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Drogenpolitik

Mal ganz unten, mal ganz oben, aber immer: Kokain

Telepolis, 7. Januar 2006

Update am 17.07.2009

Mal ganz unten, mal ganz oben, aber immer: Kokain

Dieses Mal traf es Kate Moss. Es reicht: Eine Polemik für mehr Langeweile

Jedes Jahr braucht einen Kokain-Skandal. Anfang der 90er Jahre traf es Carlo von Tiedemann vom NDR, 1995 den Musiker Konstantin Wecker, im Jahr 2000 Fußballtrainer Christoph Daum, dann, drei Jahre später den Kontakt-Talker Michel Friedman. Die Reihe lässt sich fortsetzen: 2003 Kunstmaler Jörg Immendorf und zuletzt, Ende 2005, Kate Moss. Zwischendurch tauchten immer mal wieder Maradonna, Whitney Huston oder irgendein Münchener Promi-Sternchen auf, das auf der Wiesn allzu auffällig den Einkehrschwung nahm.

Was verbindet alle diese Menschen? Ihr Vergehen, Kokain, nasal, und sie haben sich erwischen lassen. Zufallstreffer, so stellt sich nach einer ersten Phase des Leugnens heraus, sind das nicht, die ertappten Schnupfer sind meist passioniert, sie wissen sehr wohl, wie man mit Briefchen, Spiegeln und gerollten Geldscheinen hantiert. Was sie unterscheidet, ist die Intensität ihres Hobbys. Es gibt Fans und fanatische Anhänger, reflektierte Aficionados und blinde Schwärmer. Aus einem Steckenpferd ist bei einigen eine Passion, bei anderen eine Sucht geworden.

Kokain, wie viele andere Drogen auch, steht noch immer unter dem Ruf einer „Teufelsdroge“. Um ihren vom Wohlwollen der Mitbürger und Medien abhängigen Job weiter durchführen zu dürfen, sind die Erwischten in jedem Fall gezwungen, den reuigen Sündern zu spielen. Seltsamerweise fällt ihnen die Schädlichkeit ihres Tuns und ihre Vorbildfunktion aber immer erst dann auf, wenn sie am öffentlichen Pranger stehen.

Anwälte und PR-Berater geben in allen Fällen ein zweistufiges Vorgehen vor: Auf den Boden werfen, um Gnade bitten und im selben Atemzug Besserung geloben. Zunächst fallen dann Worte wie „großen Fehler gemacht“, „schwere Zeit“, „verlogene Drogen“, später wird um eine „zweite Chance“ gebeten. Als Beweis dient der Rückzug in Klausur, heute Entzugsklinik genannt, wo die Delinquenten auf wundersame Weise binnen vier Wochen von ihrer Sucht geheilt werden. Entweder gibt es in diesen Wellness-Kliniken noch bessere Drogen, als alle ahnen, oder aber es stehen Entzugspraktiken zur Verfügung, von denen die gesamte Therapiebranche bisher nichts gehört hat und von denen Junkies in Geldnot nur träumen können.

Die Wahrheit ist eine andere. Die Katharsis ist nur eine symbolische, auch in Parkanlagen eingebetteten, hochglänzenden Zimmern kann nur die erste, dem starken Kokainkonsum eigene Paranoia überwunden und der Same für eine Besserung gepflanzt werden – wenn denn überhaupt eine Abhängigkeit vorgelegen hat. Eine neue Haltung zur Droge kann nur in längerer Arbeit gefunden werden. Egal, der Sündenbock büßt für uns alle, die wir, mit der Fernbedienung in der Hand, den Medikamenten auf dem Nachttisch und dem Doppelkorn im Gefrierfach nach dem Fall der Stars lechzen. Es ist wie Formel 1 schauen: Die Jungs sollen sich ordentlich überschlagen, aber körperlich unversehrt bleiben.

Kokain ist die Chemie der Ich-AG.

Aber halt, werden hier nicht unerlaubterweise alle Drogen über einen Kamm geschert? Werden hier nicht Äpfel (Kokain) mit Birnen (Korn) verglichen. Gibt es nicht gefährliche und weniger gefährliche Substanzen? Die Antwort soll über einen Umweg erfolgen.

Profi-Brutzler Eckart Witzigman, Fritz „Harry fahr schon mal den Wagen vor“ Wepper: Sie alle waren im Schneegestöber versunken; und auch im kommenden Jahr wird wieder ein Promi beim Schniefen erwischt werden.

Die bunte Welt sollte nicht darüber hinwegtäuschen: Kokain ist unter den vielen auf dem Markt erhältlichen legalen und illegalen Drogen auch unter den „Experten“ umstritten. Experten, damit sind hier nicht nur die Männer in weißen Kitteln gemeint, sondern diejenigen, die wissenschaftliche Daten und subjektive Erfahrungen haben oder solche zumindest ernst nehmen. Die meisten Konsumenten erfreuen sich an der treibenden Kraft des Pulvers, das auf dem deutschen Markt selten in Reinheitsgraden über 50% anzutreffen ist.

Selbst die dem Kokain positiv gegenüberstehenden Nutzer geben allerdings an, dass schon die zweite Nase am Abend oft zu dem Phänomen der „Großen Fresse und nichts dahinter“ führt: Es würde themenleer gelabert und meist ginge es nur darum zu beweisen, wer der wichtigere Typ in der Runde sei. Die fluffige Stimmung sei dann oft dahin, der Geltungsdrang passe gut zur auch körperlich spürbaren Verhärtung.

