Kategorien
Drogenpolitik

Abstinenz:– von der christlichen Idee zur Richtlinie der Politik

Hanfblatt Nr. 119

Wie die strenge Enthaltsamkeit zum Leitbild der modernen Drogenpolitik wurde

Die zentrale Bedeutung und zugleich Zweischneidigkeit des Abstinenzgedankens wird in der aktuellen Diskussion um die Heroinabgabe an Schwerstabhängige sehr deutlich. CDU/CSU wehren sich seit Jahren gegen die Abgabe, weil, so beispielsweise die drogenpolitische Sprecherin der Unionsfraktion im Bundestag, Maria Eichhorn (CSU), „die Heroinbehandlung zu einer Dauerabgabe des Suchtstoffs führt, das Ziel der Abstinenz wird dabei aus den Augen verloren“. Das Ideal der Enthaltsamkeit wird also über die menschenwürdige Behandlung der Patienten gesetzt. Warum?

Weil, so antwortet die abstinenzorientierte Therapietheorie, die Abstinenz für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen prognostisch die besten Aussichten bietet. Zugleich sei nur der von der Drogen entwöhnte Patient überhaupt in der Lage eine Therapie anzutreten. Die akzeptierende Drogenarbeit weist dagegen darauf hin, dass es auf der praktischen Ebene darum geht, den Drogengebrauch derer zu akzeptieren, die ihren Konsum derzeit nicht aufgeben wollen oder können.

]]>

Breitet man das Abstinenzparadigma über den Kreis der Schwerstabhängigen aus, muss man sich über den neuen Steuermann im klaren sein, den man sich dort an Bord holt. Dieser visiert ein weit entfernt liegendes Ziel an, nämlich die gänzlich drogenfreie Gesellschaft – auch wenn damit nur die illegalen Drogen gemeint sind. Nun spricht nichts dagegen einem Ideal zuzustreben, solange die Kolletaralschäden auf dem Weg nicht zu groß sind. Eine völlige „Suchtmittel“-Freiheit impliziert jedoch nicht nur den totalitären Staat, der mit seinen Überwachungsorgangen darauf achten, dass alle schön brav sind. Mehr noch beraubt sie sich der Potentiale, die in der korrekten Anwendung von „Drogen“ stecken.

Ein Blick in der Historie der Abstinenzidee zeigt ihre gleich mehrfache Verquickung: Eine Verquickung mit christlich orientierten Glaubensgeboten, eine Verquickung mit protestantischem Arbeitsethos und eine Verquickung mit der Ideal der ständigen Selbstkontrolle.

Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass das Problem der „Sucht“ ein neues ist. Bis in die Neuzeit hinein gibt es weniger Hinweise darauf, dass Menschen Abhängigkeitserscheinungen zeigten. Gleichwohl galt beispielsweise Alkohol schon immer als Droge, die soziale Probleme versursachen kann. Das griechische Schriffttum ist voll von kritischen Schilderungen von Trinkexzessen und dem Lob der Mäßigung. Schon damals wurde vor der Trunksucht gewarnt. Allerdings wurde Wein meist nur verdünnt getrunken. Gesetze gegen Drogenkonsum gab es kaum.

Während des 16. Jahrhunderts nahm besonders in Deutschland die Sorge zu, die Menschen würden zuviel trinken. Ganze Bücher erschienen, entweder, um das Saufen zu loben oder aber es zu verdammen. Andere Drogen waren von diesen Auseinandersetzungen nicht betroffen. Luther kam 1520 zu dem Schluss, dass das Laster der Trunksucht mit geistlichen Worten nicht beizukommen sein und das möglicherweise die weltliche Macht einschreiten müsse.

