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Lob der Übertragung. Die Kunstwerke der Ulrike Willenbrink

Für den Austellungskatalog „Werkknospen“, Hamburg 2003.

Lob der Übertragung Spannend wird es immer dann, wenn das Rätsel in einem Bild kein Denksport ist. Vor einem Bild von Ulrike Willenbrink stehen – dies strengt nicht den Kopf an, sondern lässt den inneren Ausguck rufen: „Land in Sicht!“. Alles weitere ist Schöpfung, anders gesagt, eine Geschichte, gebildet aus zwei Ideen, die sich finden. Es amalgieren das visuelle Gefühl der Künstlerin und der launig-deutende Plan des Betrachters. Was dabei rauskommt? Dichtung und eben auch ein Stück persönliche Wahrheit; wohlgemerkt eine Wahrheit, die man lächelnd ertragen kann.

Aber werden wir ruhig etwas konkreter. Am Anfang ist das gezeichnete Wort, gedruckt beispielsweise in einer orientalischen Zeitung, von Willenbrinck kaschiert auf Pappe. Diese Erzählung bildet den greifbaren Hintergrund, die haptische Basis vieler Bilder. Wer lustig ist, darf hier fragen: Sollte das Geheimnis des Werkes in diesem kalligraphischen Code aufbewahrt sein? Mitnichten, oder sagen wir lieber: nicht nur. Denn auf diese exotischen Buchstabensuppe folgt die Umwandlung der willenbrinkschen Umwelt: Gerüche, Pollen- oder Funkenflug, das Lächeln der Nachbarin – oft lässt sich auch eine geflügelte Tortenboden- Ornamentik auf dem Bild nieder. Ebene auf Ebene, Collage auf Collage, so erzählen Schichten die Geschichte, wobei die transparente Übermalung den Blick auf den Grund des Bildes frei hält.

Ein Titel muss nicht die inhaltsschwere Grundaussage eines Werkes repräsentieren. Im Gegenteil, die vermeintliche Tiefsinnigkeit einer Benennung ist oft nur Merkmal einer andauernden Krisenstimmung des Künstlers. Willenbrink geht anders vor: Sie malt, inspiriert beispielsweise von einer Reise nach China, und während der Gestaltung läuft ihr der Titel zu. Glaubt man den Aussagen der Künstlerin, muss sie dabei oft lachen. In der Folge verändert der gewonnene Titel die weitere Schöpfung des Werkes. So ist er für Willenbrink wie für die Rezipienten seltener Hilfestellung als vielmehr Schmunzelanleitung.

Ist eine Kaffeetasse komisch? Für Willenbrinck schon. Oder um es mal anders herum zu sagen: Wer das Leben ernst nimmt, dem seien diese Bilder als therapeutische Wärmflaschen ans Herz gelegt. Das uns umgebene „Leben unter der Woche“ wird hier im Detail aufgelöst und anschließend lächelnd gewendet, so für uns gedreht, dass die verschüttete Wunderlichkeit neu zu Tage tritt. So was nennt sich Ironie des Alltags.

Jörg Auf dem Hövel

 

 

WALDFEE

WALDFEE (Ulrike Willenbrink, 1999, Mischtechnik auf Papier 67 x 97 cm)

 

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Mixed Reisen

Nach dem unblutige Putsch in Thailand ist wieder einmal König Bhumibol gefragt. Wer ist dieser Mann?

telepolis, 20.09.2006

Der Monarch, das Militär, die Demokratie

Nach dem unblutige Putsch in Thailand ist wieder einmal König Bhumibol gefragt

Der eloquente Thaksin Shinawatra scherzte gerade mit den Diplomaten und Geschäftsleuten in New York, als ihn die Nachricht von seiner fristlosen Kündigung erreichte. Die Armeeführung hatte Thailands Ministerpräsidenten abgesetzt, gerade einmal zehn Panzer in Bangkok und ein paar königstreue Lieder im landeseigenen Armee-TV haben ausgereicht, um das seit Monaten andauernde Machtvakuum zu beenden. 15 Jahre lang hatte sich das Militär das demokratische Treiben im Land angeschaut, nun folgte der 20. Staatsstreich seit 1932.

Shinawatra hat sich nach London abgesetzt und wartet ab. Noch schweigt der Palast unter König Bhumibol, ihm wird aber bei der Re-Demokratisierung des Landes eine entscheidene Rolle zukommen. Ein „Rat für demokratische Reformen unter der Monarchie“ unter Generalleutnant Sonthi Boonyaratglin erklärte: „Wir haben nicht die Absicht zu regieren, sondern werden die Macht sobald wie möglich an das Volk zurückgeben, um den Frieden wiederherzustellen und die Ehre des Königs, dem Verehrtesten aller Thais.“

Das Berufen auf den König ist seit Jahrzehnten die Allzweckwaffe in Thailand, um sich der Unterstützung der Gesellschaft sicher zu sein und zugleich soziale Ruhe zu verordnen. Auch die aktuell putschenden Soldaten tragen gelbe Bändchen, um ihre Solidarität mit der Monarchie zu bekunden. Die in protestfreudigen Studenten Bangkoks wurden aufgefordert Demonstrationen zu unterlassen, sie sollten sich aber am „demokratischen Wiederaufbau des Landes“ beteiligen. Die Medien wurden aufgefordert „wahrheitsgemäßt und konstruktiv zu berichten, um die Einheit des Landes zu fördern“. Die Webseiten der großen Tageszeitungen Bangkok Post, The Nation sind erreichbar.

Obwohl Bhumibol Adulyadej der am längsten regierende Monarch der Erde ist, bleibt seine zentrale Funktion im politischen Systems Thailands seit Jahrzehnten unbeleuchtet. Der Journalist Paul M. Handley hat genauer hingesehen und legte vor kurzem die erste umfassende Biographie des Königs vor (Paul M. Handley: The King Never Smiles). In Thailand hat man bereits reagiert: Das Buch ist nicht zu erwerben, Teile der Website des Verlages sind gesperrt.

Wahrhaft neues aus dem politischen Intimbereich des Palastes deckt Handley nicht auf, seine Recherchen stützen sich auf akribische Auswertung von Sekundärliteratur und Print-Medien. Warum dann die Aufregung um das Buch? Es reicht aus, dass Handley ein zum Teil differenziertes, zum Teil skandalbemühtes Bild zeichnet: Ein König, der zwischen buddhistisch-thailändischer Tradition und Hightech-Moderne, dem starken Militär und der demokratischen Bewegung balanciert will. Dabei steht Bhumibols Handeln stets unter der Prämisse Einfluss auf die Prozesse im Land zu behalten.

Die Amtsgeschäfte übernahm der neunte Spross der Chakri-Dynastie im Juni 1946. Seine Anhänger suchten den thailändischen Staat wieder mehr um den Thron herum zu organisieren. Wer immer dazu bereit war der Monarchie mehr Macht zuzubilligen, der war als Verbündeter willkommen. Zugleich passte die Person Bhumibols gut in die Pläne: Er sprach der Tradition des Theravada-Buddhismus zu und meditierte regelmäßig. Vierfünftel der Thais lebten damals auf dem Land, ihr Leben war rund um den Wat, die buddhistische Tempelanlage, organisiert. Hier viel die Idee eines selbstlosen, von politischen Querelen weithin unberührten König auf fruchtbaren Boden. Die lokale Verwaltung galt schon damals als inkompetent, Gesetze oder gar eine demokratische Verfassung als unberechenbar.

Trauriger Mann

Selten, dann aber mit weisen Worten, wandte sich der junge König an sie, seine Hilfsprojekte überzogen merklich das Land. Er gilt bis heute als Fels in der Brandung in unsicheren Zeiten: Stets diszipliniert, gleichmütig und vor allem über alle Maßen ernsthaft. Die gerne fröhlichen Thailänder sahen in diesen Eigenschaften eine Nähe zur Buddha-Natur. Eine Sicht, die vom Palast gerne gestützt wurde.

Es ist bis heute unklar, inwieweit Bhumibols kontinuierlich traurige Nachdenklichkeit eine mediale Konstruktion oder eine ihm innewohnende Eigenheit ist. So oder so sorgte die PR-Abteilung des Palastes schon früh dafür, dass keine Fotos eines lächelndes Monarchen mehr in die Öffentlichkeit gelangten. So entstand zwischen den 60er und 80er Jahren ein sakraler Nimbus, der sich bis heute zu einer religiösen Verehrung weiterentwickelt hat.

Für westlich-verweltlichte Beobachter ist es mehr als ungewöhnlich, wenn in Bangkok ganze Straßenzüge bei der Durchfahrt des königliche Autokorsos niederknien. Verehrung und Etikette gehen so weit, dass Bhumibol einmal annähernd an einem Kreislaufkollaps gestorben sein soll, weil niemand der Anwesenden ihm helfen wollte – die Regeln am Hof verbieten die Berührung des Königs. Abseits solcher Anekdoten ist mittlerweile klar, dass neben dem Volk auch der König selbst an seine Rolle als Vater der Nation glaubt.

Seit Beginn seiner Amtsübernahme steht Bhumibol unter scharfer Beobachtung der Militärs, die in Thailands Politik bis heute eine wichtige Rolle bei der Besetzung der zentralen politischen Posten spielen. Der aktuelle Staatsstreich ist nur, so bleibt zu hoffen, ein weiteres Intermezzo auf dem langsamen Weg Thailands in eine monarchistische Demokratie.

Bei Wohltätigkeitsveranstaltungen sammeln Bhumibol und seine Frau Sirikit jährlich Millionen von Baht ein, um damit Agrar- und andere Projekte zu finanzieren. Für die Thais ein Zeichen von Großmut, für Beoabchter nur ein weiterer Beweis für den unbedingten Willen des Königs, veraltete Wirtschaftskonzepte durchzusetzen und dies mit geschickter Public Relation zu verbinden. In den frühen 60ern, so behauptet Handley, hatte das Informationsministerium der USA die PR für die thailändische Regierung praktisch komplett übernommen. Equipment und Know-How wurden gestellt, über den Äther liefen entweder anti-kommunistische oder pro-monarchische Plattitüden.

USA als Verbündeter

In den Zeiten des Kalten Krieges positionierte Bhumibol sich deutlich gegen den Kommunismus, der aus seiner Sicht eine Gefahr für das Land darstellte. Im benachbarten Laos mobilisierte die nationalkommunistische Gruppe „Pathet Lao“ mit Unterstützung aus Hanoi die Massen, die Regierung in Bangkok bemüht sich um den Schulterschluss mit den USA. 10.000 US-Soldaten wurden 1962 auf Geheiß von John F. Kennedy eingeflogen. Schon zwei Jahre zuvor war die königliche Familie über einen Monat lang durch die USA gereist, Bhumibol, ein begeisterter Jazz-Musiker, hatte mit Benny Goodman spielen dürfen und neben Disney World auch IBM besucht. Der drohende Konflikt mit Laos kühlt schnell ab, die US-Truppen blieben. Im Gegenzug sandte Thailand im September 1967 10.000 Soldaten nach Saigon.

In den 60er Jahren wurden immer wieder Studenten, liberale Politiker und auch politisch aktive Mönche inhaftiert, die Führung des Landes wandert von einem Militär-Regime zum nächsten. Die protestierenden Hochschülern rät Bhumibol zu studieren statt zu demonstrieren. Es bildet sich ein Phänomen heraus, das sich bis in die heutige Zeit zieht: Der Palast steht, manchmal befürwortend, manchmal kritisch, aber meist schweigend an der Seite der Machthaber und bemüht sich, nicht in das Kräftefeld der rivalisierenden Parteien zu geraten.

1968 wird mit der neuen Verfassung ein Zweikammerparlament eingeführt. Die 219 Mitglieder des Unterhauses werden zwar gewählt, die 164 Senatoren des Oberhauses aber vom König eingesetzt. In der Praxis verfestigt dies die Macht des Premierministers und des Königs. Beide können zudem ein Veto gegen Gesetze einlegen. Aber der Samen für die freie Meinungsäußerung war gelegt. Für Bhumibol eine ambivalente Situation: Das ihn liebende Volk wollte Kritik üben, wenn nicht an ihm, so doch an den bestehenden Verhältnissen. In allen zukünftigen Auseinandersetzungen wähnten stets beide Seiten den König auf ihrer Seite. „Wir lieben den König“ und „Mehr Macht für den König“ sind bis heute gängige Transparent-Aufschriften auf Kundgebungen, die von allen Parteien genutzt werden.

Bhumibol zeigte sich derweil besorgt, dass mit dem Easy-Going-Mentalität seiner Landsleute keine Staat zu machen sei. Er mokierte in öffentlichen Ansprachen, dass die buddhistische feine Art, kein Verlangen nach irdischen Gütern zu entwickeln (non-desire), keine Zukunftsträchtigkeit besäße. Er proklamierte „harte Arbeit“, ein unbedingter Einschnitt in die moralische Lebenswelt der buddhistisch geprägten Thailänder. Aber sie folgten ihrem König auch hier. Bangkok 2006

Im Oktober 1973 kam es in der Folge von Protesten von Studenten der Thamasat-Universität gegen den Amtsinhaber Feldmarschall Thanom Kittikachorn zu einem Machtwort des Königs, das seine Ruf als Bewahrer der Nation festigte und bis heute als der Wendepunkt in der thailändischen Demokratie-Geschichte gilt. Mehr als 70 Personen waren in einem Kugelhagel gestorben, Militärs hatten auf friedliche Demonstranten geschossen. Kittikachorn flüchtete in die USA, Bhumibol erklärte die Regierung für aufgelöst und ernannte den Sanya Dharmasakti, den Rektor der Thamasat-Universität, zum neuen Premierminister. Aber der Geist von Kittikachorn war nicht gebannt.

