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Cannabis

Vom Mut kranker Menschen – Cannabis als Medizin

HanfBlatt

Cannabis wird von vielen als Medikament genutzt. Das HanfBlatt sprach mit einigen.

Trotz einer mittlerweile etablierten Forschung über die medizinischen Anwendungsmöglichkeiten von Cannabis überwiegen Vorurteile gegenüber dem Hanf als Heilmittel. Es soll an dieser Stelle nicht die Diskussion um die historischen Wurzeln des Heilmittels Cannabis aufgerollt werden. [1] Fest steht, dass die Produkte der Hanfpflanze über Jahrhunderte, ja, Jahrtausende von den Menschen in ganz unterschiedlichen Regionen des Globus genutzt wurden. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde Cannabis ideologisiert und dämonisiert und in Folge dessen aus den medizinischen Lehrbüchern gestrichen.

Genauso wenig allerdings wie ein Verbot die Genießer und Neugierigen abschreckt, so verhindern unsinnige Gesetze, dass kranke Menschen auf der Suche nach Gesundheit und Wohlbefinden sich der Pflanze zuwenden.

Ideologisch präformierte Wissenschaftler suchen mit finanzieller Unterstützung puritanisch-kapitalistischer Konzerne und einer verblendeten Politik seit den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Entbehrlichkeit von Cannabis nachzuweisen. [2] Erfolglos.

Um es kurz zu machen: Heute werden die medizinischen Effekte von Cannabis nach dem Etablierungsgrad ihrer Nachweisbarkeit eingeordnet [3]. Als etabliert gilt die Wirksamkeit gegen Übelkeit und Erbrechen und damit gegen Essstörungen und den damit verbundenen Gewichtsverlust. Als relativ gut gesichert gelten die Effekte bei Spastiken, Schmerzzuständen, Bewegungsstörungen, Asthma und dem Glaukom (Grüner Star). Als weniger gut gesichert gilt die Wirksamkeit bei Allergien, Juckreiz, Infektionen, Epilepsien, Depressionen, Angststörungen, Abhängigkeit und Entzugssymptome.

Von der Diskussion um die Legalisierung von Cannabis einmal ganz abgesehen: Trotz der Ergebnisse der Forschung sieht die Politik keinen Anlass kranken Menschen den Zugang zu einem preiswerten und offensichtlich wirksamen Medikament zu gewähren. Man fürchtet den Dammbruch und sieht hinter den Argumenten der Medizinalhanf-Befürworter nur eine weitere Taktik, um der Legalisierung eines Rauschmittels Vorschub zu leisten.

Soviel vorweg. Um die Diskussion nicht nur den akademischen, parlamentarischen und berufsgenossenschaftlichen Zirkeln zu überlassen, ist es nötig die Menschen zu Wort kommen zu lassen, die Hanf als ihre persönliche Medizin bei einer schweren Krankheit anwenden. In der Juli Ausgabe suchten wir darum HanfBlatt-Leser und Leserinnen, die Cannabis als Medizin anwenden. Es meldeten sich daraufhin über ein Dutzend Menschen mit ganz unterschiedlichen Problemen im physischen und psychischen Bereich. Ihre Geschichten sollen hier Thema sein.

Spastik

Günther [4] aus Berlin beispielsweise wurde (wie viele andere auch) lange nicht von seinem Arzt ernst genommen. Anfang 1994 setzte bei ihm plötzlich tägliche  Kopfschmerzen ein, zudem Verspannungen in der Halsmuskulatur. Ein Neurologe diagnostizierte später einen „spastischen schiefen Hals“ (Cervicale Dystonie). Dabei zieht der rechte Halsmuskel den Kopf nach rechts weg, ständiges Kopfzittern und Schmerzen sind die Folge. Die chemische Keule sollte es -wie so oft- richten: „Aber diese Schmerzmittel sind unglaublich stark. Wenn ich die nehme, dann liege ich den ganzen Tag betäubt im Bett“, berichtet Günther.

Dann erinnerte er sich an seine Jugendzeit und die entspannende Wirkung von Haschisch. „Ein Freund besorgte mir was zu rauchen, ich rauchte das Haschisch und eine halbe Stunde später war das Reißen und Zittern fast weg.“

Seit dieser Zeit gestaltet sich der Tagesablauf von Günther immer ähnlich: Nach dem Aufstehen raucht er ein Gramm Cannabis und für rund vier Stunden sind seine Schmerzen gelindert. Gegen 15 Uhr nimmt er die zweite Dosis des Tages zu sich, gegen 20 Uhr die letzte. „Es verwundert mich immer wieder, wie entspannend und krampflösend dieses Mittel ist“, sagt Günther. Über eine lange Versuchsreihe sei er auf diese Dosierung gekommen: „Mehr Rauchen bringt nicht mehr Linderung.“

Durch die ständige Schiefhaltung des Kopfes sind Wirbelsäule und die Halswirbel verschoben. Da die Krankheit zur Zeit nicht heilbar ist, bezieht Günther EU-Rente – an eine regelmäßige Arbeit ist nicht zu denken. „Früher konnte ich nicht mal auf die Straße raus, heute schaffe ich das, zwar in Begleitung, aber immerhin.“ Und auf den Grad der Verbesserung angesprochen, sagt Günther: „Wenn es früher 100% Krankheit waren, dann sind es heute 60%.“

Dem Architekten sei Dank: Günthers Balkon ist auf der Südseite seiner Wohnung – es herrschen optimale Bedingungen für die Hanfzucht für den Eigenbedarf.

Seine Ärzte wunderten sich über Günthers Genesung, bis er das Geheimnis aufklärte: „Die sagen jetzt, ich soll es nehmen, wenn es denn hilft.“ Trotz der Besserung ist Günther alle drei Monate auf Spritzen mit dem Nervengift „Botalinum Toxin“ angewiesen. „Davor graut mir jedes Mal. Danach kann ich nicht richtig schlucken und um überhaupt Essen zu können muss ich enorm viel trinken.“ Zudem treten durch die Injektionen in die Halsmuskulatur zeitweise Lähmungen an Armen und Beinen auf.

Die Nebenwirkungen von Hanf stuft er dagegen als gering ein. Ein Rauschempfinden stelle sich für ihn kaum noch ein. „Losgelöst, aber nicht high“, fühle er sich, „aber der Rausch geht in den Muskel und die Entspannung“. Das Verbot von Cannabis hält der Mann für unsinnig. „Letztlich kann ich nur jedem raten, der Spastiken hat, es mit Cannabis zu probieren.“

Chron

Von Seiten einer pharmazeutisch orientierten Wissenschaft wird die unspezifische Wirkung von Marihuana oder Haschisch hervorgehoben. Obwohl mittlerweile als gesichert gilt, dass die synthetisch hergestellten Hanf-Ersatzmittel mit diversen Nebenwirkungen aufwarten, sieht dieser Zweig der Forschung den Einsatz von Marinol und Dronabinol als die ultima ratio an. Naturnahe Pflanzenmedizin, die ihre Wirksamkeit gerade aus der Kombination diverser Bestandteile zieht, scheint diesen Forschern keine Alternative. Das Gegenteil beweist Olaf aus Wolfsburg, der bereits im zweiten Lebensjahr an Morbus Chron erkrankte.

Morbus Chron ist eine chronische Entzündung des Verdauungstraktes, deren Ursachen weithin unbekannt sind. Deshalb beschränkt sich die Therapie auf die Behandlung der Symptome, die sich in immer wiederkehrenden starken Bauchkrämpfen, Durchfällen und Gewichtsabnahme ausdrücken. In Deutschland schätzt man die Zahl der Erkrankten auf etwa 300.000. Olaf ist einer von ihnen.

„Seit dem Ausbruch der Krankheit habe ich Cortison bekommen, zunächst wenig, später bis zu 120 Milliliter täglich“, erinnert sich Olaf. Neben dem Cortison wurden Beruhigungsmittel verabreicht. Die Krankheit verschlimmerte sich so sehr, dass sich Olaf mit 14 Jahren einer komplizierten Operation des Dickdarms  unterzogen wurde. Ein halber Meter des mit Geschwüren übersäten Verdauungsorgans wurden heraus geschnitten.

„Mit 16 habe ich dann zufällig mit Freunden Haschisch probiert und die Koliken verbesserten sich noch am selben Abend.“ Zunächst glaubte er an einen Zufall, aber eine Wiederholung des Experiments zeigte die wiederum die Entkrampfende Wirkung der Wirkstoffe des Cannabis-Produkts. Was als netter Abend begann wurde so zur Institution. „Ich rauche rund ein Gramm Haschisch vermischt mit Tabak am Tag.“

Seine Eltern klärte er früh auf, sie reagierten gelassener als der damalige Arzt: „Der lief brüllend durch die Praxis und rief: <Mein Gott, ich habe einen Kiffer als Patienten>“, erinnert sich Olaf amüsiert. Seine aktuellen Ärzte können sich die Wirkung des medizinal eingesetzten Rauschhanfs nicht erklären, wollen die Anwendung aber auch nicht ablehnen. „Schließlich hilft es besser als alles andere zuvor“, sagt Olaf. Heute benötigt der 27-Jährige nur noch bei akuten Kolik-Schüben Cortison. „Dann aber auch nur noch 20 Milligramm.“ Insgesamt hätten sich, so Olaf, die Krämpfe, aber auch seine mentalen Probleme enorm verbessert:

„Seit ich Cannabis rauche hat sich mein Leben in die richtige Bahn geleitet.“

Erbrechen

Methadon ist zur Zeit das Mittel der Wahl bei der Behandlung heroinabhängiger Menschen. Viele berichten aber von Übelkeit und Erbrechen nach der Einnahme der Substanz. So erging es auch Nils aus Recklinghausen, der fünf Jahre lang Heroin konsumiert hatte, bevor er mit dem Ersatz-Opiat therapiert wurde. „Wenn ich Methadon morgens nahm, dann habe ich sofort gekotzt.“ Eine Freundin erzählte ihm von der Wirkung von Cannabis, Nils probierte eine Tüte vor der Methadoneinnahme, und „mir war zwar immer noch leicht schlecht, aber kotzen musste ich nicht mehr“. Heute dosiert er sich morgens mit einem Joint mit rund 0,1 g gutem Haschisch. Abends kommt etwas mehr in die Tabak-Mischung, rund 0,4 g. „Blöd ist natürlich, dass ich morgens schon immer stoned bin. Ich stehe deswegen um 6 Uhr auf, damit ich nach dem ersten Rausch arbeiten kann.“

Der Herr Doktor von Nils sieht die gestiegenen THC-Werte des Patienten gelassen. Allen Methadonsubstituierten die kiffen, denen gehe es besser, soll er gesagt haben. „Wenn Cannabis legal wäre, würde mein Arzt mir das verschreiben“, behauptet Nils sogar. Ähnlich lässig reagierte vor einiger Zeit ein Polizist, der Nils mit etwas Haschisch in den Taschen erwischte. „Der hat nur kurz daran gerochen und es mir wieder gegeben.“ Ob es an Haschisch-Beikonsum liegt oder nicht, zumindest ist Nils entschlossen, nie mehr Heroin zu nehmen.

Hepatitis

Mögen auch noch so viele Betroffene von ihren individuellen Heilerfolgen mit Cannabis berichten – Schulmedizin, Wissenschaft und Politik nennen diese Erfahrungen gemeinhin „anekdotisch“ und sprechen ihnen ein Potential zur Verallgemeinerung ab – mit fatalen die Folgen für den Einzelnen. Gesetze und tradierte Forschungsparadigmen führen dazu, dass in Deutschland keine systematische Erforschung der positiven Wirkungen des naturbelassenen Rauschhanfs existiert. Ein Skandal, wenn man denn so will, und so nimmt es kein Wunder, dass an allen Ecken der Republik erkrankte Lebewesen die Gesetze ignorieren.