Das Gefühl der inneren Größe sei jedem gegönnt, nur passt Kokain seit Jahrzehnten eben auch aus soziokultureller Sicht gut in die westliche, Ich-bezogene Gesellschaft. Das große Teilen setzt bei Kokain nicht an, geschnupft wird nicht nur aus Gründen der Illegalität meist heimlich. Kokain ist die Chemie der Ich-AG. Eine Nase reicht in den meisten Kreisen nie, eher als bei anderen Substanzen ist beim Schnupfpulver die Gier nach immer mehr eingebaut. Die Haltlosigkeit ist Teil des Spiels. Das ist für erfahrene oder gar mündige Konsumenten kein Problem, sie wissen, dass auch dieser Rausch nur eine weitere Spielart der vielgestaltigen Zusammenhänge zwischen Natur und Mensch ist, vielleicht auch nur eine weitere freudige Illusion.

Aber in den konsumwütigen Industrienationen rieselt dieses Pulver in die Nischen des menschlichen Bewusstseins, das am gleichen Schalter, an dem das Wochenendticket gezogen wurde schnell die Monatskarte kaufen will. Selbsterhellung und Selbstverblendung liegen nie weit auseinander.

Die im Zusammenhang mit Kokain immer wieder zitierten 20er Jahre haben das gezeigt, was viele der starken Koks-Abonnenten selber erleben: Nach der ersten Glamour-Phase zeigt die Substanz ihre Schattenseiten. Wer nicht in der Lage ist, der maßlosen Gier Einhalt zu gebieten betreibt schnell Raubbau am Körper.

Ausgeblendet bleiben Herkunft und Hintergrund der Herstellung der Droge

Nicht nur Menschen mit schwachem Selbstbewusstsein fühlen durch Sternenstaub ungewohnte Stärke und Sicherheit, am nächsten Tag ist das Jammertal umso tiefer. Regelmäßiger Kokaingenuss setzt den Finanzen zu, aber damit hat, wie wir aus Bunte und Gala wissen, ja nicht jeder ein Problem. Schlimmer ist, dass der häufige Konsum der Gesundheit nicht zuträglich ist, selbst wenn die Droge nicht körperlich abhängig macht. Wie so oft ist die Ursprungs-Droge, das Blatt des südamerikanischen Coca-Strauches (Erythroxylum Coca)[1] , milder in Wirkung und Auswirkung als das raffinierte Produkt.
Auch aufgrund der psychischen Nachwehen von Kokain kontrolliert der größere Teil der Kokain-Konsumenten ihren Konsum durch schadensminimierende Regeln und beschränkt ihn auf bestimmte Gelegenheiten.

Ausgeblendet bleibt nicht nur bei den Genießern von Kokain die Herkunft und der ökologische Hintergrund der Herstellung ihrer Droge. Kein echter Weinliebhaber lässt sich verschnittenen Fusel vorsetzen, den meisten Koksenden, Rauchenden und Kiffenden ist es dagegen völlig egal, welche geographische Herkunft und Geschichte hinter ihrem Freizeit-Medikament steckt. Dabei wäre dies für die Ausbildung einer alternativen und vernünftigen Drogenkultur und Politik wichtig. Einigen Befürwortern einer Legalisierung von Drogen, wie beispielsweise dem verbreiteten Cannabis, ist klar, dass das Ziel eine Art Öko- und Fair-Trade-Siegel für marokkanisches Haschisch sein müsste. Die Illegalität der Drogen und der Fatalismus der Konsumenten lässt den Zug seit Jahrzehnten aber in eine ganze andere Richtung fahren.

Eigentlich müsste den Konsumenten von so manchem High schlecht werden: Vom Opium- und Heroinhandel ist bekannt, dass mit den erwirtschafteten Geldern Terroraktionen und Freiheitskämpfe finanziert werden (wobei hier der Raum fehlt, das genauer zu unterscheiden). Wie Berndt G. Thamm und Konrad Freiberg nachweisen, treibt der Deal „Rauschgift-gegen-Waffen“ seit drei Jahrzehnten die Kriegsschauplätze an.[2] Die bei der Kokainherstellung benötigten Chemikalien werden im Urwald entsorgt, die von den Anti-Drogen-Einheiten eingesetzten Entlaubungsmittel setzen den Wäldern zu. Aber darüber wollen die Liebhaber von Psychoaktiva, die gerne von „Bewusstseinsveränderung“ sprechen, nicht nachdenken.

Nach Analysen von Flusswasser müssen Heerscharen von Menschen dem Kokain verfallen sein

Als im November 2005 die Ergebnisse der Studie des Nürnberger [extern] Instituts für Biomedizinische und Pharmazeutische Forschung (IBMP) bekannt wurde, ging zwar ein verwundertes Augenreiben durch die Bevölkerung, an drogenpolitische Konsequenzen dachte aber niemand. So richtig wollte man es lieber nicht glauben, was das IBMP veröffentlichte: Im Wasser von allen 12 untersuchten, durch Deutschland fließenden Flüssen fand das Institut das Kokain-Abbauprodukt Benzoylecgonin. Anhand der Konzentrationen können die Forscher auf die konsumierte Menge der Droge schließen, denn Benzoylecgonin entsteht nur durch Kokainabbau im Körper.

Glaubt man den Ergebnissen, müssen alle offiziellen Schätzungen über die Verbreitung des Pulvers über den Haufen geworfen werden. Die kleine Gruppe der Dauerkonsumenten jedenfalls ist selbst bei bester Beschaffenheit der Nasenscheidewand gar nicht in der Lage, diese Mengen von Koks zu konsumieren. Es muss eine große Gruppe von Normalbürgern geben, die, ohne zu Zombies zu mutieren, gerne Mal den Geldschein rollen.