1606 wurde in England Trunksucht das erste Mal zu einen Verbrechen erklärt. Es ist bis heute unklar, tatsächlich viel mehr getrunken wurde als früher, oder aber ob die Verbreitung des Buchdrucks nur die Beschreibng des trunkenen Alltags förderte. Zugleich gab es lange eine breite Verwendung von Alkohol als Medizin. So galt der gegeißelte Brandwein eben auch als universelles Therapeutikum, als aqua vitae (Lebenselixier).
Bei der Verbreitung der Alkohol-Probleme spielten die technischen Möglichkeiten, namentlich die Destillation, eine Rolle. Damit konnte der Alkoholgehalt von rund 15% auf 50% gesteigert werden. Sie verbreitete sich seit dem 13. Jahrhundert langsam in Europa. Ein Phänomen, das sich seither bei Drogen immer wieder zeigt: Die Purifizierung bringt Probleme der Dosierung mit sich. Die Gin-Epidemie in England (um 1750) rief der Gesetzgeber auf den Plan. Gleichzeitig gab es Freischnaps für die Matrosen, später wurden den Fabrikarbeiter ein Teil des Lohnes in Branntwein ausgezahlt.

Es entstand das, was heute „Elendsalkoholismus“ genannt wird. Zwischen 1850 und 1900 rief diese soziale Akteure auf den Plan, die die Geschicke der Drogenpolitik bis heute beeinflusst: Die Abstinenzbewegung (temperance movement). Aus ihrer Sicht war die Ursache des Elends der unteren Klassen weniger in ihrem unterdrückten Zugang zu den Produktionsmitteln (Marx) oder der Ausbeutung durch die Unternehmer zu sehen, sondern im allein im Alkoholkonsum. Grund für den Konsum sei mangelnde Tugendhaftigkeit, also die fehlende Orientierung an höheren Zielen, namentlich Gott. Die fest im Christentum, (in den USA vor allem im Methodistentum) verankerte Abstinenzbewegung geißelte den Alkohol als Teufelswerk und konstruierte einen klassischen Sündenbock.

Der Virus griff schnell um sich. Die Guttempler wurden 1851 in den USA als Abstinenzorganisation unter dem Namen „Order of Good Templars“ gegründet. Weitere Organisationen schossen in den USA und in Europa aus dem Boden. 1869 gründete sich in den USA die „Prohibition Party“, vier Jahre später die „Woman’s Christian Temperance Union“, wieder später ging daraus die „Anti-Saloon League“ hervir. Man darf die Rolle der damaligen organisierten Erregungsclubs nicht unterschätzen: Die Liga der Abstinenten war eine der wichtigsten sozialen Bewegungen Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA und Europa. In der Schweiz waren beispielsweise 60.000 Menschen in Abstinenzvereinen organisiert. Der einflussreiche Baseler Psychologie-Professor Gustav von Bunge fordert 1880 ein Alkoholverbot für die gesamte Bevölkerung.

Die Nachricht an die Menschen war klar, gegen den Alkohol gäbe es nur eine Kur: „Abstinenz für den einzelnen und Prohibition für das Volk“ (T.S. Arthur). So glitten nicht nur die USA, sondern auch Norwegen, Finnland, Russland und weitere Länder durch die Abstinenzbewegung in ihr größtes drogenpolitisches Abenteuer: Die Prohibition. Der Ausdruck bezeichnet heute meist die Zeit zwischen 1920 und 1933 in den USA, in der der Konsum von Alkohol verboten war.

schild

Nebenbei bemerkt: Ganz erfolglos war die Prohibition ja gar nicht: In der Arbeiterklasse ging der Alkoholkonsum tatsächlich drastisch zurück. Er erhöhte sich allerdings unter Jugendlichen und Frauen im eher mittelständischen Millieu. Und natürlich gebar den Schwarzmarkt miesen Fusel und förderte die Kriminalität. Mit dem Ende der Prohibition verschwanden die Parteien und viele Organisationen, manche, wie die Guttempler und das Schweizer Blaue Kreuz, sind geblieben und predigen noch heute Wasser. Ohne die soziale Arbeit, die die Vereine bis heute leisten, diskreditieren zu wollen – ihr geistesgeschichtlicher Hintergrund ist dem Ideal der christlich motivierten Selbstkontrolle verpflichtet. Das Überwinden der Schranken der Zivilisation ist alleine auf Gottes Wegen erlaubt. Von daher steht der Rausch in schlechtem Ruf bei ihnen.