So auch Kurt aus Bremen. Er leidet seit 1995 an chronischer Hepatitis C, einer Entzündung der Leber. „Abgeschlagenheit, chronischer Durchfall und schnelle Ermüdbarkeit“, nennt er als Symptome. Neben der medikamentösen Behandlung, einer sogenannten „Interferon Alpha Therapie“, versuchte es Kurt auch mit Mariendiestel – ohne Erfolg. Besserung trat erst auf, als er eine Kombinationstherapie mit Interferon, Pegintron und Rebetol aufnahm. Die Nebenwirkungen der Medikamente führten allerdings zu starker Appetitlosigkeit und Depression. So sollte Cannabis helfen und es half, wie der 38-jährige Mann erzählt.

Dies ist kein Einzelfall. In der Redaktion meldeten sich drei Personen, die ihre Hepatitis C mit Cannabis behandeln. Karl aus Herne beispielsweise lindert damit nicht nur die Nebenwirkungen der Medikamente, inhalierter Marihuanarauch führt bei ihm dazu, dass die typischen Symptome der Hepatitis, nämlich ständige Müdigkeit und Erschöpfung, eingedämmt werden. „Nach dem Rauchen habe ich kaum noch Schweißausbrüche bei Körperbewegungen“, erzählt er. Alle drei bis vier Stunden raucht Karl, 35, einen Joint, wobei die Dosis des Hanfkrauts niedrig ist: “Ich muss bei weitem nicht soviel rauchen, dass ich stoned bin – am Tag komme ich mit einem Gramm Gras aus.“ Die Justiz hatte im letzten Jahr kein Verständnis für den ungewöhnlichen Medikamentengebrauch von Karl. Ein Richter verurteile ihn wegen des Besitzes von Cannabis zu einer Bewährungsstrafe.

Depression

Der Hanf als Stimmungsaufheller, als „Beschwichtiger des großen Kummers“, wie es in Indien heißt, ist bekannt. Gegen den Alltagsfrust kann ein Pfeifchen helfen, wie sieht es aber mit wirklich schweren psychischen Beeinträchtigungen aus? [5] Zumindest bei Christine aus Hamburg half Cannabis, neben anderen Maßnahmen, bei der Wiederentdeckung der Freude. Die Studentin litt lange an einer endogen Depression, sah nur noch wenig Sinn im Leben und fühlte sich in ihrem Körper gefangen. Sie berichtet: „Mit 18 bin ich aus eigenem Antrieb heraus zu einem Psychiater gegangen, der mir Fluctin/Prozac verschrieben hat. Die Wirkung hat auch eingesetzt und ich nahm die Welt eine Weile mit einer rosaroten Chemiebrille wahr. Neue Wege haben sich mir dadurch nicht eröffnet.“ Später lernte Christine Cannabis kennen, kiffte viel und verdrängte mit exzessiven Konsum die Depression, ohne sich deren Ursachen zu nähern. „Es ist bestimmt nicht empfehlenswert nonstop breit zu sein, nur um sich nicht selbst begegnen zu müssen“, weiß sie heute. Trotzdem hält sie Haschisch für einen Schlüssel für ihre Gesundung. „Ich habe durch Kiffen und Tanzen gelernt, mich wieder um meinen Körper zu kümmern.“ Der entscheidende Knackpunkt sei aber eine homöopathische Therapie gewesen. Noch heute raucht sie täglich, ist sich der Nebenwirkungen („Verpeiltsein“) zwar bewusst, will aber noch nicht aufhören. Das Verhältnis zu ihrem Arzt ist gut: „Er wusste von Anfang an Bescheid über meinen außerordentlichen Cannabiskonsum und hat betont, er habe da nix gegen, nur dass ich es benutzen würde, um was anderes zu überdecken, wäre nicht in Ordnung, womit er auch recht hat.“ Trotzdem sieht sie sich selbst heute als weitgehend gesund an. „Ich habe einen langen Weg hinter mir, doch heute atme ich ein, ich atme aus und bin, was ich bin.“

Ergo

Um Irrtümer zu vermeiden: Das Voranstehende soll nicht dazu führen in Cannabis das allheilende Wundermittel zu sehen. Gerade die psychischen Krankheiten sind weder in ihren Ursachen noch in ihrer Therapierung hinreichend erforscht. Immer mehr in den Vordergrund rückt allerdings, dass monokausale Ursachen selten sind. Um das eine Krankheit umgebenen Geflecht aus physischen und psychischen Wurzeln zu entwirren ist meist kompetente Hilfe notwendig. Aber wer ist kompetent?

Die aufgeführten Fälle zeigen neben dem Mut der Menschen die Hilflosigkeit der Ärzte, die der cannabinoiden Zusatztherapie ihrer Patienten bisweilen akzeptierend, gelegentlich ablehnend, immer aber ratlos gegenüber stehen, weil auch sie, die vermeintlichen Experten, keine hinreichenden Informationen zu diesem Naturstoff haben. Damit ist auch die Problemlage eines Gesundheitssystems angesprochen, welches im ausgeprägten Abhängigkeitsverhältnis zur pharmazeutischen Industrie steht. Dass aber die legale Chemie alleine nicht allen hilft steht fest. Für den Einzelnen auf der Suche nach einer umfassenden Behandlung seiner Krankheit bleibt daher oft nur der Gang in die Illegalität.

Die unbestreitbaren positiven Effekte der Cannabinoide im Körper dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Einzelne auch mit diesem Medikament verantwortungsvoll umgehen muss, um den Erfolg nicht in eine Schaden umkippen zu lassen. Denn nicht allein die Dosis bestimmt das Gift, auch die mentale und soziale Verfasstheit des Konsumten. Positiv ist daher die Zielgerichtetheit, mit der die hier beschriebenden Patienten Cannabis anwenden. Obwohl das hedonistische Spektrum der Droge bekannt ist, liegt der Augenmerk bei ihnen deutlich auf der Linderung der Krankheit. Und, wenn diese persönliche Bemerkung erlaubt ist, das HanfBlatt wünscht auf diesem Wege weiterhin gute Besserung!

 

[1] Siehe dazu C. Rätsch: Hanf als Heilmittel.

[2] Das immer noch erschreckenste Beispiel hierfür ist das in seiner Fülle von angehäufter Desinformation beispiellose Buch von Peggy Mann: Haschisch. Zerstörung einer Legende. Bitte nicht kaufen, höchstens mal zu Ansicht ausleihen!

[3] Vgl. zum folgenden Franjo Grotenhermen: Cannabis und Cannabinoide. 2001, Bern: Hans Huber. Für einen Überblick über Hanf als Medizin siehe auch Lester Grinspoon: Marihuana – Die verbotende Medizin. 1994, Frankfurt a.M.: 2001, zudem http://www.cannabislegal.de/cannabisinfo/medizin.htm und die Seite der Arbeitsgemeinschaft für Cannabis als Medizin unter http://www.acmed.org/.

[4] Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.

[5] Einen Überblick gibt http://www.chanvre-info.ch.

 

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Grower Area Psychoaktive Substanzen

Plantagen-Bilder aus dem All

Plantagen-Bilder aus dem All

Google Earth macht vor, was Bilder aus dem All inzwischen leisten können. Einige Ballungsgebiete der Erde sind so hoch aufgelöst, dass Leute ihren Balkon wiedergefunden haben. Die französische Firma Spotimage (www.spotimage.com) bietet Satelliten-Bilder an, die mit einer Software zusammen illegale Anpflanzungen aufspürt. Noch sind diese und andere Systeme auf Opium-Felder ausgerichtet, es dürfte aber nur eine Frage der Zeit sein, bis auch größere Cannabis-Plantagen damit gefunden werden können. Häufige Updates von Satelliten-Aufnahmen und Auflösungen bis unter einen Meter werden bisher nur von den Militärs genutzt. Aber die sogenannten GIS-Systeme sind kommerziell erfolgreich, die Kartierung der Welt mittlerweile ein Riesengeschäft, der technische Fortschritt in dem Bereich rasant. Freiluftbauern stehen eventuell harte Zeiten ins Haus.

 

 

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Psychoaktive Substanzen

Der LSD-Entdecker Albert Hofmann verstarb im Alter von 102 Jahren

Hanfblatt Nr. 114, April 2008

Chemiker und Naturphilosoph

Der LSD-Entdecker Albert Hofmann verstarb im Alter von 102 Jahren

Geistig klar bis zum letzten Moment: Im Alter von sagenhaften 102 Jahren verstarb am 29. April 2008 der Entdecker des LSD, Albert Hofmann, in seinem Haus in Burg im Kanton Basel-Land. Hofmann war nicht nur ein ausgezeichneter Chemiker, sondern auch eine ausgleichende Persönlichkeit mit Weitblick: Schon früh erkannte er die Abhängigkeit der Drogenerfahrung vom kulturellen Kontext. Er wies zudem darauf hin, dass ein Psychedelikum wie LSD für Jugendliche und junge Erwachsene ungeeignet sei, weil damit eine psychische Plattform aufgelöst würde, die im jungen Alter noch gar nicht solide aufgebaut wäre.

albert hofmann
Rolf Verres, Albert Hofmann, Christian Rätsch, Basel 2006.
Hinter Hofmann stehend: Dieter Hagenbach

Hofmann selber nahm LSD in einem Selbstversuch am 19. April 1943 zum ersten Mal bewusst ein. Es folgte der berühmte Bicycle-Day. Die hohe Dosis von 250 Mikrogramm ließ die Welt neu erscheinen, in dem Versuchsprotokoll notierte er: „Kaleidoskopartig sich verändernd drangen bunte phantastische Gebilde auf mich ein, in Kreisen und Spiralen sich öffnend und wieder schliessend, in Farbfontänen zersprühend, sich neu ordnend und kreuzend, in ständigem Fluss.“

Weitere Trips folgten, die Wissenschaft war von der kraftvollen Substanz angetan, schnell wurde klar, die Substanz erzeugt nicht nur farbiges Theater, sondern kann zu den individuellen Wurzeln der Persönlichkeit und darüber hinaus führen. Ein Einsatz als Psychotherapeutikum bot sich an. Aber als die Gegenkultur der 60er Jahre das LSD für sich entdeckte, griffen die Mechanismen der Kontrollgesellschaft. LSD wurde verboten, die Konsumenten kriminalisiert. Hofmann bewahrte Ruhe und blieb der psychedelischen Szene bis zuletzt freundschaftlich verbunden. Parallel zu seiner Arbeit an anderen Entheogenen (Zauberpilze, Salvia divinorum) entwickelte er eine Naturphilosophie, die eine Synthese zwischen objektiver Naturwissenschaft und subjektiv mystischer Welterfahrung propagierte. Das naturwissenschaftliche, rationale Weltbild sei zwar wahr, so Hofmann, es beinhalte aber nur die eine Hälfte der Wirklichkeit, nämlich den materiellen, messbaren und damit objektivierbaren Teil. Wichtig wäre aber auch die anderen wesentlichen Merkmale des Lebendigen in ein Weltbild zu integrieren. Diese Merkmale seien nicht messbar: Freude, Schönheit, Schöpfergeist, Ethik, Moral und nicht zuletzt die Liebe. Den „Schöpfer“ sah er überall in der Natur tätig, er empfahl jedem Sinnsucher und Wissenschaftler daher, sich an den Wundern der Natur zu erfreuen.

