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Künstliche Intelligenz

Gekonnte Einzelaktionen

telepolis, 23.06.2004

Gekonnte Einzelaktionen, aber Probleme mit dem Teamspiel

In München trafen sich die Roboter zu ihrer Fußball-Europameisterschaft

Kickende Roboter bringen Erkenntnisse über die Probleme des Alltags – und jede Menge Spaß in die Wissenschaft. Wer genau hinschaut, dem bleiben die Parallelen zu Rudis Mannen nicht verborgen.

Miro Sot Würfel
Miro Sot Würfel

Seinen weltweiten Erfolg verdankt der Roboter-Fußball genau zwei Umständen. Zum einen ist er Domäne für alle Remote-Control-Nerds, deren Lust am Basteln am ferngesteuerten Objekt mindestens ebenso groß ist wie die Lust am Informatik-Studium. Zum anderen war die Wissenschaft von der „Künstlichen Intelligenz“ (KI) Jahre lang auf der Suche nach einer neuen Spielwiese.

Seit der Geburt der Disziplin galt lange das gekonnte Schachspiel als das Paradebeispiel für die vermeintliche Intelligenz des Computers. Erst in den 90er Jahren sah man ein, dass eine spanische Eröffnung und ein zügiges Endspiel mehr über die Programmierkunst der Entwickler als die Intelligenz der Maschine aussagt. Wichtiger aber noch war, dass den Apologeten der runderneuerten KI das 8×8 Felder große Universum mit seinen äußerst festen Bewegungsregeln zu statisch, gleichsam unnatürlich erschien. Vor Rechenpower strotzende Schachcomputer hatten ihren magischen Reiz verloren.

Bolzende Roboter müssen seither als neues Paradigma der KI herhalten und die Zwerge geben sich redlich Mühe den Ansprüchen ihrer Herren gerecht zu werden: Es geht um möglichst autonomes Bewegen in sich schnell verändernden Umgebungen, mit anderen Worten: Fussi.

Zu ihrer 7. Europameisterschaft trafen nun im Rahmen der Messe Automatica 13 Robot-Teams aus 11 Ländern aufeinander. Die FIRA (Federation of International Robot-Soccer Association) hatte in der Klasse der „Miro-Sot League“ nach München geladen. Hinter der kryptischen Bezeichnung verbergen sich Roboter, die nicht mehr als 7,5 Zentimeter Kantenlänge aufweisen dürfen und auf einem nicht mal tischtennisplattengroßen Feld einen Golfball ins gegnerische Tor dribbeln sollen. Im Gegensatz zur bekannteren „Middle-Size“ League aus dem Robocup sind die Roboter hier kleiner und wendiger.

Nach jeweils souverän absolvierten Vorrunden standen sich im ersten Endspiel der „Middle League“ die Teams der Dortmund Droids und der Ljubljana Dragons vor rund 80 begeisterten Zuschauern gegenüber.

Jeweils fünf kleine Roboter pro Mannschaft spurten auf geschmierten Rollen übers glatte Feld und kommen auf Spitzengeschwindigkeiten von fast 2 m/s. Und die agilen Slowenen dominierten von Anfang an durch kraftvolle Vorstöße das Spiel. Um gleich zu Beginn keine falschen Vorstellungen aufkommen zu lassen: Nach wie bilden gekonnte Einzelaktionen den Hauptteil dieses Sports, Passspiel oder gar Kombinationen sind den Metallkisten nahezu unbekannt. Was aber bei den Dortmundern durchaus zu sehen war, sind schnell Drehungen der Robots, um den Ball so Richtung Tor zu schießen.
DieDortmundDroids
Mannschaftsaufstellung

Die Slowenen pflegten dagegen – den orangenen Ball vor sich her treibend – den direkten Durchbruch zum Tor. Die (in Fußball-Deutschland ja sonst weithin unbekannte) schnelle Überbrückung des Mittelfelds geschah dabei zum Teil so zügig, dass der Ball im Tor landete, bevor der Dortmunder Torwart überhaupt reagieren konnte. Im Fachjargon nennt sich das „Line of Attack“ und diese gedachte Gerade zwischen Roboter, Ball und Tor ist offensichtlich bei den Slowenen brillant implementiert.

Die linke Seite der Dortmunder blieb während des gesamten Spiels stark vernachlässigt, der Linksaußen agiert ähnlich hüftsteif wie anno 1983 der Borusse Werner Dreßel. So bewegten sich Mannschaften und Ball die meiste Zeit in der Hälfte der Dortmunder, die zwangsläufig Tor auf Tor kassieren. Zu allem Unglück fiel in der 2. Halbzeit auch noch die Nummer 13 der Techno-Mannen aus dem Pott zunächst durch Taumel-, später gar durch wilde Kreiselbewegungen auf und musste ausgewechselt werden. Derart geschwächt blieben die Dortmunder der aggressiven Spielweise der Slowenen weiterhin hilflos ausgeliefert. Der Anschlusstreffer zum 8:1 war denn auch ein kullernder Zufallstreffer, das Endergebnis lautete gar 11:2.

Rollen statt Stollen

Was die meisten Zuschauer schon an den kleinen Antennen auf den rollenden Ronaldos erkannten: Die Robots erhalten ihr Bewegungsprofil vom Rechner zugeteilt, der ihnen über eine bidirektionale Funkverbindung Fahrtrichtung und Geschwindigkeit vorschreibt. Eine über dem Spielfeld montierte Kamera (30 frames per second) nimmt die Bewegungen von Ball, eigenen und gegnerischen Robotern auf und sendet sie an den Rechner.
Die erfolgreiche Software der Slowenen zur Bildverarbeitung und Steuerung der Spieler läuft auf einem handelsüblichen Laptop unter Windows 98. Teures Hightech ist auch bei den anderen Teams nicht am Werk, ein Umstand, auf den man durchaus stolz ist. „So können mehr Mannschaften teilnehmen“, sagt einer der Betreuer der Robots aus Dortmund. Ihr Host System läuft auf einem AMD Athlon mit 2,8 GHz und 60 GB Festplatte, allerdings kräftig aufgemöbelt mit 1 GB PC2700 DDR-RAM. Die CCD Digital-Kamera ist über FireWire ans System angeschlossen.

Die Software besteht bei den Teams aus Lösungen, die in Jahre währender Arbeit entwickelt und verbessert wurde. Die Dortmund Droids werden zurzeit von vier Modulen gesteuert: einem Bilderkennungsmodul, einem Modul zur Festlegung der Strategie, einem Kommunikationsmodul und einem Steuerungsmodul, welches sich im RAM der Robots selbst befindet. Diese sind mit 64 Kwords und 16 Kwords Flash RAM ausgestattet.

Mit großen Worten wie „Künstlicher Intelligenz“ ist man bei den Verantwortlichen vorsichtig geworden, denn ob das Verhalten dieser Fußball-Zwerge als intelligent zu bezeichnen ist, hängt von der Definition von Intelligenz ab. Zählt man den Begriff der „Autonomie“ zum Kern von Intelligenz, dann fallen die putzigen Würfel durch das Raster, denn sie agieren keineswegs autonom auf dem Feld, sondern stehen in stetem Kontakt zum Rechner. Ob aber nun das Gesamtsystem aus Robotern und Rechner als intelligent gelten kann, darüber will so recht niemand mehr streiten. Mittlerweile steht die Problemlösung im praktischen und alltäglichen Einsatz im Vordergrund. Ob zur Säuberung der Kanalisation, zur Bombenentschärfung oder als Haushaltsroboter – die KI ist bemüht, Wissenschaft in die Tat umzusetzen. Die Erkenntnisse aus dem Roboter-Fußball können dabei helfen.
Während des laufenden Spiels dürfen Trainer und Betreuer nicht in die Software eingreifen, wohl aber während der Spielunterbrechungen und der Halbzeit. Dann sind durchaus taktische Veränderungen möglich, ein Umstand, der natürlich genutzt wird. So kann beispielsweise die gesamte Mannschaft oder ein einzelner Spieler offensiver eingestellt werden.
Glorreiche Sieben
Auch für das Endspiel in der „Large League“, bei dem sieben Robots in jeder Mannschaft rollen, hatten sich die Ljubljana Dragons qualifiziert. Ganz auf ihre Konditionsstärke setzend, treten die Slowenen mit der gleichen, um zwei Spieler aufgestockten Mannschaft an – never change a winning team. Die eingesetzte Software ist offen sichtlich sehr flexibel: Die zwei weiteren Spieler wurden nach einer kurzen Kalibrierungsphase von einer 1/4 Stunde nahtlos in die Mannschaft integriert.
Elfmeter
Elfmeter!

Der Gegner, die Austro Tech-Kicker von der TU Wien, hatte die Slowenen offenbar gut studiert und setzte ebenfalls auf robuste, schnell ausgeführte Einzelaktionen. Mehrmals rasseln die Gegner leise krachend aufeinander, das Publikum honorierte es freudig, unsicher, ob hier nur die Algorithmen zur Vermeidung von Kollisionen fehlerhaft waren oder bewusst eine härtere Gangart gewählt wurde.
Zunächst gingen die Slowenen 2:0 in Führung, bevor der Sturm der Österreicher ein wahres Feuerwerk technischer Kabinettstückchen zündete. Gerade der zentrale Mann in den offensiven Reihen der Alpenländler erinnert in seiner Abgebrühtheit sehr an den legendären Hans Krankl in seinen besten Zeiten. Dann wechselten die Österreicher kurz vor Ende der ersten Halbzeit aus und brachten einen frisch aufgeladenen Mittelfeld-Regisseur. Dem slowenischen Projektleiter, Prof. Dr. Drago Matko, schwante Böses, nervös schaute er mehrmals zur Uhr, sehnte den Halbzeitpfiff entgegen. Immer wieder gelang es den Österreichern in den Zweikämpfen an der Bande den Ball zu erobern. Kein Wunder, die Austro-Kicker haben in ihre Software Muster aus dem Zweikampf-Verhalten im Eishockey und American Football integriert.
Nach Wiederanpfiff fällt das 3:2 für die Österreicher, die Slowenen nehmen daraufhin ein Time-Out. Ihr Bildverarbeitungssystem hatte mitten im Match angefangen, den Ball für einen ihrer Spieler zu halten. Trotz der Behebung des Fehlers finden die osteuropäischen Robots nicht zurück ins Spiel und kassieren ein Tor nach dem anderen, die Abwehr wirkt phasenweise, als würde Jens Nowotny sie organisieren. In der vierten Minute kommt es zu einer strittigen Szene: Vo einem Prohaska-Robot eher zufällig bedient schiebt der wie entfesselte aufspielende Krankl den orangenen Ball über die Torlinie – nur leider zusammen mit dem Torwart. Foul, das Tor zählt nicht, der Keeper darf bei derartigen Rettungsaktionen nicht behindert werden.
Einige technikaffine Fans schossen immer Fotos mit Blitzlicht, was die Bildverarbeitungssysteme stark irritierte. „No Flashlights“, kam denn auch mehrmals der Ruf des Schiedsrichters. In der 6. Spielminute wurde ein österreichischer Abwehrspieler von einer Art Krampf geschüttelt, „Bänderriss“, diagnostiziert ein Zuschauer fachmännisch. Egal, das slowenische Team geht mit 3:12 gegen „Austro Tech“ unter.

Verärgert oder wirklich enttäuscht ist hier aber niemand. Das „Familientreffen“, wie einer der Teilnehmer es nennt, lebt vom Austausch technischer Kniffe und dem sozialen Miteinander. Die eingesetzte Hardware ist ohnehin bekannt und viele Mannschaften stellen den Quelltext ihrer Steuerungs-Software offen zur Verfügung. Die Human-Techniker kennen sich von diversen Tunieren und da man agile Stellvertreter auf dem Feld hat, werden die Kräfte auch gerne beim allabendlichen Socialising eingesetzt. Nach den Turniertagen sind dann Robots und Betreuer gleichermaßen erschöpft.

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Elektronische Kultur

Smarte Chips für die Warenwelt

Morgenwelt, 14.06.2004

Smart Chips für die Warenwelt

Elektronischer Produktcode und die Funkübertragung per Chip werden Logistik und Konsumgüterindustrie verändern. Der technische Aufwand ist enorm – die Privatsphäre der Kunden steht zur Disposition.

Die Idee für den elektronischen Produktcode (EPC) entstand 1999 in der Hightech-Schmiede Amerikas, dem MIT (Massachusetts Institute of Technology). Das Ziel ist der Aufbau eines Systems, das jedem auf dem Globus gefertigten Produkt eine eindeutig identifizierbare Nummer zuordnet. Egal ob ein deutsches Automobil, Turnschuhe aus Vietnam oder eine Getränkedose aus Australien – jedes dieser Produkte soll einen individuellen Code erhalten.
Gespeichert wird dieser Code in einem oft nur wenige Millimeter großen RFID-Chip (Radio Frequency Identification). Dieser, auch Transponder genannt, ist in der Lage ohne Batterie und berührungslos per Funk den Code an entsprechende Lesegeräte zu übertragen. Der Informationsinhalt des 64 oder 96 Bit langen Codes ist variabel, beinhaltet aber zumindest Rahmendaten wie den Hersteller, die Objektklasse und eine Seriennummer.

RFID-CHIP
Die auch „Smart-Tags“ genannten Sender sind so klein, dass sie in Preisetiketten oder sogar im Produkt selbst angebracht werden können. Der Vorteil gegenüber dem heute eingesetzten Barcode liegt auf der Hand: dieser wird per Scanner eingelesen, wozu aber meist Handarbeit notwendig ist. Stecken die Waren in großen Gebinden oder Containern lohnt die Zerlegung der Ladung nicht, Schwund wird in Kauf genommen.
Fährt dagegen eine Palette mit RFID-Transponder durch eine Antennenschleuse, wird binnen Sekunden jedes Produkt registriert. Doch damit sind die technischen Möglichkeiten von RFID und EPC längst nicht ausgeschöpft, in den Vorstellungen der Handelskonzerne entstehen durchstrukturierte und hochkontrollierbare Warenwelten.