Einige wundersame Ergebnisse hat die Studie, die 250 Wasserproben entnahm, erbracht: So wird nicht in den als wild geltenden Großstädten Hamburg (Elbe) oder Berlin (Spree) das meiste Kokain genossen, sondern am Rhein bei Köln und Düsseldorf. Auch in der Fulda fanden sich mehr Abbauprodukte als beispielsweise im Main bei Frankfurt.

Die Zahlen passen hinten und vorne nicht mit den bisherigen Annahmen über Kokainkonsum zusammen. In Behörden und Universitäten ging man bisher davon aus, dass rund 0,8% der Bundesbürger gelegentlich Kokain nehmen. Am Rhein wären der Studie nach aber für die 128.000 danach in Frage kommenden Kokser täglich 16 Lines à 25 Milligramm fällig. Das ist ’ne Menge. Ist der Karneval schuld?

Im Neckar bei Mannheim lagen die Werte noch höher. Die Söhne und Töchter Mannheims lassen es sich gut gehen, pro tausend Einwohner werden hier täglich 25 Lines gelegt. Der Leiter der Studie, Fritz Sörgel, winkt ab: „Daraus kann man nicht schließen, dass Mannheim eine Kokshochburg ist. Unsere Daten spiegeln lediglich wider, welche Mengen Kokain vom Flussursprung bis zur Messstelle eingebracht wurden.“ Es ist keine Neuigkeit, dass die Rüsselfraktion vor allem am Wochenende aktiv ist, Sörgel ist sich sogar sicher, dass „am Wochenende mindestens doppelt soviel Kokain konsumiert wird wie unter der Woche.“

Die deutschen Ergebnisse sind mit denen aus der Schweiz vergleichbar. Auch hier testete Sörgels Team das Flusswasser vor und hinter Klärwerken und im frei fließenden Fluss. Die Zürcher haben die Nase vorn, auf 1.000 Einwohner kommen hier 17 Lines am Tag. In der Schweiz geht es hoch her, jährlich sollen hier zwei (reine) Tonnen verbraucht werden. Zum Vergleich: Die weltweite Kokain-Produktion wird zurzeit auf 600-700 Tonnen geschätzt, das meiste davon kommt aus Kolumbien, Peru und Bolivien. Die Schweizer Ergebnisse passen wie in Deutschland in keiner Weise mit den Erhebungen der Behörden zusammen. Das Schweizer Bundesamt für Gesundheit hatte bisher angenommen, dass nur rund 96000 Eidgenossen regelmäßig Kokain konsumieren, rund 13% davon als schwer Abhängige.

Um keiner Phantomsubstanz hinterher zu jagen, benötigte das IBMP einen Fluss, der nicht mit Benzoylecgonin kontaminiert war. Nach langer Suche in ganz Europa fand man ihn im Osten: In den rumänischen Teil der Donau fließt zwar ebenfalls Abwasser, Benzoylecgonin aber war nicht zu finden.

Messfehler, falsche Annahmen oder weite Verbreitung?

Es bleiben drei Möglichkeiten: (1) Entweder befinden sich Deutsche, Schweizer und auch andere Europäer in einem regelmäßigen, aber anscheinend geregelten Kokainrausch, oder (2) es ist sehr viel mehr reines Kokain im Umlauf als angenommen oder aber (3) der Messaufbau hat einen Fehler.

Um hinten anzufangen: (3) Andere Einstehungsprozesse für Benzoylecgonin als im Körper sind zwar nicht bekannt, das Institut gilt als integer, es hat schließlich schon im Wischwasser der Bundestagstoiletten Kokain gefunden. Aber: Mit der gleichen Messmethode hatten Forscher im italienischen Po ebenfalls reichlich vom Kokain-Abbauprodukt analysiert. Schon damals hatte man sich im Weinland Italien gewundert. Auch die Rolle des Regenwassers und die Filterung durch Äcker, Felder und Flusslauf muss noch genauer geklärt werden. Die Rechnung hat ein paar weitere Unbekannte: Um auf die Gesamtmenge an konsumiertem Kokain zu schließen, rechnete das Team um Sörgel die Abbaumengen in ihren Proben zunächst auf einen Tag hoch – und zwar anhand der Wassermenge, die zum Messzeitpunkt pro Sekunde flussabwärts geflossen ist. Die daraus berechnete Menge an Benzoylecgonin multiplizierten sie noch einmal mit dem Faktor 4,19, da laut Sörgel nur etwa ein Viertel einer Kokaindosis als Abbauprodukt mit dem Urin ausgeschieden wird. Zudem hatten die Chemiker am Beispiel des Klärwerks in Heroldsberg bei Nürnberg ermittelt, dass etwa 80 Prozent des Benzoylecgonins durch das Klärwerk zerstört werden.

(2) Der [extern] Reinheitsgrad von Straßen-Koks wird zurzeit von den Behörden bei durchschnittlich 40-50% angesetzt. Schon das ist positiv gedacht, in der Realität dürfte er niedriger sein und bei rund 30% liegen.

(1) Selbst wenn man die Zahl der Hardcore-User und die Zahl der Hobby-Schniefer verdoppelt, ergeben sich gänzlich neue Aussichten. Die von den Therapeuten beäugte Gruppe der schwer abhängigen Kokser kann gar nicht alleine für das Ausmaß der „drogenpolitischen Katastrophe“ zuständig sein. Sollten sich die Ergebnisse bestätigen lassen, gibt es eine alte, für viele aber immer wieder neue Variante: In Deutschland und den Anrainerstaaten koksen viele Menschen – ab und zu. Und wie immer man die Ergebnisse auch dreht und wendet, der Anteil wird sich bei einer Verbesserungen der Messmethoden eher noch erhöhen.