Hofmann folgt seiner Frau Anita, die im Dezember vergangenen Jahres im Alter von 95 Jahren verstarb. Die beiden waren 73 Jahre lang ein Paar. Ein anderer Traum war für ihn 2007 in Erfüllung gegangen: Der Schweizer Psychotherapeut Peter Gasser erhielt die Erlaubnis, LSD zu therapeutischen Zwecken versuchsweise zu benutzen. Mit Hofmann geht ein glücklicher Mann von dieser Welt. Seine fried- und gleichsam kraftvolle Persönlichkeit und seine nüchternen Analysen werden der psychedelischen Gemeinde fehlen.

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Mixed

Hünengräber, Langbetten, Dolmen: Auf Urkult-Tour in Norddeutschland

Der dampfende Dolmen

Hünengräber, Langbetten, Dolmen: Auf Urkult-Tour in Norddeutschland

Rund um Hünengräber, Hinkelsteine und Steinzeit-Felsbauten ist eine Fan-Kultur entstanden, in der sich von Universitäts-Archäologen bis zum Neuzeit-Druiden alles sammelt. Die archaischen Steine dienen in einer Zeit der Ort- und Bindungslosigkeit auch als Projektionsflächen innerer Wünsche: Profundes Wissen, Leichtgläubigkeit oder Boderline? Wer sich eingehender mit den sakralen Bauten beschäftigen will, wird auf Disziplinen wie Archäoakustik, Astronomie und Erdenergien stoßen. Aber was verspürt Otto Normalo bei einem Besuch so einer Stätte? Sind es Orte mit einem Eingang zur Anderswelt? Wir wagen den Versuch. dolmen

Wolken und Sonne über der norddeutschen Knicklandschaft. Wir schaukeln über die Landstraße bei Bad Segeberg, Städter auf Landpartie an einem Wochentag. Da, das erste Hinweisschild: Grabhügel. Bremse rein, rechts ab. Der Hügel liegt recht unscheinbar am Rande eines Parkplatzes im Vorgarten eines Einfamilien-Hauses. Rauf da. Oben fruchtet zwischen alten Bäumen blaubeerig Weißwurz. Wollen, vielmehr, können wir uns öffnen? Verkehrslärm und eine dahingeworfene Grabsteinplatte verhindern das. Runter von dem Ding, der freundlich murmelnde Vorgartenbesitzer klärt uns auf: Ein anderer Hügel liegt irgendwo da drüben.

Rein ins Auto, drei Kurven später, ein Feldweg, ein Acker. Hier wirkt es schon gemütlicher. Wir machen uns auf die Suche. Vögel zwitschern, im Knick entdecken wir vielerlei fruchtendes Buschwerk. Es geht wie so oft im Leben ums Augen aufmachen. Ebereschen, Faulbäume, Holunder, Haselnuss, ein Wespennest, … Wir landen in einem künstlich angelegten Feucht-Biotop, einer Schonung und schließlich in einer Senke, die schon verdammt heilig aussieht, sich aber als Suhlkuhle für Vieh rausstellt. Egal, auch schön hier. Nach einem halbstündigen Rundgang finden wir denn doch noch den stattlichen Grabhügel unweit unseres Ausgangspunktes mitten auf einem Kartoffelacker. Garantiert 25 Meter Durchmesser, einige Meter hoch, Birken, Buchen, Gräserbewuchs. Vorsichtig umrunden wir das Objekt erst einmal. Jetzt das Herz rein halten.

Der Eingang zu dem Grab ist von einem großen Findling verschlossen. Drei große Trägersteine halten den Dachstein. Die Grabstätte wurde vor circa 5500 Jahren angelegt, das ist, wenn man mal überlegt, ziemlich lange her. Wir klettern auf den Berg, suchen weitere Attraktionen. Außer einem Landvermessungsstein und ein paar Fuchslöchern gibt es keine Hinweise. Wir setzen uns. Es ist plötzlich warm. Jacken aus. Unspektakuläre Wohfühlatmosphäre. Jetzt was opfern. Ein paar frische Galläpfel, das muss sein.

Nun den virginischen Tabak raus, selbstgezogen, eine Pfeife, etwas Füllung. Die Pfeife dreht sich plötzlich. Die Hälfte des Schamanenkrautes verteilt sich auf dem lehmigen Boden. Aha, die Ahnen verlangen ein vernünftiges Opfer. Ein erster Zug, ahh, dann zwei Honks in Jacken von links. Sind das die freundlichen Geister der Ahnen? Nein, es sind die höflichen Wächter des Grabs. Guten Tag, darf ich mich vorstellen, Herr Sowieso vom archäologischen Amt in Bad Segeberg. Der Mann weiß nicht recht, wie er formulieren soll, dass er jeden und so auch uns grundsätzlich des Grabraubs verdächtigt. Deswegen sind er und sein ebenso alter Kollege mit Rucksack hier. Lockeres Geplänkel. Er sieht keine Klappspaten und wird ruhiger. Wir ziehen ihm ein paar Fakten rund um den Hügel aus der Nase. Ja, der Bauer erlaube den Zugang. Nein, viel los sei hier nicht. Die Männern zockeln davon, wir bleiben. Gut, wenn man erwachsen ist, pampiger oder oberlehrerhafter Tonfall fallen meist aus. Abgang mit erstem Fazit: Wild bewachsener Grabhügel mit mittelklassigem Chillfaktor, Straßenrauschen nahe bei, etwas unwirtliche Umgebung, gefühlte erhöhte Temperatur.

Dolmen
Dolmen bei Groß Rönnau (Foto: Torben Berger)

Weiter gehts. Wir fahren nach Groß Rönnau, dort soll sich ein – nach Aussage des einen Grabwächters – beeindruckender Dolmen befinden. Problem: Keine Beschilderung. Aber wir haben ja innere Antennen.

Die meisten unter uns wissen inzwischen mehr über die Finessen ihres Handys als über das Wachsen einer Balkonpflanze, geschweige denn das Leben unserer Vorfahren und ihren Umgang mit der Natur. Dabei sind diese Stätten die ältesten sichtbaren Spuren unserer Kultur. Unsere Ahnen brachten in diesen architektonischen Formen ihre Verbindung zum Kosmos und zu den Urgründen des Seins zum Ausdruck. Es gibt Bestrebungen, diese Sicht der Dinge wiederaufleben zu lassen. Warum? Weil, so diese Annahme, nur im Zusammenspiel mit der Natur und ihren Gesetzmäßigkeiten individuelles Glück, soziale Gerechtigkeit und das Überleben der Menschheit möglich sei. Ob und wie über 5000 Jahre später, nach Aufklärung, industrieller Revolution, Raumfahrt und Informationstechnologie, das Weltbild unserer Ahnen unseres bereichern kann, muss sich zeigen.

Diese Orte galten einst als heilig, als Durchgänge zur Anderswelt, die, entgegen aller heutigen Vermutungen, ebenso den Naturgesetzen gehorchte. Nur sind diese Gesetze noch kaum mit modernen Mitteln erforscht, was nicht zuletzt an der modernen Wissenschaft liegt, die auf Subjekt-Objekt-Spaltungen besteht. Damals wurden mit dieser Architektur nicht nur die Toten, die Sonne und die Gestirne geehrt. Zusammen mit den ersten Wohnbauten können diese Konstrukte ebenso als erste große Zähmung von Natur interpretiert werden. Es ist eine bis heute unbeantwortete Frage, ob in der Technik selbst oder nur in dem übersteigerten Gestaltungswillen des Menschen, die ambivalente, eben auch elendsbringende Kraft technischer Errungenschaften liegt. So oder so: Wir leben heute in einer komplett technisch verfassten Gesellschaft.

Wir irren über die Feldwege, eine riesige Kiesgrube irritiert, kein Dolmen in Sicht. Da, unerwartet auf einem frisch mit massenweise Pferdescheisse gedüngten Acker, da steht er. Na, das ist schon ein anderes Kaliber, ein gelandetes Raumschiff. Wir waten durch das größte Scheißefeld, das wir jemals betreten haben, und werden mit einem klassischen Hünengrab belohnt. Vier fette Säulen und ein riesiger Dachstein. Verschrobener Granit, Flechten, etwas saftiges Moos auf der Nordseite, der Eingang Richtung aufgehende Sonne. Ein Holunderbusch wächst aus dem Inneren hervor, eine fette Kröte hüpft beiseite als ich unter den Stein linse. Wir ahnen, hier müssen wir sauber zelebrieren. Die Räucherkegel werden gezückt. Ich geselle mich mit einer Räucherschale hinzu. Ein Zunderpilz aus den Alpen glimmt, Weihrauch, Myrrhe und Palo Santo von einem Ayahuasca-Schamanen der Shipibo-Conibo duften. Alles reinstellen in die Höhle. Wir kriechen unter den Stein, ein Meter Platz nur, aber genug für eine Leiche. Wir schmiegen uns an die Steinplatte, tänzeln um das Objekt, der Dolmen qualmt und verbreitet köstliche Gerüche, ein Heidenspaß. Besonders spirituell fühlen wir uns nicht, aber gut aufgehoben, irgendwie beschützt. Kein Spielverderber könnte uns jetzt den Kontakt zur Urnatur versauen.

Die Form wirkt wie vom Bildhauer Henry Moore geschaffen. Das Bundeskanzleramt für Druiden. Standorte verschaffen ständig Perspektivverschiebungen. Ein Greifvogel schwebt über uns. Ich stelle mir vor, wie pikant so ein Dolmen als Garage für meinen Opel-Corsa aussehen würde. Aber hinfort, ihr blasphemischen Gedanken. Ein Abgang mit zweitem Fazit: Der dicke Dolmen ist überraschungsresistent. Sinnieren ohne Reue.

Überall im europäischen Raum erfüllen die Megalithen (gr. große Steine) die Sehnsucht nach Authentizität und Dauerhaftigkeit. Der äußeren scheint oft eine innere Archäologie folgen zu wollen. Es ist wenig bekannt über ihre Erbauer, ihnen heute Handlungsstränge und Ritualformen zuzuweisen ist daher problematisch. In Norddeutschland gehören die Großsteingräber zur Hinterlassenschaft der sogenannten Trichterbecherkultur, benannt nach der typischen Form ihrer Tongefäße. Die Bevölkerung begann in der Jungsteinzeit ab 3500 v.Chr. auch bei uns, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben. Damit beendeten sie den ältesten und längsten Abschnitt der Menschheitsgeschichte, die Zeit der Jäger- und Sammlerkulturen, und führten die sesshafte Lebensweise ein.

Ein Grabhügel, ein Dolmen, jetzt fehlt nur noch ein Langgrab, sagen wir, und fahren Richtung Negernbötel. Der Ort heißt tatsächlich so, er liegt sieben Kilometer nordwestlich von Bad Segeberg. Nachdem wir freudig aus dem Wagen springen, erleben wir, was Zivilisation aus den ehemals so schönen Friedhöfen und Kultstätten machen kann. Die ursprünglich als länglich aufgeschüttete Hügel geformten Megalithgräber sind stark zerstört. Früher mitten im Wald und am Flußufer der Faulen Trave gelegen, ist von dem Zauber wenig übrig. Ein Schweinegülleproduzent in der Nähe verbreitet einen unfassbaren Gestank, eine Zufahrtsstraße zerteilt ein früher über 100 Meter langes Grab in zwei Teile. Enttäuschung macht sich breit. Egal, wir ehren auch diesen Platz durch Abgehen seiner Dimensionen und erfreuen uns an den moosbewachsenen, uralten Steinformationen. Wer zuviel Zeit hat, beschließen wir, der sollte mal einen Brief an die Gemeindeverwaltung von Negernbötel schreiben, schließlich ist dieser Steinzeit-Tempel ihre einzige touristische Attraktion. Rückfahrt und drittes Fazit: Jenseits psychischer Projektionen (die dunklen Regenwolken kommen, weil ich mich schlecht benommen habe) und Reisen in inneren Welten scheint, so unsere Vermutung, an diesen Orten eine Art tieferer Wahrheit zu liegen, die von ganz verschiedenen Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturkreisen ganz ähnlich erlebt werden kann.

