die Lampen sehen aus als wären sie vom blinden Bruder von Verner Panton designt, rote Cordhocker bevölkern den kleinen Raum, hinter uns eine grob gemauerte Wand. Es dünkt, als dass gleich die unsichtbare Fahrstuhltür aufgleitet und Fantomas heraustritt. Das Meer, ja, das mag er, die fast unendliche Weite. Sein Wunschtraum? „Ein Bötchen“, sagt er bescheiden, „und dann rund um die Welt segeln.“ Meine fade Entgegnung: „ich steh ja mehr auf Berge“, lässt ihn schlingern; „ja“, sagt er, „Berge wären auch nicht schlecht“.
Er braucht die Medien, denn sie waren es, die ihn zu einem Macho, zu einem Diplomatensohn mit Heckspoiler stilisiert haben, niveauvoller als Slatko, aber eben doch nur ein Emporkömmling aus einer Reality-Soap. Im Zweifelsfalle konnte man ihn zu Talkshows einladen, um seine musikalischen Gehversuche, sein Filmauftritte oder seine Liaison mit Jenny Elvers zu belächeln. Der Mensch Jolig, der blieb dabei uninteressant, nur sein Image zählte.
Schon die Authentizität der 24-Stunden Kamera in der blechernen Big-Brother Beziehungskiste war nur eine Scheinbare. An den Mischpulten des Fernsehsenders wurde sehr genau darauf geachtet, welche Bilder über den Äther gingen. Die Damen putzten das Klo, während Alex in Macho-Pose mit Hand im Schritt auf dem Sofa schwieg. „Ich habe genau so im Haushalt gearbeitet wie alle anderen auch“, sagt Alex heute. Zu spät, die Zuschauer waren schon lange auf dem ersten kollektiven Voyeurismus-Trip der Nachkriegsära hängen geblieben. Höhepunkt des visuellen Saugens von platten Oberflächen war sicherlich, als die verliebte Kerstin dem guten Alex vor laufenden Nachtsicht-Kameras einen geblasen hat. Darauf hatten alle nur gewartet.
So entstand das Image vom attraktiven Pascha, der mit dem Motorrad unterm Arsch das pralle Leben in vollsten Zügen genießt. Darunter leidet er, mittlerweile ein wenig mehr als früher, denn ewig will er den Ballermann nicht mimen. Aber er ahnt, dass ein Star nur das ist, was über ihn bekannt wird – egal, ob dies wahr oder falsch, wichtig oder unwichtig ist, ganz egal auch, ob es dem Menschen dahinter gerecht wird. Aber im Gegensatz zu echten Stars bleibt bei vielen medialen Produkten des neuen Jahrtausend zunehmend unklar, weshalb sie überhaupt ihre exponierte Position in der Öffentlichkeit einnehmen.
Jenny Elvers, Ariane Sommer, Verona Feldbusch oder „Party-König“ Michael Ammer: Die Basis dieser Menschen, der „Rohstoff Person“, ist dünn, das um sie entwickelte Zeichensystem umso fragiler. Im Zeitalter des ungebrochenen Talkshow-Hypes sind diese Darsteller die Endprodukte der „Kultur der Schamlosigkeit“, wie der us-amerikanische Medientheoretiker Joshua Meyrowitz den Kult um die authentische Selbstoffenbarung nennt. In diesem Kult reklamiert der Einzelne Beachtung für sein Empfinden, seine Vorlieben und Abneigungen aus keinem anderen irgendwie einsehbaren Grund als der offensiven Freimütigkeit, mit der er seine Befindlichkeiten öffenlich zur Schau stellt. „Seht her, denn ich steh´ nur auf Männer mit Glubschaugen!“
Diese Intimisierung bleibt nicht ohne Folgen für die Teilnehmer, gibt sie doch den Medien die Möglichkeit in die Hand, je nach Gutsto ihre Sittengerichte als Lustspiel oder Melodram zu kreieren. So stellt sich für die Promis die Frage: Wie im Gespräch bleiben ohne zum Gespött zu werden? Darüber grübelt Alex nach, darüber grübelt Sam nach. Was bleibt, ist ein dickes Fell.