Autoren wie Handley sind sich sicher, dass auch diese Episode weniger die neuentdeckte Leidenschaft des Königs für die Belange der Demokratie bewies, sondern nur seine Ordnungsliebe. An einer sozio-politischen Wende im Land, so die Meinung, sei Bhumibol nicht interessiert gewesen, sondern an Stabilität und Wiederherstellung der Ordnung. So oder so: Seit dieser Zeit ist Bhumibol eine, wenn nicht sogar die zentrale Figur im politischen Systems Thailands.

Village Scouts

In den 70er Jahren folgte Bhumibol weiterhin den Klängen des Kalten Krieges und unterstütze die Bewegung der sogenannten „Village-Scouts“. Dies waren dörfliche Vereine, die strenge Traditionen bewahren und das Land vor der kommunistischen Gefahr schützen sollten. Zeitgleich gründeten sich Organisationen wie Krating Daeng (Red Gaur) und Navapol, die im Namen der nationalen Sicherheit Krawall und Vigilantentum gegen alles und jeden betrieben, der im Verdacht stand, anti-royalistisch oder kommunistisch zu sein. Der Palast schwieg wieder einmal; sogar noch, als die Gruppen anfingen, Sprengsätze während Studenten-Demonstrationen zu zünden.

Höhepunkt der anti-kommunistischen Hysterie war der 6. Oktober 1976. Arbeiter und Studenten hatten sich in den letzten Wochen vereinigt, um gegen die Rückkehr des Ex-Premiers Thamon Kittikachorn zu protestieren. Dieser war in einer klassischen Mönchskutte aus dem Flieger gestiegen und direkt zum Wat Bovonives gefahren, um sich dort zum Priester weihen zu lassen. Kronprinz Vajiralongkorn machte ihm seine Aufwartung, die Bevölkerung war mehrheitlich entsetzt, die Universität wurde von mindestens 10.000 Studenten und Demonstranten besetzt.

Village Scouts, Krating Daeng, Navapol und das Militär strömten nach Bangkok. Kurz vor Sonnenuntergang begannen die Truppen und die lokale Polizei wahllos in die Menge zu schießen, Granaten wurden auf das Gelände gefeuert, flüchtende Menschen in den Rücken geschossen. Offizielle Zahlen sprachen von 46 Toten, inoffizielle von weit über 100. Die Macht ging in die Hände einer Gruppe von Generälen über, ein paar Tage später wurde der Favorit des Palastes, Tanin Kraivixien, zum neuen Premierminister ernannt.

Nur ein Jahr später kam es zu einem erneuten Putsch, dieses Mal übernahm ein gewisser General Kriangsak Jamanandana die Macht. Diese Website gibt eine gute Übersicht über die wechselvolle Geschichte des thailändischen Kabinetts. Die Tradition der ständigen Staatsstreiche setzte sich fort, die Taktik ist bis in die 90er Jahre hinein die gleiche geblieben: Zunächst Angst, dann Unruhe und schließlich Gewalt erzeugen, die Polizei machtlos halten, schließlich das Militär einsetzen.

Lèse-Majesté

Eines wird ausländischen Besuchern und Pressevertretern schon kurz nach dem Ankommen in Thailand klar – oder gerne auch zügig klar gemacht: Fragen nach oder Kritik an Monarchie oder König sind unerwünscht. Der gute König von Siam wird hoch verehrt, er gilt als Bewahrer des inneren Friedens des Landes. Seit dem 2. Weltkrieg diente der Tatbestand der „Majestätsbeleidigung“ verschiedenen Ministerpräsidenten und hohen Beamten dazu, unliebsame Gegner inhaftieren zu lassen. Dies geschah beispielsweise mit einem Mann, der öffentlich behauptet hatte, die Monarchie stehe nicht über der Politik. Die Folge: Drei Jahre Gefängnis. Ein Bauer wurde verurteilt, weil er seinen Hund nach dem König benannt hatte. 1984 wurde der Intellektuelle Sulak Sivarak verhaftet, er hatte dem Palast vorgeworfen, die neueren Entwicklungen in Thailand zu verschlafen. Der Wunsch nach Veränderung der sozialen Verhältnisse wurde von irregeleiteten Monarchisten immer wieder als Angriff auf den Thron gedeutet. Heute wird das Gesetz kaum noch angewandt, gleichwohl hält sich das Volk daran. Allerdings meist nicht aus Angst, sondern aus innerer Überzeugung. Die Verehrung gegenüber dem König sitzt so tief, das die meisten Thailänder die Beschneidung der Meinungsfreiheit einfach nicht empfinden.

Ein paar weitere Zahlen: 1988 lebten 25 Prozent der Familien unter der offiziellen Armutsgrenze, die Reichen 20 Prozent verdienten 56 Prozent des inländischen Einkommens. Jeder fünfte Schüler genoss nur vier Jahre Schule. In den Augen der Bevölkerung war es egal wer sie regierte, ihr Lebensverhältnisse blieben unter gewählten Ministerpräsidenten wie diktatorischen Generälen gleich schlecht. Ein erneuter Putsch des Militärs 1991 wurde von Bhumibol erduldet, in seiner traditionellen Geburtstagsrede am 4. Dezember bezeichnete er demokratischen Prinzipien als „hochintellektuelle Ideale, die eine Gesellschaft schwächen können“. Aus buddhistischer Sicht, so Bhumibol, seien auch Verfassungen zu unbeständig, um die Ordnung einer Gesellschaft zu garantieren. Kaufhaus in Bangkok

Nur ein Jahr später kam es erneut zu Protesten, die sich gegen die Regierung von General Suchinda richteten, wieder eröffnete das Militär das Feuer, Hunderte starben, Thailand stand am Rande eines Bürgerkriegs. Bhumibol lud Suchinda und den Oppositionsführer Chamlong zu einer Audienz, die später wohlüberlegt im Fernsehen gezeigt wurde: Beide Männer knieten vor dem König. Succhinda trat als Premierminister zurück, blieb aber als Verteidigungsministern im engen Dunstkreis der Machtelite. Es folgten Wahlen, Chuan Leekpai von der „Democrat Party“ wurde Premier.

2001 übernahm der bis vor kurzen amtierende populistische Premier Thaksin Shinawatra von der TRT-Partei („Thai Rak Thai“ = Thais lieben Thais) die Regierungsgeschäfte. Wie bei allen Premiers vor ihm durchziehen auch seine politische Existenz Finanz-Skandale und Korruptions-Affären. Der Medienmogul Sonthi Limthongkul lancierte 2005 eine Kampagne, die vor allem bei der urbanen Bevölkerung gut ankam: Man warf Shinawatra Amtsmissbrauch vor. Eigentlich nichts neues bei einem thailändischen Politiker, aber die Massen waren wieder einmal mobilisiert. Dazu kamen absurde Vorwürfe, die Shinawatra als Hintermann der Zerstörung des heiligen Phra Phrom Erawan Schreins denunzierten.

Im Februar 2006 beantragten 28 Senatoren beim Verfassungsgericht ein Amtsenthebungsverfahren, Shinawatra rief daraufhin Neuwahlen aus, die Opposition boykottierten die Wahl, die TRT gewann sie. Wieder griff Bhumibol ein, nach einer Audienz beim König erklärte Shinawatra seinen Rücktritt. Später erklärte das Verfassungsgericht die Wahlen für ungültig, nun sollte am 15. Oktober 2006 neu gewählt werden. Umfragen deuteten auf einen erneuten Sieg der TRT hin. (Einen guten Überblick über die Krise gibt dieser Wikipedia-Eintrag.

Welche Parteien zu den nun von General Sonthi Boonyaratglin für Ende Oktober angesetzten Neuwahlen zuglassen und welche Rolle die TRT und die „People’s Alliance for Democracy“ (PAD) dabei spielen werden ist unklar. Einen längeren Einsatz des Militärs, so scheint es zur Zeit, wird das Land nicht erdulden müssen. Wichtig war den Putschisten primär die endgültige Entmachtung Shinawatras – darin war man sich mit König Bhumibol einig.

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Elektronische Kultur

Interview mit dem Pressesprecher von Google Deutschland über Blogs, Gut und Böse

Telepolis v. 18. 09.2006

Jenseits von Gut und Böse

Ein Interview mit Stefan Keuchel, Pressesprecher von Google Deutschland, über Blogs, Journalismus und den Unterschied zwischen Gut und Böse

Hamburger Innenstadt, Geschäftsmänner neben Shopping-Touristen, Fahrradkuriere und hupende Taxis. Im dritten Stock eines Bürokomplexes sitzt die deutsche Dependance der größten und erfolgreichsten Suchmaschine weltweit: Google (1). Schon am Eingang die erste Besonderheit. Man muss sich in ein System einloggen, Name und Auftrag eingeben und eine Vertraulichkeitsvereinbarung unterschreiben. Sodann wirft ein Thermo-Drucker ein selbstklebendes Schildchen mit einem Namen aus, das den Besucher ausweist.

Stefan Keuchel kommt flugs-kernig durch die Tür. Händeschütteln. Der Pressesprecher hat Hunger, das trifft sich gut. Der Tafelspitz in der betriebseigenen Mini-Kantine schreckt uns ab, ich greife trotzdem zu. Ein Warnhinweis hängt am Pfeiler: Kameras hängen im Raum, jeder muss damit rechnen, im Intranet beim unadäquaten Nasebohren in der Kantine beobachtet zu werden. „Durch die Kameras sehen alle, wann das Essen da ist“, erklärt Keuchel. Essen, Kaffee, Getränke, bei Google gibt es das alles umsonst. Die Belegschaft greift zu, es geht schnell. Alles geht schnell hier, eine behäbige Firma kann nicht alle paar Monate ein Produkt auf den Markt bringen, das die Online-Welt fasziniert oder zumindest irritiert.

Ein Mitarbeiter setzt sich zu uns, es geht um Tauchen in Ägypten, Problembären in Kanada und das unglaublich schöne Vancouver. Auch Googlerianer brauchen mal Urlaub. Rundgang. Die offenen Räume entsprechen dem Bild einer erfolgreichen Internet-Firma: Flottes Design, bunte Sofas, Lava-Lampen, ein Chill-Out Zone mit X-Box und Kicker. Bis auf die Arbeitsplatz-PCs ist wenig Technik zu sehen. Die meisten Mitarbeiter in der deutschen Google-Zentrale betreuen große Firmenkunden, erst zukünftig sollen auch Entwickler hier arbeiten.

In einem Flur hatte man eine Zeit lang die besten Artikel aus den größten Tageszeitungen und Magazinen ausgehangen. Dann ging man dazu über, nur noch die Cover-Storys einzurahmen, aber auch dafür ist der Flur inzwischen zu klein, Googles Durchgangs-„Hall of Fame“ verstaubt. Alle Konferenzräume bei Google tragen den Namen von bekannten Orten in Hamburg. Wir landen in Raum „Elbe“. Interview.

Google nimmt sich des Themas Blogs stark an. Warum ist das so?

Stefan Keuchel: Wir betreiben zur Zeit 30 Google-Blogs zu unterschiedlichsten Themen und Produkten. Der offizielle Google-Blog (2) hat seit der Eröffnung im Juni des letzen Jahres pro Tag rund 30.000 Besucher. Technorati sagt, dass der Google-Blog der einzige Corporate-Blog ist, der wirklich populär ist. Wir sind permanent in den Top 20. Heute ist es so, dass wir uns parallel zur Entwicklung eines neuen Produkts auch Gedanken über einen Blog machen, der das Produkt begleitet. Darin können wir dann Besonderheiten des Programms beschreiben und wertvolle Tipps geben. Der Adsense-Blog ist derzeit das einzige deutschsprachige Blog. Das liegt daran, dass auch in Deutschland immer mehr Website-Betreiber Adsense bei sich einbinden. Selbst kleine Webseiten können damit Geld verdienen, stark frequentierte sogar ziemlich viel.

So viel, dass die Print-Medien nervös werden. Werbung über Google Adsense steht in dem Ruf, erheblich zielgenauer und besser kontrollierbar zu sein.

Stefan Keuchel: Die Nervosität ist vielleicht berechtigt, auf der anderen Seite können die Printmedien auch partizipieren. Seiten wie Brigitte.de oder Max.de zeigen das. Die haben bereits die Vorteile des AdSense-Programms für sich entdeckt und generieren gute Einnahmen damit.

Wie Google auch.