Wir, so nehmen wir an, sind jedenfalls städtisch fast zu verkorkst, als das wir von den feinstofflichen Potentialen vor Ort allzuviel bemerken. Auf der anderen Seite lässt sich die altertümliche Schönheit, die Ruhe und Kraft, die von ihnen auszugeht, nicht leugnen.

Literatur:

Der Fotograf Johannes Groth hat einen prächtig bebilderten Band zu den schönsten Grabstätten in Norddeutschland veröffentlicht. Daraus stammen auch die von uns besuchten Dolmen und Gräber.

Johannes Groht:
Tempel der Ahnen
Megalithbauten in Norddeutschland
AT-Verlag 2005

 

Weiterführender Link:

http://www.stonepages.de/

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Gesundheitssystem Psychoaktive Substanzen Psychopharmakologie

Vor zehn Jahren kam das Potenzmittel Viagra auf den Markt

Welt am Sonntag v. 25. März 2008

Dem Manne kann geholfen werden

Vor zehn Jahren kam das Potenzmittel Viagra auf den Markt

Jörg Auf dem Hövel
(in der Welt am Sonntag erschien eine gekürzte Version. Am Ende des Beitrags habe ich einen Leserbrief von Günther Steinmetz von der Selbsthilfegruppe Erektile Dysfunktion angefügt)

Das Medikament wurde schnell zur erfolgreichen Stütze für den unter Erektionsstörungen leidenden Mann und geriet zugleich in den Ruf einer Lifestyle-Droge. Ein Jahrzehnt später ist die große Aufregung zwar vorbei, Wirkstoffe für den unbeschwerten Sex haben aber weiterhin Konjunktur.

Jack Nicholson soll gesagt haben: „Viagra? Das nehme ich nur, wenn ich mit mehr als einer Frau zusammen bin.“ Dies beschreibt die Vor- und Nachteile der Potenzpille recht gut, denn Männern mit Erektionsstörungen hilft sie dabei den Schwellkörper zu aktivieren – Männer ohne solche Probleme beschreiben das Phänomen des nicht nachlassende Dauerhochs als eher lästig. Vor zehn Jahren kam Viagra auf den Markt. Es folgte eine pharmakologisch-sexuelle Revolution, wie es sie seit der empfängnisverhütenden „Pille“ nicht mehr gegeben hatte.

Die Angst vor Impotenz bringt Männer seit jeher um den Schlaf, gilt Sex doch als Kit oder gar Grundlage jeder Beziehung. Mit Viagra scheinen sich solche Probleme erledigt zu haben. Das Medikament soll in manches erschlaffte Verhältnis die Spannung zurück bringen. Das zeigt schon der Verkaufserfolg. Im April 1998 kam das Mittel in den USA auf den Markt, innerhalb der nächsten vier Wochen unterschrieben Ärzte mehr als 300.000 Viagra-Rezepte. Schnell entwickelte sich die Arznei zum sogenannten „Blockbuster“, einem jener Medikamente, die mehr als eine Milliarde Dollar im Jahr umsetzen. In der Dekade seit der Einführung 1998 haben sich mehr als 30 Millionen Menschen in 120 Ländern Viagra verschreiben lassen. Millionen haben es sich über das Internet oder auf dem Schwarzmarkt besorgt.

Ein Milliardengeschäft für den Hersteller, den Pharma-Konzern Pfizer, der das Patent auf den Viagra-Wirkstoff Sildenafil bis 2011 besitzt. Denn obwohl sich die ganz große Aufregung um Viagra gelegt hat, wächst der Markt für die Firma weiterhin. 2007 gab das Unternehmen an, im vorangegangen Jahr weltweit blaue Pillen im Wert von 1,7 Milliarden Dollar verkauft zu haben. Sechs Prozent mehr als im Vorjahr. Viagra schien von Anfang an das Bedürfnis eines riesigen Marktes zu befriedigen, Pfizers Mitbewerber wollten partizipieren. Wer über Viagra spricht muss daher heute auch über Cialis reden. Eli Lilly brachte 2003 ebenfalls ein Erektionshelfer in die Apotheken. Wie Viagra wirkt auch Cialis als PDE-5 Hemmer. Das Enzym PDE-5 ist dafür verantwortlich, dass eine Erektion wieder abgebaut wird. Durch die Hemmung von PDE-5 kommt das männliche Glied daher bei einer sexuellen Stimulation leichter in Wallung. Und: Dieser Zustand hält auch länger an. 2006, so Lilly, nahm man mit dem Cialis 971 Millionen Dollar ein. Mit Levitra, einem Gemeinschaftsprodukt von Bayer und GlaxoSmithKline, ist ein weiteres Erektionsmedikament auf dem Markt. Die Konzerne wollten ebenfalls Blockbuster-Spitzenumsätze generieren. Man setzte weltweit 2004 aber nur 200 Millionen Euro um.

Obwohl immer von Viagra die Rede ist, führt im deutschen Erektionsmarkt Cialis vor Viagra und Levitra. Dies liegt vor allem an der längeren Wirkungsdauer von Cialis, das den Mann bis zu 36 Stunden lang in Bereitschaft hält. Insgesamt, so der der Pharma-Dienst IMS Health, wurden 2007 rund zwei Millionen Packungen der Erektionshelfer in deutschen Apotheken verkauft, der Umsatz betrug knapp 117 Millionen Euro. Die Marktanalysten mokieren sich über den seit ein paar Jahren stagnierenden Markt.

Ikonen

Hat Viagra die Welt verändert? Gestützt durch eine massive Werbekampagne herrschte in den ersten Jahren nach Einführung von Viagra ein medialer Rummel um die Substanz. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Bob Dole warb für Viagra, andere Prominente stellten sich ihm an die Seite, Playboy-Urgestein Hugh Hefner sprach von einem Lebenselixier. Morgan Stanley prophezeite einen Umsatz von 2,6 Milliarden Dollar in 2000, Gruntal & Company gingen noch weiter, die Börsenexperten sprachen von 4,5 Milliarden Dollar in 2004. Die Welt war für kurze Zeit im Viagra-Fieber. Impotenz war plötzlich aus der gesellschaftlichen Schattenecke heraus geholt. Potenzprobleme, vor allem aber ihre schnelle Beseitigung, waren probates Party-Gespräch. Zwar sprach sich schnell herum, dass das Medikament nicht luststeigernd war, sondern nur eine eh schon vorhandene Libido in harte Fakten umsetzen kann. Aber das schien den meisten Männern zunächst egal. Denn, so die einfach- funktionale Schlussfolgerung, steht erst einmal der Kolben ergibt sich der Rest wie von selbst.

Nicht alle waren begeistert. Einige Krankenversicherungen weigerten sich umgehend, die Kosten für eine Viagra-Behandlung zu übernehmen. Man mutmaßte, dass hier nur Männer im besten alten ihren Spaß haben wollten ohne wirklich unter erektiler Dysfunktion zu leiden. Die auf den Plan gerufenen Kulturkritiker wiesen auf Krankheitserfindung und das Problem hin, dass ein Medikament zur Lifestyle-Droge werden könne. Aber zu spät, Viagra war bereits in die Kultur eingedrungen. Die Auswirkung des Viagra-Hypes lassen sich bis heute nicht zuletzt daran ablesen, dass eine ganze Spam-Generation auf den Durchblutungs-Versprechungen basiert. Jeder hat schon einmal Mails mit Verhärtungsversprechungen erhalten. Auch dieser Text musste aus dem Spam-Ordner der Redaktion gefischt werden. Die Substanz ist innerhalb des letzten Jahrzehnts zum weltweit bekannteste Medikament geworden. Es ist aber nicht das am häufigsten verkaufte. Zum Vergleich: In den USA werden Potenzmittel jährlich an die 20 Millionen mal verschrieben, Knochenschwundmittel schon 40 Millionen mal und Antidepressiva über 100 Millionen mal.

Gleichwohl verändert Viagra die Verhaltensmuster der Gesellschaft. Durch das Arzneimittel gestärkt fühlen sich manche Männer berufen ihren zweiten Frühling einzuläuten, jüngere Frauen sind dann das Ziel des Begehrs. Das pharmazeutisch induzierte Selbstbewusstsein führt zu geschürter Krisenstimmung in der Ehe oder gar zu Untreue. So wird berichtet, dass es in den USA immer wieder zu Scheidungen kommen soll, weil graumelierte Herren sich durch Viagra noch einmal zu höherem berufen fühlen. In Floridas Altersheimen sollen Geschlechtskrankheiten zugenommen haben, weil rüstige Rentner sich nach Viagra-Konsum mit Prostituierten vergnügen.

Nach einer Studie der Universität Köln haben in Deutschland vier bis fünf Millionen Männer Probleme mit der Erektion. Warum bleibt oft unklar. Einige Ärzte sehen eher organische Ursachen, andere verweisen auf psychologische Hintergründe. Dabei ist es wahrscheinlich wie so oft: Richtig eingesetzt kann Viagra oder eine anderes Liebesmittel die sexuelle Beziehung eines Langzeitpaares durchaus stimulieren; eine schlechte Ehe wird es indes nicht retten können. In anderer Hinsicht hat Viagra sicher dafür gesorgt, dass Männer das Gefühl haben immer und überall können zu müssen.

Es wurde angenommen, dass der demographischer Wandel den Markt für Potenzmittel weiter beflügeln wird. Noch steht aber nicht fest, ob die Generation 60 Plus ein ausgewiesenes Interesse an der Beibehaltung oder Wiederbelebung ihrer sexuellen Aktivität hat. Viele ältere Paare sind mit penetrationslosen Zärtlichkeiten durchaus zufrieden. Weiterhin ist unklar, welche zukünftige Rolle Viagra & Co. als Lifestyle-Droge bei den unter 50-Jährigen spielen werden. Zum einen sind Potenzpillen fast überall verschreibungspflichtig, zum anderen muss der Patient sie aus eigener Tasche bezahlen, denn die Krankenkassen übernehmen die Kosten nicht. Mit der Gesundheitsreform vom Januar 2004 hat der Gesetzgeber festgelegt, dass Medikamente zur Behandlung von Erektionsstörungen nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden dürfen. Manche Ärzte behaupten gegenüber ihren Patienten, dass auch die Diagnostik der ED nicht mehr von der Krankenversicherung übernommen wird. Dies ist allerdings nicht richtig.