Das illustre Gespann bietet sich aber aus noch einem anderen Grund dazu an, als stets beladbarer Container für Hohn und Spott herhalten zu müssen. Hinter den beiden steht keine mächtige Plattenfirma, kein großer Industriekonzern, der den Medien mit dem Entzug der Werbeschaltungen drohen kann. Das Magazin, welches sich dagegen allzu ungeniert verlogen über die sexuellen Vorlieben von Julio Iglesias äußert, nun, das darf mit einen Telefonanruf aus der PR-Abteilung von Sony rechnen. Dabei sind Alex und Sam wahrlich keine Witzfiguren, es sei denn, man hält die normalen Typen aus Nachbarschaft für unbedingt verarschenswert. Sam, 26, gerne keck, manchmal dreist, erinnert an an das gutaussehende Mädchen, das jeder noch aus seiner Schule kennt, als denn an ein blondes Luder, zu dem sie die Klatsch-Postillen gerne generieren. Alex ist freundlich, hilfsbereit, jovial. Er packt bei den Koffern mit an, er begrüßt die Kutscher, er streichelt die Pferde, und er tut dies auch, wenn die Kameras nicht in der Nähe sind. Als Paar sind sie in erster Linie verliebt, zudem aber zunehmend entsetzt darüber, wie die Presse mit ihnen umgeht. „Die machen mit uns was sie wollen.“ Nach dem zweiten Brandy schlägt Alex deshalb vor, man solle mal was „über den Menschen Alex Jolig“ schreiben. Darüber, weshalb er in den Container gegangen sei. Seine damalige Sinnkrise habe bisher noch niemanden interessiert. „Ich war so fertig mit mir und dem Leben, dass es nur zwei Möglichkeiten gab: Entweder ich gebe mir die Kugel oder ich gehe ins Kloster.“ Ob er durch 68 Tage mit den Ordensbrüdern Slatko und Jürgen zu sich selbst gefunden, das lässt er am Ende des Abends offen. Er will nicht wahr haben, dass selbst eine Personality-Story im Stile von Margot Dünser oder Michael Steinbrecher nur eine neue Inszenierung wäre, eine neue Konstruktion von Glaubwürdigkeit; gut vielleicht, um einen Imagewechsel herbei zu führen, aber wahrscheinlich kein Stück näher an seinem subjektiv empfundenen Selbstbild.
Frühstück, dann die nächste Station: Eine Hazienda im Inselinneren, auf der stolze Rösser ihr Stroh futtern. Der käseweiße Verwalter deutet uns als Überfallkommando und gibt sich zugeknöpft. Sam entdeckt schnell einen stattlichen Gaul in den Boxen, der Cowboy aber deutet auf eine 21-jährigen Mähre mit Karies. Der Gedanke, dass Alex einen seiner Klepper wohlmöglich von hinten besteigt, treibt ihm die Schweißtropfen auf die hagere Brust. Egal, RTL will bunte Bilderchen und Hans Alexander Jolig soll jetzt reiten. Also ausziehen. Sam schlüpft in enge Jeans, Alex zwängt sich in eine Military-Tarnhose und ein zu enges T-Shirt. „Mist, beim Einsammeln in diesen Show-Rooms weiß man nie so ganz genau, ob die Klamotten später passen.“ Der Rücken vom Klepper biegt sich so sehr durch, dass die Bauchdecke fast den Boden streift, Alex ist nicht besonders glücklich mit seiner Haltung. Zu allem Überfluss will das RTL-Team Alex verkehrt rum auf dem Pferd sehen, ein wahrhaft explosiver Gag. Der portugiesische Cowboy ist dermaßen begeistert, dass die Stimmung endgültig im Keller ist. RTL fordert wieder O-Ton. Das Wuschelmikro schwebt wie ein Damoklesschwert über dem Paar, „Kamera läuft“, die Zwei geben sich begeistert. Ja, toll sei es, dass Sam ihm das Reiten beibringe, nein, nie würde er seine motorisierten gegen diese eine Pferdestärke aufgeben. „Wir wollten mal weg von dem Trubel“, spricht er dann noch, während das Kamerateam und die Pressebegleitung im Hintergrund stehen. Schnitt.