Stefan Keuchel: Richtig. Vielen ist gar nicht klar, wie Google, obwohl der Suchdienst kostenlos ist, im letzten Jahr 6,1 Milliarden Dollar Umsatz generieren konnte. Mittlerweile trägt Adsense zur Hälfte dieses Umsatzes bei. Das automatisierte System ist inzwischen so gut, dass auf den Webseiten immer passende Werbung geschaltet wird. Auf einer Angelseite wird dann eben nicht für eine Waschmaschine geworben, sondern für Angelzubehör. Deshalb sind die Klickraten in diesem Bereich eben auch vier bis fünfmal höher als bei anderen Online-Werbeformen.

Wieviel erhält der Webseitenbetreiber prozentual pro Klick, wieviel Google?

Stefan Keuchel: Das genaue Verhältnis machen wir nicht öffentlich. Der Seitenbetreiber erhält aber, soviel kann ich sagen, mehr als 50 Prozent.

Zurück zu den Blogs. Für wen eignen sich die Online-Tagebücher?

Stefan Keuchel: Blogs sind ein schneller und direkter Weg, um mit bestimmten Zielgruppen in Kontakt zu treten. Das geht bei Firmen, die im IT-Bereich tätig sind, meist leichter von der Hand als beim Metzger um die Ecke oder einem Möbelhaus. Blogs sind sicher nicht für jede Branche ein geeignetes Kommunikationstool. Aber wenn die Zielgruppe sowieso schon internetaffin ist, dann bietet es sich an. Zudem ist ein Blog nicht so förmlich wie eine Pressemitteilung und der Journalist als Filter fällt weg.

Gleichwohl nutzen wenig Unternehmen Blogs als Kommunikationsmedium.

Stefan Keuchel: „Blog“ war das Wort des Jahres 2003 in den USA. Aber von den Fortune 500 Firmen in den USA sind es zur Zeit nur knappe sechs Prozent, die Blogs betreiben. In meinen Augen herrscht da unglaubliches Potential, das bisher nicht erkannt oder nicht genutzt wird. Die Menschen sind an großen Unternehmen interessiert und Blogs sind ein Kanal die Firma nach außen darzustellen.

In Deutschland dümpelt selbst der immer wieder zitierte Frosta-Blog, bis vor wenigen Monaten der einzige Corporate-Blog, vor sich hin.

Stefan Keuchel: Es ist dort wie so oft: Die Leute sind zwar begeistert von der Einrichtung, nur schreiben wollen die wenigsten dafür. Die Google-Blogs sind da heterogener.

Was unterscheidet dann noch einen Unternehmens-Blog von anderen Werbe-Instrumenten?

Stefan Keuchel: Wer einen Blog hauptsächlich als Werbeinstrument sieht, hat das Thema Bloggen offensichtlich nicht verstanden. Es gibt die Vermutung, dass einige CEO-Blogs gar nicht von den Verantwortlichen selbst, sondern der PR-Abteilung geschrieben werden. Das wird aber nicht funktionieren. Die Blogosphere ist da sehr sensitiv. Pressemitteilungen gehören auf die Presseseite und nicht in einen Blog.

Glaubt man den Zahlen von Technorati werden weltweit in jeder Sekunde zwei neue Blogs eröffnet. Noch verdoppelt sich jedes halbe Jahr die Anzahl der Blogs. Wer will das alles lesen?

Stefan Keuchel: Sicher ist, dass unter diesen Blogs eine riesige Anzahl von „Heute-war-ich-Schuhe-einkaufen“ und sogenannte „Montags-Blogs“ sind, die keine regelmäßigen Updates erhalten. Es ist doch logisch, dass solche Blogs nicht besonders populär werden. In Deutschland, so las ich vor kurzem, lesen nur fünf Prozent der deutschen Internetnutzer überhaupt Blogs. Doch diese Zahl wird ansteigen, denn es gibt auch immer mehr gut gemachte und interessante Blogs. Das ist eine Voraussetzung, damit Leser wiederkehren und im besten Fall zum Stammleser werden.

Interviewunterbrechung, unser Raum „Elbe“ wird benötigt, wir wandern zu Raum „Neuer Pferdemarkt“. Keuchel erzählt von einer Begebenheit: Vor einigen Monaten klingelte eine alte Dame an der Firmentür und wollte zur Röntgenabteilung von Google. Ihr Arzt hätte ihr gesagt, sie solle „ihr Beckenleiden bei Google recherchieren“. Das tat sie, allerdings offline. Sie suchte die Adresse von Google aus dem Telefonbuch und wurde vorstellig. Das Team am Counter erklärte den Irrtum und recherchierte mit ihr zusammen.

Ein paar Schritte und Google Logos weiter stehen in einer Vitrine die Auszeichnungen, die das Unternehmen bislang erhielt. Bis vor kurzem lag hier auch noch der aufgeschlagene Duden mit dem Begriff „googeln“. Der hauseigene Jurist sah das nicht gerne, man stellt Kontakt zur Duden-Redaktion her. Sollte der Begriff „googeln“ nämlich in die Umgangsprache als Bezeichnung für eine Abfrage in einer beliebigen Suchmaschine eingehen, wäre das Recht an der Marke „Google“ gefährdet. „Googeln“ ist daher heute laut Duden nur noch „Internetrecherchen mithilfe einer Suchmaschine durchführen“.

Sind die Deutschen eventuell gar nicht extrovertiert genug, um wie die USA zu einer „Blogger-Nation“ zu werden?

Stefan Keuchl: Im privaten Bereich kann ich mir das vorstellen, ja. Im Unternehmensbereich dagegen ist das eher eine firmenpolitische denn psychologische Entscheidung. Und hier wird aus meiner Sicht von deutschen Firmen eine Entwicklung im großen Stil verschlafen. Das ist erschreckend. Auch für Journalisten sind doch Firmen interessanter, die einen Blog auf ihre Webseite anbieten.

Kommt auf den Informationsgehalt des Blogs an.

Stefan Keuchl: Vielleicht fragt man in Deutschland zu schnell nach dem Nutzen. Von Firmen wird hier ja eher auf die Gefahren hingewiesen, die so ein Blog mit sich bringt. Grenzwertig wird es auch da, wo Firmen anfangen, Blogger mit Produkten auszustatten, damit diese über ihre Erfahrungen damit berichten. Da steht Glaubwürdigkeit auf dem Spiel.

Ein Drittel der weltweit aufgesetzten Blogs ist in englischer, ein Drittel in japanischer Sprache verfasst. Was weiß man über die japanische Blogger-Szene?

Stefan Keuchl: Wenig.

Sie sagten einmal: „Google liebt Blogs“, was auch an den vielen Backlinks läge. Besteht nicht die Gefahr, dass Blogs daher in den Suchergebnislisten übergewichtet werden?

Stefan Keuchl: Ich denke nicht. Blogs sind Blogs und Webseiten sind Webseiten. Google hat verschiedene Services, um die beiden Suchbereiche abzudecken, zu Überschneidungen kommt es nur dann, wenn ein Blog so bekannt wird, dass er in den Ergebnissen oben landen muss. Aber ein Google-Nutzer erwartet im Regelfall keine Blogs als obere Einträge, also werden wir darauf achten, dass hier auch weiterhin nur relevante Suchergebnisse erscheinen.

Gefährden Blogs den Online-Journalismus?

Stefan Keuchl: Die Menschen werden immer das Bedürfnis haben sich aus verlässlichen und vertrauenswürdigen Quellen gut aufbereite Nachrichten zu informieren. Blogs werden den Journalismus nicht ersetzen, aber das Konsumverhalten ändert sich. Zukünftig wird man neben einer klassischen Nachrichtenquelle eben auch einen Blogbeitrag lesen, um eine andere Sicht auf die Dinge zu erhalten. Man denke an das Bombenattentat in London: Dort bloggten nur Minuten nach den ersten Detonationen die ersten Leute vor Ort. Größtenteils mit sehr eindrucksvollen Beschreibungen der sich dort abspielenden Szenen.

Wie kam es zur Kooperation mit der Nachrichtenagentur Association Press? Warum bezahlt Google plötzlich für Inhalte?

Stefan Keuchl: Dies ist tatsächlich ein neuer Schritt für Google, wir verweisen nicht mehr nur auf Inhalte, sondern bieten sie teilweise selber an. Entwickelt wird ein neues Feature für Google News, die News-Seite soll dadurch noch interessanter und informativer werden. Ich darf leider noch nicht darüber sprechen, wie das genau aussehen wird, aber ich kann versichern, dass Google News Nutzer auf keinen Fall dafür zahlen müssen.

Wie kommt es zu diesem enormen Ausstoß von immer neuen Produkten bei Google?

Stefan Keuchl: Die Hälfte der Google-Mitarbeiter sind Ingenieure. Diese Kollegen haben einfach Spaß daran, immer neue Dinge zu entwickeln. Wir haben eine Liste von 100 Produkten, die in „der Pipeline“ stecken und an denen bereits gearbeitet wird. Es arbeiten immer kleinere Teams von ca. 5-7 Leuten an einem Produkt. Daher können wir neue Services und Produkte relativ schnell entwickeln und auf den Markt bringen. Auch der Launch-Kalender für den deutschen Markt verspricht noch in diesem Jahr einige interessante neue Produkte.

Mit der Größe des Unternehmens wuchs auch die Kritik an Google. In den Augen einiger Netizens war Googles zensierter Webauftritt in China der Stein des Anstoßes.

Stefan Keuchl: Der Markteintritt in China war auch intern ein sehr kontrovers diskutiertes Thema. Aber wir haben uns dazu entschlossen, weil wir festgestellt haben, dass Millionen von Chinesen versucht haben, auf Google.com zuzugreifen. Das wurde allerdings von der sogenannten „Great Chinese Firewall“ erschwert oder gar verhindert. Daher war es ein konsequenter Schritt, Google.cn auf den Weg zu bringen. Zumal unsere Wettbewerber alle längst in China waren. Im Gegensatz zu unseren Wettbewerbern zeigen wir übrigens an, dass gewisse Suchergebnisse auf Grund lokaler Gesetze nicht angezeigt werden. Das ist in China nicht anders als in Deutschland oder auch den USA. Interessanterweise haben wir auch im Fall China versucht, unsere Beweggründe über unseren Corporate Blog zu erläutern.

Aber da kommt es doch nicht zu einer wirklichen Dialog mit den Kritikern?

Stefan Keuchl: Das stimmt natürlich. Der Blog versucht nur zu erklären, wieso wir diesen Weg gegangen sind. Kritikern stellen wir uns aber bei vielen Gelegenheiten, sei es auf Konferenzen, Vorträgen oder auch in Interviews. Kritiker von Google gibt es immer mehr. Spätestens seit Börsengang ist vielen klar geworden, dass Google eben keine Garagenfirma ist, die zu besonderen Anlässen mal ihr Logo verändert, sondern ein Milliarden-Dollar-Unternehmen. Und es ist ein normaler und guter Vorgang, dass vermeintlich mächtige Unternehmen kritisch beäugt werden.

Wie kam es eigentlich zu dem Firmengrundsatz „Sei nicht böse“?

Stefan Keuchl: Entstanden ist dieses Motto eigentlich einmal als interne Marschrichtung. Bei einem Meeting unter den ersten sechs Google-Kollegen kam die Frage auf, wie man eigentlich arbeiten wolle und wie die Marschrichtung ist. Es kam dann zu diesem salopp dahingeworfenen Satz eines Kollegen, „do no evil“. Dieser prägnante Satz hat in den Augen von Larry Page und Sergey Brin ihre Philosophie sehr gut auf den Punkt gebracht. So blieb dieser Spruch lange Zeit intern, tauchte aber dann eines Tages auf unserer Webseite auf und nahm so seinen Weg. Das Problem mit diesem Spruch ist: Es ist ein leicht anzugreifendes Motto, da jeder eine andere Meinung davon hat, was „böse“ ist.

Die Bereitstellung und Sortierung von vielen Informationen ist ein Ziel, das eben auch Probleme aufwirft.

Stefan Keuchl: Richtig, dies zeigt sich zur Zeit bei der Google-Buchsuche. Hier geht es darum, einen Wunschtraum der Menschheit zu erfüllen, und das Wissen, das in Büchern steckt, für jedermann zugänglich zu machen. Aus meiner Sicht an sich kein schlechtes Unterfangen.

Vor allem dann, wenn Urheberrechte abgelaufen sind.

Stefan Keuchl: Sicher, das gilt es zu beachten. Der Grundgedanke geht auf das erste Zusammentreffen von Larry und Sergej zurück, die darüber sinnierten, wie schön es wäre, wenn man zu jederzeit auf die Informationen dieser Welt zugreifen könnte. Das ist weiterhin unsere Motivation und hat sich auch in unserer Mission, „die Informationen dieser Welt zu organisieren und jedermann zugänglich zu machen“, manifestiert.

Wann musste Google Entscheidungen zwischen „Gut und Böse“ treffen?

Stefan Keuchl: Ich will ein Beispiel dafür geben. Larry wurde einmal ein Vorschlag gemacht, der ein Google-Produkt so verändern wollte, dass beträchtlich mehr Geld damit zu verdienen gewesen wäre. Larry fragte nur, wo der Vorteil für den Nutzer wäre – den gab es aber nicht und damit war das Thema von Tisch. Und so gibt es auch heute viele Services und Dienste, die nicht kommerzialisiert sind. Nehmen Sie beispielsweise Google News oder die Bildersuche. Diese Dienste sind werbefrei und wir verdienen absolut kein Geld damit.