Ihr Ziel ist es zu jeder Zeit zu wissen, wo und in welchem Zustand sich jedes Produkt in der Warenkette befindet. Noch sind RFID-Chips mit rund 50 Cent für den Masseneinsatz viel zu teuer, was sich voraussichtlich erst in rund fünf Jahren ändern wird. Zunächst wird sich RFID, da sind sich die Experten einig, an Fahrzeugen und großen Transportverpackungen durchsetzen.

„Bei der Verfolgung von Ladeeinheiten mithilfe von RFID dürfte es innerhalb der nächsten fünf Jahre zu einer nennenswerten Durchdringung kommen“, sagt Winfried Krieger, Professor für Logistik und E-Business an der Fachhochschule Flensburg. Hierbei sei der Vorteil, so Krieger, dass die teuren RFID-Transponder nach Gebrauch zum Lieferanten zurückgesandt werden könnten, um dort erneut beschrieben zu werden.

Auch die Auswirkungen auf die Lagerprozesse seien frappant, meint Krieger. Bei der Anlieferung könne sofort kontrolliert werden, ob die Ware mit der Bestellung übereinstimme, im IT-System sei jederzeit genau vermerkt, welche Produkte sich zu welchem Zeitpunkt an welcher Stelle im Lager befänden und komplexe Kommissionierungsvorgänge würden enorm vereinfacht.

Der zweite Schritt: Die Verbraucher

Erst in einem zweiten Schritt werden sich RFID und das damit zusammen hängende EPC-System auf Artikel- und damit auf Endverbraucherebene durchsetzen. Dann soll die Inventur in Echtzeit möglich sein und der gefürchtete Satz des Verkäufers: „das haben wir gerade nicht auf Lager“ soll der Vergangenheit angehören. Die Haltbarkeit des Frischkäses funkt dieser höchstselbst an den Manager, der diesen dann unter Umständen als Sonderangebot neu positionieren lassen kann.
Manche Pläne gehen noch weiter: Transponder an Medikamenten-Verpackungen sollen dem Patienten zukünftig Einsatzgebiet und Kontraindikationen mitteilen und der Reader in der Waschmaschine wird darauf hinweisen, dass die weißen RFID-bestückten Hemden und die roten Socken besser nicht zusammen gewaschen werden sollten. Dem Endkunden könnten über die Etiketten auch Hinweise auf die korrekte Entsorgung des Produkts gegeben werden. Um alle diese Anwendungen zu realisieren, müsste das RFID aber dauerhaft am oder im Produkt verbleiben und wäre von daher mit geeigneter Hardware immer und für jeden auslesbar.
Die Kaufhof AG prüfte jüngst in einem Praxistest ein neues Lagersystem, bei welchem die Fabrikate des Textilherstellers Gerry Weber mit RFID-Tags ausgestattet waren. Der Test verlief, nach Angabe von Gerd vom Bögel vom Fraunhofer-Institut für Mikroelektronische Schaltungen, das den Praxis-Einsatz wissenschaftlich begleitete, „für alle Beteiligten sehr zufrieden stellend“. Der Serieneinsatz sei für Anfang 2005 geplant, mit Chips, die nur die Identifikation und keine weiteren Produktdaten enthalten. Da die smarten Etiketten zurzeit noch rund 50 Cent pro Stück kosten, würden sie an der Kasse entfernt und zurück in den Prozess gelotst. Über eine interne Datenbank sollen dann neben Kaufhof auch Hersteller, und Spediteur Zugriff auf die Daten erhalten, die den genauen Stand des Warenflusses anzeigen.

Perfekte Kundenbindung

Spätestens wenn die RFID-Etiketten vom Lager in den Verkaufsraum gelangen, stellt sich für Hersteller und Händler die Frage, ob und wie der Endverbraucher an die elektronische Warenkette mit angeschlossen werden soll. Einen ersten Versuch des kundennahen Einsatzes der Antennen-Chips führt die Metro Group durch. Der weltweit fünftgrößte Handelskonzern sieht enormes Potenzial in RFID und evaluiert dies in seinem „Future-Store“ in der Nähe von Duisburg. Waren auf über 4000 Quadratmetern Verkaufsfläche funken hier ihren Daten auf das Display des Einkaufswagens und auch zum Management auf den Schreibtisch.

Mithilfe der Transponder lässt sich auch erkennen, wie lange ein Kunde ein Produkt in der Hand hält und wie oft ein Artikel zurückgestellt wird. Und: Die RFID-Sender sitzen auch in den Einkaufswagen selbst. So kann der Future-Store messen, wie lange ein Käufer im Laden bleibt. Obwohl die damit erhobenen Daten anonym sind, sehen einige Datenschützer schon hier einen weiteren Schritt in Richtung des „gläsernen Kunden“ getan. Damit aber nicht genug: Datenschutzexperten vom FoeBuD (Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs) fanden im Februar in den Kundenkarten des Future Shops implementierte RFID-Chips.

Damit war ein Horror-Szenario der Privatsphären-Apologeten Realität geworden: Das Einkaufsverhalten jedes Kartenbesitzers lässt sich ohne sein Wissen genau studieren. Denn nicht nur die Produkte selbst funken ihre Identifikation, ihre Beschaffenheit und ihren Standort im Geschäft an die Empfänger, mehr noch, diese Daten lassen sich mit dem dazugehörigen Einkäufer auch verknüpfen. Es hagelte Proteste, die Metro teilte daraufhin mit, das über 10.000 Payback-Kundenkarten ausgetauscht werden können. Metro-Sprecher Albrecht von Truchseß begründete den Rückzug damit, dass das Thema „zu sehr emotionalisiert“ worden sei.

Der Laden der Zukunft

Aber auch Experten, die den Datenschutz nicht für das vorrangige Problem beim Einsatz von RFID halten, geben zu bedenken, dass die Erfassung von Produkt- und Kundenbewegungen im Verkaufsraum für die Marketingabteilungen der Konzerne viel zu reizvoll sind, als dass sie diese Chance vorüberziehen lassen werden. Winfried Krieger nennt dies vorsichtig „den Vorteil der Planungssicherheit, der sich aus den erfassten Informationen ergibt“. Krieger sagt weitere massive Proteste gegen RFID voraus, wenn die betroffenen Firmen ihre RFID-Konzepte für den Endkundenbereich nicht besser öffentlich vermitteln.

Kern des Problems ist der auch außerhalb des Ladens funkende Chip. Bleibt nämlich der RFID-Chip nach dem Einkauf aktiv, kann die gekaufte Ware auch außerhalb des Ladens noch einmal gescannt werden. Das ergibt nicht nur verbesserte Auswahlchancen für Taschendiebe, sondern gibt auch dem benachbarten Kaufhaus die Möglichkeit, nach dem Scanvorgang am Eingang seine Werbung im Verkaufsraum gezielt auf den neuen Kunden abzurichten. „Sie haben Wiener Würstchen erworben? Fehlt Ihnen vielleicht unser Senf dazu?“

Der Future-Store bietet seinen Kunden mittlerweile die Möglichkeit den Chip am Ausgang zu deaktivieren. Doch auch hier entdeckten die Datenschützer einen Pferdefuß: Es wurden nicht alle Daten auf dem Chip gelöscht, die weltweit eindeutige ID blieb erhalten.

Aus den USA kommt jetzt der erste Gesetzesvorschlag, der den Einsatz der RFIDs regeln und die Privatsphäre schützen soll. Die von der demokratischen Abgeordneten Debra Bowen als „Senate Bill 1834“ eingebrachte Vorlage soll für alle Firmen und Behörden gelten, welche die Technologie einsetzen. Der Vorschlag sieht vor, dass die Besucher einer Einrichtung über den Einsatz von RFIDs informiert und diesem ausdrücklich zustimmen müssen. Bei Verlassen eines Ladens müssten die Tags entfernt oder zerstört werden.

Auf kurze Distanz

Noch sind es weniger die Datenschützer, die einem Big-Brother Szenario im Weg stehen, sondern die Physik: Die in Europa üblichen Chips funken auf einer Frequenz von 13,56 Megahertz, die dazugehörigen Hand-Lesegeräte können Signale aus maximal 20 Zentimetern empfangen. „Stationäre Antennen kommen auf 60 Zentimeter und erst die großen, heute nur an Lagereingängen eingesetzten Gate-Antennen erfassen RFID-Etiketten in bis zu 2 Meter Entfernung“, erklärt Gerd vom Bögel vom Fraunhofer Institut. Sind die Transponder aber von Metall umgeben, dringen die Signale nicht bis zur Antenne durch. Auch Flüssigkeiten bremsen die Übertragung. „Dazu kommt“, so vom Bögel, „dass zwei Transponder nicht genau aufeinander liegen dürfen, denn dann kommt es zu Funk-Kollisionen“.

Trotz technischer und sozialer Herausforderungen will die Metro RFID möglichst bald entlang der gesamten Prozesskette einsetzen. Schon ab November 2004 sollen die rund 100 größten Lieferanten ihre Paletten und Transportverpackungen für zehn Zentrallager und 250 Märkte mit RFID-Etiketten versehen. Der US-Handelsgigant Wal-Mart verpflichtete jüngst seine 125 größten Zulieferer zur Implementierung von RFID bis 2005. Die betroffenen Hersteller müssen beachtlich investieren: Wie die Marktforscher von AMR-Research errechneten, ergeben sich für einen Wal-Mart-Lieferanten Kosten zwischen 13 und 23 Millionen US-Dollar bei der Einführung von RFID, wobei die eine Hälfte für die Bereitstellung der Funketiketten und Reader, die andere Hälfte für das Redesign der IT-gestützten Warenkette anfällt.

Ungeheure Datenmengen

Wie genau diese Investitionen auf die Teilnehmer verteilt werden, ist noch unklar, damit aber das „Return on Investment“ möglichst flink erfolgt nehmen Analysten und Logistik-Experten die Lieferanten ins Gebet. „Mit RFID fallen ungeheure Datenmengen an und die meisten Unternehmen wissen noch gar nicht, wie sie diese Daten in verwertbare Informationen transferieren“, bemerkt James Weir vom Analystenhaus IDC.
Mittlerweile liest sich die Allianz der RFID-Unterstützer wie das „Who is Who“ der Global-Player. Hardware-Hersteller wie Texas Instruments, Handelskonzerne, Speditionen und Händler zeigen sich gleichermaßen überzeugt, dass die funkenden Chips Logistik und Warenbestandshaltung revolutionieren werden. Um den Masseneinsatz zu ermöglichen will Chiphersteller Infineon die Herstellungskosten für die Chips schnell drücken, und Siemens eröffnet noch dieses Jahr zusammen mit Intel ein „RFID-Technology Center“ in der Nähe von München.
Softwarehäuser entwickeln zurzeit die nötige Software zur Verwaltung der Datenmengen, die durch das Einscannen und Weitergeben der RFID-Daten entstehen. SAP bietet Middleware an, und auch Microsoft plant nach eigenen Angaben die Integration von Transponder-Daten in ihr Warehouse Management System.

Die Organisation „EPCglobal“, Gralshüter der Normierungs-Architektur hinter EPC, denkt schon weiter. Sie bietet eine einheitliche Infrastruktur für die per RFID erhobenen Daten und hat für den neuen Standard schon jetzt die wichtigsten internationalen Unternehmen im Boot. Ihr Vorteil: Es ist kein Konkurrenz-Standard in Sicht, zudem spielen die funkenden Chips ihre größten Vorteile nur dann aus, wenn die für den jeweiligen Teilnehmer in der Warenkette relevanten Informationen über das Produkt jederzeit abrufbar sind.

Der Chip selbst fasst nur wenige Informationen, er verweist aber auf eine dahinter liegende Datenbank. Diese soll dezentral als EPC-Netzwerk aufgebaut werden. Zurzeit entwickelt die als Internet-Domainverwalter bekannte Firma VeriSign im Auftrag von EPCglobal dieses weltweite Netzwerk. Die Struktur dieses weltweit erreichbaren Verzeichnisdienstes lehnt sich dabei an das aus dem Internet bekannte DNS (Domain Name System) an.
Die Änderungshäufigkeit der Daten spricht dagegen, diese jedes Mal, wenn sich der Lagerort ändert, an den Geschäftspartner zu übertragen. Was beim Barcode noch funktionierte, soll sich beim EPC grundlegend ändern. Jeder der Beteiligten hält seine Daten in seinem System, erlaubt jedoch autorisierte Zugriffe durch seine Partner. Die auf XML basierenden Metasprache PML (Physical Markup Language) soll plattformübergreifend für ein gemeinsames Datenbankformat sorgen.

Die Grundelemente für den weltweiten RFID-Datenaustausch stehen damit bereits fest. Und mit dem Aufweichen der Insellösungen einzelner Firmen und Konzerne wächst neben den Möglichkeiten der Warenkontrolle auch das Potenzial zur Kontrolle des Kaufverhaltens der Konsumenten. EPCglobal hat bereits reagiert und in ihren Datenschutzrichtlinen verankert, dass Käufer von RFID-Produkten stets darüber informiert werden sollen, dass sie die Möglichkeit haben die Tags außer Funktion zu setzen oder sie abzutrennen.

 

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Drogenpolitik

Cannabis in Osteuropa

HanfBlatt, Juni/Juli 2004

Östliche Bewusstseins-Erweiterung

In den neuen osteuropäischen EU-Ländern herrscht bunte Vielfalt bei den Drogengesetzen. In einigen Staaten weht gar ein liberales Lüftchen. Ein Überblick über die politische Lage und den neuen Markt.

Wer die Karlsbrücke Richtung Altstadt entlang schreitet, der ist nicht mehr weit von einem der attraktivsten Viertel der tschechischen Hauptstadt Prag entfernt. Wer hier mehr oder weniger unauffällig nach „Grass“ fragt, der wird selten enttäuscht. Das gelieferte Plastik-Beutelchen trägt ein kleines Hanfblatt, ganz wie aus dem Westen bekannt. Die Touri-Rauchware riecht etwas nach Heuschober, wirkt später aber passabel.
Die Republik an der Moldau ist eine von zehn osteuropäischen Staaten, die seit 1. Mai des Jahres Mitglieder der Europäischen Union (EU) sind. Der Anschluss an den goldenen Westen soll allen Ländern wirtschaftliche Prosperität bringen – und die Probleme der neuen Nachbarn möglichst draußen lassen. Zu diesen zählt aus Sicht der Ost-Behörden die hohe Anzahl von meist jüngeren Zeitgenossen, die gern mal einen Joint durchziehen oder, schlimmer noch, dem Rausch an kräftigeren Drogen dauerhaft anheim fallen. In Tschechien, aber auch in der Slowakei, Ungarn, Polen, Slowenien, Malta, Zypern und den drei baltischen Ländern Estland, Lettland, Litauen ist man unsicher, was die neue Ära bringen wird.