Und so geht es weiter mit dem Event-Hopping. Von schwefelhaltigen Dampfterrassen, Massagezentren und anderen Spa-Einrichtungen, über Teefabriken ohne sichtbar lebende Teepflanzen, bishin zur einheimischen Grützwurst mit Schweinefleisch, alles sechs Stunden im Erdloch gebacken und nur mit Senf zu genießen. Aus dem vermeintlichen Urlaubs-Trip wird ein für alle stressiges Ereignis. Inmitten des auf Zelluloid gebannten Wahnwitzes taumeln Sam und Alex – gebeutelt von den Anforderungen und manchmal recht verloren dastehend. Dann nimmt Sam die Hand von Alex, drückt sie und fragt lächelnd: „Alles Roger in Kambodscha?“
Portrait des Künstlers und Rock’n’Rollers Helmut Wenske
Der musikalische Entertainer Götz Alsmann titulierte ihn liebevoll als Kauz, doch wo Käuze in die Nacht rufen, da ist der außergewöhnliche (Lebens-)Künstler, Autor und Rock’n’Roller Helmut Wenske dann wohl eher ein frei fliegender Uhu. 1940 während des Zweiten Weltkriegs wurde er im hessischen Hanau bei Frankfurt am Main geboren. Sein Vater starb 1941 als 22-jähriger Soldat an der Ost-Front. Als Kind erlebte Wenske die Bombardierungen durch die Alliierten kurz vor Kriegsende 1945 und litt unter der Willkürherrschaft einer brutalen manisch-depressiv gestörten Mutter und ihrer wechselnden Partner. Aus einer beschissenen aber im nachhinein betrachtet eine interessante Persönlichkeit prägenden Kindheit in einem der für die im Wiederaufbau befindlichen Städte der Nachkriegszeit typischen Wohnghettos emanzipierte er sich mittels seines künstlerischen Talents und Rock´n´Roll.
Mitte der Fünfziger sieht er im Kino den Film „Saat der Gewalt“ und ist von der neuen Musik darin mit ihrem knallharten Sound begeistert. Bald geht er auf sein erstes Konzert und ist von da an vom Rock´n´Roll infiziert. In Zusammenhang mit der durch die Stationierung US-amerikanischer Truppen bestehenden Bar- und Club-Szene wurde Hanau eine der Hochburgen dieser gegen den Mief der Fünfziger rebellierenden musikalisch aufgepeitschten Abfeierkultur. Helmut Wenske war als party-wütiger „Halbstarker“ mitten drin und voll dabei. Rückblickend gesehen war der Startschuss für die kommenden musikalisch geprägten mehr oder weniger rebellischen im Kern hedonistischen Jugendbewegungen gefallen.
Wenske machte sich schnell auf Grund seines Talents einen Namen als Szene-Maler. Nach Lehren als Porzellanmaler und Schaufensterdekorateur verdingte er sich vielfältig, u.a. für das Kaufhaus Hertie, als Groschenheftchentitelgestalter, Plakat- und Stripteasekulissenmaler und Porno-Illustrateur. Horror-Filme und -Literatur inspirierten ihn. Gleichzeitig verfolgte er die musikalische Entwicklung vom Rock´n´Roll über die eher weniger innovative Beat-Zeit bis zur psychedelischen Hippie-Ära.