Was aber bedeutet es für die Drogenpolitik, dass anscheinend viel mehr Menschen als bislang von den offiziellen Stellen angenommen öfter Kokain zu sich nehmen? Die Antwort ist leicht, sie lautet: gar nichts. Die Drogenpolitik brät im eigenen Saft und man sollte vielleicht dafür dankbar sein, denn das wenige, was ihr in solchen Situationen einfällt, ist ohnehin meist eine Erhöhung der Strafen für Konsumenten und Anbieter.

Schieflage der Drogenpolitik

Interessant wäre doch zunächst einmal zu erfahren, wer diese vielen Menschen sind, die auf deutschem und europäischem Boden die Andendroge genießen: Hängen gebliebene Multikultis? Die vielgescholtenen Werber? Die Größen und die Kleinen der Filmbranche? Hält man sich an die Erhebungen, so ist Kokain eine Droge, die quer durch alle Alters- und Einkommensschichten konsumiert wird. Medial auffallen tun meist nur die Glamour-Branchen, aber Kokain ist in den Clubs der Städte seit Jahren etabliert und hat gerade bei den älter gewordenen Ravern und Disco-Hengsten Ecstasy abgelöst, wenn der ganze Brei nicht sowieso munter durchmischt wird: Eine „E“ zum Warm-Werden, etwas Koks zum Frisch-Bleiben, zwei-drei Bier nebenbei zum Plaudern und ’ne Sportzigarette zum Runterkommen.

Es kann nun darüber gestritten werden, in wie weit man so einen Konsum als „geregelt“ bezeichnen kann, Fakt ist, dass anscheinend eine Menge mehr Fans als bisher angenommen am Wochenende ihre Party durchziehen und unter der Woche gleichwohl das Bruttosozialprodukt nach oben schrauben.

Schon Mitte der achtziger Jahre kam es zu einem drastischen Anstieg des Kokain-Angebots in Deutschland. Die Preise fielen um mehr als die Hälfte, bis Ende der neunziger teilweise auf ein Drittel bis ein Viertel dessen, was noch zu Beginn der Kohl-Ära hingeblättert werden musste. Die Folge: Immer größere Konsumentenkreise wurden erschlossen. Das lockte nicht nur Biedermänner, sondern auch die eh hochgefährdete Gruppe der Heroin- und Methadonkonsumenten, die den Kick des injizierten oder gerauchten Kokains mögen. Dies stellte schnell die Substitutionsprogramme in Frage, denn, was macht es für einen Sinn, wenn zwar der Beschaffungsdruck für Heroin wegfällt, die „Lust“ auf den Kick aber bestehen bleibt und sich auf Kokain verlagert?

Wie aber nun mit den verschiedenen Kokain-Gruppen umgehen? Es gilt wie bei allen anderen Drogen auch: Den einen muss geholfen, die anderen wollen in Ruhe gelassen werden. Es ist eine weithin bekannte, aber aus guten Gründen verdrängte Ironie, dass ausgerechnet die Gesetze, die ursprünglich zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung erlassen wurden, sich heute gegen alle Benutzer von illegalen Drogen wenden.

Diese Benutzer lassen sich in die genannten zwei Gruppen einteilen: Die einen sind die oft verelendeten Süchtigen. Für die braucht man nicht einmal entscheiden, ob die Kriminalisierung ihres Drogengebrauchs ihre Lage nur noch schlimmer macht – und das sieht so aus. Nein, selbst wenn man das verneint, zeigen die Erfahrungen mit den bisherigen Versuchen der freien Substanzabgabe (Stichwort: Heroinversuch), dass sich soziale Schieflagen stabilisieren und ein Ausstieg aus der Sucht eher möglich, wenn, wie oben beschrieben, nicht garantiert ist.

Die andere Gruppe hat – und das ist das große Tabu von Politik und Gesellschaft – ihren Frieden mit einer geistbewegenden Substanz geschlossen, sie hat Spaß daran, sich ab und zu aus dem Irrsinn, der sich Alltag nennt, heraus zu bewegen.

Die Drogenpolitik ignoriert diese Menschen und ist ganz versessen auf die nachweislich viel kleinere Gruppe an Süchtigen, die von einer Heerschar von Therapeuten umsorgt wird. Warum? Zum einen sicher, weil diese Menschen Angst machen, weil sie Mitleid erregen und man helfen will. Zum anderen, weil sich hier Wählerstimmen fangen lassen, denn beim Thema „Drogen“ fällt Omi bekanntlich noch immer der Löffel in den Kaffee. „Rübe ab“, so der Ruf, dabei gibt es aus ökonomischer Sicht keinen Unterschied zwischen einem „Zigaretten-Dealer“ und einem „Kokain-Hersteller“. Der macht sich allein an der Moral und den wissenschaftlichen Erkenntnissen fest – und auch die sind voneinander abhängig.

Das Drogenproblem ist ein Problem der Neuzeit

Moral, das heißt in Deutschland Abstinenz-Paradigma, protestantisches Arbeitsethos und Herrschaftssicherung. 2000 Jahre christliche Glaubensmoral bedeuten, nüchtern und demütig auf das Paradies zu warten und den fleischlichen Lüsten zu entsagen. Ökonomische Moral, das heißt im Kapitalismus natürliche Neugier möglichst schnell in Bares zu transformieren. Politische Moral heißt dann Tabakanbau zu subventionieren und über die vielen Raucher zu jammern. Gesellschaftliche Moral heißt beim sechsten Jägermeister die kalte Erregung über Kate Moss zu genießen. Individuelle Moral heißt den Alibert mit Medikamenten vollzustopfen, anstatt die Ernährung umzustellen.