Wird der Anspruch, nie Böses tun zu wollen, mit wachsender Größe und Kapitalkraft eines Unternehmens nicht immer schwerer zu erfüllen?

Stefan Keuchl: Wie schon gesagt, Sie haben sicher eine andere Auffassung darüber, was böse ist, als ich. Und ein Dritter hätte wiederum eine komplett andere Meinung darüber. Daher haben Sie Recht, der Anspruch ist schwer zu erfüllen. Ich kann dazu nur sagen, dass der Erfolg von Google abhängig ist von dem Vertrauen seiner Nutzer in Google. Wir wären beispielsweise sehr schlecht beraten, sorglos mit den Daten unserer Nutzer umzugehen. Der Schutz der Privatsphäre unserer Nutzer steht daher an erster Stelle. Unsere Datenschutzbestimmungen kann jeder Nutzer jederzeit einsehen und nachlesen. Derjenige, der das tatsächlich tut, wird feststellen, dass wir weder Daten an Dritte verkaufen, noch Nutzerprofile erstellen.

Aber was passiert, wenn Google verkauft werden würde?

Stefan Keuchl: Diese Frage lässt sich natürlich aus heutiger Sicht schwer beantworten. Zunächst einmal bestehen keinerlei Pläne, Google zu verkaufen. Ganz im Gegenteil. Doch ich bin felsenfest davon überzeugt, dass selbst dann, wenn es eines Tages dazu kommen würde, sicher gestellt wäre, dass kein Missbrauch mit Google-Nutzerdaten geschehen könnte. Denn das möchte niemand bei Google.

(1) http://www.google.de/
(2) http://googleblog.blogspot.com/

 

 

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Mixed

Deutschlands Küsten werden sich auf den Klimawandel einstellen muessen

telepolis, 14.09.2006

Kein Land in Sicht

Klar ist: Der Klimawandel ist Realität, die Erdatmosphäre erwärmt sich. Klar ist auch: Das wird globale Auswirkungen auf das Wetter und den Meeresspiegel haben. Auf einem Kongress in Hamburg wollten Experten nun klären, was auf Deutschland dabei zukommt.

Es ist amüsant und erschreckend zugleich, mit welcher Nonchalance die Klimaforscher mittlerweile die Ergebnisse ihrer Arbeit präsentieren. Dabei sie müssen einen Umbruch in der Erdgeschichte prognostizieren, der frappierender nicht sein könnte. Mojib Latif vom Leibniz Institut für Meereswissenschaften an der Universität Kiel wies auf dem Kongress „aqua alta“ im herrlichen Hamburger Slang darauf hin, dass der Meeresspiegel aufgrund der globalen Erwärmung bis 2100 um mindestens 50 cm ansteigen wird. „Ich gehe aber eher von einem Meter aus“. Dabei sind die schmelzenden Eiswüsten von Grönland noch gar nicht eingerechnet. Deren Reduktion ist schwer zu berechnen, durch Schneefall vereisen sie oben neu, während sie unten durch das warme Wasser abschmelzen. Sollte das gesamte Eis Grönlands abtauen, und es gibt Szenarien, die dies für wahrscheinlich halten, stiege der Meeresspiegel um sechs Meter an.

Zu diesem Anstieg gesellt sich eine Erhöhung der Regenmengen. Aus dem bayerischen Hohenpeißenberg, wo man seit 1876 jeden Tropfen Regen misst, kommt die Meldung: Die Niederschlagsmengen hat sich seit 100 Jahren verdoppelt. Und so wie es aussieht, es das erst der Anfang der vom Menschen verursachten Ereignisse.

Mit jährlich rund zehn Tonnen CO2 trägt jeder Deutsche zum globalen Treibhauseffekt bei. Das ist das 127fache eines Bauern in Mosambik, das Sechsfache eines Brasilianers und die Hälfte eines US-Bürgers. Das Klima ist träge und reagiert zeitversetzt auf diese Kohlenstoffdioxid-Emissionen, die der Mensch in die Atmosphäre bläst. Die aufgeheizte Atmosphäre gibt einen Teil der Energie an die Ozeane ab. Diese, im Schnitt vier Kilometer tief, speichern die Temperatur und bleiben nach einer Erhöhung der Temperatur wie jetzt mindestens 200 Jahre lang erwärmt. Selbst wenn ab Morgen das Kyoto-Protokoll von allen Ländern befolgt werden würde, wäre immer noch mit einem Anstieg der weltweiten Temperaturen um rund 2 Grad Celsius in den nächsten 100 Jahren zu rechnen. Das alles heißt zwar für die meisten Wissenschaftler noch nicht, dass die heißen Sommer von 2003 und diesem Jahr bereits Zeichen des Klimawandels sind. Vom Wetter auf das Klima zu schließen ist problematisch. Aber das sich viele Länder in den nächsten Jahrzehnten an ein verändertes Klima anpassen werden müssen, steht außer Frage.

Hans von Storch vom Institut für Küstenforschung am GKSS hat die möglichen Folgen für die norddeutsche Region anhand mehrerer Szenarien beschrieben. Bei hohen CO2-Emissionen sei bis 2085 mit einem Anstieg des mittleren Hochwassers an der Messstation in Hamburg St.Pauli von 50 bis 70 Zentimetern zu rechnen. Und selbst bei niedrigen Emissionen sind die Anstiege nicht viel geringer. „Man muss also unabhängig von der Emissionsentwicklung mit einem merkbaren Anstieg der mittleren und sturmbedingten Wasserstände in der Zukunft rechnen.“

Verlauf der global gemittelten Oberflächentemperatur der Meere nach drei Institutionen. Grafik: WBGU nach dem Bericht des IPCC
Verlauf der global gemittelten Oberflächentemperatur der Meere nach drei Institutionen.
Grafik: WBGU nach dem Bericht des IPCC

Über die Folgen wollte man in Deutschland lange Zeit nicht nachdenken, aber die Küstenbundesländer sehen sich nun zum Handeln gezwungen. Im gesamten Nordseeraum leben 16 Millionen Menschen in tief liegenden Küstenregionen, die ohne Küstenschutz von den Fluten bedroht wären. Bremen und Niedersachsen wollen einen gemeinsamen Generalplan Küstenschutz aufstellen, unhängig davon wird im Projekt ComCoast noch bis Ende 2007 überprüft, wie man die Bürger vor Sturmfluten schützt und dies gleichzeitig sinnvoll in den ökologischen Raum einbettet. Natur- und Hochwasserschutz, das zeigten auch Katastrophen an den Binnenflüssen, müssen verknüpft werden.

„Die bisher geltenden Grundlagen für die Bemessung der Küstenschutzeinrichtungen sind nicht mehr angemessen“, sagt Michael Schirmer von der Universität Bremen, der das Projekt „Klimawandel und präventives Risiko- und Küstenschutzmanagement an der deutschen Nordseeküste“ (KRIM) koordiniert. Zusätzlich zu dem Klimawandel, so Schirmer, müsse das tektonische Absenken der norddeutschen Küstenlandplatte berücksichtig werden – ungefähr zehn Zentimeter im Jahrhundert. Schirmers Kalkulationen gehen davon aus, das sich die Chancen auf Wellenüberlauf bis Mitte des Jahrhunderts versiebenfachen. Er möchte einige Deiche an der Unterweser um 20 Zentimeter, andere gar um mehr als zwei Meter erhöhen. In Schleswig-Holstein ist bereits beschlossen, in zukünftigen Deicherhöhungen 50 Zentimeter allein für den Klimawandel einzuplanen. In Niedersachen ist man vorsichtiger, die 508 Kilometer langen Hauptdeiche sind im Schnitt heute schon 8 Meter hoch, eine Aufstockung würde Millionen kosten. Aber auch Skeptiker der Flutangst wie Hans von Storch plädieren dafür, über eine Erhöhung der Deiche nachzudenken und gegebenenfalls bestimmte Gebiete bei Sturmfluten sogar vorübergehend aufzugeben und als Überschwemmungsgebiet zu nutzen.

Anstieg des globalen Meeresspiegels nach Satellitenmessungen und den IPCC-Szenarien. Grafik: WBGU
Anstieg des globalen Meeresspiegels nach Satellitenmessungen und den IPCC-Szenarien.
Grafik: WBGU

Die Bibel des Klimawandels, der neue Report des IPCC, wird Anfang 2007 erscheinen, die Eckdaten werden gegenüber dem vorherigen Bericht kaum anders aussehen. Der Meeresspiegel, so wird es auch hier heißen, steigt bis 2100 um einen halben Meter an. Das jüngste Gutachten des „Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ (WBGU) spricht von einer „besonders bedrohlichen“ Gefährdung rund um die Nordsee.

Das Problem der Klimamodelle ist, dass die Vorhersagbarkeit der genauen globalen Wetterlagen schwierig ist. Es wird trockener in einigen Gebieten Deutschlands im Sommer, aber wie trocken, dies ist nicht ehrlich zu beantworten. Diese Unsicherheit verführt einige Forscher zu lauten Warnungen, andere reagieren mit Beschwichtigungen – die Gesellschaft ist irritiert.

Über die Prognosen für Deutschland sind sich die Experten weitgehend einig: Zu milden, regenreichen Wintern werden sich warme Sommer gesellen. Gleichzeitig nimmt die Wahrscheinlichkeit von Extremereignissen zu, alle paar Jahre ist mit einem „Jahrhundertsommer“, „Jahrhundert-Hochwasser“ oder einem extrem kalten Winter zu rechnen. Die Auswirkungen auf die Fauna sind noch nicht abzusehen, aber schon jetzt beobachten Biologen eine Wanderung wärmeliebender Arten nach Nord-Ost.

In Hamburg lief neben dem Kongress eine Fachausstellung zum Thema Hochwasserschutz. Die nötige Anpassung an den Klimawandel wird praktisch: Der Renner waren mobile Schutzwälle, die binnen kurzer Zeit mit nur wenig Helfern aufgebaut werden können.

 

 

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Drogenpolitik Interviews Psychoaktive Substanzen

Interview mit Rick Doblin von MAPS

HanfBlatt Nr. 103, September 2006

Psychedelische Forschung

Ein Interview mit dem MAPS-Gründer Rick Doblin

Rick Doblin ist der Gründer der einzigartigen „Multidisziplinären Assoziation für Psychedelische Studien“, besser bekannt als MAPS. MAPS unterstützt seit nun mehr 20 Jahren Wissenschaftler dabei, die staatliche Erlaubnis für die Erforschung heilender und spiritueller Potentiale von Psychedelika (wie LSD, Psilocybin, Peyote, Ketamin, Ibogain, DMT und Ayahuasca), Empathogenen (wie MDMA) und Cannabis-Produkten zu erhalten. Auch für die Forschung selbst stellt MAPS Gelder zur Verfügung. Die gemeinnützige Arbeit von MAPS wird durch die Spenden ihrer Mitglieder ermöglicht. Obwohl MAPS ihre Basis in den USA hat, ist sie international ausgerichtet und offen für jeden mit einem ebensolchen Geist, der etwas in dieser Hinsicht bewegen möchte. Nebenbei hat sich der MAPS-Informationsbrief zu einem bemerkenswerten Magazin voll erstaunlicher Informationen über die Szene der psychedelischen Forscher entwickelt. Auf dem erfolgreichen LSD-Symposium (www.lsd.info) anlässlich Albert Hofmanns 100tem Geburtstag in Basel im Januar 2006 mit über 2000 Teilnehmern aus 37 Ländern war auch MAPS mit den von ihr unterstützten Wissenschaftlern stark präsent.

az: Du hast MAPS 1986 gegründet, in dem Jahr, als die empathogene Substanz MDMA, auch „Ecstasy“ genannt, kriminalisiert wurde. Was war der Grund für diesen idealistischen Schritt?

Rick Doblin: Ich hatte gesehen, wie MDMA erfolgreich therapeutisch eingesetzt wurde, als es noch legal war. 1985 kriminalisierte die Drug Enforcement Agency (DEA) auf einer Notstandsbasis das MDMA, sowohl für den Freizeitgebrauch als auch den medizinischen und therapeutischen Einsatz. Das abschließende Verbot erfolgte 1986. Auch wenn wir zunächst einen Gerichtsprozess zur Aufrechterhaltung des legalen therapeutischen Gebrauchs gegen die DEA gewannen, wurde mir doch klar, dass wir am Ende wohl verlieren würden. Die DEA konnte die Empfehlung des Richters, MDMA legal für die Therapie verfügbar zu halten, ignorieren und tat es auch. Der einzige Weg, MDMA zurück in den legalen therapeutischen Gebrauch zu bringen, war der als ein von der Lebensmittel- und Arzneibehörde FDA zugelassenes verschreibungsfähiges Medikament. Ich gründete MAPS, um Gelder für die dafür nötige Forschung zu akquirieren, weil weder die pharmazeutische Industrie noch die größeren Stiftungen MDMA-Forschung finanzieren würden.

az: Wie war es für Dich mitzuerleben, wie MDMA, weitgehend unbekannt, aber erfolgreich als psychotherapeutisches Hilfsmittel eingsetzt, als es noch legal war, der Treibstoff für die schließlich riesigen Rave-, Acid House- und Techno-Szenen wurde?