Über Johnnie Dee vom Edelhippie-Pop-Duo Adam and Eve, dem er seinen Cadillac psychedelisch anmalte, kam er 1967 zu Bellaphone Records mit Sitz in Frankfurt. Für diese als kreativer Kopf arbeitend erlangte er schließlich Berühmtheit durch seine Cover- und Poster-Illustrationen für Bands, die ihm persönlich zusagten. Durch den zeitgemäßen Einstieg in den täglichen Cannabiskonsum erlebte er einen ungeheuren kreativen Schub. Darum bemüht, sein Ego abzuschalten und hochkommen zu lassen, was innen drin ist, entstanden auf Grund seines vorhandenen Talents beeindruckende durch seine Erfahrungen geprägte psychedelisch-phantastische Bilder mit ineinander verwobenen albtraumhaften Motiven, die heute gleichzeitig Zeitdokumente, Psychogramme von Wenske und zeitlose originelle Einblicke in die menschliche Seele darstellen. Wenskes meisterhafte für ihn damals überlebenswichtige Kunst prägte das visuelle Image auf Plattencovern von Bands wie Creedance Clearwater Revival, Jeronimo, Steel Mill, Dzyan, Canned Heat, Tina Turner, Jimmy Hendrix und vor allem Nektar, zu denen eine sich gegenseitig befruchtende geradezu synergistische Beziehung bestand. Wenske fühlte sich unter den zeitgenössischen Künstlern am ehesten noch von dem ihm in mancher Hinsicht verwandten HR Giger angeregt. Wenskes Werke selbst wurden auf Vernissagen bewundert, mit Dali verglichen und hochgelobt. Er zählte zu den künstlerischen Risingstars. Zu Recht: Seine Bilder sind nicht mit einem Blick erfassbar, auf morbide Weise schön und drücken jenseits von mit Sehnsüchten nach Ganzheit und heiler Elfenwelt überfrachtetem psychedelischem Kitsch Ängste und Qualen des in eine grausame absurde Welt geworfenen erotisch penetrierten Seins aus, oder so ähnlich. Aber genau diese Art von Geschwafel und die dazugehörige aufgeblasene schmarotzerhafte Kunstszene gingen ihm schließlich auf die Nerven.
Seine Werke dienten noch als Titelbilder auf Buchumschlägen zahlreicher anspruchsvoller Fantasy- und Science Fiction-Romane, u.a. auch von Lem und Philip K. Dick. Mit Ausnahme des Meisters der Paranoia interessierte Wenske sich jedoch selbst gar nicht für dieses zum Hirnwichs tendierende Genre. Optisch versteinerte Wenske in seiner künstlerischen Hoch-Zeit zum dauerbekifften verzottelten Freak. Nach einem Lungenriss im Alter von 35 Jahren und zusätzlich noch von Kreislaufproblemen gebeutelt sah er sich nach zwölf Jahren des Exzesses Ende der Siebziger schlussendlich gezwungen den Cannabiskonsum einzustellen, den letzten Haschklumpen im Klo zu versenken, und hörte prompt auch auf wie besessen zu malen. Er hatte ohnehin praktisch alles rausgelaasen, was er rauslassen wollte. „Die Dämonen waren besiegt.“ („Shakin´all over.“) Ein neuer klarerer Trip begann. Dass sein Talent nicht gleichzeitig mit dem Cannabiskonsum flöten gegangen war, beweisen vereinzelt in der Folge entstandene Werke. Dem Alkohol gegenüber blieb Wenske weiterhin zugeneigt.
Anfang der Achtziger erlebte Rock´n´Roll ein verklärtes Revival. Man erinnere sich an die Teds, Rock´n´Roll-Tanzkurse, den fetten Elvis und schnulzige Schmalztypen wie Peter Kraus. Das stank Wenske gewaltig: „Nee, Leute! Rock´´n´Roll war wild, ungezügelt, roh und vulgär. Der gehörte auf die Straße, auf den Rummelplatz und in die versifften, alkoholgeschwängerten, nach Schweiß stinkenden, verräucherten Rockschuppen, wo die Amis mit den Nutten ihren Sold verjubelten, sich mit den Halbstarken rumprügelten, Tische und Stühle zu Bruch gingen, Köpfe blutig geschlagen wurden und junge Typen mit ölglänzenden Haartollen und gefährlich langen Koteletten verbissen auf ihre Gitarren eindroschen, bis nur noch der Beat durch den Raum donnerte, durch die spastisch zuckenden Glieder peitschte und alles vergessen ließ, was jenseits der vier Wände existierte!“ („Scheiß drauf“, S.178)
Er fing an zu Schreiben und lieferte 1983 unter dem Pseudonym Chris Hyde mit dem Werk „Rock´n´Roll Tripper (1)“ einen bukowski-esken im Straßenslang geschriebenen Meilenstein an Stories ab, der heute als authentisches Werk zum Eintunen in die damalige Zeit gefeiert wird. Auch auf das heute kaum noch bekannte Phänomen der zwischen 1956 und 1965 besonders aktiven aus den Niederlanden tourenden indonesischen Rock´n´Roll, Dance- und Show-Bands richtete er das Augenmerk mit einem Buch.