Man braucht gar nicht von „erkenntnisgeleiteter Forschung“ und „herrschenden Paradigmen“ fachsimpeln, um die Relativität oder gar Windigkeit von manchen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu erfassen. Es ist noch keine 40 Jahre her, da sollte Masturbation zwangsläufig zu Rückenmarkkrebs führen. Interessant ist doch zweierlei: Das „Drogenproblem“ ist ein Problem der Neuzeit und hier vor allem des letzten Jahrhunderts. Trotz aller Bemühungen ist es nicht in den Griff zu bekommen, im Gegenteil, fast scheint es, als ob mehr Druck (egal auf wen in dem Kreislauf) den Drogengebrauch nur noch anheizt. Aber selbst, wenn man das nicht so sieht: Heute ist man sich einig, dass die Drogenpolitik eines Landes nur wenig Einfluss auf die Konsummuster hat. Da braucht nämlich am anderen Ende der Welt nur irgendein Rapper den Vollrausch propagieren, schon geht in Deutschland die Luzie ab.

Ob Cannabis, Kokain oder LSD: Seit Jahrzehnten weisen Forscher aus der ganzen Welt in ihren Veröffentlichungen mal auf die Schädlichkeit, mal auf die Unschädlichkeit und dann sogar auf die positiven Eigenschaften pflanzlicher Inhaltsstoffe oder chemischer Substanzen hin. Während die einen von der „Seuche Cannabis“ oder LSD-Psychosen sprechen, weisen die anderen auf die therapeutischen Eigenschaften der Substanz hin. Weltweit agieren Vereine, die unter dem Titel „Cannabis als Medizin“ den Stoff an die bedürftige Frau bringen wollen. Ja, wie denn nun? Die Lösung ist einfach, altbekannt, gilt für alle Substanzen und beantwortet auch die oben aufgeworfene Frage nach gefährlichen und weniger gefährlichen Drogen: Die Dosis macht das Gift.

Das Problem ist halt nur: Für eine angemessene Dosierung ist in dieser Gesellschaft bisher kaum Platz. Es gibt keine harten und weichen Drogen, es gibt nur harte und weiche Konsummuster. Die ausdifferenzierte Weinkultur bricht an ihren Rändern eben auch ab und generiert den Alkoholismus. Hier hat man aber eher einsehen wollen, dass die pharmakologische eine soziale Frage ist.

So wichtig das mit besten Methoden eruierte Wissen über Chemie und Struktur von Substanzen auch ist, Menschen funktionieren nicht wie Maschinen, das Wirkungsspektrum, mehr noch die (eventuell positiven, eventuell negativen) Langzeitfolgen werden maßgeblich von der individuellen Persönlichkeit bestimmt. Diese zu einem mündigen Umgang mit psychoaktiven Substanzen, Medikamenten und veränderten Bewusstseinszuständen zu bringen, dürfte eine der wichtigen Aufgaben der kommenden Jahrzehnte sein.

Update v. 1.11.2007
Die Schweizer Tennisspielerin Martina Hingis wurde beim Tennisturnier in Wimbledon positiv auf Kokain getestet.

 

 

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Mixed Psychoaktive Substanzen

Interview mit Mathias Erbe

HanfBlatt, Nr. 99

Nautische Architektur

Die psychedelische Kunst des Mathias Erbe

Der in Franken aufgewachsene und in Frankfurt a.M. geborene und lebende Künstler Mathias Erbe erlebte die für die Entwicklung der gesamten Subkultur so bedeutsamen Sechziger Jahre als Kind, wuchs aber nicht unbedingt mit dem Acid-Schnuller auf. Doch als echtes Kind seiner Zeit wurde er ein beflissener Sammler psychedelischer Musik, Cover-Art und Comics und entwickelte sich selbst zu einem bemerkenswerten Vertreter moderner psychedelischer Kunst.

Erbe zeichnet und malt in Öl und Aquarell. Die ohnehin schon faszinierenden Ergebnisse seiner Inspiration bearbeitet er dann, über Foto oder Scan digitalisiert, am Computer. So entstehen einzigartige anregende Werke, die das Prädikat „Psychedelisch“ aus vollem Herzen verdienen. Die Veröffentlichung eines wunderbaren farbigen Bildbandes psychedelischer Platten/CD-Cover-Art mit dem Titel „Psychedelic History 3000. Von den Ursprüngen bis zur Gegenwart“ ist geplant. (Wir werden bei Erscheinen darüber berichten.) Man konnte Erbes Kunst bereits in Form von Illustrationen und Karikaturen für den „Rolling Stone“, Gemäldeabbildungen für Fetisch-Magazine, sowie Buch- und CD-Cover und natürlich im Original auf Vernissagen bewundern. Mehrere interessante psychedelische Kunstbände (u.a. „Nautische Architektur“, „Methexis“) harren noch eines kunstbeflissenen Verlegers. Wir möchten euch den Künstler in einem kleinen Gespräch und einigen seiner Bilder vorstellen.

HB: Wie bist du dazu gekommen, dich mittels psychedelischer Kunst auszudrücken?

ME: Einfach durch meine persönliche Entwicklung, mein frühes Interesse an dieser Ausdrucksform in diversen kulturellen Bereichen von Comics über Kunst, Musik, Plattencover, Literatur und so weiter, weniger direkt über Drogen. Ich habe einen alten Freund, der tatsächlich unter Drogeneinfluss kreativer und produktiver war. Bei mir ist es eher umgekehrt. Ich bin skeptisch, ob tatsächlich alle, die als psychedelische Künstler gelten, auch permanent unter dem Einfluss von entsprechenden Drogen stehen. Dieses Üppige des Psychedelischen entspricht nicht nur meiner Mentalität, sondern auch meiner Gefühlswelt. Psychedelische Kunst und Musik inspirieren mich und regen mich an, mich in dieser Form bildlich auszudrücken.