Über 74 Millionen neue Mitglieder hat der europäische Skatklub nun und rund fünf Prozent davon kennen Hanf nicht nur als Kosmetikprodukt. Der logische Schluss: 3,7 Millionen Kiffer bereichern die Union und es ist zu ahnen, dass die Aktivisten unter ihnen für Dampf in den Brüsseler Gassen sorgen.
Schon vor ihrem Beitritt zur EU waren alle diese Länder bemüht, ihre Drogenpolitik mit den EU-Richtlinien zu harmonisieren. An eine Legalisierung von Hanfprodukten wagte in den Ländern daher keine der Regierungen zu denken. Was aber existiert sind durchaus unterschiedliche drogenpolitische Ansätze in den Staaten, fruchtbare Dikussionen und eine florierende Kiffer- und Grower-Szene, die auf Veränderung drängt.

Zurück nach Prag. 1999 führte das tschechische Gesundheitsministerium eine Umfrage durch. Über 16% der Tschechen zwischen 15 und 64 gaben an, schon einmal Cannabis geraucht zu haben. Im Vergleich zu früheren Untersuchungen hat sich diese Anzahl kaum erhöht. Diese Zahlen steigen erheblich an, je jünger die Befragten sind. Eine Umfrage unter 16-jährigen in 2000 ergab einen Anteil von über 35% von Schülern, die zumindest schon einmal gekifft hatten. Regelmäßig rauchen rund 15% der 14-19-jährigen. Eine neuere Studie aus 2001 deutet auf einen weiteren Anstieg der Kiffer hin. Unter den 19-jährigen hat nur noch eine Minderheit von 40% noch keine Erfahrung mit Cannabis gemacht – eine für Europa bemerkenswert hohe Zahl.
Das Phänomen der Ausbreitung der Rave-Kultur und ihrer Drogen ist nicht auf Tschechien beschränkt. Eine europaweite Studie unter Ravern zeigt das Ausmaß der Angleichung. In Prag gaben 70% der Techno-Party-Gäste einen regelmäßigen, aber wohl kontrollierten Cannabis-Genuss an. Diese Anzahl deckt sich überraschend genau mit der aus Zürich, Amsterdam oder Madrid.
Haschisch ist in Tschechien teuer, mehr noch, die Preise liegen einsam an der Spitze aller osteuropäischen EU-Länder. Der durchschnittliche Preis liegt bei 17 Euro für das Gramm. In den Weiten der Pampa angebautes Gras liegt bei 6 Euro, importiertes Treibhausgras besserer Qualität bei 7 Euro. Die fallenden Gras-Preise spiegeln die Entwicklung einer wachsende Grower-Gemeinde wieder. Der Anbau von Gras für Eigenbedarf und Freundeskreis verbreitet sich immer mehr. Glaubt man den Ergebnissen der Behörden, ist die Qualität der Produkte nicht schlecht: Der durchschnittliche THC-Gehalt liegt bei 11,5% beim Haschisch, zwischen zehn und 17% bei Nederwiet und 5 und 10% beim Homegrown-Gras. Diese changierenden Werte sind nicht ungewöhnlich. In Proben aus niederländischen Coffeeshops lag der THC-Gehalt bei Haschisch bei 20%, bei Gras bei 15%.
Soweit die Zahlen. Und die Politik? Die Regierungskoalition aus Christdemokraten und der liberalen Freiheitsunion ist sich uneins über den goldenen Weg in der Drogenpolitik. Zurzeit diskutiert man, ob eine Trennung in harte und weiche Drogen vorgenommen werden soll, Innenminister Stanislav Gross gilt allerdings als Hardliner, der einer weiteren Liberalisierung ablehnend gegenüber steht. Tschechien gilt weithin als Land mit progressiver Drogenpolitik, wurde hier doch bereits vor vier Jahren der Besitz kleinerer Mengen Drogen straffrei gestellt.
Die Bundesstaatsanwaltschaft spezifiziert diese „kleinen Mengen“: Rund zehn Dosierungen á 30 mg THC gehen noch durch, mit anderen Worten, man darf rund 20 Joints mit jeweils rund 1,5 % THC sein eigen nennen, ohne angeklagt zu werden. Analoges gilt für andere Substanzen: Wer zehn LSD-Trips (mit 50 ng) oder zehn E´s (mit 100 mg MDMA) mit sich rumträgt, den wird die Polizei zwar nicht freundlich grüßen, der eventuell hinzugezogene Richter wird das Verfahren aber wohl einstellen.
Die öffentliche Meinung hält mit der Entwicklung nur zum Teil Schritt. Rund die Hälfte der Tschechen ist dafür, Genießer von “weichen Drogen” weiterhin zu bestrafen, wie eine Umfrage im Jahr 2001 zeigte. Politisch und gesellschaftlich ist das Land im Fluss. Zurzeit ist – zumindest in Prag – selbst das Kiffen in der Öffentlichkeit kein Problem.

In der Hauptstadt der benachbarten Slowakei kam es am 1. Mai 2003 zu einem denkwürdigen Ereignis. Rund 500 Demonstranten forderten auf den Straßen von Bratislava ihr Recht auf Rausch und die Legalisierung von Cannabis. Dies war die erste Legalize-It Demonstration seit dem Fall des Kommunismus im Jahre 1989. Einer der Organisatoren, Daniel Hromada, sagte: „Wir haben keine Lust in ständiger Angst davor zu leben, für einige Jahren im Gefängnis zu landen, und das nur, weil man eine Pflanze zum Blühen gebracht hat.”
Das kleine Land rühmt sich seiner strikten Gesetze. Schon wer mit einer kleinen Menge Gras in den Taschen erwischt wird, landet vor dem Richter und wird dann meist mit einem Aufenthalt hinter Gittern zwischen einen und fünf Jahren belohnt. Die Proteste gegen den drogenpolitischen Super-GAU im Land sind lahm, die Mitte-Rechts Koalition will ihre Politik keinesfalls überdenken. Peter Muránsky, Drogenexperte bei den Christdemokraten fliegt noch ein Tal weiter und behauptet gar, dass eine Dekriminalisierung „unsere Gesellschaft in die Hölle führen würde.” Die Vertreter der anderen Parteien formulieren sanfter, lehnen eine Reform aber ebenfalls strikt ab.
Gleicher Tag, anderer Ort. In Polens Hauptstadt Warschau kam es am 1. Mai diesen Jahres zu einer Demonstration. Wie in der Slowakei schon ein Jahr vorher, fanden sich die Befürworter einer Legalisierung von Cannabis zusammen, um auf der Straße für ihre Interessen und eine veränderte Drogenpolitik einzutreten. Rund 100 Demonstranten kamen zu dem weltweit ausgetragenen “Million Marihuana March”. Artur Radosz von Kanaba, der größten polnischen Pro-Cannabis-Bewegung, sprach trotz der geringen Teilnehmerzahl gegenüber dem HanfBlatt von einem großen Erfolg der Aktion. Neben der Demonstration hätte es eine Tagung mit einigen Vorträgen gegeben, die gut besucht waren und über die in der Presse auch berichtet worden sei.
Die Grower-Szene weitet ihrer Aktivitäten nur langsam in den Indoor-Bereich aus. Noch herrscht die Guerilla-Pflanzung in der freien Natur vor. Polnischer Rasen ist denn auch nach wie vor häufiger auf dem Markt anzutreffen als Haschisch. Der Preis liegt zwischen 6 bis 8 Euro für das Gramm Gras.
In den Großstädten ist Cannabis in den Altersklassen unterschiedlich beliebt. Eine repräsentative Befragung in Warschau (2002) förderte ans Licht, dass unter den 16-24-Jährigen annähernd die Hälfte (47,9%) schon einmal Cannabis gepompft hatte. Diese Anzahl nimmt mit dem Alter ab. Unter den 35-44-Jährigen sind es nur noch 18%. In den letzten 30 Tagen vor der Befragung hatten 16% der 16-24-Jährigen gekifft. Ein Vergleich der Ergebnisse von 1997 und 2002 weist auf einen langsamen Anstieg der Kifferanzahl hin.
Die Bevölkerung sieht die Legalisierung von Cannabis eher negativ, während sie einer Dekriminalisierung offener gegenübersteht. Eine nicht repräsentative Umfrage von 2002 ergab einen Anteil von nur 6% an „Legalize-It“ Befürwortern. Dieselbe Studie zeigte aber auch, dass nur 20% der Befragten die strafrechtliche Verfolgung von Kiffern befürwortet. Umfragen unter den meist jüngeren NutzerInnen des Internet zeichnen ein anderes Bild. Das kritisch gesellschaftspolitische Magazin „Polityka“ führte im letzten Jahr eine Internet-Umfrage unter seinen Lesern durch. Hier sprachen sich 77% für die Dekriminalisierung des Konsums aus.
Das Hoffen auf eine baldige Durchsetzung dieser liberalen Interessen dürfte verfrüht sein. In Polen stoßen liberale Ansätze schnell auf das Bollwerk der konservativ geprägten Parteien und der nach wie vor sehr einflussreichen Kirche. Das drogenpolitische Konzept der bisherigen Regierungskoalition aus den (sozial-) demokratischen Parteien SLD und UP orientiert sich stark an den EU-Richtlinien, trotzdem existieren in beiden Parteien durchaus Strömungen, die einer Entkriminalisierung des Cannabiskonsums positiv gegenüberstehen – eine Tendenz, die sich aber genauso schnell wieder ins Gegenteil wenden kann. Das völlig fragmentierte Parteiensystem Polens ist immer wieder für Überraschungen gut.
Asia Goldstein von Kanaba in Lodz resümiert: „Eine Legalisierung ist heute überhaupt kein Thema, weder in der Bevölkerung noch unter den großen Parteien, die Dekriminalisierung aber wird diskutiert.“
Theoretisch droht schon für den Besitz von ein wenig Haschisch in den Taschen bis zu drei Jahren Gefängnis. Praktisch kommt es nach der Verhaftung meist direkt zu Hausdurchsuchungen. Die Gerichte aber setzen die Strafen oft zur Bewährung aus, vor allem dann, wenn es um eine kleine Menge geht und der Delinquent Ersttäter ist. Zum Teil kommt es aber gar nicht soweit: In eine Vielzahl von Fällen rettet die Korruption in der Verwaltung den polnischen Kiffer.

 

Hanf hat Tradition in Ungarn. Früher wogen sich die Hanfstängelfelder im Wind, heute sucht das Land an die erfolgreiche Vergangenheit bei der Hanfproduktion anzuknüpfen. Die Produkte des bösen Rauschhanfs sind unter der jüngeren Generation seit den 90er Jahren wieder sehr begehrt, die Preise für Marihuana halten sich zwischen 5 und zehn Euro pro Gramm, Haschisch ist schwerer zu bekommen, aber nur etwas teurer. Von allen neuen EU-Ländern ist der Preis von Kraut damit in Ungarn am niedrigsten.
Nach Angaben der Polizei ist der THC-Gehalt im Gras in den letzten zehn Jahren sukzessive angestiegen. Heute liegt er bei 8 %, wahrscheinlich eine Folge der Nederwiet-Exporte. Ungarn nähert sich aber auch in anderer Hinsicht dem West-Niveau an. Rund die Hälfte aller Verhaftungen in Zusammenhang mit Drogen gehen auf Cannabis-Kleinbesitz zurück.
Vor vier Jahren veröffentlichte Dragan Demetrovics die Ergebnisse einer Umfrage, die er unter 1500 Besuchern von Bars, Clubs und Raves in den großen Städten Ungarns durchgeführt hatte. Genau die Hälfte der im Schnitt 21 Jahre alten Befragten hatte schon die Wirkung von Cannabis erfahren, fast ein Drittel hatte im letzten Monat die Kräuter inhaliert. In Budapest war dieser Anteil noch höher. Die politischen Parteien befinden sich noch – wie im Westen auch – in einer Orientierungsphase mit dem Phänomen „Drogenkultur“. Während die konservative Regierung Mitte der 90er Jahre die Gesetze noch verschärft hatte, deutet sich unter der jetzt amtierenden Mitte-Links-Regierung unter Peter Medgyessy eine vorsichtige Liberalisierung an. Nach Aussage von Ákos Topolanszky, Staatssekretär und Koordinator für Rauschgiftangelegenheiten, gibt es einen „parteiübergreifenden Konsens“ darüber, dass die Regeln im Strafgesetzbuch zum Konsum von Cannabis und auch anderen Drogen „nur das letzte Mittel sein können und keineswegs in jedem Fall adäquat sind“. Mit anderen Worten: Dekriminalisierung ist erwünscht.
Diese scheitert aber zum einen aus Angst vor internationalen Komplikationen, zum anderen an den überkommenden Vorstellungen in weiten Teilen der Bevölkerung. Trotz der hohen Zahl von Cannabis-Genießern stehen Harz und Gras in keinen guten Ruf. Topolanszky beklagt: „Wegen einem einzigen Joint darf man niemanden gleich als Drogensüchtigen abstempeln. Aber in den Köpfen von zehn Millionen Menschen eine Änderung zu erreichen, ist fast unmöglich.“

 

Das zwischen Österreich und Kroatien gelegene Slowenien sieht sich offiziellen Angaben nach als Puffer zwischen der instabilen Balkanregion und Westeuropa. Das Land liegt auf der legendären Balkanroute, selten aber fallen größere Brocken vom Laster in die Hände von Zoll oder Volk. Im Straßenverkauf liegt Haschisch bei 8 Euro das Gramm, minderwertiges Gras bei 2,50 Euro, gute Ware bei 4 Euro. Ein Grund für den niedrigen Preis: Albanien beliefert das Land mit Rauchhanf, aber dessen Ruf ist nicht der beste. Bessere Sorten, die von Liebhabern in ihren Ställen gezüchtet werden kosten das Doppelte.
Der Besitz kleiner Mengen von Cannabis gilt als Ordnungswidrigkeit und wird meist nur mit einer Geldstrafe belegt. Der Handel wird dagegen hart bestraft.
Schon unter Schülern ist kiffen recht beliebt. Rund ein Drittel aller 15-Jährigen hat schon mindestens einmal gekifft, unter einem Viertel tat es im vergangenen Jahr und im letzten Monat rauchte nur noch ein Zehntel.
Ältere und regelmäßige Besucher von Clubs und Partys sind erheblich genussfreudiger eingestellt. In der Studie von Metej Sande (2000) gaben über 90 % der (im Schnitt 20-jährigen) Besucher an, schon einmal Harzqualm inhaliert zu haben.