Aber die Abstinenzidee speist sich nicht nur aus der Abstinenzbewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, sondern zumindest bei temporärer Ausführung auch aus der sehr viel älteren Idee, mit den Produkten der Natur bewusst umgehen zu müssen. Das umfasst nicht nur Arzneimittel, sondern auch die Nahrung. Noch heute zeugt die Fastenbewegung von einer Mäßigungskultur, die sich als Gegenpol zur Überflussgesellschaft und weniger als Zuarbeiter gesamtprohibitiver Bestrebungen sieht.

Und es stimmt ja auch: Enthaltsamkeit ist kein grundsätzlich schlechter Berater, im Gegenteil. Das Lossagen von den Dingen ist nicht nur spirituelle Übung der Asketen, sondern überlegenswerte Strategie gegen die ewigen Konsum- Aufforderungen, aber auch psychosozialen Anforderungen durch Staat, Freunde und Verwandte. „Nein“ sagen fällt vielen schwer.

Um zu dem anfänglichen Beispiel der Heroinabgabe zurück zu kommen: Abstinenz kann kein erstes Behandlungsziel sein, die Rückfallquote ist einfach zu hoch. Auf der anderen Seite ist eine Rückkehr in den kontrollierten Konsum verwehrt. Abseits von Therapietheorie und Praxis trägt die Idee der Abstinenz allerdings nicht lange und sollte durch einen Begriff wie „mündiger Verzicht“ ersetzt werden.

 

Kategorien
Mixed

Der mobile Kunde im Visier

Telepolis, 08.12.2005

Ein jetzt veröffentlichter Städte-Atlas macht Passanten-Werbung zielgenau

In einem fast drei Jahre dauernden Entwicklungsprozess und geschätzten Projektkosten von über einer Million Euro erstellten das Fraunhofer Institut für Autonome Intelligente Systeme ( AiS (1)) und der Fachverband Außenwerbung ( FAW (2)) einen „Frequenzatlas“ für die großen Städte Deutschlands. Mit ihm lässt sich sehr genau feststellen, wie viele Konsumenten sich an welchem Punkten der Stadt bewegen.

Der Atlas vereinigt eine Fülle von Daten: So fließen kommunale Verkehrszählungen ebenso mit ein wie Angaben über die Bevölkerungsdichte, Einkommensstruktur, Kfz-Aufkommen, Theater oder Restaurants. Basierend auf den Kartendaten der Firma „NavTeq“ existieren für jeden Straßenabschnitt in großen deutschen Städten nach Fahrtrichtung getrennte Frequenzklassen für die Bewegungen von Fußgängern, Kraftfahrzeugen und Öffentlichen-Personennahverkehrsmitteln.

 

Ausschnitt aus dem Frequenzatlas. Bild: FAW
Ausschnitt aus dem Frequenzatlas. Bild: FAW

 

 

Mit einer Software lassen sich aus der Datenflut die für den jeweiligen Anwender interessanten Daten extrahieren und auf einer Karte darstellen. Derzeit enthält das Data-Mining System 84 Städte ab 100 000 Einwohnern, Mitte 2006 kommen die Städte ab 50 000 Bürgern dazu. Für Frankfurt am Main, Düsseldorf und Hamburg lässt sich die Funktionsweise des Atlas‘ auf der Homepage des FAW testen (3).

Der Konsument, das flüchtige Wesen, bewegt sich trotz TV und Internet vor allem tagsüber in der Reichweite von Plakaten, Litfasssäulen und anderen Werbeträgern im öffentlichen Raum. Das Geomarketing analysiert Kaufgewohnheiten und Lebensweisen und hilft Unternehmen damit nicht nur bei der Wahl von Werbestandorten, sondern auch bei geplanten Filialeröffnungen. Wo sitzen Mitbewerber, wie ist die Anbindung an Autobahn oder ÖVPN, wo liegen Einkommensgrenzen? Auch Stadtplaner und Hersteller von Routenplanern sollen bereits Interesse am Frequenzatlas bekundet haben.