Als literarischen Nachschlag gab es dann 1988 den „Tripper 2“. Er liefert u.a. interessante Einblicke in die Scheinheiligkeiten des Rock-Geschäftes, das sich ab Ende der Sechziger Jahre der Vermarktung der modischen „Love and Peace“-Attitüde der Hippies und der von diesen geprägten musikalischen Verschwurbelungen widmete und erinnert auch daran, dass für viele Protagonisten der damaligen naiv durchgestarteten Drogen-„Scene“ am Ende Sucht, Psychosen und frühzeitiger Tod standen, während sich die zunächst innovative psychedelisch inspirierte Musik in technoidem Bombast und Glamgewittern verlor. Erst mit Punk gelang vorübergehend ein musikalischer und subkultureller Befreiungsschlag, back to the Roots, wenn man so will. Das galt auch für Wenske. Er kehrte zum ursprünglichen Rock´n´Roll-Feeling zurück.
Ein besonderes Steckenpferd des Autors sind die Bands, mit denen er auf Konzerten abgefeiert und zu denen er abgetanzt hat und die er egal wie alt weiterhin gerne selbst erlebt. So wird er zum lebendigen Musikkriker und zum Chronisten der Hanauer und mit Hanau verbundenen Rock(´n´Roll)-Szene. Wenskes 2003 erschienenes Werk „Scheiss drauf!“, zunächst einmal eine gelungene unterhaltsame Selbstdarstellung in Bildern, ist demzufolge gleichzeitig eine Hommage an den in Hanau erlebten Rock´n´Roll und seine Protagonisten.
Zwischenzeitig wurde Wenske in interessanten Fernsehdokumentationen als Zeitzeuge und Persönlichkeit gewürdigt. Und auch wenn Kunst für ihn selbst nicht mehr das Ding ist, so bietet doch das jüngste Werk aus dem CoCon-Verlag (2009) einen sehr attraktiven farbigen Einblick in sein vergangenes kreatives Schaffen, gepimpt mit Würdigungen künstlerischer Weggefährten.
Was trieb Wenske in den letzten Jahren? Seinen Lebensunterhalt verdiente er seit Anfang der Neunziger mit harter körperlicher Arbeit. Wenn möglich, reiste er mit Erika, seiner Frau und langjährigen hübschen Lebensgefährtin (seit 1959 zusammen!) nach Nordafrika und Südostasien. Dort reitet er dann gerne Araberhengste, Kamele oder Elefanten. Und er macht selbst als Gast-Sänger mit befreundeten Bands, na was wohl?! Rock´n´Roll!
az
Info und Contact Helmut Wenske:
www.wenske-hyde.com
Die Bücher:
Wenske
Rock`n `Roll Junkie.
Psychedelic Maler.
Underground Autor.
120 S., Kunst- und Fotoband (mit mehr als 100 zumeist farbigen und teils ganzseitigen Abb.)
mit Textbeiträgen diverser Autoren
CoCon Verlag, Hanau 2009 www.cocon-verlag.de
ISBN 978-3-937774-64-0
19,80 Euro
Chris Hyde
Rock`n`Roll-Tripper
168 S., Tripper 1 (1983) und 2 (1988) mit 44 teils ganzseitigen Abb. auf 24 Fotoseiten
archiv der jugendkulturen e.V., Berlin 2003
ISBN 3-936068-45-3
18,- Euro
Wenske/Hyde
Scheiss drauf! Eine Rock`n´Roll-Bio in Bildern, ein Leben gegen den Strich.
276 S. mit über 400 teils ganzseitigen SW-Abb.
archiv der jugendkulturen e.V., Berlin 2003
ISBN 3-936068-69-0
22,- Euro
Der Film:
Daniel Siebert/ Axel Czarnecki
Shakin´ all over. Helmut Wenske – ein Leben gegen den Strich.