Nordlichter

Die drei Nordlichter unter den EU-Beitrittsländern, Estland, Lettland und Litauen, sind in ihrer kulturellen Ausrichtung sehr auf ihre Nachbarn an der Ostsee ausgerichtet. Estlands Hauptstadt Tallin beispielsweise liegt nur 80 Kilometer von Helsinki entfernt. Das dortige Gemeinwesen folgt in der Drogenpolitik aber eher den dänisch-liberalen Weg. Konkret heißt das: Zurzeit gilt der Besitz von bis zu 50 Gramm Cannabis nicht als Straftat, es erfolgt keine Anklage. Diese Dekriminalisierung ist nicht nur gesetzlich festgelegt, sie gilt auch für andere Substanzen. Damit sind die Drogengesetze Estlands die liberalsten auf dem europäischen Kontinent. Wie lange dieser Zustand anhält, ist angesichts des EU-Beitritts fraglich.
Im Süden von Estland sind die Bedingungen für Outdoor-Growing gut. Hier sind es vor allem – so wird erzählt – ältere Ehepaare, die sich ein Zubrot verdienen. Die Ergebnisse sind nicht immer berauschend, wirklich gutes Gras kostet demnach relativ viel in Estland, nämlich um die 12 Euro pro Gramm, Haschisch ist noch teurer und liegt bei 15 Euro. Die Größenordnungen des Anbaus sind harmlos: Im Jahr 2001 hob die Polizei nach eigenen Angaben genau 13 Hanf-Plantagen aus, was gegenüber dem Vorjahr schon eine Verdoppelung war.
Über die Verbreitung des Hanfs in der Bevölkerung ist wenig bekannt. Eine Umfrage unter 15-16-jährigen Schülern aus dem Jahre 1999 ergab einen Anteil von 13%, der angab, schon mindestens einmal Cannabis probiert zu haben. Eine andere Erhebung (1998) zeigt, dass rund nur 7% der 18-24-Jährigen Cannabis im letzten Jahr geraucht hatten und nur 2% im vergangenen Monat. In Estland verfolgen die Medien nun gespannt die Auswirkungen der liberalen Drogenpolitik auf das bisher moderate Konsumverhalten.
Lettland bestraft den Besitz kleinerer Mengen Cannabis (und anderen Drogen) nicht. Trotzdem ist in Lettland und dessen Hauptstadt Riga der Genuss von Marihuana nicht weit verbreitet. Aber auch hier steigt die Erfahrung mit dem auflockernden Kraut langsam. Waren es 1995 nur 5% der 16-Jährigen mit einer Präferenz, hatten in 1999 schon 17% schon mal am Joint gezogen. Nur nebenbei: Im gleichen Zeitraum stieg die Menge der Menschen, die im letzten Monat Tabak genossen hatten von 30% auf 40% an.
Die Preise für Haschisch sind unmoderat, 1 Gramm Marok kostet rund 11 Euro. Interessanterweise gibt die Polizei in ihrem Jahresberichten noch den Schwarzmarktpreis für einzelne Joints an, der bei rund einem Euro liegen soll. Was und wie viel davon sich in den Tüten befindet, sagen die Ordnungshüter nicht. Ganz klug wollte es eine Umfrage angehen, die Bürger in Riga fragte, ob ihnen schon einmal jemand auf offener Straße Drogen angeboten hätte. Nur 7% wollten das bejahen. Die Chance in der Hauptstadt in einen günstigen Deal zu stolpern ist also gering.
Litauen sieht den Umgang mit Haschisch und Marihuana nicht so locker wie die baltischen Nachbarstaaten. Schon der Besitz kleinerer Mengen von Cannabis kann theoretisch mit bis zu zwei Jahren Haft bestraft werden. Trotz der repressiven Politik ist das Genussverhalten unter Schülern nicht signifikant niedriger als bei den liberalen Nachbarn. 12% der 15-16-Jährigen gaben 1999 an, schon mal inhaliert zu haben. In der Hauptstadt Wilna ist harziger Qualm beliebter: Dort gaben 32% den Genuss zu. Die Umfragen deuten auch in Litauen auf einen langsamen Anstieg der Kif-Liebhaber hin.
Die Preise bleiben dabei auf einem hohen Niveau. Schon für mildes Muffelgras müssen sechs Euro berappt werden, gutes Homegrown oder Haschisch liegen bei 15 Euro.

 

Zur guter Letzt: Malta. Die Ferieninsel gilt nicht gerade als Drogenhochburg, analog dazu glauben über 80% der Studenten dort noch an die unbefleckte Empfängnis. Der Besitz von Cannabis zum Eigengebrauch führt nur zu einer Geldstrafe, die allerdings liegt dann zwischen 500 und 2500 Euro.

 

Fazit

Es darf vermutet werden, dass sich in Osteuropa der Hanfkonsum weiterhin den Tendenzen im Westen anpassen wird. Drei Faktoren verdienen dabei Beachtung: Um diesen Fortschritt zu beurteilen, dürfte es weitaus sinnvoller sein von einer Konsumkultur auszugehen, die Cannabis und auch andere Drogen als „Rekreations-Substanzen“ einnimmt. Dieser „Wellness-Drogen-Konsum“ zieht sich durch unterschiedliche soziale Schichten, findet meist nur am Wochenende statt, betrifft nur eine demografisch gesehen kleine Menge von Bürgern, ist sozial integriert und damit eben kein Problem deprimierter Randgruppen. Selbst die zentrale Institution für die Harmonisierung der EU-Drogenpolitik, die „Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht“ in Lissabon, sieht ein, dass die meisten Drogennutzer eben keine ernsthaften Probleme mit ihrem Freizeitverhalten haben. In einer ihrer Veröffentlichung (Drugnet 44) heißt es: „Jugendliche, die mit Drogen experimentieren oder diese in ihrer Freizeit, z.B. auf Partys, konsumieren, entwickeln keine ernsthaften Drogenprobleme.“ Und weiter: „Dennoch gibt es eine kleine aber signifikante Minderheit von Jugendlichen, die mit Drogen experimentieren und anschließend intensiv Drogen konsumieren und erste drogenbedingte Gesundheitsprobleme bekommen.“
Das ist der entscheidende Unterschied: Bei gewissen Risikofaktoren kann jemand ein Problem mit seinem Genuss bekommen, er oder sie muss es aber eben nicht. In den Befragungen, die unter Schülern und Erwachsenen in den neuen EU-Ländern durchgeführt wurden, zeigt sich die Wirkungslosigkeit der einseitigen Drogenpolitik, die zur Abstinenz erziehen will.
Im Schnitt hat die Hälfte aller Jugendlichen im neuen Osteuropa im Alter um die 20 schon einmal gekifft. Cannabis wird von den meisten als ungefährlich angesehen, denn sie haben es trotz aller Warnungen probiert – und siehe da, es hat sie weder am nächsten Tag zum Aufkochen von Heroin geführt, noch zu unwilligen Lappen gemacht. Aus Sicht dieser EU-Bürger ist das Abstempeln von Cannabis als Horror-Droge unsinnig und damit die gesamte “Drogenaufklärung” verlogen, ein “Krieg gegen Drogen” verliert in ihren Augen jeden Realitätsbezug. Befragt man die Schüler, warum sie am Joint gezogen hatten, so waren die beiden Top-Antworten: “I was curios” und “I wanted to feel high”.

 

Für alle osteuropäischen Länder wäre zudem wichtig zu erfahren, ob Cannabiskonsum eine vorübergehende Erscheinung bleibt. Die Studie von Kleiber/Söllner hatte für deutsche Mitmenschen gezeigt, dass diese in der Jugend gerne kiffen und im Alter diese Atemfrequenz langsam nach unten schrauben. Könnte diese These auch im europäischen Ausland bestätigt werden, würde dies vernünftigere Wege in der Drogenpolitik vereinfachen.
Als dritter Faktor ist zu beobachten, dass auch die neuen EU-Länder sich schwer tun, die so genannten „geringen Mengen“ genauer zu definieren. Wie in den alten Ländern spielt die Menge an Cannabis, die ein Verhafteter oder später gar Angeklagter mit sich führte, eine entscheidende Rolle für das Strafmaß. Die Mehrheit aller europäischen Länder überlässt es dem Ermessenspielraum der Richter, ob und wie hart jemand bestraft wird, nur weil es die jeweiligen Gesetzgeber unterlassen, verbindliche Normen festzulegen.
Mittlerweile werden neue Wege beschritten: Immerhin neun der 15 alt-europäische Staaten haben die Strafen für den Genuss und Besitz kleiner Mengen Cannabis für den Eigengebrauch per Gesetz, Verordnung oder de facto erheblich entschärft. Dies sind neben Spanien, Italien, Portugal und den Benelux-Ländern auch Irland, Österreich und Dänemark. Hier drohen “nur” noch Geldstrafen oder der Führerscheinentzug für den Liebhaber. Deutschland, mit seinem Nord-Süd-Gefälle, stellt ein drogenpolitisches Kuriosum da. “Reformunfähigkeit”, ist wohl das neue Wort dafür. In den zehn jungen osteuropäischen EU-Staaten sind es fünf Länder, nämlich Tschechien, Estland, Lettland, Slowenien und Malta, deren Politik zur Zeit der Freiheit des Kiffers nachgiebige Grenzen setzt.

 

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Psychoaktive Substanzen Specials

Engelstrompeten und andere Nachtschattengewächse

HanfBlatt, Mai 2004

Fasziniert starrte ich auf die herrliche weisse Blüte umgeben von violettblauer Dunkelheit einen sichtbaren Duft in diese düstere Sphäre ausströmend, der zugleich Botschaft ihrer Potenz, ihrer pflanzlichen magischen Seele zu sein schien. Der ecuadorianische Meister, der dieses schlichte ultimative Porträt einer einzelnen Engelstrompetenblüte gemalt hatte, wusste sehr wohl, welch mächtigen Geistes diese von den indianischen Kulturen mit höchstem Respekt behandelte Wesenheit ist. Die Erinnerung an die Begegnung lebt.

Hyoscyamus Kasbeg Georgien
Hyoscyamus am Kasbeg in Georgien

Auf der anderen Seite des grossen Ozeans regiert in puncto Engelstrompeten anscheinend die Dummheit. Das Sommerloch schreit nach Sensationen. Nachdem mehrere Vergiftungen Jugendlicher durch unvorsichtig und überdosiert eingenommene Pflanzenteile des Stechapfels und der sowohl botanisch als auch vom Wirkstoffgehalt nahe verwandten Engelstrompete bekannt wurden, griffen die Geschichtenverkäufer von BILD bis SPIEGEL und von RTL bis SAT 1 das Thema in gewohnt reisserischer Weise auf. Unter absurden, nichts abgrenzenden, alle Assoziationen offenlassenden Wortschöpfungen wie „Biodrogen“ (Spiegel) oder auch „biogenen Suchtdrogen“ (Der Nervenarzt) wurde die Panikwerbetrommel für das Phänomen des Konsums heimischer Rauschpflanzen, der „Drogen aus dem Blumenbeet“ als „neuer Modedrogen“ der „Pflanzenjunkies“ gedreht. „Ihr Revier: Botanische Gärten!“ (SAT 1) Was im „Pflanzenrausch“ (Medical Tribune) geschieht? Natürlich glauben mal wieder viele sie könnten fliegen (Spiegel). Wahrscheinlich fliegen sie dann in Schwärmen an den Fenstern vernebelter Redaktionsräume vorbei. Besonderes Augenmerk wurde diesmal auf die von unseren Vorfahren in traditionellen Kontexten ehrfurchtsvoll genutzten und seit der Zeit der christlichen Hexenverfolgung als „teuflisch“ denunzierten Nachtschattengewächse gelegt. „Drogenpilze“ fanden diesmal eher beiläufig Erwähnung. Vielleicht weil sie keine guten Garanten für einen „Horrortrip durch Biodrogen“ (SAT 1) sind.

 Büschel-Bilsenkraut-Physochlaina-orientalis
Büschel Bilsenkraut Physochlaina-orientalis, Hamburg 2016

Zu Ehren kam dagegen bei SAT 1 die gute alte Bananenschale, deren angebliche Wirksamkeit ein Gag der kalifornischen Spassguerilla der 60er Jahre war und schon damals wiederlegt wurde. So stand der „akte 2000“-Moderator neben einem Haufen Bananen und faselte davon, „wer es schafft, Bananenschalen zu rauchen, steht vor dem Horror-Trip seines Lebens“. Da fragt man sich doch unwillkürlich, was pfeifen die sich da eigentlich in den Studios rein? Wahrscheinlich zuviel Kaffee…Das wäre ja alles amüsant, wenn es nicht einerseits Leute geben würde, die den propagandistischen Blödsinn, der dort verzapft wird, tatsächlich glauben, und dadurch im Umgang mit diesen Pflanzen und deren Freunden gelinde gesagt verunsichert werden, und andererseits potentielle jugendliche Konsumenten erst neugierig gemacht werden. Die Verteufelung von allem was knallt ausser Alkohol, ist wohlbekannt und funktioniert immer nach demselben Schema. Jugendliche glauben soetwas schon lange nicht mehr. Sie sehen zwischen den Zeilen den neuen kostenlosen Törn. Nur in diesem Fall bestehen tatsächlich vergleichsweise hohe Risiken!