Rick Doblin: Persönlich mag ich Raves und durch die Nacht bis zum Sonnenaufgang zu tanzen. Die Unterscheidung zwischen dem Freizeitgebrauch, dem therapeutischen und dem spirituellen Gebrauch ist oft willkürlich und keineswegs so klar und deutlich wie uns Anti-Drogenkrieger glauben machen wollen. Nichts desto trotz erkannte ich, dass der Gebrauch von MDMA auf Raves, die DEA dazu motivieren würde, alle unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten von MDMA zu kriminalisieren. Aber anstatt mich über Raves und Raver aufzuregen, wurde ich wütend auf die Regierung, dafür, dass sie sowohl den therapeutischen als auch den Freizeitgebrauch von MDMA kriminalisierten. Die Risiken von MDMA sind am Größten im Rave-Setting. Wie auch immer, ich denke, dass wir mit angemessenen Risikominderungsstrategien die Gefahren des MDMA-Konsums auf Raves erheblich verringern könnten. Ich glaube nicht, dass die Prohibition die Risiken, die mit dem MDMA-Gebrauch auf Raves verbunden sind, verringert.

az: Nach all diesen Jahren: Gibt es irgendwelche wissenschaftlichen Beweise für Gefahren des therapeutischen oder des Freizeitgebrauchs von reinem MDMA?

Rick Doblin: Ja, es gibt Gefahren sowohl beim therapeutischen wie beim Freizeitgebrauch von MDMA. Keine Droge ist vollkommen sicher oder frei von Nebenwirkungen. Die größte Gefahr des therapeutischen Gebrauchs ist erhöhter Blutdruck. Deshalb schließen wir derzeit in unseren MDMA-Studien Menschen mit Bluthochdruck und beeinträchtigter Herzfunktion aus. Das Risiko der Neurotoxizität und möglicherweise reduzierter geistiger Leistungsfähigkeit ist kein bedeutendes Problem im Zusammenhang mit dem therapeutischen Einsatz von MDMA.
Was den Freizeitgebrauch betrifft, sind unreine Drogen eines der größten Risiken. Ein weiteres meines Erachtens ernsthaftes Risiko ist die Aufdeckung tiefer und komplexer Gefühle, für deren Erfahrung manche Menschen nicht bereit sind. Das kann dazu führen, dass man sich nach MDMA schlechter fühlt, wenn Gefühle hochkommen und man sie dann zu verdrängen versucht. Überhitzung ist auch eine Sorge, weniger das Trinken von zuviel Wasser. Neurotoxizität ist meines Erachtens kein bedeutendes Problem, selbst bei Leuten nicht, die MDMA ziemlich regelmäßig und über lange Zeiträume nehmen. Wie auch immer, es gibt einige Beweise dafür, dass Menschen, die 60mal oder häufiger MDMA genommen haben, bei manchen neurokognitiven Tests schlechter als der Durchschnitt abschneiden, aber immer noch innerhalb der normalen Spannbreite. Ob das auf MDMA direkt oder auf andere Faktoren zurückzuführen ist, ist unklar.
Mit der Steigerung der Dosis und der Einnahmefrequenz steigt auch das Risikopotential.

az: Kürzlich hat es eine emotional aufgeladene Diskussion über Eure Unterstützung des Gebrauchs von MDMA in Fällen traumatisierter israelischer Soldaten gegeben. Kannst Du in Kürze die Fakten klar stellen?

Rick Doblin: MAPS sponsert eine Leitstudie in Israel, die den Einsatz von MDMA-unterstützter Psychotherapie bei Subjekten mit Kriegs- und Terrorismus-bedingtem Post-Traumatic-Stress-Disorder (PTSD) untersucht. Die Studie ist in Gänze genehmigt und soll im Juli 2006 beginnen. Derzeit (April 2006) sind wir dabei, die Ausbildung des israelischen Co-Therapeuten-Teams vorzubereiten, indem wir sie nach Charleston, SC, bringen, damit sie Dr. Michael und Annie Mithoefer dabei beobachten können, wie sie dort MDMA/PTSD-Sitzungen durchführen.

az: MAPS hat Forschung unterstützt, die sich damit beschäftigt hat, den sichersten Weg für die Applikation von Cannabinoiden herauszufinden. Vaporizer, Wasserpfeife, Purpfeife oder Joint, was ist die für die Atemwege sicherste Methode der Cannabinoid-Zufuhr?

Rick Doblin: Die sicherste Methode ist der Gebrauch eines Vaporizers, der die Verbrennungsprodukte eliminiert. Aber da selbst das Rauchen von Marijuana nicht ursächlich mit Lungenkrebs in Verbindung gebracht wurde, ist es schwierig zu artikulieren, welche Risiken durch das Vaporisierungssystem reduziert werden.

az: Hat es andere wichtige Entdeckungen rund um das heilige Kraut gegeben?

Rick Doblin: Die jüngste Studie von Dr. Donald Abrams hat gezeigt, dass Marijuana signifikante Wirksamkeit bei der Behandlung HIV-bedingter Neuropathie (Schmerzen) hat.

az: Wie sieht es aus mit Salvia divinorum und seinem Wirkstoff Salvinorin A? Gibt es derzeit irgendwelche Forschungen dazu, wie man sie effektiv in einem therapeutischen oder spirituellen Kontext nutzen kann?

Rick Doblin: Ich weiss von keiner klinischen Forschung am Menschen mit Salvia oder Salvinorin A. Wenn man wissen will, wie man sie am effektivsten im spirituellen Kontext gebraucht, dann sind die Kulturen, die sie bereits nutzen, die besten Informationsquellen.

az: Ich weiss, es dauert in den USA sehr lange, bis man die Regierungs-Erlaubnis für psychedelische Forschung erhält. Was sind die größten Schwierigkeiten dabei?

Rick Doblin: Die FDA betrachtet die Protokolle vorrangig unter wissenschaftlichen und nicht politischen Gesichtspunkten. Mehr können wir nicht erwarten. Die Hauptschwierigkeiten kommen von der DEA, die Lizenzen ausstellen muss, damit die Studien beginnen können. Ihr ist kein regulärer Zeitplan vorgeschrieben, nach dem sie handeln muss, was eine Verzögerungsstrategie von Seiten der DEA zur Folge hat. Wir müssen oft politischen Druck auf die DEA ausüben, damit sie unsere Studien genehmigt. Die DEA hat Angst davor, dass objektive Forschung den aufgebauschten Informationen über die Risiken widerspricht, die vom National Institute on Drug Abuse (NIDA) herausgebracht werden.
Wenn man an Regierungsfinanzierung denkt, dann kann man das für die nächste Zeit vergessen. Ein stark einschränkender Faktor ist die Finanzierung, aber es war bis jetzt schwieriger, die Erlaubnis zu erhalten. Deshalb bin ich stolz, sagen zu können, dass unser Spendenaufkommen immer ausreichend war und keine Studien durch einen Mangel an Finanzen hinausgezögert wurden.

az: Stellt die für die Genehmigung und Durchführung von legaler Forschung notwendige Zusammenarbeit mit Behörden wie der DEA ein mögliches Risiko für die Menschen dar, die mit den Wissenschaftlern zusammenarbeiten? Ich denke, das ist eine wichtige Frage, denn unter den gegenwärtigen Gesetzen mögen manche der Unterstützer psychedelischer Forschung in dieser Hinsicht persönlich verwundbar sein. Es gab da auch einige Gerüchte rund um den Forscher Dr. John Halpern, er sei in der Zusammenarbeit mit der DEA zu weit gegangen.

Rick Doblin: Versuchspersonen in der psychedelischen Forschung, ausgeführt von Dr. Halpern und Anderen, sind absolut keinem Risiko von Seiten der DEA ausgesetzt. Die Forscher erhalten ein von der Regierung ausgestelltes Vertraulichkeitszertifikat, das davor schützt, dass Informationen über die Versuchspersonen an die DEA weitergegeben werden.

az: In den letzten Jahren haben die Behandlung von Cluster-Kopfschmerzen mit Psilocybin, Entzugsbehandlungen mit Hilfe von Ibogain und Ayahuasca („Daime“), als Sakrament im rituellen Kontext brasilianischer Religionen eingenommen, besonderes Interesse hervorgerufen. Was geht gerade jetzt in der psychedelischen Forschung ab?

Rick Doblin: Studien, den Nutzen von Psilocybin zur Behandlung von Angst bei Krebspatienten zu untersuchen, und unsere bald beginnende Studie, die MDMA zur Behandlung der Angst bei Krebspatienten einsetzt. Anstrengungen werden unternommen, die LSD-Forschung wiederzubeleben, zuerst für grundlegende Gehirnforschung, dann gegen Cluster-Kopfschmerzen, schließlich für LSD-Psychotherapie.

az: Wo liegt die Zukunft der psychedelischen Forschung?

Rick Doblin: In der therapeutischen Applikation bei psychischen Krankheiten, so dass Psychedelika verschreibungsfähige Medikamente werden können.

az: MAPS spielt eine bedeutende und angenehm sichtbare Rolle in der weltweit verstreuten psychedelischen Gemeinschaft. Was sind die besten Events, wo man sich treffen, kommunizieren und feiern kann?

Rick Doblin: Der Burning Man, das Boom Festival und Konferenzen, wie „Spirit of Basel“, die Albert Hofmann´s 100ten Geburtstag feierte.

 

 

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Reisen

Gefahr im Paradies – Das Reiseziel Thailand im Wandel

HanfBlatt, Nr.103, September 2006

Gefahr im Paradies

Thailand gilt trotz Kommerz und Prostitution als kommodes Reiseland. Aber der Traum vom Travelerparadies zerbröselt langsam, denn undenkbares geschieht: Thailändische und europäische Geschäftsleute bekriegen sich, auf den Urlaubsinseln kommt es zu Vergewaltigungen, die Polizei jagt Kiffer.

Zwei Opas hocken auf dem Boden und sortieren ihr Gepäck. Nach der Reinraum-Atmosphäre des Flughafen München wirkt der Bangkok Airport wie ein vernachlässigter Busbahnhof. Eine Halle weiter gießt eine US-Althippiefrau mit dem Wasser aus ihrer Trinkflaschen die Plastik-Blumen, vor der Tür singen junge Soldaten leise Thai-Lieder und kichern, dazu taktet ein Verkehrs-Polizist mit seiner Trillerpfeife. Über der Szenerie hängt eine ultraschwüle Dunstglocke, wir sind glücklich, wir sind durch den Zoll, wir sind angekommen. Mal wieder Thailand gebucht.

Wir rasen mit einem Taxi in die Stadt, über uns, in einer zweiten Etage, die Gebühren-Autobahn. Drogen sind verboten, aber auf dem Nachtmarkt am Patpong stieren viele Thais aus Speed-Augen fröhlich-angepannt in der Gegend rum. Touris wie wir sind Beute, man versucht uns in eine Ping-Pong-Show zu zerren, aber meine Freundin hat wenig Lust darauf, Tischtennisbälle mit dem Druck südlich gelegener Organe durch den Raum schießen zu sehen. Wir lassen uns lieber weiter durch die Nacht treiben.

Am nächsten Tag: Weiterfahrt nach Ko Chang, einer Insel vor der Küste von Kambodscha, die noch zu Thailand gehört. Touristisch voll erschlossen ist das Leben gleichwohl angenehm, wer ruhige Ecken sucht, der findet sie im Süden der Insel. Entspannung, Lesen, Schwimmen im klaren Wasser, frischer Fisch. Alles gut und schön, aber ich träume des Nachts heftig und habe meine Medikamente vergessen.


Strand auf Ko Chang

Die Bar am Lonely Beach muffelt, aber hier Essen wir den besten „Fried Rice“ der Reise. Ein gekonnt in den Sitzpolstern hängender Australier hört sich mein Leiden an. Der Mann lebt seit drei Jahren in Thailand und stimmt mir zu, dass Inhalations-Kräuter gegen meine vielen Träume helfen sollten. Zufällig hat er eine Probe dabei. Australisches Killer-Weed, meine Freundin schläft gleich ein, ich versinke in Gesprächsfaulheit. Tropische Hitze und Jetlag. Der Mann murmelt von den Problemen, die in Thailand mittlerweile herrschen, wenn man Gras erwerben möchte.

Ein Barkeeper, der aussieht als hätte er Bob Marley das kiffen beigebracht, schüttelt entgeistert den Kopf. „No Weed, no“, sagt er und umgeht weitere Nachfragen. Weitere Bemühungen um ein Pfeifchen sind erfolglos. Was ist los in Thailand, dem Ballermann für Traveller? Wo ist der Treibstoff allen lässigen Daseins? Die Antwort liegt im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umbruch, den das Land seit einigen Jahren erlebt.