Für den gesunden Mann ändert sich im praktischen Liebesverkehr wenig, er weiß, dass dessen Qualität nicht in Härtegraden gemessen werden sollte. Oder, wie der amerikanische Sexualpsychologe Michael A. Perelman es einmal ausdrückte: „Ob man nun einen vollen Tank oder nur einen halb vollen Tank hat – das Auto fährt gleich gut.“

 

Wie Viagra & Co. wirken

Die für eine Erektion nötige Blutzufuhr in den Penis wird durch kleine Muskeln gesteuert. Im nicht erigierten Zustand sind diese Muskeln angespannt und verschließen die Blutgefäße des männlichen Schwellkörpers. Eine sexuelle Stimulation führt beim Mann innerhalb dieser Muskelzellen zur Ausschüttung einer chemischer Substanz mit der Abkürzung cGMP (cyklisches Guanosinmonophosphat). Dadurch entspannt sich der Muskel, Blut fließt ein und das männliche Glied richtet sich auf. Damit dieser Zustand nicht ewig anhält muss das cGMP wieder abgebaut werden. Dies übernimmt eine Enzym mit Namen PDE-5 (Phosphodiesterase-5).

An dieser Stelle setzen Medikamente wie Viagra an. Sie hemmen den Abbauprozess, indem sie die Wirkung des Enzyms PDE-5 blockieren. Dies gelingt ihnen, in dem sie an das Enzym binden und dieses dadurch nicht mehr zur Aufspaltung an cGMP andocken kann. Das Ergebnis: In den Zellen steht mehr muskelentspannende Substanz zur Verfügung, dadurch fließt mehr Blut in den Schwellkörper ein. Alle drei der zugelassenen Arzneimittel gegen krankhafte Erektionsstörungen (so genannte „erektile Dysfunktion“) wirken auf diese Weise. Die Krankheit beschreibt die Unfähigkeit, über lange Zeiträume hinweg trotz sexueller Erregung eine Erektion zu bekommen. Oft sind die Ursachen organischer Natur, Lecks in den Schwellkörpern können ebenso dafür verantwortlich sein wie Verkalkung der Blutgefäße.

Die Geschichte der Potenzmittel auf Basis der Hemmung des Enzyms PDE-5 beginnt 1985. In den Forschungslabors der Firma Pfizer im britischen Sandwich war man auf der Suche nach einem neuen Wirkstoff für die Behandlung von Brustengegefühl (Angina Pectoris) und der damit zusammen hängenden Herz-Durchblutungsstörung. Nach vielen Versuchen synthetisierte man eine Substanz, die sehr zielgerichtet PDE-5 blockierte und nannte sie Sildenafil. Die Halbwertszeit im menschlichen Körper war mit vier Stunden allerdings zu gering, um als Mittel gegen Angina Pectoris eingesetzt zu werden, zudem waren die durchblutungsfördernden Eigenschaften nicht so ausgeprägt wie erhofft. Einige der Testpersonen berichteten allerdings von einer starken Nebenwirkung: Sie hatten schon nach geringfügigen erotischen Reizen eine Erektion bekommen. Analysen ergaben, dass PDE-5 vor allem im Penisschwellkörper des Mannes vorkommt und Sildenafil daher in erster Linie hier wirkt. Die Marketingabteilung schlug den Namen „Viagra“ vor, das Potenzmittel des neuen Jahrhunderts war gefunden. Bis dahin beruhte die Behandlung der organischen Impotenz auf umstrittenen Naturmitteln oder dem Einsatz von Implantaten und Vakuumpumpen.

Die pharmakologische PDE-5-Hemmung ist so effektiv und mit relativ wenigen Nebenwirkungen verbunden, dass nach der Jahrtausendwende zwei weitere Medikamente auf den Markt kommen: 2002 zunächst Cialis mit dem Wirkstoff Tadalafil, 2003 Levitra mit dem Wirkstoff Vardenafil. Wie die Wirkstoffbezeichnungen schon andeuten ist die chemische Struktur der Medikamente ähnlich. Sie alle blockieren PDE-5, wirken aber unterschiedlich lang. Über weitergehende Unterschiede wie beispielsweise dem Härtegrad der Erektion herrscht Uneinigkeit. Viele der wissenschaftlichen Studien werden durch einen der drei Hersteller finanziert.

Levitra ist für den eiligen Patienten geeignet. Es wirkt bereits nach 40 Minuten, eine Studie unter Alltagsbedingungen will sogar eine Anfluten innerhalb von 10 Minuten bei einigen Männern nachgewiesen haben. Viagra-Nutzer brauchen mit rund einer Stunde etwas länger, dafür soll anekdotischen Berichten zufolge die Erektion auch kräftiger ausfallen als bei den anderen Mitteln. Cialis benötigt zwar etwas mehr Zeit bei der Entfaltung im Körper des Mannes, wirkt dafür aber länger. Während die gedeihliche Wirkung bei Viagra vier bis sechs Stunden und bei Levitra acht bis 12 Stunden anhält, kann sie bei Cialis bis zu 36 Stunden betragen. Aus diesem Grund ist das Arzneimittel in Deutschland mittlerweile beliebter als Viagra. Morgens genommen besteht den ganzen Tag die Möglichkeit zum Koitus, dosisabhängig sogar noch am nächsten Morgen.

 


Online-Leserbrieg v. 28.03.2008 von Günther Steinmetz von der Selbsthilfegruppe Erektile Dysfunktion:

Dieser Artikel hebt sich wohltuend von vielen Artikeln ab, die am 27.3. in fast allen Tageszeitungen zu lesen waren. Inhaltlich fehlt mir, dass zu wenig darauf eingegangen wird, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Viagra und Co. einem Paar wieder zu einer erfüllten Sexualität
verhelfen können. Kurz gesagt, geht es dabei um folgende Punkte:

1. Die Medikamente müssen wirken, was längst nicht bei allen Männern der Fall ist. Besonders nach Operationen im kleinen Becken ist die Erfolgsrate gering.
2. Es dürfen keine Kontraindikationen vorliegen. Das ist allerdings entgegen der weitverbreiteten Meinung, dass Viagra für alle Herz-Kreislauf-Patienten gefährlich ist, nur selten der Fall.
3. Die Nebenwirkungen müssen erträglich sein. Zum Glück lassen oft die Nebenwirkungen nach mehrmaliger Einnahme nach.
4. „Mann“ hat sich über die Voraussetzungen für die Wirkung dieser Medikamente informiert. Bei der Einnahme kann man einige Fehler machen: zu kurze Zeit zwischen Einnahme und Beginn der sexuellen Aktivität, ein vorangegangenes fettreiches Essen (nur bei Viagra und Levitra), fehlende oder unzureichende sexuelle Stimulierung, zu geringe Dosis. Oft führen auch die ersten Versuchen zu keinem Erfolg, weil die ersten Tests auch viel Stress und Angst erzeugen können.
5. Die Partnerin muss damit einverstanden sein, was längst nicht immer der Fall ist. Der heimliche Einsatz dieser Mittel ist besonders konfliktträchtig: er wird irgendwann einmal auffliegen und dann mit Recht von der Partnerin als Vertrauensbruch aufgefasst.
6. „Mann“ kann sich diese Medikamente auch finanziell leisten

Für alle Männer, für die Viagra und Co. nicht in Frage kommen, gibt es aber auch noch andere Möglichkeiten. Manchmal ist die Einnahme von Viagra auch mit der Hoffnung verbunden, dass damit die Beziehung wieder aufblüht. Das ist in aller Regel ein Trugschluss, ein Medikament kann keine Beziehung beleben.

Günther Steinmetz
Selbsthilfegruppe Erektile Dysfunktion (Impotenz)

 


 

 

 

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Rezensionen

Rezension Jens Förster: Kleine Einführung in das Schubladendenken

HanfBlatt Nr. 113, März 2008

Schubladendenken

Mädchen rechnen schlechter als Jungen und Blondinen sind blöd. Das sind reine Vorurteile, aber sie wirken seit Jahren. Der Sozialpsychologe Jens Förster hat untersucht, wie solche Vorurteile unser Leben beeinflussen. Das Buch ist eine kleine Sensation: Anekdoten mischen sich mit wissenschaftlichen Fakten, Witze leiten über zu komplexen Analysen. Jeder kann sich angesprochen und ertappt fühlen. Das allzu menschliche wird gefeiert, beweint, auseinander genommen und wieder zusammengesetzt. Gleichzeitig kommt Förster nie oberlehrerhaft daher, vielmehr stellt er sich dem Leser – ausweislich seiner Biografie, beispielsweise singt der Professor nebenbei am Weimarer Nationaltheater – als gänzlich unprätentiösen Zeitgenossen an die Seite.
Vorurteile sind ein so umfassendes Phänomen, dass sie irgendeinen Sinn haben müssen. Förster fasst die Forschung zusammen und sagt: ohne Vorurteile können wir die Welt gar nicht erfassen und wir könnten uns selbst nicht als Mensch definieren. Warum? Weil wir die Welt sekundenschnell begreifen müssen, dabei helfen uns grobe Kategorisierungen. Ein Schwuler? Der hat Geschmack!

„Ein Vorurteil ist ein Urteil auf Grund einer vorgefertigten Einstellung gegenüber Mitgliedern einer Gruppe, die man nicht genügend kennt“, definiert Förster. Derartige Schubladen erlauben es, sich von bestimmten Gruppen abzugrenzen und damit eine eigene Identität zu entwickeln. Die Kehrseite der Medaille: Vorurteile begünstigen diskriminierendes Verhalten und neigen dazu, sich selbst zu bestätigen. Wenn beispielsweise Lehrer vorab die Information erhalten, dass Dieter klug und Elke dumm ist, wird Dieter plötzlich zu einem guten Schüler und Dieter bekommt schlechtere Noten – auch wenn es eigentlich Elke ist, die mehr auf dem Kasten hat. Fazit: Trotz der vielen Alltagsbezüge und munteren Sprache kein Buch, das man in einem Rutsch begreift. Aber die Mühe des zweimaligen Lesens lohnt sich.

Jens Förster: Kleine Einführung in das Schubladendenken. Über Nutzen und Nachteil des Vorurteils.
Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
2. Auflage, München 2007, DVA
ISBN-10: 3421042543
EUR 16,95

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Rezensionen

Thomas L. Friedman will beschreiben, wie sich der Westen auf die Globalisierung einstellen muss

Achtung, Flachland!

Thomas L. Friedman will beschreiben, wie sich der Westen auf die Globalisierung einstellen muss

Über ein Jahr lang stand ein Werk von Thomas L. Friedman auf der Bestsellerliste der New York Times, es wurde in 25 Sprachen übersetzt, jetzt ist es auf deutsch erschienen: „Die Welt ist flach. Eine kurze Geschichte des 21. Jahrhunderts.“ Die These: Durch die Kommunikationstechnologien ist die Welt eine Scheibe geworden, auf der heute jeder Mensch und jedes Unternehmen zu gleichen Bedingungen agieren kann. Die Frage sei nur, wer preiswerter ist. Friedman unterfüttert seine Beobachtung von der Einebnung der Weltwirtschaft mit zahlreichen Beispielen und Anekdoten, allesamt flüssig zu lesen, ein Plauderton durchzieht das Werk.

Für eine ganze Reihe von in diesem Jahr veröffentlichten Büchern ist die Rezeptvorlage folgende: Zunächst etwas Globalisierungsgemüse in ungeklärter Effektbutter anschwitzen, dann mit 20 Seiten Expertenbrühe anreichern. In diesem Saft das gut abgehangene Wesen eines menschlichen Individuums bei lauer Temperatur auf seinen ökonomische Zusammenhänge reduzieren. Schon während des Kochens kräftig mit Prozessorkraftbrühe und Internetkraut würzen. Zum Abschluss einen Viertelliter Bildungsreformsahne zugeben und möglichst heiß servieren.