HB: Es ist schon erstaunlich, dass in deinem Fall, Drogen nicht so eine Rolle gespielt haben.

ME: Vielleicht indirekt.

HB: Das spricht doch irgendwie für diese künstlerische Richtung. Mag der Konsum psychedelischer Drogen den Genuss und das Verständnis für diese Kunst intensivieren und manch einen zu dieser Kunst als Ausdrucksmöglichkeit inspirieren, so scheint psychedelische Kunst eben nicht „nur“ simpel „Drogenkunst“ zu sein, sondern viel tiefer aus der Seele, wenn man so will, den Urgründen des Seins zu wachsen und in diese zu langen. Welche Künstler haben dich besonders beeinflusst?

ME: Alex Grey („Sacred Mirrors“, „Transfigurations“) ist ein großartiger Kollege. Dieser Mann hat auch einen bemerkenswerten Lebenslauf. Er ist von den Wiener Aktionisten über die Wiener Schule zur psychedelischen Kunst gekommen.

HB: Alex Grey ist zweifellos einer der tollsten lebenden Künstler. Er bedient sich aber doch in seiner Motivwahl, wenn auch in zuvor ungesehener fantastischer Weise, so doch letztlich spiritueller Klischees. Das kann man von deinen Werken jedoch meines Erachtens nicht so sagen, da sie ziemlich viel offen lassen und so eher im „klassischen“ Sinne psychedelisch sind.

ME: Spiritualiät, wenn sie zu sehr religiösen Klischees folgt, ist mir vereinfacht gesagt zu ernsthaft oder zu verbindlich. Aber wahre Spiritualität ist auch etwas Psychedelisches. Man fahre nur einmal nach Colmar und schaue sich dort Grünewalds wahnsinnig beeindruckenden „Isenheimer Altar“ mit der „Versuchung des heiligen Antonius“ an. Davor kann man schon fast fromm werden. Ein Science-Fiction Autor, den ich sehr schätze, Philip K. Dick („A Scanner Darkly“), der in seiner späten Phase ein reges, fast intim-kommunikatives Verhältnis zu Gott („Valis“) hatte, schaffte es bei aller Spiritualität dennoch eine absurde Selbstironie in seinem Werk mitlaufen zu lassen. Spiritualität in Form von zuviel Religiosität ist auch nicht gerade gesund, haben, glaube ich, schon die Romantiker festgestellt.

HB: Wenn man sich die Begeisterung für Spiritualität in der Subkultur anschaut, dann scheint sie immer nicht so lange anzuhalten. In den Sechziger Jahren folgte der Öffnung durch psychedelische Drogen ein erneutes (in den Zwanziger Jahren zuletzt und davor um die Jahrhundertwende) intensiviertes Interesse an östlichen Religionen, an spirituellen Wegen. In der Folge gab es plakativen Hippie-Kitsch und einen Sekten-Boom. Die Antwort: Der Punk-Nihilismus. Dann gab es in der Techno-Bewegung, insbesondere der LSD-geprägten Goa-Trance-Szene wieder ein gewisses Interesse an Spiritualität oder zumindest an pseudo-religiösen Deko-Elementen. Und jetzt haben wir vielleicht gerade eine enthirnte Zeit des Kokain-Zynismuses. Da darf man natürlich gespannt sein, was als Nächstes kommt.

ME: Es ist wie du beschrieben hast, eigentlich die im Nietzscheschen Sinne Wiederkehr des ewig Gleichen.

HB: Aber wohl doch immer wieder auf einem neuen Niveau… Zurück zu deinen Inspirationsquellen…

ME: Von dem tschechischen Surrealisten Pavel Tchelitchew hängt im MOMA in New York ein Bild „Hide and Seek“. Das ist ein Vorläufer für Künstler wie Ernst Fuchs und Mati Klarwein, bekannt durch seine Poster und Plattencover für „Santana“. Mati Klarwein hat ähnlich, wie es Alex Grey gerade macht, Räumlichkeiten mit Kunst kathedralenartig zum Andachtsraum („Aleph Sanctuary“) gestaltet. Seine Kunst hat noch den Bezug zum Realismus, wie du ihn auch in meinen Gemälden findest. Psychedelische Kunst ist so gesehen auch schwer zu fassen, weil es Alles beinhalten kann, zumindest für mich, inklusive Action-Painting. Gerhard Richter mit seinen abstrakten opulent farbigen Sachen könnte auch darunter fallen.

HB: Wenn man so will, sind manche Künstler zumindest manchmal psychedelisch ohne es überhaupt zu wollen.

ME: Ja, zum Beispiel Max Ernst und besonders Richard Oelze. Er ist für mich der konsequenteste, gerade in Bezug auf das was die Surrealisten automatisches Zeichnen nannten. Die Surrealisten hatten ja ihre eigene Spiritualität und mit Drogen experimentierten sie auch.

HB: In dieser bildnerischen Tradition stehen dann in gewisser Weise auch Hieronymus Bosch oder der genialische multidimensionale polnische Künstler Witkacy (1885-1939).