Sechsklappige Datura stramonium Kapsel Schwanheimer Dünen Frankfurt Hoechst November 2008
Sechsklappige Datura stramonium Kapsel, Schwanheimer Dünen, Frankfurt Hoechst, November 2008

 

Vorkommnisse, bei denen Jugendliche unüberlegt viel zu hohe Dosen von tropanalkaloidhaltigen Nachtschattengewächsen eingenommen hatten und halluzinierend und desorientiert in Krankenhäuser eingeliefert wurden, hat es wie gesagt gegeben. Traurig ein Fall, bei dem 1997 ein junger Mann in Frankfurt nach Einnahme von Engelstrompetenblüten  unerkannt von den ebenfalls berauschten und verwirrten Freunden im Main ertrank. Zurecht muss deshalb vor der uninformierten Einnahme dieser bizarren und reizvollen Gewächse gewarnt werden! Zu ihnen gehören die bei uns vielerorts wild gedeihende Tollkirsche (Atropa belladonna; ich habe sie sogar auf  Schul- und Kindergartengeländen gesehen!), das erheblich seltenere Schwarze Bilsenkraut (Hyoscyamus niger), der Ödland, Böschungen und Feldraine liebende und bisweilen in grossen Populationen auftretende Stechapfel (Datura stramonium), die selten z.B. in botanischen Gärten angepflanzten, aber im Kräuterpflanzenhandel erhältlichen Alraunen (Mandragora ssp.) und die Tollkräuter (Scopolia ssp.), sowie die überaus prächtigen als Kübelpflanzen sich zunehmender Beliebtheit erfreuenden Engelstrompeten (Brugmansia ssp.) und weitere exotische Stechapfelarten (Datura metel u.a.). Die in zahlreichen Formen mit den unterschiedlichsten Blüten aus den südamerikansichen Anden von Kolumbien und Ecuador stammenden teilweise bis zu mehreren Metern hoch und viele Jahre alt werdenden Engelstrompetensträucher sind wohl die am einfachsten zugänglichen psychoaktiven Nachtschattengewächse. Ihrer Schönheit haben sie es zu verdanken, dass sie an vielen Orten der Welt zur Zierde gepflanzt werden. In manchen tropischen Bergregionen haben sich riesige Populationen verwilderter Pflanzen gebildet, so z.B. auf Bali oder in den südindischen Palani-Bergen. Jungpflanzen werden bei uns im Frühjahr selbst in Supermärkten gehandelt, Samen gibt es in jeder Blumensamenhandlung. In den Gärten sind die Pflanzen ob ihrer Blütenpracht im Spätsommer nicht zu übersehen. Selbst in Kübeln auf dem Kuhdamm nahmen sie passiv an der Love-Parade 1993 teil. Eine sehenswerte berühmte Sammlung sehr alter, grosser und auch fruchttragender Sorten befindet sich in den Herrenhäuser Gärten in Hannover. Das gibts nur einmal…

Gelb blühende Mandragora officinarum, 2016

Was beachten Afficionados, die allen Unkenrufen zum Trotz, darauf beharren, ihre Befindlichkeit durch diese potenten Heilpflanzen zu verändern?

Alle erwähnten Nachtschattengewächse enthalten eine Gruppe von Tropanalkaloiden. Die Mischungsverhältnisse und Konzentrationen dieser psychoaktiven Wirkstoffe schwanken nicht nur zwischen den Arten, sondern auch von Pflanze zu Pflanze und von Pflanzenteil zu Pflanzenteil, teilweise um ein Vielfaches! Dies erschwert eine zielgerechte Dosierung, macht sie aber nicht unmöglich. Bei Analysen von Engelstrompeten waren die Samen am wirkstoffhaltigsten. Die Blüten waren erheblich potenter als die Blätter; aber darauf gibt es keinen Verlass! Es wird also das genau abgewogene getrocknete Rohmaterial zu einem einheitlichen Produkt verarbeitet, also z.B. ein alkoholischer Extrakt oder eine Salbe hergestellt oder das Pflanzenmaterial einfach zu einem einheitlichen Pulver verrieben. Dieses Produkt wird dann in klar abgemessenen Dosierungen eingenommen, äusserlich aufgetragen, geraucht oder geräuchert. Begonnen wird mit möglichst niedrigen Dosen, beispielsweise mit 0,1 Gramm der getrockneten Blätter, Blüten oder Samen oder einem entsprechenden Äquivalent der Zubereitungen.

Die Aufnahme der Wirkstoffe wird stark verzögert, wenn man z.B. ganze Samen schluckt. Sie kommt in der Regel deutlich schneller, wenn man einen Tee oder einen alkoholischen Extrakt trinkt oder etwa die Samen gut zerkaut. Relativ prompt wirkt der inhalierte Rauch. Hat man vorher gegessen, dauert es bis zur Wirkungsentfaltung oral aufgenommener Produkte natürlich länger. Da manchmal mehrere Stunden bis zur Entfaltung der vollen Wirkung vergehen können, übt man sich in Geduld und dosiert auf keinen Fall gleich nach. Sollte die Wirkung zu schwach sein, läßt man sich mehrere Tage Zeit bis zur nächsten Gelegenheit. Überhaupt kann sich die Wirkung der Alkaloide bei wiederholter Einnahme soweit kumulieren, dass eine Dosis überschritten wird, die schliesslich heftigere Reaktionen zur Folge hat, als ursprünglich beabsichtigt und erwartet.

Gelbblühende Hladniks Tollkraut, Scopolia carniolica Jaco. ssp. hladnikiana, aus Slowenien in Hamburg, 2009
Gelbblühende Hladniks Tollkraut, Scopolia carniolica Jaco. ssp. hladnikiana, aus Slowenien in Hamburg, 2009

Unkontrollierbare Rauschzustände mit starken körperlichen Nebenwirkungen und real erscheinenden „echten“ Halluzinationen mit dem Risiko selbst oder andere gefährdenden Verhaltens sind die grösste Gefahr bei Einnahme von Nachtschattengewächsen. Sie gelten dem schlaueren Teil der Nachtschattenfreunde als zu vermeidendes Übel, das allenfalls tränierten Schamanen vorbehalten sein sollte. Andere dagegen suchen aus oft törichter Abenteuerlust diese Zustände und sind auch nicht mit guten Worten davon abzuhalten. Diesen kann man jedoch auf den Weg geben, dass immer mindestens eine erfahrene und kräftige Vertrauensperson mit guten Nerven, sowie sehr viel Zeit und Geduld dabei sein sollte, die die Situation im Auge behalten, auf das Verhalten der Beteiligten, wenn angebracht, mässigenden Einfluss ausüben und notfalls unverzüglich Hilfe herbeiholen kann. Dieser oder diesen Personen gebührt dann entsprechender Dank. Nie sollte man sich allein einem starken Nachtschattentrip hingeben, es sei denn man befindet sich in einer gemütlichen Gummizelle oder sonst einer schützenden Umgebung.

Bevor Nachtschattengewächse eingenommen werden, wird gründlichst überlegt, ob sich die Einnahme in Anbetracht zahlreicher meist als eher unangenehm erlebter Wirkungen überhaupt lohnt. Starke Mundtrockenheit, Schluckbeschwerden, erhöhte Köroertemperatur, trockene Haut, erweiterte Pupillen, dadurch bedingte Sehstörungen, Übelkeit, Erbrechen, Schwindelgefühle, Herzrasen, Herzrhythmusstörungen, Kopfschmerzen, innere Unruhe, Schlafstörung, Benommenheit, Koordinationsstörungen, Erschöpfung, Lähmungsgefühle bis hin zur Paralyse und dergleichen gehören zu den Begleiterscheinungen die mit zunehmender Dosis verstärkt auftreten und das Ganze schnell fragwürdig erscheinen lassen. Deliröse Zustände mit düsteren, erschreckenden und zu Fehlverhalten animierenden, nicht kontrollierbaren Halluzinationen bei hohen Dosierungen können das vermeintliche Abenteuer zum Alptraum werden lassen. So eine Vergiftung kann mehrere Tage dauern! Einen derartigen Trip beschreibt z.B. der norwegische Kultautor Ingvar Ambjörnsen („Weisse Nigger“) anschaulich in seinem Roman „Sarons Haut“. Nicht selten treten rückwirkend in Bezug auf den Rauschzustand Erinnerungslücken auf und machen die Erfahrung damit de facto überflüssig und unnötig riskant.

Wilder Wermut Artemisia absinthium am Selim-Pass, Armenien, September 2017
Wilder Wermut Artemisia absinthium am Selim-Pass, Armenien, September 2017

Obendrein können tödliche Vergiftungen vorkommen! Menschen mit gesundheitlichen Problemen wie Herz-Kreislaufstörungen unterliegen einer stark erhöhten Gefährdung. Die Einnahme von Tollkirschen ist auf Grund ihres Wirkstoffprofils in dieser Hinsicht besonders riskant!

Bei hohen Dosierungen oder Dauergebrauch wurden bisweilen anhaltende psychische Störungen beobachtet. Dies ist der Grund, warum in Kulturen mit traditionellen Gebrauchsriten die Einnahme und überwachte Vergabe meist nur sehr erfahrenen schamanischen Heilern vorbehalten bleibt!

Das Problem im Umgang mit den tropanalkaloidhaltigen Nachtschattengewächsen sind letztlich nicht die Heilpflanzen selbst, sondern die durch jahrhundertelange christliche Verfolgung verlorengegangenen risikomindernden Umgangsformen mit diesen hochwirksamen Naturgeschenken. Die richtigen Umgangsformen vorsichtig und respektvoll wiederzubeleben oder auch neu zu erlernen, das ist die Aufgabe, der die Freunde der bewusstseinsverändernden Kräfte der Engelstrompeten, der stechenden Äpfel und der tollen Kirschen gegenüberstehen.

Angeblicher Liebesapfel - die Frucht der Alraune
Angeblicher Liebesapfel – die Frucht der Alraune

Lassen wir zum Abschluss einen gelegentlichen Konsumenten niedriger Dosen psychoaktiver Nachtschattengewächse zu Worte kommen; nennen wir ihn „Larry Lotter“:

„Kleine Mengen, das heisst ein viertel bis ein Blatt vom Stechapfel, der Engelstrompete oder dem Bilsenkraut geraucht oder 5 bis 15 Stechapfelsamen bzw. 1 bis 4 Engelstrompetensamen gut durchgekaut erzeugen bei mir ein Gefühl von etwas stumpfsinniger, aber humoriger Entspannung, manchmal auch eine erhöhte Sinnlichkeit oder einen gewissen magischen unvorhersehbaren Aspekt in der Wahrnehmung, der mit Hanf sehr gut harmoniert und sich potenziert. Nicht umsonst sind Stechapfel und Hanf die Pflanzen des Rauschgottes Shiva. Diese Kombination verstärkt aber auch die Mundtrockenheit und kann eine Art Kater am nächsten Tag bewirken. Man muss sich sehr vorsichtig an die individuell verträgliche Dosis herantasten! Erquicket Euch an dem Anblick dieser faszinierenden Geschöpfe. Lasset Euch von ihrem Duft betören. Lauschet den Engelstrompeten!“

az

 

BUCHTIPS:

Ulrike und Hans-Georg Preisse
„Engelstrompeten. Brugmansia und Datura“
Stuttgart, Ulmer 1997
141 S., geb., Großformat, zahlreiche Farbfotos
ISBN 3-8001-6614-3

Wunderbar illustriertes Grundlagenwerk für jeden an der Züchtung dieser Schönheiten zu Zierzwecken Interessierten.

Monika Gottschalk
„Engelstrompeten. Die schönsten Sorten. Pflegen. Überwintern. Vermehren.“
München, BLV 2000
95 S., zahlreiche Farbfotos
ISBN 3-405-15760-9

Reich illustriertes, liebevoll gemachtes, praxisnahes und preiswertes Einsteigerwerk für den von der Schönheit der Brugmansien Faszinierten. Enthält auch Bezugsquellen.

Atropa Belladonna Tollkirschenblüte
Atropa Belladonna Tollkirschenblüte

 

Frische-Alraunensamen
Frische Alraunensamen

 

 

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Rezensionen

Rezension Holbein: Weltverschönerung

HanfBlatt Nr. 120

Der ganze Holbein

Der Hanfblattlesern bekannte Autor Ulrich Holbein ist definitiv nicht der, der man denkt, der er ist, wenn man ihm als augenscheinigem Exoten rein zufällig auf der Frankfurter Buchmesse begegnet. Er ist vermutlich auch sonst oft ein Anderer als er (hat man da ein Augenzwinkern gesehen?) vorgibt zu sein. Das macht ihn und seine herzerfrischend an die Grenzen des Zynismus gehenden Ergüsse und fotografischen Kreationen besonders faszinierend. Eines erscheint zumindest sicher: Sein schriftstellerisches Lebenswerk ist jetzt in handlicher Form bei Zweitausendundeins erhältlich. Was schon unter dem Titel „Weltverschönerung. Das Handbuch der lustvollen Lebensgestaltung“ einen Attraktor darstellt, hält was es verspricht. Die Sammlung wortgewaltiger und sprachakrobatischer durchwegs ironischer Texte lässt schmunzeln und lachen, wo man glaubte, dass es nichts mehr zu lachen gibt. Rauschfetischisten kommen nicht zuletzt bei der vollständig überarbeiteten „Typologie der Berauschten“ auf ihre Kosten.