DVD, 60 minütige Doku mit musikalischen Beiträgen
2006 amigofilm productions e.k. www.amigofilm.com
Gekonnte Einzelaktionen, aber Probleme mit dem Teamspiel
In München trafen sich die Roboter zu ihrer Fußball-Europameisterschaft
Kickende Roboter bringen Erkenntnisse über die Probleme des Alltags – und jede Menge Spaß in die Wissenschaft. Wer genau hinschaut, dem bleiben die Parallelen zu Rudis Mannen nicht verborgen.
Seinen weltweiten Erfolg verdankt der Roboter-Fußball genau zwei Umständen. Zum einen ist er Domäne für alle Remote-Control-Nerds, deren Lust am Basteln am ferngesteuerten Objekt mindestens ebenso groß ist wie die Lust am Informatik-Studium. Zum anderen war die Wissenschaft von der „Künstlichen Intelligenz“ (KI) Jahre lang auf der Suche nach einer neuen Spielwiese.
Seit der Geburt der Disziplin galt lange das gekonnte Schachspiel als das Paradebeispiel für die vermeintliche Intelligenz des Computers. Erst in den 90er Jahren sah man ein, dass eine spanische Eröffnung und ein zügiges Endspiel mehr über die Programmierkunst der Entwickler als die Intelligenz der Maschine aussagt. Wichtiger aber noch war, dass den Apologeten der runderneuerten KI das 8×8 Felder große Universum mit seinen äußerst festen Bewegungsregeln zu statisch, gleichsam unnatürlich erschien. Vor Rechenpower strotzende Schachcomputer hatten ihren magischen Reiz verloren.
Bolzende Roboter müssen seither als neues Paradigma der KI herhalten und die Zwerge geben sich redlich Mühe den Ansprüchen ihrer Herren gerecht zu werden: Es geht um möglichst autonomes Bewegen in sich schnell verändernden Umgebungen, mit anderen Worten: Fussi.
Zu ihrer 7. Europameisterschaft trafen nun im Rahmen der Messe Automatica 13 Robot-Teams aus 11 Ländern aufeinander. Die FIRA (Federation of International Robot-Soccer Association) hatte in der Klasse der „Miro-Sot League“ nach München geladen. Hinter der kryptischen Bezeichnung verbergen sich Roboter, die nicht mehr als 7,5 Zentimeter Kantenlänge aufweisen dürfen und auf einem nicht mal tischtennisplattengroßen Feld einen Golfball ins gegnerische Tor dribbeln sollen. Im Gegensatz zur bekannteren „Middle-Size“ League aus dem Robocup sind die Roboter hier kleiner und wendiger.
Nach jeweils souverän absolvierten Vorrunden standen sich im ersten Endspiel der „Middle League“ die Teams der Dortmund Droids und der Ljubljana Dragons vor rund 80 begeisterten Zuschauern gegenüber.
Jeweils fünf kleine Roboter pro Mannschaft spurten auf geschmierten Rollen übers glatte Feld und kommen auf Spitzengeschwindigkeiten von fast 2 m/s. Und die agilen Slowenen dominierten von Anfang an durch kraftvolle Vorstöße das Spiel. Um gleich zu Beginn keine falschen Vorstellungen aufkommen zu lassen: Nach wie bilden gekonnte Einzelaktionen den Hauptteil dieses Sports, Passspiel oder gar Kombinationen sind den Metallkisten nahezu unbekannt. Was aber bei den Dortmundern durchaus zu sehen war, sind schnell Drehungen der Robots, um den Ball so Richtung Tor zu schießen.
Mannschaftsaufstellung
Die Slowenen pflegten dagegen – den orangenen Ball vor sich her treibend – den direkten Durchbruch zum Tor. Die (in Fußball-Deutschland ja sonst weithin unbekannte) schnelle Überbrückung des Mittelfelds geschah dabei zum Teil so zügig, dass der Ball im Tor landete, bevor der Dortmunder Torwart überhaupt reagieren konnte. Im Fachjargon nennt sich das „Line of Attack“ und diese gedachte Gerade zwischen Roboter, Ball und Tor ist offensichtlich bei den Slowenen brillant implementiert.