Die Medienwirkung und damit auch der Preis eines Plakates waren lange Zeit umstritten: Es existierte zwar seit rund zehn Jahren der sogenannte „G-Wert“ der Gesellschaft für Konsumforschung ( GfK (4)); dieser gab an, wie viele Passanten pro Stunden sich an ein Plakat erinnern konnten. Der G-Wert galt aber als unplausibel, da er oft ohne nachvollziehbaren Grund variierte und dementsprechend zu verzerrten Preisen führte.

„Vor einer entsprechend geplanten Plakatkampagne gibt es kein Entkommen“

Der Wert eines Werbestandorts ergibt sich nicht nur aus der Menge der Kontakte, sondern auch aus ihrer Dauer und Qualität. Anders ausgedrückt: An manchen Werbeflächen kommen zwar wenige, aber die richtigen Menschen vorbei. Im neuen G-Wert werden die Daten des Frequenzatlas berücksichtigt, der unter anderem auf der seit 1998 am AiS entwickelten Software „CommonGIS“ aufsetzt. So kann man beispielsweise eine Pralinenwerbung nur dort platzieren, wo ältere, kaufkräftige Personen wohnen. Das Verfahren lässt sich nicht nur auf Plakate, Riesenposter und Videoboards anwenden, sondern auch auf Geldautomaten oder Briefkästen. Mobilfunknetzbetreiber können sehen, wo es sich lohnt, Funklöcher zu schließen.

Vertrieben wird der Frequenzatlas von der DDS (5), einem der großen Anbieter von Geodaten. Je nach Kundenwunsch sind verschiedene Preismodelle möglich, zielen tut der Atlas aber vor allem auf Großkunden, die ohne Murren die rund 10.000 EUR für einen Datensatz zahlen.

Direkt in das System können keine zusätzlichen Angaben eingespeist werden. Erst über externe Programme können die Informationen aus dem Atlas mit internen Geschäftsdaten abgeglichen werden, so zum Beispiel mit Daten des Statistischen Bundesamts oder der beliebten Bonuskarten. Wer beim Erwerb einer solchen Karte die Formulierung akzeptiert hat, dass die Daten an „befreundete Unternehmen“ weitergeleitet werden dürfen, hat gute Chance, sich als Datensatz im Geomarketing wiederzufinden.

Auf besondere Aufmerksamkeit bei Außenwerbern stieß vor zwei Jahren eine Studie des Bundesverkehrsministeriums. Detailreich wurde in der „Mobilität in Deutschland“ genannten Erhebung nachgewiesen, dass die Deutschen gerne unterwegs sind: Wenn sie nicht gerade ihren Lieblingsbeschäftigungen nachgehen (Essen, Fernsehen, Arbeiten), sind sie auf Achse. Fast die Hälfte aller Autofahrer ist zwischen 30 und 49 Jahre alt. Und wer unterwegs ist, schaut nicht fern, sondern Plakat. Diese mobile Generation liegt im Fokus der Branche, denn sie verfügt über einen oft hohen Bildungsgrad und Lebensstandard. Sie legt am Tag doppelt so große Strecken mit dem Auto oder zu Fuß zurück als ärmere Bevölkerungsschichten. Eine Konsumentengruppe wie aus dem Bilderbuch.

Georg Schotten, Direktor der Marktforschung beim Plakatwerber „Ströer“, denkt weiter: „Menschen fahren auf der Straße und werden von Plakaten erreicht, daher muss man sich mit dem Thema ‚Verkehr‘ und dessen innerer Logik sehr genau auseinandersetzen.“ Das Fachmagazin Werben und Verkaufen (6) jubelte schon im Juni diesen Jahres angesichts der Zusammenführung der Daten von Mobilitätsstudie, Marktforschungserhebungen, G-Wert und Verkehrsstrom-Information: „Vor einer entsprechend geplanten Plakatkampagne gibt es kein Entkommen. Zappen zwecklos.“ In Zukunft wird das Netz noch feinmaschiger werden. Dann soll, so hofft man beim FAW, nicht nur genau festgestellt werden, wo welche Menschen wohnen, sondern auch, warum sie sich wie bewegen.
Links

(1) http://www.ais.fhg.de/´
(2) http://www.faw-ev.de/
(3)
(4) http://www.gfk.de/
(5) http://www.ddsgeo.de/
(6) http://www.wuv.de/