Holbeins geradezu geräppten Auseinandersetzungen mit Kleinbürgerlichkeit wie Gegenkulturen und alltäglichem Mindfuck sind mit Hochgenuß häppchenweise zu konsumieren. Man muss bekanntlich vorsichtig mit Lorbeeren umgehen, weil der Autor ja die Rezension lesen und überschnappen könnte. In diesem Falle ist das wohl nicht zu befürchten. Holbeins originelle „Umwege zum Glück“ dokumentieren, dass der als Öko-Dandy getarnte Sprachmeister sich schon so ausgiebig mit dem zur maximalen Selbsttäuschung tendierenden menschlichen Denken und Empfinden auseinandergesetzt hat, dass er gegen derartige Lobhudeleien gefeit sein dürfte, obwohl sie vollkommen berechtigt sind.

az

Ulrich Holbein
„Weltverschönerung.
Umwege zum Scheinglück.
Ein Handbuch der lustvollen Lebensgestaltung.“
Haffmanns Verlag bei Zweitausendundeins,
Frankfurt a.M., 2008
Geb., 634 S., mit SW-Abb.
ISBN 978-3-86150-819-9

 

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Cannabis Psychoaktive Substanzen

Interview mit dem Pharmazeuten Manfred Fankhauser

hanfblatt, März 2004

Haschisch als Medikament

Ein Interview mit dem Pharmazeuten Manfred Fankhauser

Manfred Fankhauser, Jahrgang 63 und seit 1991 Apotheker in Langnau im schönen Schweizer Emmental, hat die bis dato beste Arbeit über die Geschichte von „Haschisch als Medikament“ in der westlichen Medizin geschrieben. Diese 1996 an der Universität Bern abgegebene Dissertation kann man jedem an der Pharmaziehistorie von Cannabis Interessierten nur wärmstens empfehlen. Beeindruckend allein die natürlich für weitere Forschungen offenen Listen der verwendeten Literatur und Pharmakopöen, sowie der einst im Handel befindlichen Cannabiszubereitungen und -präparate. Fankhauser ist obendrein in der international tätigen Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin (ACM) aktiv. Das Thema lässt ihn also nicht los. Gründe genug, ihm einmal ein paar Fragen zu stellen.

Hanfblatt: Wenn man Ihr Buch „Haschisch als Medikament“ liest, wird einem deutlich, dass sowohl die Cannabisforschung als auch Cannabispräparate im 19. Jahrhundert eine bedeutende Rolle in der westlichen Medizin spielten. Wodurch erklärt sich dieser damalige „Cannabisboom“?

Fankhauser: Der Cannabisboom kam folgendermassen zustande: Bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts begann man sich in Europa für indischen Hanf zu interessieren, nachdem der in Indien stationierte englische Arzt William B. O’Shaughnessy eine Studie veröffentlichte, welche zeigte, dass Cannabispräparate bei verschiedensten Krankheiten halfen. In der Zeit zwischen 1880 und 1900 waren Hanfpräparate sehr populär, weil Hanf bei diversen Krankheiten erfolgreich half und es noch wenig andere wirksame Arzneimittel gab.

Hanfblatt: Für welche Indikationen wurden Cannabispräparate besonders angepriesen und für welche besonders gerne genommen?

Fankhauser: Die wichtigsten waren: Asthma, Migräne, Schlafstörungen, krampfartige Schmerzen und Hühneraugenmittel. Insbesondere die Hühneraugenmittel waren noch weit bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr beliebt.

Hanfblatt: Welches waren die erfolgreichsten bzw. bekanntesten Präparate der Zeit?

Fankhauser: Einerseits waren es Halbfabrikate wie das „Cannabin tannicum MERCK“, welche in Apotheken zu Fertigpräparaten weiterverarbeitet wurden oder aber offizinelle, das heißt in den offiziellen Arzneibüchern vorkommende Zubereitungen wie Hanftinkturen (Tinctura cannabis indicae) oder Hanfextrakte (Extractum cannabis indicae). Daneben waren auch industrielle Fertigpräparate wie das Schlafmittel „Bromidia“ (ein Mischpräparat) oder diverse cannabishaltige Asthmazigaretten recht populär.

Hanfblatt: Ist aus dieser Ära in Europa lange vor der Hanfprohibition etwas über einen Gebrauch oder Missbrauch psychoaktiver Hanfzubereitungen als Rausch- oder Genussmittel bekannt?

Fankhauser: Hanf zu Rauschzwecken war in der Zeit als Hanf als Arzneimittel gebraucht wurde, praktisch unbekannt. Wohl lagen Berichte aus anderen fernen Ländern (zum Beispiel Ägypten und Indien) vor, wo man wusste, das Cannabis auch zur Berauschung diente. Ein Problem zu dieser Zeit war aber die Variabilität der Hanfpräparate; es kam vor, dass beispielsweise eine Hanftinktur hochwirksam oder aber auch praktisch nicht wirksam war.

Hanfblatt: Wer waren damals die aus heutiger Sicht wichtigsten Forscher in Sachen Hanf als Medizin?

Fankhauser: Der erwähnte englische Arzt William B. O’Shaughnessy (1809-1890), der französische Psychiater Jacques Joseph Moreau de Tours (1804-1884), die Deutschen Georg Martius und Carl Damian Ritter von Schroff (1802-1887). Wichtig waren auch die Arbeiten von Ernst Freiherr von Bibra (1806-1878), der 1855 das epochale Werk „Die narkotischen Genussmittel und der Mensch“ veröffentlichte, und vor allem diejenige von Bernhard Fronmüller aus dem Jahr 1869 („Klinische Studien über die schlafmachende Wirkung der narkotischen Arzneimittel“), für die er an eintausend Patienten Cannabis indica auf schlaffördernde Wirkungen testete. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es vor allem Franzosen und wenig später auch Schweizer Universitäten, insbesondere die Universität Bern, welche bis heute eine grosse Tradition in der medizinischen Hanfforschung aufrecht erhält.

Hanfblatt: Was waren die Gründe für das praktisch vollständige Verschwinden von Cannabispräparaten aus der medizinischen Praxis in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts?

Fankhauser: Es gab verschiedene Gründe. Erstens die medizinische Entwicklung, das heißt es kamen neue, „bessere“ Medikamente (zum Beispiel synthetische Schmerzmittel wie das Aspirin oder die Wirkstoffgruppe der Barbiturate, welche vor allem als Schlafmittel Verwendung fanden) auf den Markt, welche die Cannabispräparate stark konkurrenzierten. Zweitens die pharmazeutische Instabilität: Wie oben angetönt, war die unterschiedliche Wirksamkeit der Präparate lästig. Drittens rechtliche Einschränkungen: Durch die immer restriktivere internationale Gesetzgebung wurde die Verwendung der Cannabispräparate immer mehr eingeschränkt. Viertens wirtschaftliche Aspekte: Bedingt durch die beiden Weltkriege wurde die Einfuhr von indischem Hanf stark erschwert, beziehungsweise verteuerte sich massiv; zudem ging die Nachfrage nach indischem Hanf durch die gerade erwähnten Gründe zurück.

Hanfblatt: In den letzten Jahren ist nicht zuletzt durch die Entdeckung der körpereigenen Endocannabinoide und Cannabinoidrezeptoren das Interesse an Hanf und seinen Wirkstoffen als Heilmittel neu erwacht. Was kann die gegenwärtige medizinische Cannabisforschung aus der Pharmaziegeschichte lernen?

Fankhauser: Interessanterweise bestätigen die heutigen modernsten Forschungsergebnisse vielfach die bereits seit langem bekannten Anwendungen. Im Weiteren gibt der riesige nicht nur kulturhistorische sondern auch medizinhistorische Hintergrund der Pflanze zusätzliche Sicherheit in der Therapie.

Hanfblatt: Wo liegt die Zukunft von Cannabis als Medizin?

Fankhauser: Ich denke es geht in zwei Richtungen. Zum einen die moderne Cannabisforschung, welche sich mit Rezeptoren und detaillierten biochemischen Vorgängen beschäftigt, das heißt die Pflanze beziehungsweise das THC wird als Modellsubstanz genommen, aber das verwendete Medikament hat mit der Ursprungspflanze eigentlich nicht mehr viel zu tun. Auf der anderen Seite die direkte Verwendung der Pflanze, sei es als Tinktur, als Tee, als Öl, als Inhalation und so weiter. Diese Anwendungsformen haben auch einen starken Bezug zur Volksmedizin.

Hanfblatt: Behindert die Cannabisprohibition die Entwicklung und Verschreibung von Medikamenten auf Cannabisbasis in unnötiger Weise? Ist die Cannabisprohibition aus Ihrer Sicht nach heutigem medizinischen Kenntnisstand überhaupt noch zu rechtfertigen?

Fankhauser: Nein, meiner Meinung nach auf keinen Fall. Müsste Cannabis als Heilmittel nicht den drogenpolitischen Rucksack mittragen, wären Hanfmedikamente schon längst wieder geschätzte Arzneimittel. Ich würde mir wünschen, dass man das vielfältige Wirkspektrum dieser Arzneipflanze vorbehaltlos beurteilen könnte, dann stände einer Wiedereinführung von Cannabis in die Therapie wohl nichts im Wege.

az

Das Buch:

Manfred Fankhauser
„Haschisch als Medikament.
Zur Bedeutung von Cannabis sativa in der westlichen Medizin.“
332 Seiten
ISBN 3-9520758-9-2
veröffentlicht 2002 durch SGGP/SSHP
c/o Schweiz. Apothekerverein, Stationsstr. 12, CH-3097 Liebefeld BE

oder am einfachsten
zu 47,- SFr (31,- Euro) plus Versandspesen (Vorkasse) direkt vom Autoren:
Manfred Fankhauser
Dorfstr. 2
CH 3550 Langnau
Schweiz
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Schlafmohn – Papaver somniferum

Eine alte Nutzpflanze

HanfBlatt 3/2004

Assoziiert mit Schlaf, Traum und Tod, betäubungsmittelrechtlich strengstens verboten, wie sonst nur die exotische Kokapflanze oder der geliebte Hanf, gedeiht der Schlafmohn (botanisch Papaver somniferum) alle Sommer wieder in bundesdeutschen Gärten. Begeben wir uns nur einmal auf ein simples Schlafmohn-Spotting, so entdecken wir die Drogenpflanze als illegale Zierpflanze prächtig gedeihend in zahlreichen Gärten, ob in Schleswig-Holstein, Hamburg, Sachsen oder Bayern. Eine Kleingartensiedlung in Lüneburg verblüffte letztes Jahr dadurch, da§ praktisch jeder zweite Garten mitmachte und selbst der Kinderspielplatz mit Schlafmohn eingefriedet worden war. Verwildert finden wir ihn am Ostseesteilufer und an Böschungen in Autobahnnähe ebenso wie in einem Botanischen Garten, wo er sich über weite Areale verbreitet hat. Die frisch geschnittenen grünen Kapseln wurden von Floristen auf dem Kuhdamm in Berlin oder auf Märkten in Frankfurt verkauft. Getrocknete, noch unbehandelte (das heißt noch nicht, wie gesetzlich vorgeschrieben, mit Essigsäure extrahierte und des Morphins beraubte) aber oftmals in ihren Herkunftsländern bereits geritzte Köpfe, werden nach wie vor zu Dekozwecken oder in der Friedhofsgärtnerei zur Winterszeit angeboten.Die Samen wurden, obwohl der Anbau strengstens verboten ist, in offiziellen Samentütchen am Münchner Viktualienmarkt gehandelt. Sie sind auch, oft noch gut keimfähig, als Gewürz und zum Backen erhältlich.

Kaum jemand scheint sich der Strenge des Schlafmohnverbotes bewusst zu sein. Es ist ein Verbot, das praktisch nicht durchgesetzt wird. Viele Normalbürger könnten über die Durchsetzung dieses absurden Gesetzes kriminalisiert werden. Ein Spaß, der die ein oder andere Anzeige vielleicht wert wäre. Aber Scherz beiseite: Ziel sollte natürlich die Entkriminalisierung des Umgangs mit diesem über Jahrtausende die Menschheit begleitenden Attributes der Hera und der Aphrodite sein.

Der Schlafmohn ist eine wunderschöne einjährige Blume, nicht zu verwechseln mit dem wildwachsenden roten Klatschmohn (Papaver rhoeas) und dem mehrährigen zur Zierde angepflanzten orange oder rotblühenden Türkenmohn, auch Orientalischer Mohn (botanisch Papaver orientale oder Papaver bracteatum) genannt. Diese enthalten kein Morphin oder ähnlich begehrte Alkaloide.

Schlafmohn ist in unserem Klima tatsächlich leicht zu ziehen, sogar auch in Mittelgebirgslagen. Er benötigt viel Sonne, aber weniger Hitze. Zu Beginn des Wachstums wird Phosphor benötigt, Stickstoff später. Düngung erwies sich als ertragssteigernd. Er wird meist im April leicht bedeckt in wärmeren, nährstoffreichen Boden in gutem Humus- und Kulturzustand gesät und benötigt zur Keimung ein bis zwei Wochen. Zum Keimen und im frühen Wachstumsstadium ist ausreichend Feuchtigkeit erforderlich, zur Blüte weniger, zur Kapselentwicklung noch weniger und zur Reife Trockenheit. Die Keimlinge werden ausgedünnt durch Auszupfen der Nachzügler, sobald sie sich gegenseitig bedrängen, damit sich lieber weniger Pflanzen zu ausreichender Größe entwickeln können, als dass viele Pfänzchen mickrig bleiben. Auch Unkraut wird entfernt. Krustenbildung des Bodens wird durch Hacken verhindert. Die Blüte erfolgt meistens Ende Juni, Anfang Juli, kann sich im Einzelfall bei großüchsigen Sorten auch bis Anfang August rauszögern. Die Knospen richten sich erst kurz vor der Blüte auf und öffnen sich ziemlich abrupt. Schon nach ein bis zwei Tagen fallen die Blüenblätter ohne zu Welken ab. Die Blüte des Mohnbestandes zieht sich vielleicht ein bis zwei Wochen hin, abhängig von der Zahl der Seitentriebe. Die Kapseln reifen in etwa vier bis sechs Wochen aus.

Der Schlafmohn blüht weiß, violett, rot oder in Mischungen dieser Farben. Seine Blüten sind einfach, geschlitzt oder gefüllt. Manche Sorten bilden nur zwei bis drei Bläten und Köpfe aus, manche vier bis sechs und mehr. Die Mohnköpfe oder Samenkapseln sind rund, tonnenförmig, birnenförmig oder länglich geformt. Eine besonders kuriose Form wird „Henne mit Küken“ genannt und weist an jeder großen Kapsel zahlreiche kleine Seitenableger auf. Es gibt zwergwüchsige Pflanzen, aber auch Exemplare mit einem Blütendurchmesser bis 16 cm und einem Höhenwachstum bis 140 cm. Es gibt frühreifende Sorten mit einer Vegetationsdauer von etwa 90 Tagen, aber auch spätreifende. Die schmackhaften Samen sind bläulich, grau, wei§ oder bräunlich gefärbt. Es gibt eine Variante, deren Kapseln sich beim Trocknen öffnen, so da§ die Samen herausrieseln, der sogenannte Schöttmohn. Logischerweise beliebter ist die geschlossen bleibende Variante, der Schließmohn.