Bis 1994 qualmen auf den legendären Full-Moon Parties auf der Insel Ko Phangan die Chillums, Rave-, Naturliebhaber und Drogenfreaks aller Länder versammeln sich bei Vollmond am damals noch wunderschönen Hadrin-Beach und feiern das Leben und die Liebe. Aber es kommt wie so oft: Die Vermassung der Veranstaltung führt zu Problemen. Schon 1999 empfinde ich Hadrin als dreckiges Nest, indem sich brunstige Halbstarke aneinander schubbern. Polizeikontrollen sind obligat, aber den Herren geht es nicht um Ordnung, sondern um Geld. Hunderte von Party-Kleinkiffern sitzen seither immer wieder in den Gefängnissen Thailands.

Im Jahre 2003 kommt es dann zu einer politischen Aktion, die bis heute vor allem in den Köpfen der Thais nachwirkt, die sonst eine eher lässige Einstellung gegenüber Genussmitteln pflegen. Premierminister Thaksin Shinawatra ruft seine „Antidrogenkampagne“ aus. Weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit tötet die Polizei und das Militär daraufhin zwischen 2003 und 2004 mehr als 2500 Menschen. Die junge Demokratie Thailands kommt in solchen Momenten ohne rechtsstaatliche Verfahren aus. Aus Sicht der Regierung sind dies alles „Drogenhändler“, Menschenrechtsorganisationen bezweifeln das.

Denn: Die Säuberungsaktionen wütet vor allem im Süden der Republik. In diesen hautpsächlich muslimischen Povinzen des Landes herrschen seit Jahren bürgerkriegsähnlichge Zustände. Mindestens 1500 Menschen sind hier bei Bombenanschlägen und bewaffneten Auseinandersetzungen umgekommen. Oft ist unklar, wer hier wann gegen wen kämpft. Die Regierung in Bangkok hat die Kontrolle verloren und flüchtet sich in Gewaltakte und Ausreden. Fakt ist: 1902 annektiert Siam das südliche Königreich Pattani, eine umfangreiche kulturelle Kolonialisierung fand statt, die Malaien mussten Thai-Namen annehmen und wurden auch wirtschaftlich unterdrückt. Heute gehört die Region zu den ärmsten im Land.

Parallel dazu ändern sich auf den klassischen Urlaubs-Inseln und der Küstenregion rund um Phuket die Spielregeln. Ko Samui, eine Insel im Golf von Thailand, die rund ein Drittel so groß wie Rügen ist, wird jährlich von mehr als eine Millionen Urlaubern frequentiert, 60 Prozent davon kommen aus Großbritannien. Sie treffen auf knapp 30.000 Insulaner. Die Probleme häufen sich seit es Ausländern („Farang“ genannt) erlaubt ist Grundstücke zu erwerben. Innerhalb der letzten vier Jahren sind über 30 Prozent des Grund und Bodens an Ausländern übergegangen. Hotels, Bars, Villen, Ressorts: Die Lebensgrundlage der Thais wandert langsam in fremde Hände.

Neid kommt auf. Vandalismus, Einbrüche, Überfälle, früher auf Ko Samui äußert selten, mehren sich. Seit 2005 kam es zu mindestens drei Vergewaltigungen, im Januar diesen Jahres wird die 21-jährige Britin Katherin Horton missbraucht und anschließend getötet. Zwei Fischer , die nicht von Ko Samui stammen, gestehen den Mord, sie werden in einem kurzen Prozess zum Tode verurteilt und warten seither in der Zelle auf ihre Berufungsverhandlung.


Südküste von Ko Samui

Ein Team von Polizisten aus Bangkok reist an, der alte Polizeichef wird gefeuert. Aber auch die wissen: Auf Ko Samui stehen inzwischen reiche einheimische Familien und Ausländer im versteckt geführten Kampf. Und: Das asiatische Naturell konfrontiert sich und andere nur äußerst ungern mit Problemen. Zeitungen werden zu freundlichen Berichten gezwungen, die Arbeit von Journalisten vor Ort behindert.

Cannabis gehört seitdem die ersten Hippies die weißen Sandstrände Thailands entdeckten zum Service-Paket der Thailänder hinzu. Das „You name it, we got it“ stieß nur dann auf Grenzen, wenn Polizei in der Nähe oder zu große Mengen geordert wurden. Der Schmusekurs scheint vorbei, denn mit dem Zuzug von immer mehr Fremdlingen nimmt auch die Bereitschaft zu, diese als unliebsame Konkurrenz zu identifizieren.

Schusslinie

Auf dem Rückweg nach Deutschland hauen wir uns noch eine Nacht in Bangkok um die Ohren. Mittlerweile für das Thema sensitiv erfahre ich, dass erst vor zwei Wochen eine Frau aus dem australischen Brisbane vor einem Club im Stadtteil Kanchanburi erschossen wurde. Die Backpackerin geriet in die Salve eines Motorradfahrers, der im Vorbeifahren blindlings in die Menge schoss. Der englische Inhaber des „Up2You“ will von nichts wissen, aber die Gerüchte in der Stadt sprechen schon lange von rivalisierenden Gastro-Banden.

Die Ereignisse treffen Thailand in einer stürmischen Zeit. Korruptionsskandale, ständige Neuwahlen, abdankende und wiederkehrende Premierminister, Verfassungskrisen. Dazu Wahlstimmenkauf, Korruption, Vetternwirtschaft. In Thailand ist es üblich, Aufträge an die Verwaltung mit kleinen Geschenken zu versehen. Reibungslosigkeit soll garantiert werden.

Auf dem Weg zum Bahnhof geraten wir in eine der vielen Demonstration, die seit Monaten Bangkok immer wieder lahm legen. Auslöser der Massenproteste waren Aktiengeschäfte der Familie des Premierministers. Der ohnehin millionenschwere Unternehmer-Clan hatte seine Anteile des Telekommunikationskonzern Shin Corp an Temasek Holdings, eine Staatsholding aus Singapur, verkauft. Der Wert des Pakets: satte 1,6 Milliarden Euro. Der Clou: Weil nur Privatpersonen agierten, war der Handel nach thailändischem Recht auch noch steuerfrei. In den Augen vieler Thailänder brachte dies das Fass zum Überlaufen, gab es doch seit längerem Vorwürfe gegen Thaksin, seine Amtsgewalt zu missbrauchen, um sein Vermögen und das seiner Günstlinge zu mehren. Heute besteht in Thailand eine allzu enge Verbindung von staatlicher Macht und Großkapital.

Das südostasiatische Land hat in den sechs Jahrzehnten unter König Bhumibol 15 Verfassungen, 18 Staatsstreiche und 25 Regierungschefs erlebt. Jüngst wurde Thaksin Shinawatra aus dem Amt gejagt, eine Militär-Junta leitet das Land und verspricht Wahlen im Oktober 2007. Der König war der einzige Fixstern, an dem sich die Bevölkerung in turbulenten Zeiten orientieren konnte, die Verkörperung des nationalen Stolzes. Noch bestimmt das freundliche Lächeln dem Umgang der Thais untereinander und mit den Gästen. Aber der Einfall devisenstarker Westler und die unausgereifte demokratische Streitkultur werden nicht für ewig von dem Walten Bhumibols überdeckt werden können.

Das Verhalten des Kronprinzen jedenfalls gibt Anlass zur Sorge. Der 53 Jahre alte Offizier hat meistens seinen Hund „Fufu“ dabei, der im Dienstrang eines Hauptmanns steht und bei wichtigen Anlässen in Galauniform und Lackstiefelchen auftritt.

 

 

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Elektronische Kultur Mixed

Glasfasernetz bricht alle Rekorde

Computerwoche, 01.09.2006

Glasfasernetz bricht alle Rekorde

Vor kurzem hat das „Win-X“, die vierte Generation des Deutschen Forschungsnetzes, den Dienst aufgenommen. Reine Glasfaserkabel erlauben Datenraten im Terabit-Bereich.

Beim Deutschen Forschungsnetz (DFN) handelt es sich um eines der leistungsfähigsten Datenkommunikationsnetze weltweit – mit entsprechend komplexer Infrastruktur (siehe Kasten „Die vierte Generation des DFN“). Die Datenmengen, die von den verschiedenen Universitäten und Institutionen untereinander ausgetauscht werden, sind enorm. Der Versand über das Internet wäre fehleranfällig, zudem würde er hohe Investitionen in Router-Techniken verursachen.

Hochleistungsrechner koppeln

Das mittlerweile in vierter Generation unter dem Namen „X-Win“ existierende DFN ist – wie auch der europäische Bruder „Géant2“ – als hybrides Netz aufgebaut: Es unterstützt sowohl den IP-Verkehr als auch geschaltete Punkt-zu-Punkt-Verbindungen. Typische Anwendungen für Letztere sind die Datenverteilungen von Teilchenbeschleunigern, die Kopplung von Hochleistungsrechnern oder die Auswertung von Daten aus Sternwarten.

xwin topologie

Diese Verbindungen durchziehen wie Tunnel das Netz und verbinden die Wissenschaftsstandorte direkt, ohne dass die übertragenden Daten für den Internet-Verkehr sichtbar sind. Davon verspricht sich die Forschergemeinde nicht nur Unabhängigkeit von den großen Routern, sondern – dank der strukturell einfachen Verkehrsbeziehungen – auch besser planbare Datenströme.

Das LHC-Experiment des Cern

Dazu ein Beispiel: Das Forschungszentrum Karlsruhe wird ab 2008 am LHC-Experiment (Large Hadron Collider) des Cern in Genf beteiligt. Der unterirdische Teilchenbeschleuniger generiert dann Datenströme von einer Million Gbyte/s (1 Petabyte). Pro Jahr wird der 26,7 Kilometer lange Ring Experimentaldaten in der Größenordnung von drei Millionen DVDs ausspucken.

Für die Auswertung wird in Karlsruhe ein PC-Cluster mit mindestens 4500 Prozessoren neuester Technik installiert. Sie sollen eine Rechenleistung erbringen, die der von 22000 Pentium-III-Prozessoren (mit einem Gigahertz) entspricht. Dieses „Gridka“ wird 1500 Terabyte an Daten auf Festplatten und rund 3800 Terabyte auf Bändern speichern. Die Rechnerschränke und damit das gesamte PC-Cluster werden vollständig mit Wasser gekühlt.

Weltweit arbeiten 5000 Wissenschaftler aus 50 Nationen an dem Experiment. Große Projekte dieser Art sind nach Ansicht der Forschergemeinde nur noch in technisch enger internationaler Kooperation zu leisten. Ein schnelles und stets verfügbares Kommunikationsnetz ist dafür unabdingbar.

Das X-Win besteht im Kern aus drei untereinander verknüpften Ringstrukturen – im Norden, der Mitte und dem Süden der Republik. Um einen möglichst umfassenden Zugriff auf die Physik der Leitungen zu haben, hat der DFN-Verein hauptsächlich „Dark Fiber“ angemietet, also die pure Glasfaser. Nur wenn das nicht möglich war, griff er auf angemietete Wellenlängen zurück. Die Trassen (siehe Abbildung) sind so vermascht, dass in jedem Fall mindestens zwei unabhängige Wegführungen existieren.

Die nötigen Glaserfaserstrecken hat das DFN mit Zehnjahresverträgen beim holländischen Telekommunikationskonzern KPN und bei der deutschen Gasline angemietet, einem Spinoff diverser Energieversorger. KPN hat 2200 Kilometer Dark Fiber für den DFN-Verein bereitgestellt; insgesamt besitzt der Provider in Europa Glaserfaserringe mit insgesamt 25000 Kilometern Länge. Das Lichtwellenleiternetz der Gasline ist in Deutschland mehr als 7800 Kilometer lang. Sein Vorteil: Die meisten Trassen des X-Win befinden sich – bis auf die „Last Miles“ zu den Forschungsgebäuden – entlang der physikalisch gut geschützten Gas-Pipelines; zudem übernimmt Gasline die Wartung der Leitungen.

Siebenmal dünner als ein Haar

In einem normalen Glasfaserkabel stehen 144 Fasern zur Verfügung. Um sie optimal zu nutzen, kommen „Wavelength-Division-Mulitplexer“ (WDM) zum Einsatz. Dabei werden bis zu 16 Wellenlängen mit maximal 10 Gbit/s auf eine einzelne Faser gelegt. An der Quelle wandelt der WDM die elektrischen Signale aus dem Ethernet per Laser in optische Signale um.

Diese Lichtwellen unterschiedlicher Länge laufen durch die Glasfaser, die siebenmal dünner als ein menschliches Haar ist, ohne sich gegenseitig zu stören. Auf diese Weise stehen mehrere, voneinander unabhängige Übertragungswege zur Verfügung. Am Empfangsort bereitet ein WDM aus den Wellen wieder elektrische Signale. Der Auftrag zur Überwachung des Gesamtnetzes ging an ein Konsortium, das von den Anbietern Colt und Dimension Data gebildet wird. An 35 Kernnetzstandorten des X-Win kommen (Dense-)WDMs von Huawei („Optix BWS 1600g“) zum Einsatz, die bis zu 160 Wellenlängen mit 16 Gbit/s unterstützen. Geräte dieser Baureihe speisen beispielsweise auch das atlantische Unterseekabel zwischen Halifax (Kanada) und Dublin (Irland).