Sein Ruf als Kolumnist der New York Times und Pulitzer-Preisträger öffnete Friedman Türen zu Bill Gates, Colin Powell, Google, Wal-Mart, der japanischen DoCoMo und indischen Callcentern, die Anrufe aus den USA abarbeiten. Friedmans Mentor ist der indische Software-Millionär Nandan Nilekani, Infosys, der seit Jahren darauf hinweist, dass eine Revolution läuft, von der die Europäer nichts merken.

Denn tatsächlich: Alle Dienstleistungen, die nicht an einen Raum gebunden sind und online verschickt werden können, lassen sich überall auf der Welt ausführen. Englische Steuererklärungen werden so immer öfter in Bangalore, fMRI-Aufnahmen in Bombay analysiert. Indien und China sind in dieser Hinsicht die großen Herausforderungen für die USA und Europa. Seit Mitte der 90er Jahre stehen, zählt man die geöffneten lateinamerikanischen Märkte dazu, nicht nur 3 Milliarden neue Konsumenten, sondern auch 1,5 Milliarden arbeitswillige und teilweise hochqualifizierte Arbeitskräfte auf dem Weltmarkt.

Das alles ist so neu nicht und auch der notorische Optimismus der Autoren jenseits des Atlantiks ist bekannt. So wurde Friedman schon als „Cheerleader der Globalisierung“ bezeichnet. Interessanter ist das gewagte Manöver, das er, ausgehend von seinen vielfältigen Beobachtungen in allen Teilen der Welt (sieht man mal vom afrikanischen Kontinent ab), vollführt, um zu einer These zu gelangen, die höchst umstritten ist: Der Globalisierung ist mit Optimismus zu begegnen, denn sie bringt Wachstum, persönliche Freiheit, sie überwindet Armut und Krieg.

Wer von Globalisierung spricht, so viel sollte auch Friedman klar sein, ohne religiöse Phänomene und aufkeimenden Nationalismus zu erwähnen, der hat das Thema verfehlt. Interessanter als die Litaneien vom Ende des Sozialstaats wäre es, wenn Friedman das Konfliktpotential zumindest erwähnen würden, das im Aufstieg von China und Indien zu Großmächten des 21. Jahrhunderts liegt. Vielleicht wird die Welt flacher, aber wird sie damit automatisch friedlicher?

Aber Friedman ergeht sich lieber im Voraussagen einer rosigen Zukunft: „Wenn Indien und China sich weiterhin in Richtung freie Marktwirtschaft bewegen, wird die Welt nicht nur flacher, sondern meiner Überzeugung nach auch wohlhabender werden denn je.“

Die Kur für den maladen Westen hat Friedman ebenfalls parat: Zum einen muss „horizontales Denken“ geübt werden, was nichts anderes als die Wiederaufnahme des Slogans von den „flachen Hierarchien“ ist. So beginnt er auf S. 261: „Angenommen, ich bin als General im Irak eingesetzt und wünsche mir bessere Echtzeit-Aufklärung über Kampfvorgänge.“ Friedman hat keine Berührungsängste und legt den Militärs horizontal geeichte Handlungsoptionen zu Drohnensteuerung ans Herz.
Zum anderen müsse die Jugend durch bessere Bildung fit für den Kampf um globale Marktanteile gemacht werden. Anders formuliert: Sie muss sich stromlinienförmig in die Wertschöpfungskette einreihen.

Nur selten schimmert in dem Buch eine Idee vom Leben abseits ökonomischer Zwänge durch, beispielsweise, wenn er den ehemaligen IBM-Mitarbeiter John Swainson zitiert, der den Kontakt zur Open-Source Gruppe herstellte, die in den 90er Jahren den Apache Web-Server entwickelten. „An Geld waren die Leute von Apache nicht interessiert“, wunderte sich Swainson, „sie wollten den bestmöglichen Beitrag zu ihrem Projekt“.

Friedman hält sich lieber an Bill Gates, den er ein paar Seiten später zitiert: „Eine Bewegung, die den Standpunkt vertritt, Innovationen sollten keinen ökonomischen Gewinn abwerfen dürfen, steht im Widerspruch zur Entwicklung der Welt.“ Friedman umgeht durch das Buch hinweg die Beantwortung der Anschlussfrage: Von welcher Welt reden wir? Eine Antwort kann sein: Es ist eine Welt des Fressen oder gefressen werden.

Das alles soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Friedmans Beschreibung globaler Wirtschaftsphänomene wichtige Ansatzpunkte für die Diskussion liefert, wohin die Globalisierung führen kann. Bislang aber, und das will Friedman nicht sehen, sind vor allem die global agierenden Konzerne die Gewinner dieses Spiels mit Umweltressourcen und Arbeitskräften. Dass die sogenannten Entwicklungsländer über die Globalisierung am Reichtum des Westens partizipieren ist richtig. Die offene Frage ist aber, ob durch Globalisierung nicht nur der Wunsch, sondern auch die Möglichkeit einer gerechteren Verteilung von Reichtum entsteht.

Thomas L. Friedman: Die Welt ist flach
Eine kurze Geschichte des 21. Jahrhunderts
720 Seiten, Gebunden
Suhrkamp Verlag
Euro 26,80

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Drogenpolitik Interviews Interviews Psychoaktive Substanzen

Interview mit Hans Cousto von Eve & Rave

 

HanfBlatt

TECHNO, TANZEN, TÖRNEN, FICKEN – WEGBEREITER DER EKSTASE

Ein Interview mit dem Mathematiker, Musiker („Die kosmische Oktave“) und vor allem Eve & Rave-Urgestein Hans Cousto

Hanfblatt: Seit wann gibt es Eve&Rave?

Hans Cousto:  Im Sommer 1994 entwickelten ein paar Raver in Berlin die

Idee von Eve & Rave. Auf wöchentlichen Treffen wurde das Konzept

entwickelt. Am 27. September 1994 wurde das Konzept und die

„Party-Drogen-Broschüre – Safer Use“ im Rahmen einer Pressekonferenz im

E-Werk in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt. Am 12. Oktober 1994

wurde der Verein Eve & Rave zur Förderung der Party- und Technokultur

und zur Minderung der Drogenproblematik offiziell gegründet.

 

Hanfblatt: Wie finanziert sich der Verein?

 

Hans Cousto:  Vor allem sind zwei Einnahmequellen zur Finanzierung der

Arbeit von Eve & Rave zu nennen: Beiträge der Mitglieder (Schüler und

Studenten DM 5.- pro Monat. Erwerbstätige DM 10.- pro Monat) und

Spenden (Eve & Rave Verein, Kto. Nr. 5809907009, Berliner Volksbank,

BLZ 10090000). Die Arbeit der Mitglieder von Eve & Rave Berlin ist nach wie

vor ausschliesslich ehrenamtlich. Dies gilt auch, von ganz wenigen

Ausnahmen abgesehen, für alle Eve & Rave Vereine.

 

Hanfblatt: Was kann man bei Eve&Rave machen?

 

Hans Cousto:  Die Augabenbereiche sind vielfältig. Das Organisieren,

Aufbauen und Betreuen von Informationsständen an Parties wie auch das

Planen und Durchführen von Fortbildungskursen für Mitarbeiter und

Szenemultiplikatoren sind zentrale Aufgabenbereiche bei Eve & Rave.

Hinzu kommt das Erstellen von Informationsmaterialien, die Gestaltung

von Internetseiten, die Bearbeitung der Post und E-mails und das

Veranstalten von Parties.

 

Hanfblatt: Und seit wann bist du dabei?

 

Hans Cousto: Ich bin Gründungsmitglied von Eve & Rave.

 

Hanfblatt: Wie bist du als menschliches Wesen Hans Cousto dazu gekommen, dich

ausgerechnet drogenpolitisch zu engagieren, in den trüben Ozean der

Drogenpolitik zu tauchen, und dann auch noch von der Seite aus, die die

Verhältnisse nicht gerade im Sinne der herrschenden Meinung betrachtet, und

von daher mit staatlichen finanziellen Segnungen zu rechnen hätte?

 

Hans Cousto: Prinzipell: Ob ich Haschisch rauche oder nicht, ob ich Zauberpilze esse

oder nicht oder ob ich LSD geniesse oder nicht, diese

Entscheidung will ich frei nach eigener Überzeung treffen. Diese

Entscheidung betrifft nur mich. Sie betrifft grundsätzlich keinen

anderen Menschen. Diese Entscheidung treffe ich für mich nach

individual-ethischen Prinzipien auf Grund meiner Erfahrungen und

Erkenntnisse betreffend der Wirkungsweise dieser Substanzen.

Das Recht ist die verbindliche Ordnung des Verhaltens,

das der Einzelne gegenüber anderen äussert. Das Recht reguliert

menschliche Beziehungen. Mein Drogenkonsum betrifft nur mich.

Nur ein Verhalten, das die Rechtsgüter anderer Menschen oder einer ganzen Gruppe unmittelbar

beeinträchtigen könnte, kann strafwürdig sein.

Nur solange sich das im Gesetz verankerte Recht, insbesondere das Strafrecht,

auf die Regelung menschlicher Beziehungen nach Massgabe sozial-ethischer

Prinzipien beschränkt und nicht, wie das beim Betäubungsmittelgesetz der Fall ist,

die Gebote der individuellen Sphäre oder gar der individual-ethischen

Grundprinzipen tangiert, ist gewährleistet, dass die

praktizierte Gesetzestreue nicht unwürdig entartet, wie das Wüten des

Strafrechts in totalitären Staaten (der Stalinismus in der Sowjetunion,

der Volksgerichtshof im III. Reich, u.s.w.) oder das Wirken der Inquisition

der römisch-katholischen Kirche (Hexenverbrennungen, Bücherverbrennungen).

Also, erstens bin ich nicht bereit, die durch das heutige

Betäubungsmittelgesetz bedingten freiheitlichen Einschränkungen

individueller Lebensgestaltung zu tolerieren oder gar zu akzeptieren,

und zweitens sehe ich die freiheitlich-demokratische Grundordnung durch

das Betäubungsmittelgesetz gefährdet. Darum setze ich mich politisch für

eine grundlegende Änderung dieses Gesetzes ein.

Generell: Das Betäubungsmittelgesetz gibt vor, die individuelle als auch

die öffentliche Gesundheit zu schützen, wirkt sich aber in der Realität

als gesundheitsschädigend aus. Bezugnehmend auf das

Betäubungsmittelgesetz wurde z.B. bis in die 90er Jahre hinein die

Abgabe von sterilen Spritzen an Fixer be- und verhindert. Dies

begünstigte nicht nur den Gebrauch bereits verwendeter Spritzen, sondern

nötigte die Fixer zum gemeinsamen Gebrauch ihrer Sprtzen. Dadurch haben

sich Tausende mit HIV infiziert, sind Tausende an AIDS erkrankt und

Tausende in jungen Jahren verstorben.

Bezugnehmend auf das Betäubungsmittelgesetz wurde z.B. auch in vielen

Städten die Einrichtung von Fixerstuben verhindert, obwohl seit langem

bekannt ist, dass die Überlebenschancen nach einer Überdosierung in

einer Fixerstube bei weitem grösser sind als in einer Privatwohnung. In

Deutschland geschehen 70% der Todesfälle, zumeist durch eine

Atemdepression bedingt, in Wohnungen, dem gegenüber ist weder in

Deutschland noch in der Schweiz jemand nach einer Überdosierung in

einer Fixerstube verstorben, da dort beim Auftreten einer Atemdepression

rechtzeitig Hilfe geleistet werden kann. Auch hier haben die

drogenpolitischen Hardliner Menschenleben auf dem Gewissen.