ME: Ja, ein sehr gutes Beispiel, der war ein Multitalent, Dramaturg, Fotograf, Maler. Auf seinen eindringlichen schon über den Expressionismus hinausgehenden Porträts, die er unter dem Einfluss praktisch aller damals zur Verfügung stehenden psychoaktiven Substanzen von Meskalin über Kokain bis Harmin gemalt hat, hat er meist vermerkt, was er dabei in welcher Reihenfolge zu sich genommen hat. Auf Plattenhüllen finden sich weit später ähnliche Porträts. Das Artwork von Miles Rutlin bei „Blind Idiot God“, eine interessante Neo-Psychedelic-Instrumental-Hard-Dub-Band Ende der Achtziger auf dem Label SST ist da ein gutes Beispiel. In meiner persönlichen Entwicklung haben mich die Bildwelten in Kunstbänden („Fantastic Art“) und auf den Postern und Plattenhüllen der Siebziger stark beeinflusst – besonders von Helmut Wenske, der als psychedelischer Dali mit einem Hauch Pop-Art beschrieben wurde, und mit dem ich seit dieser Zeit eineenge Freundschaft pflege. Ich habe damals auch angefangen diese Cover-Art nachzuzeichnen und damit natürlich meine Kameraden beeindruckt. Ich studierte schließlich Kunst und wurde das, was man als „Bildenden“…

HB: Aber nicht „Eingebildeten“..

ME: …Künstler bezeichnen kann.

 

Mathias Erbe: Accelerando
Mathias Erbe: Accelerando

 

Mathias Erbe: Janus
Mathias Erbe: Janus

 

Mathias Erbe: To the Greys
Mathias Erbe: To the Greys
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Psychoaktive Substanzen

Die Weltreligionen und ihr Verhältnis zum Rausch – Der Hinduismus

HanfBlatt, Nr. 99, Januar/Februar 2006

Die Weltreligionen und ihr Verhältnis zum Rausch

Teil 2

Der Hinduismus

Im Reigen der Götter des Hinduismus ist Platz für allerlei Freaks. Der wildeste unter den Weltenlenkern, genannt Shiva, ist äußerst beliebt in Indien. Liegt das daran, dass er ein Kiffer vor dem Herrn ist?

Es ist wahrlich nicht so, das die durch Indien streifenden, orangerot gekleideten Sadhus als Heilige verehrt werden. Ihr unmäßiger Bhang- und Charraskonsum macht den Menschen dort genau soviel Angst wie hier die Alkoholiker, nur akzeptiert man dort halt, dass ihr Weg jenseits dieser Welt verläuft und nur noch ihr Körper im Diesseits sichtbar ist. Sadhus und Sinnsucher verwenden Cannabis nicht nur zur Meditation, sondern auch, weil es sich gut zur asketischen Überwindung Hunger und Durstes eignet. Und obwohl die Sadhus das Bild prägen, welches der westliche Hanf-Fan von Indien hat, sind sie nur eine kleine Gruppe in der Religionsform, die „Hinduismus“ genannt wird.

Der sogenannte Hinduismus setzt sich aus vielen unterschiedlichen Strömungen zusammen, so dass der Religionswissenschaftler Heinrich von Stietencron von einem „Kollektiv von Religionen“ spricht. Diese Religionen gehen nicht auf einen gemeinsamen Stifter zurück, eine der Bibel oder dem Koran gleichbedeutende Schrift existiert nicht. Die uralten schriftlich niedergelegten Veden dienen zwar bis in die heutige Zeit als Weisheitstopf, aus ihnen haben sich aber tausende von verschiedenen Richtungen und Schulen entwickelt. So hat die mit rund 900 Millionen Anhänger drittgrößte Religion der Welt kein für alle gleichermaßen gültiges Glaubensbekenntnis. Der Reigen der Gottheiten ist bunt und fast unüberschaubar, da tummelt sich der Elefantengott Ganesh genauso wie Hanoman, der göttliche Affe. Jeder Hindu sucht sich zwar seinen Lieblingsgott, aber die höchsten Götter des Hinduismus sind Brahma, Shiva und Vishnu. Und Shiva entspricht so gar nicht dem was wir unter „Heiligen“ verstehen. Er raucht, säuft und kopuliert, er ist der „wilde, gütige Gott“, wie Wolf-Dieter Storl ihn einmal genannt hat.

Menschen, Tiere und auch die Götter durchwandern nach hinduistischer Glaubensvorstellung einen durch ewige Wiederkehr gekennzeichneten Kreislauf, Samsara genannt. Während des Lebens wird je nach Verhalten gutes oder schlechtes Karma angehäuft, was wiederum beeinflusst, als was man im nächsten Leben wiedergeboren wird. Es gibt zwar einen Ausweg aus diesem Kreislauf, aber dafür muss man heftig meditieren und brav sein; und dass fällt nicht nur den Indern schwer.

Da Cannabis das warme Klima des Subkontinents mag, verwebt der Hindu-, vor allem aber der Shivaismus die Pflanze seit jeher mit den Menschen. In keinem anderen Land auf der Welt ist Cannabis und sein Gebrauch so tiefgründig in der Kultur verankert wie in Indien. Von Hanf träumen bringt Glück, die Popularität der Pflanze geht so weit, dass schon die Sichtung eines Bhang-Trinkers ein gutes Omen ist. Hat Shiva, so die rhetorische Frage, den Menschen nicht deswegen die Kräuter geschenkt, damit sie sie nutzen? Die Jahrhunderte währende Charras- und Bhang-Tradition hat aus Sicht vieler Hindus immer wieder neu bewiesen, dass Hanf nicht nur ein Heilmittel ist, sondern auch erstarrte Vorstellungen und das Ego auflösen kann. Und dies ist genau das Ziel vieler religiöser Mühen. Der Shivaismus sieht die Erlösung in der Gewinnung eines Shiva-ähnlichen Zustandes und eines fortwährenden Kontaktes mit ihm. Die Mittel dazu sind vielfältig: Yoga, Tantra und eben auch Hanf.