Als Vermittlungseinheiten dienen an zentralen Stellen Cisco-Router vom Typ „CRS-1“ der neuesten Bauart. Das Forschungsnetz ist also kein billiges Vergnügen: Die Router hatten bei ihrer Vorstellung im vergangenen Jahr einen Orientierungspreis von rund 450000 Dollar pro Stück. An weiteren acht Orten sind Cisco-Router der Baureihe 7609 in das X-Win eingebunden.

Insgesamt sind an den über 500 Standorten in Deutschland Anschlusskapazitäten von bis zu 10 Gigabit/s möglich. 46 Standorte sind derzeit an das „Kernnetz“ angeschlossen, wo sich bei Bedarf die Kapazität in den Terabit-Bereich erweitern lässt. Von diesen Institutionen sind 38 mit 5500 Kilometer Dark Fiber verbunden.

Dieses Vorgehen hat seine Vorteile bereits ausspielen können: Mehrere Universitäten ermöglichen sich heute ein gegenseitiges Backup wichtiger Daten. Die Anschaffung und Wartung physisch getrennter und zudem feuergeschützter Speichermedien und -geräte entfällt.

Das X-Win ist kein geschlossenes Netz, Übergänge in das Internet sind über mehrere Gateways sichergestellt. Unter anderem ist das Netz an den größten deutschen Austauschknoten ins Internet, den Decix in Frankfurt am Main, angeschlossen. Gleich vier Gateways existieren zu T-Interconnect, weitere 16 zu anderen Internet-Ser- vice-Providern.

Stark ausgelastete X-Win-Standorte wie Karlsruhe sind mit 30 Gbit/s an die Nachbarstandorte angeschlossen. Kapazitäten von 32 mal 10 Gbit/s auf einer Faser werden derzeit auf Internet-Hochverkehrsstrecken wie Düsseldorf-Frankfurt am Main geführt, über die das Rhein-Ruhr-Gebiet mit dem Frankfurter Raum verbunden ist. Leitungskapazitäten von 80 Gbit/s bündeln sich an zentralen Schaltstellen wie dem Kernnetzstandort Frankfurt; hier kreuzt sich die Strecke zwischen Aachen und Erlangen mit der zwischen Karlsruhe und Hannover.

2,9 Petabyte pro Monat

Im monatlichen Mittel senden die Hochschulen und Forschungseinrichtungen, die über das X-Win miteinander vernetzt sind, fast 9 Gbit/s in das Netz, und sie empfangen annähernd dieselbe Datenmenge, so dass sich das Datenaufkommen pro Monat auf 2,8 Petabyte summiert. Damit entspricht der Datenverkehr in das X-Win hinein und wieder hinaus einem Fünftel des Verkehrs, der am DeCIX, dem „Herz des deutschen Internets“, fließt.

 


 

Die vierte Generation des DFN

Das Deutsche Forschungsnetz (DFN) ist ein von der Wissenschaft selbst verwaltetes Hochgeschwindigkeitsnetz, das Hochschulen und Forschungseinrichtungen untereinander und mit dem europäischen Ausland verbindet. Seit kurzem ist mit X-Win die vierte Generation in Betrieb. Alle wichtigen Forschungsinstitutionen sind Mitglieder im DFN-Verein: Helmholtz- und Leibniz-Gemeinschaft, das Berliner Zuse-Institut, Fraunhofer- und Max-Planck-Gesellschaft. Auch private Unternehmen wie die Schering AG, T-Systems und Hewlett-Packard setzen auf das X-Win. Insgesamt nutzen 2,5 Millionen User dieses deutsche Highspeed-Netz.

 

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Psychoaktive Substanzen

Interview mit dem visionären Künstler Fred Weidmann

Hanfblatt, Nr. 103, September 2006

Kunst war mir immer suspekt

Ein Interview mit dem visionären Künstler Fred Weidmann

Der Künstler Fred Weidmann ist an psychedelischer Kunst Interessierten ein Begriff durch seine faszinierenden Porträts psychoaktiver Pilze und inspirierende Hanfdarstellungen, wie sie z.B. der NachtschattenVerlag publiziert hat. Jüngst konnte man fantastische Bilder von ihm im Original und mitsamt anwesendem Schöpfer auf dem mittlerweile schon legendären „Spirit of Basel“-Symposium anlässlich des 100sten Geburtstages von LSD-Entdecker Albert Hofmann bewundern. Fred Weidmann hat aber noch weitaus mehr geschaffen und zu vermitteln. Grund genug, ihm Aufmerksamkeit zu schenken.

az: Du bezeichnest Deine Kunst als visionär. Das lässt sich aus dem Bauch heraus nachvollziehen, aber was verstehst Du selbst unter visionärer Kunst?

Fred Weidmann: Man findet Meinesgleichen am ehesten unter dieser Rubrik: Visionäre Kunst. Vielleicht ist das gut so. Mir wäre „Bewusstseinskunst“ lieber. Über die Jahre habe ich erlebt, dass alle vernünftigen Namen (auch „Visionary Art“) von gierigen Grüppchen für sich belegt worden sind. Wenn ich also antworten soll, was ich unter visionärer Kunst verstehe, dann müssen wir erst über „die Kunst an Visionen zu gelangen“ reden. Ich glaube grundlegend für visionäre Kunst ist: Man berichtet von Visionen. Der Künstler legt oder setzt sich hin und wartet auf Visionen, die er sich merkt, falls sie kommen. Er skizziert oder malt sie, weil es ihn treibt, davon zu berichten. Und er kann das, weil er eine Vision, ein inneres Gesicht, hatte oder gerade hat. Manche berichten live vom Land des inneren Lichts. Eigentlich sind nur das die echten visionären Künstler. Der echte Visionär schwebt an der Grenze zu anderen Bewusstseinszuständen, Träumen oder Halluzinationen. Dabei versucht er sein Beobachter-Bewusstsein wach zu halten, um noch Skizzen oder Notizen machen zu können. Der Visionär ist nicht einfach besoffen oder weggetreten. Er erfindet auch nicht voller Raffinesse die Zukunft, sondern er ist besonders wach im Jetzt und Hier. Bei den weniger Echten, scheinen die Visionen sich nicht einstellen zu wollen, so dass sie auf dem Weg dorthin alles Mögliche erdenken und erkünsteln. Auch das können nette Menschen sein, aber sie entlehnen gerne Dinge, benutzen abgegriffene Symbole und hängen in Trends, weil nichts Eigenes, Jetziges von Innen an ihren Schädel pocht. Ich weiss, ich verwende das Wort visionär sehr eng, weil ich mich über den inflationären Missbrauch des Wortes in Wirtschaft und Politik ärgere. Man muss ja nicht diesen mühsamen Weg der Bewusstseinsarbeit gehen. Man kann ja auch andere Motivationen für sein bildendes Tun finden.

az: Wie würdest Du diese Richtung gegenüber psychedelischer und fantastischer Kunst abgrenzen?

FW: Ich finde, alle Kunst, die diesen Namen zu Recht trägt, sollte psychedelische Kunst sein. Sie sollte die Seele ansprechen oder von besonderen seelischen Zuständen berichten. Der Begriff ist aber heimtückisch. Wenn einer von deiner Kunst sagt, sie sei psychedelisch, dann meint er, dass du Drogen nimmst. Der Name bezieht sich mehr auf den Weg der Ideenfindung hinter den psychedelischen Werken. Man unterstellt dir, du seist mit deinem Werk gedoped ins Ziel gegangen. Das ist wieder die Sache mit der Zuschreibung: Gibt es nüchterne Kunst? Ich glaube nicht, weil Kunst und Nüchternheit sich ausschließen. Die Anderen, die uns Bewusstseinsarbeiter anfeinden, sind meist dem Alk zugeneigt. Ein echtes psychedelisches Werk aber ist visionär, fantastisch, ehrlich, spontan, erleuchtet, ungekünstelt und einmalig, nicht wiederholbar. Ich selber bin nicht immer psychedelisch, also nicht visionär, erleuchtet, und nicht auf Drogen. Meistens arbeite ich wie ein Illustrator, setze Ideen illustrierend um. Dann wieder bin ich einfach der brave Protokollant eines Augenblicks in der realen Aussenwelt und versuche diese mit Respekt wiederzugeben. Wenn ich unterwegs bin, habe ich immer ein Tagebuch zum Aquarellieren dabei. Manche Experten meinen, Hanf – in Maßen verabreicht – sei dieser Art der Hinwendung zuträglich. Sorgfalt bei der Beobachtung hilft auf jeden Fall. Fantastische Kunst muss nicht visionär im engen Sinne sein.

az: Wer sind Deine wichtigsten künstlerischen Vorbilder und warum?

FW: Ich fühle mich der deutschen Romantik (Philipp Otto Runge) und einigen Ansätzen im 20sten Jahrhundert verpflichtet. M.C. Escher könnte in 100 Jahren noch relevant sein, vielleicht der einzige Nüchterne der Kunstgeschichte. Escher hat praktisch für alle regelmäßigen Flächenfüllungen Sinn-gebende Lösungen gefunden. Das klingt nicht weiter berauschend, ist aber für den, der im Tun etwas wie er finden will, ein Weg zur Erleuchtung. Beim Ornamentieren beschäftigt sich das Gehirn erst mal nur mit Kanten von Vielecken, mit geraden, krummen und gebrochenen Linien, spiegeln, drehen, verschieben.
Dabei geschieht das Figuren finden fast automatisch, weil die Gesetze der Pflasterung selbsttätig wirken. Dein Gehirn ist beurlaubt.
Ohne die Surrealisten wäre meine Arbeit nicht denkbar. Aber es ist eher die Reibung mit den Bekenntnissen hinter dieser Kunstrichtung, die mich zu Surrealismus-Anspielungen angetrieben hat. Noch immer geistert der ungelesene Freud durch jene Reihen. Noch immer bilden Surrealisten exklusive Gralshütervereinchen.
Vorbilder darf man in der Jugend haben. Später hat man genug zu tun, um bis an seine individuellen Grenzen zu gelangen. Da ist man zwangsläufig einsam. Besser als andere Künstler im Auge zu haben, ist es, ab und zu ein Buch zu lesen. Ich darf das vielleicht an einem Beispiel illustrieren: Seit alters her gibt es die Weisheit, dass die Welt im Großen sei wie im Kleinen. 1980 kam Mandelbrots erste Publikation über den fraktalen Aufbau der Welt. Es war die Geburt einer neuen Mathematik, und sie erzeugte ganz wie die Ornamentik automatisch die wunderbarsten Pflasterungen, Seepferdchenalleen etc.. Manch ein Künstler riss die Gelegenheit an sich und gebrauchte die neue Ästhetik. Solche Leute können nicht Vorbild sein. Vorbild ist der Gedanke, dass in der Natur Fraktales geschieht, dass ein Apfel näher an der Dreidimensionalität liege, als die Blattrosette eines Löwenzahns. Auch ist die Anwendung Fraktale schreibender Programme noch keine Kunst, das Programm schreiben dagegen schon eher.
Natürlich gibt es Einflüsse von bildenden Künstlern, aber die kommen von vielen Seiten. So verdanke ich einem zu früh verstorbenen Wiener Maler, Richard Matuschek, die Geheimnisse der Abklatschtechnik. Auch kann ich mich begeistern, wenn Renaissance Künstler mit Weiß auf getöntem Grund gezeichnet haben. Die haben auf dem Papier nach dem Licht getastet. Das ist ganz etwas Anderes als eine Bleistift- oder Tusche-Zeichnung, die die Schatten einzufangen versucht. Oder, wenn Tiepolo Schatten mit der Komplementärfarbe zum Licht malt, und nicht einfach mit Dunkel, dann lass ich mir das nicht entgehen. Aber mir ist wohler, wenn die Erleuchtung aus meiner Situation gedeiht, nicht aus Vorbildern.

fredweidemann

az: Unter Pilzfreunden hast Du Dir zweifellos durch deine faszinierenden Porträts einer Serie verschiedener „Magic Mushrooms“ (im Jahr 2000 als Kalender, sowie als Postkarten im Nachtschatten-Verlag erschienen) einen Namen gemacht. Zwölf Pilzarten haben ihre individuelle einzigartige Darstellung erhalten. Woher hast Du die Inspiration zu diesen Werken bezogen und wie bist Du technisch an die Sache herangegangen?

FW: Ich erzähl Dir jetzt aus dem Herzen von Bayern die Wahrheit, die volle Wahrheit: …but I didn’t inhale! Es gibt Mykologen in Universitätskreisen, die von Berufswegen die Genießbarkeit und die chemische Beschaffenheit von Pilzen erkunden müssen. In diesem Fall hatte ich wunderbare Unterstützung von den kompetenten Fachleuten Dr. Jochen Gartz und Dr. Christian Rätsch. Ich habe deren differenziertes Wissen und ihr Fotomaterial eingebaut. Man hört, dass die Gewichtung der Wirkstoffe bei den verschiedenen Arten von Schleimlingen unterschiedlich sei, das aber sei nicht so wichtig wie der Standort und der Stand deiner Herzensdinge. Jedenfalls als wir den Kalender planten, gab es bereits ein paar Bilder, die so sehr zum Thema passten, dass wir nur noch ein Pilzfoto hineinpappen mussten, um die Wissenschaftlichkeit zu signalisieren. Um zwölf verschiedene Pilze zu behandeln, mussten auch Exoten herhalten, die kein Mensch kennt – ich auch nicht. Da weiss ich gar nicht mehr, wie der göttliche Funke zu mir übersprang. So ist die Mayastele (Psilocybe cubensis) aus dem Bedürfnis entstanden, die grausige, blutige historische Wahrheit der Mayakultur zu verfälschen. Wenn das Werk von einem Anderen wäre, würde ich sagen, der hatte was geraucht.

az: Welche Bedeutung haben Psychedelika für Deine künstlerische Entwicklung gehabt?