Heute wird z.B. in Deutschland das Drug-Checking, die chemische Analyse

von auf dem Schwarzmarkt erhältlichen Drogen und die Veröffentlichung der

Testergebnisse, be- und verhindert, was die Vergiftungsgefahr von

Drogenkonsumenten erhöht. Allein diese drei Beispiele offenbaren

deutlich, dass das Betäubungsmittelgesetz von der Grundstruktur her

nicht geeignet ist, die individuelle als auch die öffentliche

Gesundheit zu schützen. Deshalb ist das Grundkonzept der

Betäubungsmittelpolitik zu überdenken und neu zu strukturieren.

Zum letzten Punkt betreffend der finanziellen staatlichen Segnungen sei

hier angemerkt, dass ich etliche Drogenberater, die ihren Lohn

von staatlichen Institutionen beziehen, kenne, die leider aus Angst ihren

Arbeitsplatz zu verlieren, nicht sagen was sie denken oder was ihrer

Erfahrung und Überzeugung entspricht, sondern sich in

selbstverräterischer Weise zu opportunistischen Formulierungen verleiten

lassen. Nicht zuletzt trübt eben dieser Opportunismus den Ozean der

Drogenpolitik!

 

 

Hanfblatt: Eve & Rave war ein Phänomen früher Technopartystunden, sozusagen der

intellektuelle Extrakt des Technofeierspirits zum Verein gefasst, die

Botschaft: Friede, Freude, Pillentesten (Drug-Checking). Du als Veteran der

Bewegung kannst sicher auf eine bewegte Vergangenheit zurückblicken. Wie hat

sich die Technoszene und ihr Genussmittelgenuss über die Jahre gewandelt und

wie veränderte sich Eve & Rave?

 

Hans Cousto: Vorweg: Ich gehe immer noch gerne feiern, liebe es nach wie vor

nächtelang zu tanzen und dabei mit anderen die ekstatischen Gefühle der

Lebenslust zu geniessen. Dies gelingt mir vor allem in kleineren Klubs,

die eher der alternativen Szene zuzurechnen sind, da sich hier auch

heute noch häufig Partyfamilies mit einer ausgeprägt reifen Partykultur

treffen. In grossen komerziellen Klubs – ich denke, dies gilt nicht nur für

Berlin – kann es einem jedoch leicht passieren, dass man zwischen

Tausenden von sich modisch präsentierenden Schaulustigen und TänzerInnen

so wenig wahrgenommen wird, dass man nicht selten auf dem Dancefloor

angerempelt wird und so auf äusserst unangenehme Weise aus der Ekstase

herausgerissen wird. Die merkantilistische Vereinnahmung grosser Teile

der Technoszene hat einen unübersehbaren kulturellen Flurschaden

hinterlassen, so dass viellerorts die Voraussetzungen für echtes

Partyfeiern nicht mehr gegeben sind, ja vielerorts ist die Kunst des

gemeinsamen Geniessens erschreckend schnell verwelkt und verdorrt.

Der Gebrauch psychoaktiver Genussmittel entwickelt sich von Szene zu

Szene sehr unterschiedlich. In bestimmten Kreisen wird sehr bewusst mit

den psychedelischen, die Seele erhellenden und ästhetischen, die

Sinneswahrnehmung betreffenden Wirkungen verschiedener Pflanzen und

synthetischer Substanzen experimentiert. Hier trifft man oft auf Leute,

die in subtiler Weise unterschiedliche psychoaktive Substanzen

miteinander kombinieren, so dass ein ausgewogenes Wirkungsprofil zur

Entfaltung kommen kann und die Genussfähigkeit beflügelt wird. In

anderen Kreisen hingegen werden vor allem die Drogen konsumiert, die in

den Massenmedien unter reisserischen Überschriften hochstilisiert

werden. Ecstasy – weil es einfach gemäss Medien dazugehört – und viel

Speed, Amphetamin, zum Durchhalten, in letzter Zeit auch immer mehr

Methamphetamin, da auf Grund der Gewöhnung normaler Speed kaum noch eine

Wirkung hervorrufen kann. Für das Ego werden dann noch ein paar Nasen

Kokain reingezogen, und da man auf Dauer ein solches Übermass an

Aufputschmitteln nicht mit Genuss aushalten kann, wird der entstandene

Frust mit reichlich Alkohol ertränkt. Auf dieses Gebrauchsmuster trifft

man vor allem in kommerziellen Klubs, wo die Schönlinge aus der

sogenannten „High Society“ sowie jene, die den Schein erwecken wollen,

sie gehörten auch dazu, verkehren.

Um der Verwahrlosung der Genusskultur bezüglich Drogen und Rausch in

gewissen Kreisen entgegenzuwirken, wäre es sinnvoll, in Schulen das Fach

Drogen- und Rauschkunde einzuführen. Hier sollte nicht nur ein

theoretischer Unterricht anvisiert werden, sondern auch den jungen

Menschen die Möglichkeit geboten werden, im Rahmen von professionell

geführten praktischen Übungen eigene Erfahrungen zu sammeln. Ein solcher

Unterricht wäre sicherlich für viele Menschen ein wertvoller Beitrag zum

Erlernen einer kompetenten Drogenmündigkeit. Da jedoch das

Betäubungsmittelgesetz in der heute rechtskräftigen Fassung einen

derartigen praktischen Unterricht verbietet, ist eine Änderung dieses

Gesetzes eine unabdingbare Notwendigkeit, um der Verwahrlosung der

Drogenkultur entgegenzuwirken.

Die Verbotspolitik vermochte weder die Verfügbarkeit bestimmter

Substanzen noch die Nachfrage nach denselben einzudämmen. Einige

Untersuchungen zeigten sogar, dass eine verstärkte Repressionspolitik

eine beschleunigte Verbreitung des Drogenkonsums nach sich zog. So haben

z.B. in der welschen Schweiz mehr Jugendliche und junge Erwachsene

Erfahrungen mit illegalisierten Drogen als in der deutschsprachigen

Schweiz, obwohl oder vielleicht gerade weil in der welschen Schweiz der

polizeiliche Verfolgungsdruck auf Drogenkonsumenten wesentlich grösser

ist als in der deutschsprachigen Schweiz.

Nun zu Eve & Rave: Nebst Förderung der Techno- und Partykultur sind

Aufklärung und Informationsvermittlung nach wie vor Leitmotiv der

Tätigkeit der Eve & Rave Vereine. Früher konzentrierte sich das

Betätigungsfeld hierfür vor allem auf Informationsstände an Parties,

heute gewinnt das Internet immer mehr an Gewicht in diesem Bereich.

Mehrere Eve & Rave Vereine betreuen eine Homepage, wobei die

Schwerpunkte der Inhalte sich unterschiedlich entwickelten. Eve & Rave

Schweiz konzentriert sich vor allem auf Drug-Checking (in der Schweiz

völlig legal) und Substanzinformationen (http://www.eve-rave.ch), Eve &

Rave Münster auf „safer use“ und Szeneinformationen

(http://www.eve-rave.de), Eve & Rave Berlin auf Technokultur,

Drogenrecht und Drogenpolitik (http://www.eve-rave.net). In Kassel

konzentriert man sich nach wie vor auf die vor Ort Arbeit in Klubs, die

Homepage von Eve & Rave Kassel ist im Aufbau (http://www.eve-rave.org).

Die Kölner sind noch nicht im Netz, dafür noch immer auf Parties

präsent. Das kulturelle und drogenpolitische Engagement wird durch die Vernetzung

mit anderen Vereinen wie Eclipse e.V Berlin und Projekten wie

Drug-Scouts in Leipzig, Alice in Frankfurt am Main oder dem

Party-Projekt in Bremen im bundesweit tätigen Sonics Netzwerk

koordiniert.

 

Hanfblatt: Siehst du Chancen, dass legales Drug-Checking einmal so selbstverständlich

werden wird wie Kiffen, Spritzentausch, Oktoberfest und Koksen auf dem

Reichstagsklo? Wohin wird und will sich Eve & Rave bewegen?

 

Hans Cousto: In den Niederlanden ist Drug-Checking schon lange so selbstverständlich

wie Spritzentausch. In der Schweiz hat ausser Eve & Rave auch die

Stiftung Contact in Bern mit dem Project-e (Drug-Checking an Parties mit

mobilen Labor vor Ort) positive Erfahrungen gemacht. In Österreich führt

der Verein Wiener Sozialprojekte mit dem Projekt Check-it mit grossem

Erfolg ebenfalls seit Jahren chemische Analysen von Partydrogen vor Ort

an Parties durch. Die Testresultate werden im Internet dokumentiert

(http://www.checkyourdrugs.at). Auch in Belgien ist ein grosses

Drug-Checking-Programm im Aufbau. Auf Dauer wird sich auch Deutschland

trotz seiner vornehmlich repressiv-konservativ ausgelegten Drogenpolitik

nicht mehr gegen vernünftige Lösungsansätze zur Schadensminimierung im

Umfeld der Drogenkonsumenten verschliessen können. Zum Leidwesen der

Betroffenen kommt in Deutschland die Einsicht des Gesetzgebers bezüglich

der Notwendigkeit einer Legalisierung vernünftiger Massnahmen in der

Drogenpolitik oft reichlich spät. Die Spritzenabgabe wurde erst 1992 und

die Fixerstuben erst 2000 legalisiert!

 

Hanfblatt: Was ist das Geheimnis von MDMA? Warum wird es allen Unkenrufen und

Horrormeldungen zum Trotz immer noch beliebter?

 

Hans Cousto: MDMA verstärkt das Auftreten wie auch das Empfinden von Gefühlen. Die

eigenen inneren Gefühle werden angeregt und stärker wahrgenommen. Darum

bezeichnet man MDMA auch als Entaktogen von griechisch en gleich innen und gen gleich

erzeugen und lateinisch tacto, ich fühle, ich empfinde. Des weiteren wird die

Wahrnehmung der Gefühle anderer Menschen ebenfalls angeregt. Darum

bezeichnet man MDMA auch als empathische Droge. In einer gefühlsarmen

rein leistungsorientierten Gesellschaft ist das Bedürfnis nach einer

Gefühlsdroge gross.

 

Hanfblatt: Gibt es neue psychedelische Highlights bei den JüngerInnen der Tanzkultur,

auf die man sich schon mal geistig-moralisch vorbereiten sollte?

 

Hans Cousto: Biogene Substanzen, also pflanzliche Stoffe, werden nicht nur in der

Technoszene immer beliebter. Der Garten der Natur ist reichhaltig und

vielfältig. Vor allem Zauberpilze, aber auch Ayahuasca, ein

Pflanzentrunk mit den Wirkstoffen Harmalin und DMT, werden heute von

weit mehr Leuten als psychoaktive Stimulans geschätz als dies vor ein

paar Jahren der Fall war. Zauberpilze und Ayahuasca wurden von Schamanen seit

alters her bei rituellen Zeremonien eingesetzt. Somit kann man hier auf eine lange

Tradition aufbauen, die es zu pflegen gilt und auf einen grossen

Erfahrungsschatz zurückgreifen, den es zu vermitteln gilt.

 

Hanfblatt: Wie geht man am besten an psychoaktive Substanzen heran, ein kurzer,

knackiger Tip vom Fachmann?

 

Hans Cousto: Erst informieren, dann konsumieren. Neue Substanzen nie alleine nehmen,

sondern nur in Begleitung von einem oder mehreren Menschen, zu denen man Vertrauen hat

und die bereits Erfahrungen mit dieser Substanz haben. Vor

dem Mischkonsum sollte man auf jeden Fall erst die Wirkungsweise der

einzelnen Substanzen gut kennen lernen.