Telepolis Artikel-URL: http://www.telepolis.de/r4/artikel/21/21482/1.html

 

 

Kategorien
Elektronische Kultur

Interview R.U. Sirius über sein Buch Countercultures trough the Ages

telepolis v. 5.12.2005

Spuren des Protests

Interview mit dem Veteranen des Cyberspaces, R. U. Sirius, über Gegenkulturen, die 60er Jahre und den “Do It Yourself”-Anspruch

Der Acid-Papst Timothy Leary hatte ihn einst auf die Idee gebracht eine Historie der Gegenkulturen zu schreiben. Ken Goffman, besser bekannt unter seinem Künstlernamen R. U. Sirius, nahm das ernst. In seinem Buch „Countercultures Through the Ages“ (http://www.counterculturethroughtheages.com/) erzählt Goffman nun die Geschichte des stillen und lauten Protests gegen den herrschenden Geist. Schon der Untertitel „From Abraham to Acid House“ zeigt: das zu beackernde Feld ist weit. Sokrates, die Sufis, die Troubadoure, die Pariser Bohemians, Zen-Mönche, die Hippies, die Cyberpunks. Spätestens seit Diogenes zu Alexander dem Großen sein „Geh mir aus der Sonne“ sprach, so stellt Goffman fest, stehen alle Autoritäten im Verdacht den Menschen das Licht der Kreativität und des Individualismus zu nehmen. Im Interview spricht Goffman über Strukturen und Bedingungen der Nicht-Konformität.

Telepolis
Was macht der Mainstream falsch, dass sich in allen Zeiten der Geschichte Gegenkulturen herausbilden?

Ken Goffman
Es gibt selbstverständlich keinen konsistenten Mainstream. Es gibt Überzeugungen, Verhaltensweisen und Rituale, die Menschen während bestimmten Zeiten und Orten miteinander teilen. Es existiert ein Impuls bei der Mehrheit der Menschen, die aktuell herrschenden Denkmuster und die des allgemein geltenden Daseins zu akzeptieren. Und es gibt die Interessen derjenigen mit Gestaltungsmacht, sei diese nun religiös, politisch oder wirtschaftlich, die im Erfolg damit haben die Menschen an ihre Ideen glauben zu lassen. Schließlich dient das der Machterhaltung. Auf der anderen Seite gibt es meist eine Minderheit von ruhelosen Personen, die die Dinge einfach anders sehen und den Mut haben dies auch auszudrücken. Durch Abweichung entsteht Fortschritt, kulturelle und ökonomische Dynamik, Kunst, politischer Wechsel. Oft wird die ehemalige Abweichung dann zum neuen Dogma.

Telepolis
Was einmal befreite, wirkt auf die nächste Generation immer schal?

Ken Goffman
Um das vorherrschende Paradigma herauszufordern, braucht es dann eine weitere, ruhelose Gruppierung oder Person. Ich denke, dies ist ein ewiger Kreislauf. Selbst Utopisten haben die Gegenkultur nötig.

Telepolis
In ihrem Buch haben sie das die “Tradition mit Traditionen zu brechen“ genannt. Was verbindet alle Gegenkulturen? Gibt es gemeinsame Werte?

Ken Goffman
Grundsätzlich wichtig ist erst einmal ein Infragestellen von Autoritäten. Der eigenen Autorität und Autonomie zu trauen, das ist das Nächste. Diese Selbstständigkeit führt zur einer Dezentralisation von dem, was Menschen Denken und Glauben. Diese Art neuer Individualismus muss sich von bloßem Egoismus unterscheiden. Die gemeinsamen Werte umfassen zudem Innovation in Kunst und Philosophie, das Fördern von Diversität, Großzügigkeit, vor allem im Teilen von Resourcen und Werkzeugen.

R.U. Sirius (Foto aus Wikipedia)
R.U. Sirius (Foto aus Wikipedia)

Telepolis
Wenn die Gegenkultur gezwungen ist die Regeln der Gesellschaft zu brechen, wie unterscheidet sie zwischen kulturell-politischer Evolution und einem blinden Aufstand, zwischen nötiger Veränderung und leichtfertigem Renitenz?