Die linke Seite der Dortmunder blieb während des gesamten Spiels stark vernachlässigt, der Linksaußen agiert ähnlich hüftsteif wie anno 1983 der Borusse Werner Dreßel. So bewegten sich Mannschaften und Ball die meiste Zeit in der Hälfte der Dortmunder, die zwangsläufig Tor auf Tor kassieren. Zu allem Unglück fiel in der 2. Halbzeit auch noch die Nummer 13 der Techno-Mannen aus dem Pott zunächst durch Taumel-, später gar durch wilde Kreiselbewegungen auf und musste ausgewechselt werden. Derart geschwächt blieben die Dortmunder der aggressiven Spielweise der Slowenen weiterhin hilflos ausgeliefert. Der Anschlusstreffer zum 8:1 war denn auch ein kullernder Zufallstreffer, das Endergebnis lautete gar 11:2.
Rollen statt Stollen
Was die meisten Zuschauer schon an den kleinen Antennen auf den rollenden Ronaldos erkannten: Die Robots erhalten ihr Bewegungsprofil vom Rechner zugeteilt, der ihnen über eine bidirektionale Funkverbindung Fahrtrichtung und Geschwindigkeit vorschreibt. Eine über dem Spielfeld montierte Kamera (30 frames per second) nimmt die Bewegungen von Ball, eigenen und gegnerischen Robotern auf und sendet sie an den Rechner.
Die erfolgreiche Software der Slowenen zur Bildverarbeitung und Steuerung der Spieler läuft auf einem handelsüblichen Laptop unter Windows 98. Teures Hightech ist auch bei den anderen Teams nicht am Werk, ein Umstand, auf den man durchaus stolz ist. „So können mehr Mannschaften teilnehmen“, sagt einer der Betreuer der Robots aus Dortmund. Ihr Host System läuft auf einem AMD Athlon mit 2,8 GHz und 60 GB Festplatte, allerdings kräftig aufgemöbelt mit 1 GB PC2700 DDR-RAM. Die CCD Digital-Kamera ist über FireWire ans System angeschlossen.
Die Software besteht bei den Teams aus Lösungen, die in Jahre währender Arbeit entwickelt und verbessert wurde. Die Dortmund Droids werden zurzeit von vier Modulen gesteuert: einem Bilderkennungsmodul, einem Modul zur Festlegung der Strategie, einem Kommunikationsmodul und einem Steuerungsmodul, welches sich im RAM der Robots selbst befindet. Diese sind mit 64 Kwords und 16 Kwords Flash RAM ausgestattet.
Mit großen Worten wie „Künstlicher Intelligenz“ ist man bei den Verantwortlichen vorsichtig geworden, denn ob das Verhalten dieser Fußball-Zwerge als intelligent zu bezeichnen ist, hängt von der Definition von Intelligenz ab. Zählt man den Begriff der „Autonomie“ zum Kern von Intelligenz, dann fallen die putzigen Würfel durch das Raster, denn sie agieren keineswegs autonom auf dem Feld, sondern stehen in stetem Kontakt zum Rechner. Ob aber nun das Gesamtsystem aus Robotern und Rechner als intelligent gelten kann, darüber will so recht niemand mehr streiten. Mittlerweile steht die Problemlösung im praktischen und alltäglichen Einsatz im Vordergrund. Ob zur Säuberung der Kanalisation, zur Bombenentschärfung oder als Haushaltsroboter – die KI ist bemüht, Wissenschaft in die Tat umzusetzen. Die Erkenntnisse aus dem Roboter-Fußball können dabei helfen.