Schlafmohn in Bran bei Draculas Schloss Transsylvanien - Kopie
Schlafmohn in Bran bei Draculas Schloss Transsylvanien

 

In vielen Ländern wird der Schlafmohn nämlich in erster Linie wegen der leckeren nahrhaften Samen angebaut, die wir von Mohnbrot, -brötchen, kuchen, -pudding usw. kennen. Selbst wenn die getrockneten Mohnköpfe zur Alkaloidextraktion (Morphin und andere) oder das Ritzen zur Opiumgewinnung im Vordergrund stehen, bilden die Samen ein begehrtes Nebenprodukt. Sie enthalten etwa 45 bis 50 % eines hochwertigen (Speise-) Eis , au§erdem knapp 25 % Proteine mit fast allen wichtigen Aminosäuren außer Tryptophan, au§erdem Kohlehydrate und Mineralstoffe, insbesondere Calcium (5-6%) und Eisen (0,8-0,9%), sowie Spuren von Alkaloiden, die einen empfindlichen Urintest opiatpositiv erscheinen lassen können.

Aber zurück zu den sortenabhängigen erblichen Eigenschaften des Schlafmohns. Sie sind Ausdruck der Zucht durch den Menschen. Auch der maximale Wirkstoffgehalt, insbesondere der des Morphins, scheint genetisch vorgegeben zu sein. Seine Ausprägung unterliegt aber stark den klimatischen Bedingungen und Umweltfaktoren unter denen der Schlafmohn wächst. So ist der Morphingehalt beispielsweise in warmen Sommern höher. Regen während der Kapselreife verringert ihn. Hierzu wurden in den Fünfziger und Anfang der Sechziger Jahre in der ehemaligen DDR und anderen Ostblockländern eine Reihe von Studien durchgeführt.

Was vielen Menschen nicht bekannt ist, ist die Tatsache, daß auch der bei uns in Deutschland gedeihende Mohn ein hochwertiges Ritzopium liefern kann. Es wurden bei Anbauversuchen in Deutschland zwischen 7 und 30 mg getrocknetes Rohopium (4% Wassergehalt) pro Kapsel geerntet mit einem durchschnittlichen Morphingehalt von 15,5 %!. Bei anderen Versuchen waren Gehalte zwischen 16 und 20 % Morphin (bei Spitzen um die 22 %) nicht ungewöhnlich. Unverschnittenes Schwarzmarktopium aus den bedeutsamen Schlafmohnbauländern (Goldener Halbmond, das hei§t Afghanistan, Pakistan und Nachbarländer, Goldenes Dreieck, was für Burma, Laos und Thailand steht, Libanon, sowie Mexiko und Kolumbien) enthält oft nur vergleichsweise niedrige Gehalte von deutlich unter 12 %. Aus dem Großteil dieses Opiums wird allerdings Morphin extrahiert und auf chemischem Wege in Heroin umgewandelt, für das ein viel größerer Markt besteht. Nur wenig Schwarzmarktopium gelangt zum Beispiel durch iranische Geschäftsleute oder direkt aus Afghanistan oder über Ru§land nach Deutschland. Wenn es mal erhältlich ist, werden Preise zwischen 10 und 20 DM, teilweise hoch bis 40 oder gar 70 DM pro Gramm verlangt und auch bezahlt. Es hat einen erstaunlich guten Ruf, selbst bei Leuten, die von sich behaupten, Heroin niemals anrühren zu wollen. Die auch dem Konsum von Opium inhärenten Risiken, insbesondere das tödlicher Überdosierung und das einer Abhängigkeitsentwicklung, rechtfertigen eine mythische Höherstellung des Opiums nicht.

Zur Opiumgewinnung werden die ausgewachsenen noch grünen Kapseln, frühestens nach acht bis zehn Tagen, in unseren Breiten eher zwei bis drei Wochen nach Abfallen der Blütenblätter oberflächlich so geritzt, dass möglichst viele der in Kettengruppen im Parenchymgewebe der grünen Kapseln konzentrierten Milchröhren angeschnitten werden und der wei§e Milchsaft austreten kann, ohne dass er ins Innere der Kapsel fließt und damit verloren geht und auch die Samenernte beeinträchtigt. Deshalb sind dickwandige Kapseln für das Opiumritzen besser geeignet. Dafür werden Messser mit rasiermesserscharfen Klingen verwendet und eine wohlgelernte Ritztechnik. Den richtigen Erntezeitpunkt zu erkennen ist eine auf Erfahrungswerten beruhende Kunst für sich. Geritzt wird üblicherweise nachmittags und zwar senkrecht, waagerecht oder spiralförmig. Kurze Schnitte werden bevorzugt, wenn mehrmals geritzt werden soll, lange umfassende Schnitte bei einmaliger Ritzung. Der Ertrag und der Morphingehalt der folgender Ritzungen verringern sich. Der austretende noch dünnflüssige Milchsaft kann gleich eingesammelt werden, um ihn vor Regen, Licht und Hitze geschützt zu trocknen. 1 Gramm frische Milch ergab im experimentellen Anbau bei Darmstadt etwa 0,34 g getrocknetes Opium. Oder man lässt den Milchsaft über Nacht dickflüssig und braun werden, um ihn dann am nächsten Morgen mit einem stumpfen Werkzeug abzuschaben und in ein Gefäß oder auf einem Mohnblatt für die weitere Verarbeitung und Trocknung abzustreifen.

Wie arbeitsaufwendig die Opiumernte ist, zeigen Versuche in der ehemaligen DDR. Eine Person konnte in einer Stunde durchschnittlich 200 Kapseln ritzen und nur 100 Kapseln abschaben. Bei einem Ertrag von etwa 40 bis 50 mg noch recht wasserhaltigen Opiums (20 bis 30 %) pro Kapsel wurde eine für die Gewinnung von 100 Gramm Rohopium erforderliche Arbeitsleistung von 31 Stunden errechnet. In der sogenannten Dritten Welt wird da wohl fixer gearbeitet und zwar für viel weniger Lohn. So rentiert sich die Opiumgewinnung zu medizinischen Zwecken bei uns schon lange nicht mehr, und wir profitieren mal wieder von der Armut der anderen. (Was die Opiumgewinnung für medizinische Zwecke betrifft, ist Indien der Hauptlieferant.)

Welche Teile der Pflanze enthalten Morphin?

Die gesamte Pflanze enthält Morphin. Dieses konzentriert sich in den Milchröhren der Pflanze, die sich wiederum besonders dicht in den oberen Pflanzenteilen, insbesondere in den Wänden der durchschnittlich etwa 3 bis 4 cm hoch werdenden Kapseln entwickeln. So weisen der obere Stengelabschnitt und die ausgewachsenen noch unreifen grünen oder bereits gereiften braunen Kapseln den mit Abstand höchsten Morphingehalt auf. Nach der Samenreife fand man 70 % des in der ganzen Pflanze enthaltenen Morphins in den von den Samen befreiten Kapseln. In den getrockneten Schlafmohnkapseln wurde Morphin abhängig von Sorte, Anbaubedingungen und Pflanzenindividuum mit einem Anteil zwischen 0 und 1,7 % ermittelt, eine enorme Spannbreite, die Dosierungen schwierig, mitunter sogar lebensgefährlich macht! Typisch war eine Spanne zwischen 0,1 und 0,8 %, mit einer Ballung bei 0,2 bis 0,4 %. Wie gesagt, gibt es aber auch Varietäten mit einem ganz niedrigen Morphingehalt und solche mit einem Gehaltsmaximum von 1% oder mehr!

Auch die Kapselgröße ist stark schwankend. Mag der Durchschnitt des Gewichts der leeren Kapseln bei 1,5 bis 3 Gramm liegen, so wurden doch in einzelnen Kapseln Morphinmengen zwischen 0 und 38 mg analysiert, eine unabschätzbare Variationsbreite, die bei Selbstversuchen fatale Folgen haben kann.

Für jemanden, der Morphin nicht gewohnt ist, sind bereits 10 mg (0,01g) eine kräftige, 30mg eine starke und über 100 mg eine möglicherweise lebensgefährliche, 300 bis 400 mg eine mit hoher Wahrscheinlichkeit tödliche Dosis! Dies sollten Experimentierer, die sich trotz Verbotes über die Pflanze hermachen, bedenken.

Sowohl Opium als auch der getrocknete Schlafmohn enthalten außer dem im Jahre 1806 von Friedrich Sertürner isolierten Morphin zahlreiche weitere Alkaloide, insgesamt etwa 25, die ihren Anteil an der Gesamtwirkung haben, so dass diese nicht mit der des reinen Morphins identisch ist und durchaus spŸrbaren Schwankungen unterworfen sein kann.

Die im Schlafmohn produzierten Alkaloide bilden die Grundlage einer Unzahl wertvoller Medikamente. Morphin ist zweifellos das bekannteste unter ihnen. Es machte Opium über Jahrtausende hinweg zum stärksten Schmerzmittel. Opium hat unendlich viel Schmerz und Leid gelindert und ist insofern ein echtes Geschenk der Götter. Auf der anderen Seite wurde es aber auch zum Inbegriff für Sucht und körperliche Abhängigkeit, die sich bereits nach wenigen Wochen täglichen Konsums einstellt. Bemerkenswert ist bei täglicher Einnahme die Entwicklung einer Toleranz für Einzeldosen, die einen Experimentierer umbringen würden. Nach Entzug verschwindet die Toleranz wieder, eine erhöhte Sensibilität tritt auf. Das Risiko einer tödlichen Überdosis durch Fehleinschätzungen erhöht sich. Der Entzug nach täglichem missbräuchlichen Opiatkonsum wird körperlich und psychisch umso anstrengender, je länger und umso höher dosiert konsumiert wurde.

Morphinentzug

Gähnzwang, Niesen, Ängstlichkeit, Opiatgier, Schwitzen, Tränenflu§, Unruhe, Schlaflosigkeit, schließlich Pupillenerweiterung, Gänsehaut, Zittern, Glieder-und Muskelschmerzen, Muskelkrämpfe, Hitzewallungen, Appetitlosigkeit, dann Steigerung der Herzschlagfrequenz, Blutdruckanstieg, Fieber, †belkeit bis hin zum Erbrechen, Durchfall, das Ganze begleitet von innerer und motorischer Unruhe und Getriebenheit bis hin zu Zwangsvorstellungen, eine seelische Empfindlichkeit und Konfrontation mit dem, was mehr oder weniger lange unterdrückt wurde, mit der eigenen beschissenen Lebenssituation und verdrängten Gefühlen, prägen den Entzug, der etwa sieben Tage umfasst. Je schlechter die Zukunftsperspektiven, desto sinnloser erscheint der Entzug. Nach dem Entzug kann es manchmal noch Monate der Lustlosigkeit, inneren Leere und Depressivität dauern, bis sich wieder ein inneres Gleichgewicht herstellt. Ein Entzug sollte immer vorher mit einem Arzt abgesprochen werden. Es können lebensbedrohende Komplikationen auftreten. Eine schützende und pflegerisch kompetente Umgebung kann hilfreich sein.

schlafmohnpostkarte
In Deutschland werden Morphinpräparate zur Linderung starker Schmerzen, wie zum Beispiel bei Krebspatienten im fortgeschrittenen Stadium, nur sehr zurückhaltend verschrieben. In Dänemark werden etwa 15 mal soviel Morphinpräparate zu diesem Zweck verschreiben. Es kursiert noch immer das Schreckgespenst der Sucht und angeblicher Lebensverkürzung durch Opiate und Opioide durch die Reihen der deutschen Ärzteschaft. Dabei könnte über die Linderung körperlicher Schmerzen psychisches Leid verringert und damit zusammenhängende körperliche Beschwerden beseitigt werden. Zum Deutschsein scheint Leiden irgendwie dazuzugehören. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Drogenexperimentierer nehmen zunächst nur geringe Dosierungen, zum Beispiel 0,1 Gramm des zähen, klebrigen charakteristisch pflanzlich-süßlich riechenden Opiums oral oder den (zur Erhöhung der Löslichkeit des Morphins eventuell angesäuerten) Tee aus 2 bis 6 Gramm der in Viertel geschnittenen und möglichst schnell getrockneten Mohnköpfe. Sie beschränken die Einnahme auf wenige Gelegenheiten. Beim Rauchen des Opiums, das auf dem Prinzip des Verkochens der Wirkstoffe basiert, werden grö§ere Mengen verbraucht. Der Kurze mit der Inhalation zusammenhängende Törn verführt bisweilen zum exzessiven Gebrauch.

Abhängige könnten sich durch höhere Dosierungen aus eigener Ernte selbst versorgen. (Es lässt sich schwer sagen, wieviel Anbaufläche zur Versorgung eines abhängigen Opiatgebrauchers erforderlich wären. Es kursiert beispielsweise die Zahl von einem maximalen Opiumertrag von 8 kg pro Hektar. Bei einem durchschnittlichen Morphingehalt von 12 % würde dies 1 kg Morphin entsprechen. Aus der noch grün getrockneten Gesamtpflanze liessen sich auf industriellem Wege etwa 8 kg Morphin extrahieren, aus den Mohnköpfen und den oberen 10 cm Stengel etwa 4,3 kg.) Die schwere Einschätzbarkeit der Dosierung macht die Selbstversorgung allerdings zu einem riskanten Unterfangen. Auch durch Schlafmohntee hat es bei uns bereits Todesfälle gegeben!