Der Shivaismus hat in Indien Millionen von Anhängern und Tausende von Tempeln und Klöstern. Und Shiva ist in den meisten Darstellungen ein Vollblut-Kiffer. In vielen hinduistischen Tempeln wird daher Bhang, ein Milch- oder Joghurt-Getränke mit Hanf und Gewürzen, zum Teil auch mit Stechapfel verfeinert, regelmäßig bei Ritualen eingesetzt. Die Gottheitsstatuen werden mit rotem Zinnober bemalt, sodann setzen sich die Gläubigen einen roten Punkt auf die Stirn – das dritte Auge, denn mit dem dritten sieht man besser und sitzt dazu noch in der ersten Reihe: im Angesicht mit Shiva. Trommelmusik und Mantren erleichtern wie überall auf der Welt auch hier den Übergang in die andere Welt. Dort sitzt man dann mit dem Urschamanen recht gemütlich zwischen Vergangenheit und Zukunft und lässt sich und den lieben Gott einen guten Mann sein. Der Rausch ist im Hinduismus weniger „Teufelswerk“ als vielmehr eine der vielen Möglichkeiten, mit dem Göttlichen in Berührung zu kommen.

Seit Jahrhunderten praktizieren viele Hindus diese Ekstase aber nicht nur im Tempel, sondern leben mit diesen Bildern im Alltag. Für sie sind die vielen Götter-Geschichten, bunten Mythen und überlieferten Fabeln keine Märchen im religiösen Gewand und auch keine Gleichnisse. Sie sind Realität, Erlebnistatsachen und immer wieder neu erfahrbar: Shiva sitzt bis heute auf seinem Berg, immer zu einem Streifzug bereit, der Urozean aus Milch wird weiter gequirlt und Ganesh tanzt trotz seiner Leibesfülle mit seinen schönen Begleiterinnen Riddhi und Siddhi.

Der rituelle Hanf-Gebrauch variiert stark. Meist wird Cannabis nur nach Sonnenuntergang genossen, nur die Sadhus müssen früher ran. Hans-Georg Behr zitiert in seinem Klassiker „Von Hanf ist die Rede“ einen ehemaligen Rechtsanwalt aus Kalkutta: „Dreißig Portionen muß ich am Tag rauchen. Oft kann ich schon mittags nicht mehr, doch es muß sein – es ist ein Gelübde.“

Im Landesteil Bengal, im äußersten Osten Indiens, ist es immer noch Tradition am letzten Tag des größten Hindu-Festes, der Durga Puja (Vijaya Dasmi), an die Familienmitglieder und Gäste Bhang auszuschenken. Im Bundesstaat Orissa feiern die Anhänger des Gottes Jagannath ebenfalls kräftig mit Cannabis-Zubereitungen. Bhang ist in Indien was das Bier für die Deutschen ist. Gerade orthodoxe Hindus freuen sich über die Abwechselung, ist ihnen doch der Alkoholgenuss verboten.

Den Hindu-Priestern sind die Freuden des THC verwehrt, sie unterliegen einer strengen Diät. Alle Priester entstammen der Brahmanen-Kaste, deren Angehörige wiederum, sofern sie sich denn traditionsbewusst verhalten, den Reinheitsgeboten unterliegen. Dazu gehört auch das Fernhalten von jeglichen Rauschsubstanzen. Privat, so wird kolportiert, drücken die Brahmanen aber manchmal ein Auge zu und ziehen ebenfalls einen durch. Somal sie in vergangenen Zeiten ganz offiziell geraucht haben sollen, natürlich nur, um besser meditieren zu können.

Ein fröhliches Land von Kiffern also? Nicht ganz, glaubt man der spärlichen Studien zum dem Thema, zeigt die Prohibitionspolitik selbst im quirligen Indien ihre Wirkung: Seit 1985 ist Cannabisanbau und Nutzung illegal. Aber Indien wäre nicht Indien, wenn es nicht hier nicht dauernde Ausnahmen gäbe.

 

Gerade in den Städten lockern sich in den letzten Jahrzehnten mit den strengen Kastengesetze auch die religiösen Bindungen, welche sich über mehr als zwei Jahrtausende ausdifferenzieren konnten. Gleichwohl ist Indien noch heute ein außerordentlich vielfältiges Land, das vor Riten, spirituellen Festen, Göttern und (auch falschen) Heiligen nur so strotzt. Der Hinduismus zeichnet sich dadurch aus, dass sich in ihm die einzelnen Phasen nicht abgelöst haben, sondern sich die jeweils älteren Elemente bewahrt haben.

Bereits um 600 v.C. kam mit den Upanishaden eine Textgattung auf, in der die Welt als Illusion beschrieben wurde. Dauerhaft gut drauf sein könne nur der, der dies nicht nur erkennt, sondern auch sein eigenes Selbst (Atman) mit dem Absoluten (Brahman) identifiziert. Das klang sehr nach Buddha und tatsächlich verweben an dieser Stelle Hinduismus und Buddhismus. Diese Philosophie lebt heute in der Vedanta- Schule des Hinduismus fort.

Während das „Sein“ in westlicher Vorstellung innerhalb des Denkbaren liegt (Descartes: „Ich denke, also bin ich“), sehen die Hindus den viel entscheidenderen Teil des Lebens im Nicht-Denkbaren, dem, was bei uns gemeinhin „Mystik“ genannt wird. Rauschsubstanzen ermöglichen ihnen den Zugang zu diesen Räumen, die aus ihrer Sicht keine Fluchträume vor der Realität (was ist das?), sondern göttliche Sphären sind.