Während des laufenden Spiels dürfen Trainer und Betreuer nicht in die Software eingreifen, wohl aber während der Spielunterbrechungen und der Halbzeit. Dann sind durchaus taktische Veränderungen möglich, ein Umstand, der natürlich genutzt wird. So kann beispielsweise die gesamte Mannschaft oder ein einzelner Spieler offensiver eingestellt werden. Glorreiche Sieben
Auch für das Endspiel in der „Large League“, bei dem sieben Robots in jeder Mannschaft rollen, hatten sich die Ljubljana Dragons qualifiziert. Ganz auf ihre Konditionsstärke setzend, treten die Slowenen mit der gleichen, um zwei Spieler aufgestockten Mannschaft an – never change a winning team. Die eingesetzte Software ist offen sichtlich sehr flexibel: Die zwei weiteren Spieler wurden nach einer kurzen Kalibrierungsphase von einer 1/4 Stunde nahtlos in die Mannschaft integriert.
Elfmeter!
Der Gegner, die Austro Tech-Kicker von der TU Wien, hatte die Slowenen offenbar gut studiert und setzte ebenfalls auf robuste, schnell ausgeführte Einzelaktionen. Mehrmals rasseln die Gegner leise krachend aufeinander, das Publikum honorierte es freudig, unsicher, ob hier nur die Algorithmen zur Vermeidung von Kollisionen fehlerhaft waren oder bewusst eine härtere Gangart gewählt wurde.
Zunächst gingen die Slowenen 2:0 in Führung, bevor der Sturm der Österreicher ein wahres Feuerwerk technischer Kabinettstückchen zündete. Gerade der zentrale Mann in den offensiven Reihen der Alpenländler erinnert in seiner Abgebrühtheit sehr an den legendären Hans Krankl in seinen besten Zeiten. Dann wechselten die Österreicher kurz vor Ende der ersten Halbzeit aus und brachten einen frisch aufgeladenen Mittelfeld-Regisseur. Dem slowenischen Projektleiter, Prof. Dr. Drago Matko, schwante Böses, nervös schaute er mehrmals zur Uhr, sehnte den Halbzeitpfiff entgegen. Immer wieder gelang es den Österreichern in den Zweikämpfen an der Bande den Ball zu erobern. Kein Wunder, die Austro-Kicker haben in ihre Software Muster aus dem Zweikampf-Verhalten im Eishockey und American Football integriert.
Nach Wiederanpfiff fällt das 3:2 für die Österreicher, die Slowenen nehmen daraufhin ein Time-Out. Ihr Bildverarbeitungssystem hatte mitten im Match angefangen, den Ball für einen ihrer Spieler zu halten. Trotz der Behebung des Fehlers finden die osteuropäischen Robots nicht zurück ins Spiel und kassieren ein Tor nach dem anderen, die Abwehr wirkt phasenweise, als würde Jens Nowotny sie organisieren. In der vierten Minute kommt es zu einer strittigen Szene: Vo einem Prohaska-Robot eher zufällig bedient schiebt der wie entfesselte aufspielende Krankl den orangenen Ball über die Torlinie – nur leider zusammen mit dem Torwart. Foul, das Tor zählt nicht, der Keeper darf bei derartigen Rettungsaktionen nicht behindert werden.
Einige technikaffine Fans schossen immer Fotos mit Blitzlicht, was die Bildverarbeitungssysteme stark irritierte. „No Flashlights“, kam denn auch mehrmals der Ruf des Schiedsrichters. In der 6. Spielminute wurde ein österreichischer Abwehrspieler von einer Art Krampf geschüttelt, „Bänderriss“, diagnostiziert ein Zuschauer fachmännisch. Egal, das slowenische Team geht mit 3:12 gegen „Austro Tech“ unter.
Verärgert oder wirklich enttäuscht ist hier aber niemand. Das „Familientreffen“, wie einer der Teilnehmer es nennt, lebt vom Austausch technischer Kniffe und dem sozialen Miteinander. Die eingesetzte Hardware ist ohnehin bekannt und viele Mannschaften stellen den Quelltext ihrer Steuerungs-Software offen zur Verfügung. Die Human-Techniker kennen sich von diversen Tunieren und da man agile Stellvertreter auf dem Feld hat, werden die Kräfte auch gerne beim allabendlichen Socialising eingesetzt. Nach den Turniertagen sind dann Robots und Betreuer gleichermaßen erschöpft.
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