 

Hanfblatt: Schon fast seit Anbeginn der Technobewegung wird behauptet,

Techno sei eigentlich schon lange tot. Wann ist Techno tot und was kommt

dann?

 

Hans Cousto: Derzeit ist Techno eine gelebte Kultur – und das geniesse ich. Ich kann

weder den „Tod“ von Techno voraussehen, noch kann ich sagen was danach

kommen wird.

 

Hanfblatt: Was haben Sex und Drogen und Tanzmusik miteinander am Hut?

Hat das was mit Leitkultur zu tun?

 

Hans Cousto: Ein Mantra ist ursprünglich eine magische Formel der Inder, die als

wirkungskräftig geltender Spruch durch ständige Wiederholung Erlösung

herbeiführt. Der englische Punk-Musiker Ian Dury setzte mit seinem Song

„Sex and Drugs and Rock’n’Roll“ ein ausgeprägt rhythmisch betontes

Mantra in die Welt, wobei er durch die stetige Wiederholung der Worte

„Sex and Drugs and Rock’n’Roll“ in einer eingängigen Melodie eine

magische Wirkung bewirkte, die so manchem neue Dimensionen des Glücks

ebnete. Über Jahre hinweg erinnerte ich mich immer wieder an diesen Song

und er ging mir oft minutenlang durch den Kopf. Im Wandel der

kulturellen Vorlieben prägte sich mir wie aus dem Nichts auf dem

Dancefloor ein neues Mantra ein, das im 4/4-Takt simultan zu Technomusik

über Stunden durch den Kopf kreisen kann:

Techno, Tanzen, Törnen, Ficken – Wegbereiter der Ekstase!

 

az

 

 

Lesetips:

H. Cousto: „Techno – Eine neue Kultur mit alten Traditionen. Vom Urkult

zur Kultur – Drogen und Techno“

2. erweiterte Fassung, Berlin 2000 (im Netz bei http://www.eve-rave.net)

1. Aufl., Nachtschatten Verlag, Solothurn 1995; ISBN 3-907080-10-6

H. Cousto: „Drug-Checking – Qualitative und quantitative Kontrolle von Ecstasy und anderen Substanzen“

Nachtschatten Verlag, Solothurn 1997; ISBN 3-907080-23-8

 

 

Adressen von Eve & Rave:

Berlin: Eve & Rave e.V. Berlin, Postfach 450519, D-12005 Berlin

(http://www.eve-rave.net)

Kassel: Eve & Rave e.V. Kassel c/o Beate Marx, Gottschalkstr. 31,

D-34127 Kassel

(http://www.eve-rave.org)

Köln: Eve & Rave NRW e.V. c/o Ralf Wischnewski, Postfach 250349, D-50519

Köln

Münster: Eve & Rave Münster, Schorlemerstr. 8, D-48143

(http://www.eve-rave.de)

Eve & Rave Schweiz, Kronengasse 11, Postfach 140, CH-4502 Solothurn

(http://www.eve-rave.ch)

 

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Mixed

Gastronomie-Tipp: Favorit Bar

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DIE WELT Kompakt Sanfte Anarchie Es wirkt, als ob die engagierten Maler vorzeitig das Weite suchten, weil sie nicht bezahlt wurden. Kein bemühter Chic, kein Kahnsinn, dafür Plaste&Elaste-Module, die eine Körperhaltung zwischen Sitzen und Liegen erzwingen. Egal, es gibt Knackig-kaltes Bier (und auch nicht viel mehr). Wochentags ist es mit einem Hauch Atelier-Atmosphäre sehr gediegen, am Wochenende palavert die gedrängte Menge oft noch lauter als die Musik spielt. Es ist dieser leichte Duft von Anarchie, der die Favoritbar zu einer Erscheinung im Münchener Nachtleben macht.

Wenn es auch anders aussieht, der Abriss steht nicht bevor. Das freut, denn hier ist das wohl angenehmste Asyl für alle Verweigerer von blonden Haarsträhnen und Arschgeweihen.
Leider drückt der Türsteher neuerdings sein Ego in den sanften Flow von Kommen und Gehen, aber das ist wohl nur eine Manöverübung für die Wiesn. Oder hat man etwa selbst hier noch nichts von „Selbstorganisation“ gehört?

Das musikalische Konzept jedenfalls ist traumsicher: Verwegene DJs pendeln zwischen 60er Garage-Punk und lecker Electro. Verlassen kann man sich dabei auf gar Nichts, aber es ist ja auch Feierabend.

 

Favoritbar
Damenstiftstraße 12
80331 München
Mo-So, 20.30 bis 2.00 h

 


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Rezensionen

Rezension Henrik Jungaberle/Peter Gasser/Jan Weinhold/Rolf Verres (Hrsg.) „Therapie mit psychoaktiven Substanzen. Praxis und Kritik der Psychotherapie mit LSD, Psilocybin und MDMA.

HanfBlatt Nr. 122

Psycholytische Therapie

Der Weg an die Pfründe von Staats-, Kranken- und Rentenkassen erfordert bürokratisches Engagement, einen Anstrich von wissenschaftlicher Seriosität, eine scheinbare Objektivierbarkeit der Ergebnisse mit dem zumindest langfristigen Versprechen relativer Kostenersparnis für den Kostenträger und die Bereitschaft zu Dokumentation nach internationalen Standards und bevormundender Kontrolle durch die Behörden.

Da hört für Viele der Spaß bereits auf. Dennoch ist es zahlreichen Therapeuten hierzulande (notgedrungen) gelungen unter dem Deckmantel „Psychotherapie“ ihre Finanzierung zu gewährleisten und auch irrationale und in ihrer Wirksamkeit durchaus fragwürdige Vorgehensweisen, Methoden und Richtungen (unter der Hand) beizubehalten, wenn nur vor den Behörden der Rahmen des Anerkannten und die Berichterstattung stimmen. Bei schwerwiegenden psychischen Krisen gilt ohnehin die psychiatrische Behandlung mit ärztlich verschriebenen Psychopharmaka als Lösung erster Wahl.

Bei der Psychotherapie mit Hilfe psychoaktiver Substanzen vom Typ des LSD/Psilocybin (der klassischen Psychedelika) und des MDMA (der Empathogene) tut man sich auf Grund deren Gebrauchsgeschichte besonders schwer. In Folge der Hippiewelle mit ihrer Fetischisierung des Psychedelika-Gebrauchs in den Sechzigern wurden diese weltweit geächtet und einer Prohibition unterworfen, die ihre wissenschaftliche Erforschung und therapeutische Nutzung erschwerte bis verunmöglichte. Ähnlich erging es den Empathogenen mit dem archetypischen MDMA, das als „Partydroge Ecstasy“ in den Achtzigern Furore machte.

Historisch gesehen, ist der Einsatz der Psychedelika durchaus kritisch zu betrachten: Sie wurden über die Jahrtausende sowohl im Rahmen heilender schamanischer Rituale und von Initiationsriten, wie auch profanisiert im Alltag und selbst bei Menschenopfern eingesetzt. Die moderne medizinische Wissenschaft interessierte sich für sie zunächst als Hilfsmittel zur Simulation und zum besseren Verständnis von Geisteskrankheiten, sowie zur Erforschung psychischer Prozesse, auf der Seite von KZ-Ärzten, Militärs und Geheimdiensten als Wahrheitsseren, Folterinstrumente und Psychokampfstoffe. Erst in den Fünfziger Jahren begann man den therapeutischen Nutzen von durch sie induzierten grenzüberschreitenden spirituellen Erfahrungen und des intensivierten Zugangs zum Unbewussten zu erkennen und systematisch zu untersuchen. Die ersten Ergebnisse waren durchaus vielversprechend. Dann kam die Forschung durch die Prohibition in Folge massenhaften unkontrollierten Gebrauchs abrupt zum Erliegen. Substanzunterstützte Therapieansätze wurden in den Untergrund gedrängt.

In der Schweiz war es von 1988 bis 1993 einer kleinen Gruppe psychiatrisch und psychotherapeutisch ausgebildeter Ärzte (im Rahmen der Schweizerischen Ärztegesellschaft für Psycholytische Therapie = SÄPT) erneut möglich, Substanz-unterstützte Psychotherapie, wie sie es nannten, vor allem mit MDMA und LSD zu leisten. Der vorliegende Band ist Output dieser Arbeit.

Wie schon in den Sechzigern beobachtet, scheint es auf Seiten der Therapeuten einen gewissen Ausflippfaktor in Richtung Guruismus zu geben. Die Intensität und vermeintliche Wahrhaftigkeit eigener Erfahrungen und die Suggestibilität für Interpretationen, die Manipulationswilligkeit und Verschmelzungswünsche auf Klientenseite scheinen dies zu begünstigen. Auch einer der Schweizer Therapeuten (Samuel Widmer) wandelte ab auf den esoterischen Pfad und gründete seine eigene Psychosekte. Dass er in seinen Büchern auch noch das Inzesttabu thematisierte, liess Kritiker aufhorchen. Vereinzelte Todesfälle in Folge unvorhergesehener Drogenwirkungen im Rahmen leichtfertig praktizierter „Psycholytischer Therapie“, wie zuletzt bei einem seiner Jünger im September 2009 in Berlin, sind nicht nur tragisch für die unmittelbar Betroffenen, sondern bringen die gesamten Anstrengungen, die gesundheitspolitischen Bedingungen zu schaffen, das mögliche Potential dieser Substanzen professionell zu nutzen öffentlich in Miskredit.

Was außerdem alte Psychedeliker ärgern mag: Obwohl die geistig-moralische Unterstützung für diese umstrittenen therapeutischen Hilfsmittel jahrzehntelang besonders aus eben diesen Althippie-Kreisen stammte, bemüht man sich derzeit (zumindest bei MAPS, Rick Doblins herausragend engagierter „Multidisciplinary Association of Psychedelic Studies“) um eine Distanzierung von dieser Szene und ihrer inoffiziellen Neigung zu selbstbestimmten Gebrauch unabhängig von der aktuellen Gesetzeslage. Man ist vor staatlichen Stellen auf Teufel komm raus und allen Unkenrufen zum Trotz um den Anschein von Seriosität bemüht und lockt mit dem Angebot einer schnell wirkenden preiswerten Instant-Therapie in ansonsten hoffnungslosen Fällen. So wundert es nicht, dass man kriegstraumatisierte US-amerikanische und israelische Soldaten als potentielles Klientel anpreist und sich über diese Schiene finanzielle Unterstützung, sowie wissenschaftliche und rechtliche Fortschritte verspricht.

In dem vorliegenden Werk jedenfalls kommen neben den Herausgebern eine ganze Reihe, der derzeit für die Erforschung der Substanz-unterstützten Psychotherapie wichtigen Personen zu Wort (Scharfetter, Vollenweider, Oehen, Hermle, Passie, Dürst, Mithoefer, Hämmig, Grob, Hess, Styk, Doblin, Davis und Grof). Es ist somit eine Fundgrube aktueller Kenntnisse und Ansichten und ein unverzichtbares Grundlagenwerk für jeden an dieser gegenwärtig unter kritischem Beschuss stehenden Therapierichtung Interessierten.

Henrik Jungaberle/Peter Gasser/Jan Weinhold/Rolf Verres (Hrsg.)
„Therapie mit psychoaktiven Substanzen.
Praxis und Kritik der Psychotherapie mit LSD, Psilocybin und MDMA.“
Verlag Hans Huber, Bern 2008
Kart., 422 S., 15 Abb., 27 Tab.
ISBN 978-3-456-84606-4
36,95 Euro/ 62,- SFr