FW: Im Jahre 1968 bin ich gerade 30 geworden – das richtige Alter, um einem strebsamen Bildungsbürger den mehrdimensionalen Spiegel in die Hand zu geben. Ich arbeitete damals als Soziologe in einem Projekt der Harvard- Universität, wo Timothy Leary und die Anderen, die man kennt, so vehement Interesse für Selbsterfahrung weckten. Hanf konnte damals noch Visionen auslösen. LSD kam über Umwege von Sandoz. In meinen Kreisen war das Erkenntnisinteresse sehr groß, gaben wir doch vor, etwas von Kommunikation zu verstehen. In den 70ern gab es Menschen, die glaubten an der Realität der realen Welt zweifeln zu müssen. Man durfte an Allem zweifeln, am Ende blieben da nur die eigenen Visionen, für die man das uneingeschränkte Copyright hatte. Kunst war mir immer suspekt, Berichterstattung aus meinem wie auch immer unfertigen Kosmos war jedoch sehr mein Ding. Wie ich dann vom Verkaufen der inneren Wahrheiten zu leben lernen musste, wurde mir klar, dass das in Galerien und mit Einrahmungen zu geschehen hatte. Also ward ich Künstler. Eigentlich bin ich noch immer kein Künstler, sondern noch immer ein Forschender. Das Attribut Künstler kriegt man zugeschrieben. Wenn’s denn stimmt, ist das hoffentlich eine Ehre.

az: Deine Kunst wirkt in der Art der Darstellung, wie in ihren Motiven oft ziemlich erotisch. Man könnte im Künstler geradezu einen Erotomanen wittern. Sind Erotik und Kunst gar letztlich nicht voneinander zu trennen?

FW: In meinem Rechner ist immer eine Rubrik „Erotomanes“. Da tu ich die Arbeiten hin, von denen ich denke, dass sie nicht in Dubai ausgestellt werden können. Ein Leben voller Erotik ist ein schönes Leben – ich steh auf Schmusesex und monogames Vertrauen. Man kann da Erlebnistiefe erreichen, von der man gerne singen würde. Da man aber nicht mit Pinseln und giftigen Farben hantieren und gleichzeitig Sex betreiben kann, kommt immer auch ein Hauch von Sehnsucht nach Erotik ins Werk. Du hast schon Recht mit deiner Frage; Malerei hat etwas von Erotik. Als früh pubertierender Junge malte ich heimlich geile Szenen – anstatt. Und noch immer befällt mich jenes prickelnde Glück wenn ich Themen der Liebe anfasse. Ölfarbe hatte den Vorteil, dass sie sofort verwischt werden konnte, wenn Mutter ins Zimmer kam. Profan aber wahr.

az: Du hast Anfang der Siebziger Jahre den Doktor der Soziologie gemacht und Dich als Kommunikationswissenschaftler mit Missverständnisforschung beschäftigt. Hast Du eine Idee, wie man es als Künstler vermeiden kann, dass man missverstanden wird?

FW: Ja, das ist ganz einfach: Man erwartet nicht, dass man verstanden wird. Hundert Prozent Missverständnis garantiert. In der Tat war das einer der schwierigsten Schritte auf dem Weg der Befreiung. Man hofft immer verstanden zu werden. Jeder von uns versteht ja irgendwie die innere Konsequenz seines Wortens und Tuns und denkt, man könne Solches auch von der Aussenwelt erwarten. So funktioniert das aber nicht. Alltagskommunikation geht ganz anders: Man redet so lange aneinander vorbei, bis genügend Worte aus dem gemeinsamen Wortschatz gefallen sind. Dann kann man aufhören, weil man annimmt, das Gegenüber würde diese ebenso entziffern wie man selbst. Schließlich leitet man daraus ab, es habe Verständigung stattgefunden. Ich schwimme in diesem Ozean von Missverständnissen, Desinformation und Trugschlüssen so einigermassen wohlig. Das geht natürlich nur, wenn man an etwas Wesentlicheres glaubt. Wir kommunizierenden Menschen messen nämlich das nicht Perfekte am Idealen. Wir haben einen Hintergrund, wo wir uns keine Fehler erlauben können, wo wir alle eins sind und totales Verständnis Voraussetzung ist. Vor diesem unfehlbaren Lebensstrom können wir uns den Luxus vordergründiger Missverständnisse leisten. Das ist die Art von Pfauenschwanz oder Hirschgeweih, die uns die Evolution auferlegt hat. Meine Bewusstseinsmalerei will gar nicht zu etablierten Inhalten führen, sie zeigt einen Schritt ins Lockerlassen. Meine Suggestionen sollen nur gespürt werden, ohne dass da jemandem ein Verständnis diktiert wird.

az: Eines Deiner Werke hast Du „Evolution ohne Ziel“ genannt. Ein tolles Bild und ein interessanter Gedanke. Lauert da etwa eine Philosophie absoluter Freiheit um die Ecke?

FW: Das ist schon so. Das Konzert der Evolution ist chaotisch, lässt also keine Voraussage zu. Leider sind wir nicht absolut frei. Aber das ist eine andere Geschichte.

az: Gibt es etwas, was Du in Zukunft noch unbedingt gerne ausdrücken oder womit Du dich gerne noch beschäftigen würdest?

FW: Ja. Jetzt mit 68 Jahren ist es mein sehnlichster Wunsch, wie Albert Hofmann, 100 Jahre zu leben. So lange hätte ich gerne, um ein Spätwerk zu schaffen, weise zu werden. Da sind so viele ungemalte Bilder, so viele Herzensdinge, die ich noch nicht ausgedrückt habe. Aber als Erstes ist ein Werkkatalog in Sicht, der zu meinem 70sten Geburtstag erscheinen soll. Bis es soweit ist, wird meine Homepage die lieben Interessierten auf dem Laufenden halten. Und sollte jemand die eierlegende Wollmilchsau, die der Gravitation trotzt, erfinden, dann wird das meine Pläne ändern.

 


 

Homepage: www.fredweidmann.com

Publikationen:

– Frühe wissenschaftlichen Arbeiten, wie „Grundlagen einer Kommunikationssoziologie“ und Verwandtes (bis 1972, mit späteren Auflagen), gelegentlich antiquarisch erhältlich.
– Ein Bildband „Fred Weidmann“ (1984, Bonn, Troja Verlag), einige Exemplare noch beim Autoren.
– In „Die berauschte Schweiz“ (1998, Nachtschattenverlag, CH-Solothurn)
– Kalender „Magic Mushrooms 2000“ (Nachtschattenverlag), für Sammler haben Verlag und Autor noch einige Exemplare.

 


 

 

 

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Mixed Übermensch

Tröpfchenweises Wissen

Telepolis, 06.08.2006

Endlich ist es soweit: Die drängensten Fragen der Menschheit werden an einem Samstag im September in Berlin beantwortet

Kann es eine Welt ohne Macht geben? Was sind die wichtigsten Werte, die man einem Kind beibringen kann? Täglich laufen rund 300 solcher Fragen auf dem Webserver von Dropping Knowledge ein. Die Initiative sammelt weltweit Fragen, die 100 wichtigsten sollen an einem riesigen runden Tisch am 9. September auf dem Berliner Bebelplatz simultan von 112 Experten beantwortet werden.

Auch diese werden von der Internet-Community vorgeschlagen. Im erlauchten Kreis der Personen befinden sich Wissenschaftler, Künstler, Menschenrechtsaktivisten. Der genaue Auswahl ist nicht bekannt, aber die Mischung wird exklusiv: Terry Gilliam neben Peter Sloterdijk, Yoko Ono unweit von Hans-Peter Dürr? Der „Table of Free Voices“ soll Happening, Video-Session und Antwortstunde zugleich sein. 33 Meter Durchmesser hat das Objekt, dazu 112 Sitzplätze, jeder mit Flachbildschirm und Kamera ausgestattet. Es soll später als Teil einer Wander-Ausstellung um die Welt reisen.

Ein Mitbegründer des Projektes ist der Filmemacher Ralf Schmerberg. Seit drei Jahren organisiert er an dem Event. Die Gelegenheit für eine globale Diskussion sei günstig: „Die Menschen auf der ganzen Welt sind bereit umzudenken. Und das müssen wir alle auch, wenn wir das hier nicht komplett vor die Wand fahren wollen.“

Aber was verspricht man sich von dem illustren Frage-Antwort-Spiel? Ist nicht jede Frage schon einmal gestellt, jedes menschliche Problem in der Antike nicht schon formuliert worden? Und werden die Antworten nicht seit Jahrhunderten ignoriert? Und wie viele falsche Fragen werden den Teilnehmer gestellt werden?
Die Lösung der diskutierten Probleme stehe bei Dropping Knowledge nicht im Vordergrund, sagt Schmerberg. Er erwarte neue Formen der Kommunikation und eine „stärkere Integration der Zivilgesellschaft in bestehende Prozesse“. Denn die sei zwischen Politik und Medien kaum noch zu erkennen.

Ein Team aus 30 Mitarbeitern arbeitet in der Berliner Zentrale, hier wertet man die zur Zeit über 10.000 Fragen aus. Auf der Webseite können die Fragen bewerten werden, die besten schaffen es in die Endrunde. Auf Platz 1 steht momentan die Frage von Martie F. aus den USA: „How do we choose whose lives are most valuable?“ Einige der Fragen sind schon filmisch umgesetzt und bei You Tube zu finden.

Die Nominiertenliste umfasst Wendezeit-Aktivisten wie Fritjof Capra und altegedienten Politikhasen wie Avi Primor. Deutsche Staatsbürgerschaft sind auch dabei, unter anderem Roland Berger, Christoph Schlingensief, Eugen Drewermann und Harald Schmidt. Zumindest um die Heterogitität der Antworten muss man sich also keine Sorgen machen.

Der medienwirksame Veranstaltungstag ist nur der Überbau für ein Projekt, das eine „Wikipedia der Lösungen“ werden möchte. Das Deutsche Forschungsinstitut für künstliche Intelligenz (DFKI) hat dazu eine umfangreiche Software entwickelt. Am 9. September kann nicht nur jeder online die Fragen zeitgleich mit den Partizipanten am Tisch beantworten. Es werden auch die ersten der 11.200 Antworten in eine „Living Library“ in das Netz gestellt, um eine globale Diskussion über lebenswichtige Fragen anzustoßen. Das Dropping Knowledge-Wissen soll gesammelt, strukturieren, verlinkt und wieder zur Debatte gestellt werden. Eine 3-D Kartographie soll das Navigieren erleichtern, 25.000 Themen sollen so dauerhaft behandelbar bleiben.

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Rezensionen

Rezension T.C. Boyle – Drop City

HanfBlatt Nr. 101

T.C. Boyles Affinität zu Drogengenießern und Randgruppen ist seit „Grün ist die Hoffnung“ bekannt, nun ist mit „Drop City“ sein äußerst gelungener Roman über eine Hippie-Kommune als preiswertes Taschenbuch erschienen. Eine liebenswerte Horde von ständig bekifften und trippenden Hippies übt im sonnigen Kalifornien im Jahre 1970 das naturnahe Leben. Das ohnehin wacklige Gefüge gerät aus den Fugen, als die Polizei das Grundstück schließen will, ein Kind Orangensaft mit LSD-Zusatz trinkt und schließlich der bärtige Ober-Hippie ein Pferd überfährt und eine Massenkarambolage verursacht. Also macht sich der ganze Tross auf nach Alaska, um dort noch besser, noch freier, noch unbeschwerter zu leben. Aber sie treffen dort auf Waldläufer und andere Aussteiger, die Frauen wehren sich gegen den Sexismus innerhalb der Gruppe, in der die Männer eigentlich nur irgendjemand vögeln wollen und das Leben stellt sich auch sonst als verdammt hart heraus.
Wo Boyle in früheren Werken zu skurriler Überzeichnungen neigte, so findet er in „Drop City“ zu einem ernsthaften Stil, der auf der einen Seite den kalifornischen Traum dekonstruiert, auf der anderen Seite aber den Roman-Figuren eine skurrile Würde zuschreibt und sie nie der Lächerlichkeit Preis gibt. Und ganz im Gegensatz zu seinen anderen Romanen kittet die Liebe die vielen Wunden des eiskalten Alaskas am Ende.
Fazit: Selten wurde die subtile Grenze zwischen Idealismus und Naivität einer Generation so fein beobachtet und mit einem spannenden Abenteuerroman verwoben. Oder wie Elke H. sagen würde: Lesen!

T. C. Boyle: Drop City
Roman
592 Seiten
Verlag: DTV
ISBN: 3-423-13364-3
10 EUR