Ken Goffman
Es ist nicht immer ganz klar, wann man gegen die Zivilisation revoltieren und wann man sie zur vollsten Blüte bringen muss. Gegenkulturen zeichnen sich generell durch Kreativität und Ideenreichtum aus, selbst wenn sie in den Farben der wilden Revolte auftreten, wie beispielsweise die Dadaisten oder die Punks. Sie können kulturell barbarisch wirken und so aussehen, als ob sie der gutbürgerlichen Kultiviertheit im Wege stehen. Meist sind sie aber eher ein sehr fortgeschrittener Ausdruck von Kultur. Aber ohne Zweifel, ja, es gibt eine feine Linie zwischen dem Aufbrechen rigider Strukturen sowie dem Glauben daran, eine Kultur freier zu machen und dem Heraufbeschwören eines neuen, dunklen Zeitalters.

Telepolis
Traf es Bob Dylan, als er sang: “Um außerhalb des Gesetzes zu leben, musst du aufrichtig sein“?

Ken Goffman
Nun, das ist der Mythos vom hehren Outlaw, ein wunderbarer Mythos. Aber auch totale Drecksäcke kommen damit durch außerhalb der Gesetze zu stehen. Für alle von uns, die außerhalb der Regeln leben müssen, ist es gleichwohl wichtig ehrlich und voller guter Intentionen zu sein. Dennoch höre ich Dylan den Text ) lieber so singen, wie er ihn gemeint hat.

Telepolis
Dylan war Teil der Bewegung der 60er Jahre. War diese aus ihrer Sicht die wichtigste Gegenkultur des vergangenen Jahrhunderts?

Ken Goffman
Letztendlich wird der Geist des DIY (Do It Yourself), der als Teil der Punk-Bewegung in den 70er entstand, sich für einige Zeit als die wichtigste Transformationskraft erweisen. Dieser Geist pflanzte sich in der Cyberpunk-Bewegung der 80er und 90er fort und drückt sich heute in der Netzkultur aus, in der jede Person oder jede Gruppe ein multimedialer Sender ist. Er zeigt sich auch im Burning Man Festival (http://www.burningman.com/) und ähnlichen Zusammenkünften, bei denen jeder Mitwirkender und Künstler sein kann, und wir sehen ihn nicht zuletzt in der Kultur der “Open Source”, in der sich die Menschen weigern ihre Ressourcen auf monetäre oder proprietäre Interessen zu beschränken, wenn sie stattdessen etwas nützliches oder interessantes gestalten können. Sicher, dies alles greift auch auf den Geist der 60er zurück, aber diese wollten zu viel, nämlich eine komplett neue Gesellschaft, ohne vorher ihre DIY-Qualifikation zu entwickeln.

Telepolis
Die Lust auf psychoaktive Substanzen zieht sich als roter Faden durch die Gegenkulturen der Gegenwart. Wie wichtig sind diese für deren Entstehung und Entwicklung?

Ken Goffman
Die faszinierende Historie geistbewegender Pflanzen ist Thema für ein weiteres Buch. Es mag überraschen, aber der Gebrauch von Drogen spielte für die Gegenkulturen bis ins 20. Jahrhundert hinein nur selten eine Rolle. In früheren Zeiten ist es am ehesten noch der Sufismus, der auf psychedelische Drogen wie Haschisch und die damit zusammenhängenden Bewusstseinszustände referenziert. Der radikale Sufismus fordert dazu auf, die ausgefahrenen Gleise des alltäglichen Bewusstseins zu verlassen und wollte damit eine tiefere, geklärte Erfahrung der Welt ermöglichen. Bestimmte Drogen können bei diesen Bestrebungen helfen. Im Gegensatz dazu wollen Taoismus und Zen den Suchenden dazu anleiten, den beeindruckenden Frieden zu finden, der innerhalb (!) des alltäglichen Bewusstseins liegt, von daher sind sie weniger empfänglich für Psychedelika. Meine liebste Metapher für Drogen ist der “Filterwechsel vor der Wahrnehmungs-Kamera”. So erhält man ein anderes Bild der Realität. Jeder Veränderung des Bewusstseins, selbst diejenige mit Hilfe von Alkohol und Kokain, kann dich von deinem Standpunkt abbringen und zu neuen Einsichten führen. Deshalb nutzen sie Schriftsteller und Kreative manchmal, wenn sie denken, sie stecken gerade fest.

Telepolis
Sollten jemand den Kreationisten in den USA die Einnahme psychedelischer Drogen empfehlen?

Ken Goffman
Ich bin sicher, einige von ihnen haben sie genommen. Aber es gibt halt keine Erfolgsgarantie. Einige werden Fundamentalisten oder ultra-religiös. Mit Chaos, Komplexität und der Möglichkeit anderer Realitäten konfrontiert flippen sie aus und ergeben sich einem “Gott”, der ihnen das Seelenheil bringen soll.

Telepolis
Vorausgesetzt man will es wissen: Wie lernt man aus diesen Erfahrungen?

Ken Goffman
Ich zögere persönliche oder soziale Lektionen aus den Trips anderer Leute zu ziehen. Aber gut: Im weitesten Sinne wohnt diesen Erfahrungen das Potenzial inne, ein alternatives Belohnungssystem zu etablieren. Wenn wir uns für Abstumpfung mit Konsum belohnen, wenn unsere Suche nach intensiven Gefühlen zu sozialem Sadismus, Masochismus oder Krieg führt, wenn der größte Rausch für einige darin besteht Wettkämpfe zu gewinnen oder einen sexuellen Partner zu erobern; dann kann die psychedelische Erfahrung eine andere, eine bessere Entlohnung bieten. Manche Drogen schalten zeitweise das ewige Begehren ab und geben uns stattdessen einfache, aber gehaltvolle Freude. Diese Freude sitzt vielleicht in den neuralen Strukturen, der Epiphyse oder auch in Kräften außerhalb unseres Körpers, mehr oder weniger eng verknüpft mit unserem Bewusstsein. Oder wie mein Freund Zarkov, der psychedelische Investment-Banker, so gerne sagt: “Hey, es ist besser als Bowling”.

Telepolis
Wie sieht die europäische Gegenkultur zurzeit aus ihrer Sicht aus?

Ken Goffman
Ehrlich gesagt kenne ich mich da nicht aus. Ich nehme mal an es ist eine anhaltend große Minderheit, wahrscheinlich zu bequem, um aufzufallen.

Telepolis
Sehen Sie sonst irgendwo eine Gegenkultur im Geburtsstadium?

Ken Goffman
Sicher. Schauen sie nach Brasilien unter Lula, dort ist der Held des 60er – Tropicalismo, Gilberto Gil, Kulturminister. Dort wird “Open Source” adoptiert, im Sinne von Software und der Einstellung. In Mexiko herrscht ebenfalls eine starke Gegenkultur. Die Zapatisten gehören dazu, aber auch eher urbane Kulturen. Innerhalb der iranischen und chinesischen Jugend gärt es ebenfalls. Diese weltweiten Bewegungen haben vielleicht nicht die mediale Aufmerksamkeit wie die USA in den 60ern, aber sie sind da.

 


Unter dem Namen R. U. Sirius rührte Ken Goffman Ende der 80er Jahre mit am heißen Brei der entstehenden Cyberkultur. Er war einer der Herausgeber des Magazins Mondo 2000 www.mondo2000.com, einem subversiven Blatt, das über zehn Jahre lang Themen zwischen Hackertum, virtueller Realität und Techno-Utopien abdeckte. Autoren wie Bruce Sterling, William Gibson und Robert Anton Wilson schrieben für Mondo 2000, das als anarchischer Vorläufer des später erfolgreichen Magazins Wired (http://www.wired.com/wired/) gilt. Goffman ist zur Zeit Host von zwei Podcasts, „NeoFiles“ ) und die „R. U. Sirius Show“ (http://rusiriusradio.com).

Siehe zu dem Thema auch , eine Rezension zu dem Buch: „Nation of Rebels: Why Counterculture Became Consumer Culture“ von Joseph Heath and Andrew Potter.