Wie wirkt nun Morphin als der wichtigste Inhaltsstoff des Opiums? Er wirkt schmerzlindernd, das heißt der unangenehme Charakter vorhandener Schmerzen schwindet, verstopfend, pupillenverengend, hustenreizstillend, herzschlagverlangsamend und atemverflachend bis hin zum Atemstillstand, der bei fehlender künstlicher Beatmung oder sofortiger Zufuhr eines Opiatantagonisten die typische Todesursache einer reinen Opiatüberdosis darstellt. Zusätzlicher Konsum von Alkohol, Benzodiazepinen (Valium, Rohypnol usw.), Barbituraten (Speda u. dergl.) erhöht das Risiko gefährlicher vielleicht tödlich endender Komplikationen. Ü †belkeit bis hin zu Erbrechen treten bei gelegentlichen Gebrauchern und höheren Dosierungen häufig auf. Auch Appetitminderung, Verengung der Magen- und Darmschließmuskeln, sinkende Körpertemperatur, Juckreiz, Schweißausbrüche, Harnverhaltung, Muskelentspannung, Schwindel, Blutdruckabfall bis hin zum Kreislaufabsturz gehören zum Wirkungsspektrum. Aber für den Konsumenten entscheidender ist die sedativ-hypnotische Wirkung, das matte Wegdämmern zwischen Wachen und Schlaf kombiniert mit einem wohlig-warmen fliessenden Körpergefühl bei oberflächlicher Betäubung der Haut und einer zu Ängsten und Sorgen distanzierten emotionalen Gleichgültigkeit bis hin zu abgehobener Euphorie.

Flammende Schlafmohnschönheit Moldovita Rumänien
Flammende Schlafmohnschönheit Moldovita Rumänien

 

Manch eine(r) fühlt sich unter Opiaten erst „normal“, kann sich vielleicht zum ersten mal selbst ertragen. Wenn man die Wirkung so empfindet, sollten, glaube ich, die Alarmglocken schrillen. Wenn Mensch es nicht anders lernt, mit sich selbst liebevoller umzugehen, ist Mensch gefährdet, die Droge in abhängiger Weise zu konsumieren. Schlauer ist sowieso, wer die Finger von Opium und Opiaten völlig lässt. Das Denken bleibt unter Opium relativ klar. Mancheiner driftet ins Träumerische ab. Dies ist aber keineswegs die Regel. Der schwülstige Opiumtraum ist eher die Ausnahme und wohl nicht mehr ganz zeitgemäß. Heute schaltet man eher die Glotze an und lässt sich berieseln. Die Kombination mit Cannabis fördert die Phantasie, intensiviert den Rausch, verstärkt aber auch den Zugang zu eventuell vorhandenen Ängsten.

Die Sexualität ist während der Wirkung besonders bei dauerhaftem Konsum eher gehemmt, kann aber besonders in Kombination mit anderen Zutaten (Stechapfel, Brechnuss, Cannabis, Gewürze, nach dem Prinzip der „Orientalischen Fröhlichkeitspillen“,) und nur ausnahmsweisem Gebrauch im besonderen Setting lustvoll gestaltet werden.

Oral eingenommenes Opium oder Schlafmohntee beginnen erst nach vielleicht einer halben bis einer Stunde zu wirken. Es folgt ein Törn der Wirkungssteigerung. Die gesamte Wirkdauer beträgt etwa 4 bis 6 Stunden. Hohe Opiumdosen wirken länger, gerauchtes Opium erheblich schneller und kürzer. Ein Hang over mit Mattigkeitsgefühlen am nächsten Tag ist nicht ungewöhnlich.

Insgesamt steht Opium für mich eher für, wenn auch wohligen, Leerlauf, Stagnation, Isoliertheit, Vormichhindümpeln, Warteschleife, Ruhigstellung, also nicht gerade das, was ich mir für mein Leben wünsche. Aber jedem, wie er oder sie es gerade braucht.

Schlafmohn im Paradiesgarten Moldovita Rumänien
Schlafmohn im Paradiesgarten Moldovita Rumänien

Einen Feldzug gegen eine Pflanze und die Menschen, die letztlich eigenverantwortlich damit umgehen, zu führen, ist nicht nur absurd, sondern hat fatale Folgen, wie die gescheiterte Repressionspolitk nur zu offensichtlich zeigt. Die Kriminalisierung der OpiatgebraucherInnen hat maßgeblich zur Verelendung und zur Verbreitung von Krankheiten wie chronischer Hepatitis und AIDS unter einer großen Zahl von Menschen beigetragen, die genau wie wir alle ein Recht darauf haben, menschenwürdig behandelt zu werden und selbstbestimmt zu leben. Sie brauchen dieses Recht nicht erst durch abstinentes und angepasstes Verhalten zu erwerben, wie es in der Gründungserklärung der Selbsthilfeinitiative JES (Junkies, Ehemalige und Substituierte) heißt.

 

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Inselhopping auf den Kykladen

PETRA, Februar 2004

Inselhopping auf den Kykladen

Wenn der Weg das Ziel ist

Ich erinnere mich nicht, jemals an einem so stillen Ort gewesen zu sein. 300 Meter hoch sitzen wir, direkt an der Steilküste, die weiß getünchten Zimmer im Hintergrund, vor uns die Ägäis. Den Kopf von links nach rechts wendend nur Meer. Kein Vogelgezwitscher, kein Insekt, nur ab und zu lässt der Wind ein vertrocknetes Blatt über den Boden rascheln. Es könnte diesig sein, ist es aber nicht; das Licht ist so hell, dass Himmel und Wasser sich in einem weißen Kranz vermischen. Oder ist es anders? Steuert Helio, der Sonnengott, freudig erregt, seinen Wagen gen Meer, vielleicht um sein Mütchen zu kühlen? Sein Palast steht im Osten, früh morgens treibt er seine flammenden, glühenden Rösser aus dem Tor und reitet durch den Tag, um Abends hinab ins westliche Meer zu tauchen. Dort ruht er sich aus und badet. In der Nacht setzt er sich in eine riesige Muschel und treibt auf dem Okenasstrom, der die Welt im Kreislauf umfließt, zurück in den Osten in seinen Palast. Ja, so reimten die Griechen und unser Herbergsvater auf der Kykladeninsel Anafi kommt wie zur Bestätigung um die Ecke geschlurft und blinzelt mürrisch in den letzten orangenen Zipfel von Helios´ Wagenspur.

Auf der Insel gibt es vier schöne Strände, wobei der letzte 700 Meter lang und total einsam ist. Wild zelten ist hier geduldet, leider sind meine Fußbänder gedehnt, der „Doktor“ auf der Insel faselte was von „five days“, aber ich fühle mich auch zwei Wochen später noch unmobil. Die Hängematte wird zu meinem Zuhause. Am Strand ist es Mittags fast unerträglich, obwohl wir erst Juni haben. Wir hocken im Schatten, muffeln den Salat und trinken lauwarmes Wasser. Das Badewasser ist dagegen herrlich kühl und pool-sonnenklar.

Santorin

Eine Mopedfahrt über die Insel zeigt uns die drei K. Es ist karg, knarzig, karstig. Grober Schotter, Gesteinsbrocken, manche faustgroß liegen im Weg. 45 Minuten gurken wir schon rum, Claudia presst sich an mich, der Wind umweht uns. Wir sehen keinen Menschen, auf der Insel scheint es mehr Kapellen als Menschen zu geben. Ab und zu steht ein Hühnerstall in der Pampa. Wir kommen über eine Kuppe, kühler Wind kündigt das Meer an. Wir halten, gehen zu Fuß weiter. Wachholderbüsche, wilder Thymian und andere stachelige Gewächse. Alles duckt sich, vor Wind und vor allem Sonne. Im August ist hier alles verbrannt, jetzt duftet es noch wundervoll. Aus der Ferne bräunlich-ocker wirkend, zeigen sich aus der Nähe doch viele Farben. Gerade in den kleinen Schluchten, durch die der seltene Regen abläuft, wachsen rhododrendronartige Pflanzen, Palmen sogar. Ein herrlicher Meerblick tut sich auf, wieder steht eine kleine, weiße Kapelle im Weg. Wir treten ein, drinnen ist es dunkel. Eine Kerze brennt seit Tagen, Räucherkohle und Weihrauch stehen bereit. Der Raum ist nur drei Meter lang und zwei Meter breit, schmucklos, nur Ikonen hängen an den Wänden. Die Atmosphäre ist spannend, aber wirkt auf mich nicht spirituell. Ich frage mich schon, was Menschen dazu brachte, an dieser Stelle Gott zu loben. Oder hatten sie Angst? Draußen ist es hell und schön.

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Wir verleben erholsame Tage auf Anafi, fahren nach fünf Tagen weiter nach Naxos. Die größte Kykladeninsel ist im Westen gut erschlossen. Kein Wundern, hier gibt es kilometerlange Strände. Aber der Tourismus hat das Ambiente zerrissen. Nur vereinzelte Appartment-Anlagen, nichts gewachsenes. Unser Zimmer hat gleichwohl einen tollen Ausblick auf die Ägäis. In der Nachbarschaft wird gebaut – nichts ungewöhnliches auf allen Insel. Überall stehen halbfertige Häuser, aus vielen ragen Stahlstreben gen Himmel. Späte Blitze des Zeus. Für ein nicht fertig gestelltes Haus zahlt der Grieche keine Steuern, zudem scheinen die Leute eh ein anderes Verhältnis zum Rumstehen von Dingen zu haben. Meine These: Auch die altertümlichen Ruinen in Knossos und die Akropolis sind keineswegs Zeugen einer untergegangenen Hochkultur, sondern waren schon damals nicht fertig gestellte Bauversuche. Sorry for that.

Dimitri Kakianaiki, ein Mitfünfziger in stattlich Figur, breitem Grinsen und kleinen Augen lässt die Bernsteinkette Kugel für Kugel durch seine Hand laufen und schaut in die Ferne. „Ja, ja, Anfang der 70er Jahre wurde hier viel und wild gebaut. Außer Affenbrot gab es hier praktisch nichts. Dann kam der Tourismus“. Klick, Klick, der Rosenkranz klackert. „Aber jetzt schließen sogar Hotels hier auf Kreta wieder, weil die Touristen fehlen,“ Dimitri wirkt nur am Rande von der Krise betroffen, denn obwohl die Gäste ausbleiben – die Baulust der Griechen ist ungebrochen. Überall auf Kreta, überall auf den Kykladen stehen die bekannten halbfertige Villen, Appartements und Häuser in der Landschaft. Wieder klickert das Kettchen. Dimitri grinst. Er hat Ingenieurwesen in München studiert und ist jetzt Baulöwe, sogar einer der größten auf Kreta. Seine Frau Anna spricht im gewohnten Komisston, nein, eher wie die Vorsitzende eines Universitätsprüfungsausschusses im Deutschland der 30er Jahre. . „Tell me your plans!“ Jawoll! „Was ist los in Deutschland? Was macht der Schröder?“, fragen sie sich, fragen sie uns. Wir sagen: Entschuldigung, Entschleunigung. Zeus sei Dank kommt jetzt Olympia und die Griechen hoffen auf gute Spiele, „auf welche mit Kultur“, sagt Dimitri und Anna nickt.

Santorin ist eine unfassbare Weide für die Augen. Die Insel liegt am Rande eines Vulkans, der zum letzten Mal in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhundert ausgebrochen ist. Das Hauptdorf, die Chora, klebt weiß an der Steilwand in 500 Meter Höhe. Ein Bild für die Götter. Der riesige Kratersee ist die Ägäis selbst. Der Sonnenuntergang legt sich wie ein sanftes Tuch über das Dorf und unseren Seelen. Aber: Zu viele Touris, wir wollen weiter.

 

Koufonissi, ja! Buchten, Sandstrände, Wasser in türkisblau. Ruhiger Übergang in den wirren Tourismus gesucht. Die Fischer sitzen und warten. Ich lese Henry Millers Hohelied auf das Land und seine Bevölkerung und kann nicht recht folgen. Was er Stolz nennt ist für mich Arroganz. Pimpf Miller tauchte in den 30er Jahren in Griechenland auf und wurde natürlich gleich in die Künstlerkreise eingeführt, die vor wild fabulierenden und gestikulierenden Griechen nur so strotzten. Meine Gespräche mit den Griechen verlaufen zwar in fröhlicher Stimmung, wir bauen eine Ebene des Verstehens auf, reden oft lang und kompliziert in radebrechenden Englisch, man lacht sogar, und am Ende kommt raus, dass wir von unterschiedlichen Dingen gesprochen haben. Macht nix, ist ja Urlaub. Frieden im Herzen fordert Henry Miller. Jeder muss bei sich selbst Anfangen, große Pläne nutzen wenig, sagt er. Mmh.

Die Natur entschädigt für das Essen, gleichwohl bleibt es dabei: Nur eine tote Mücke ist eine gute Mücke. Haben Mücken eigentlich Augen? Ich empfinde es als so hell wie nirgendswo sonst auf der Welt zuvor. Die Sonnebrille ist defekt, macht auch nix, denn die würde mir eh Teile des Spektralspektakels (was für ein Wort) rausfiltern. Das Wasser ist durchleuchtet, so hell, dass meine Muse ihren blassen Nagellack im Wasser erkennt. Fauna und Flora fehlen aber, Folgen der Überfischung. Bis vor zehn Jahren wurde hier noch mit Dynamit gefischt. Im diesem Himmel möchte man baden. Im Zenit schon hellblau wird er zum Horizont weiß, mischt sich mit dem Dunst des Meeres zu einem unendlichen, weich gezeichneten Übergang,

Es wird heißer von Tag zu Tag. Eine träge Stimmung breitet sich aus, mein Fuß steckt mit Bänderdehnung im Verband, ich in der Hängematte. Das letzte Quentchen Hirn fließt in Sand und Kiesel. Übrig bleibt Entspannung, sorry, Entschleunigung. Dieser Atmosphäre entsprangen die Mythen, oder waren sie sogar zuerst da, die Sagen? Aber wo sind die unterirdischen Linien der philosophischen Grundlagenforschung, die hier vor unser Zeitrechnung schon betrieben wurde? Wo sind sie heute noch zu sehen im Land? Ich fühle mich ein wenig wie am Anfang der Zeit. Alles hier und bald auch wir sind wesentlich. Reduziert auf Erde, Luft, Wasser, Licht. Nackt, völlig enthüllt. Das Gute, das Schöne, das Wahre. Vielleicht wehren sich die Griechen im Innersten gegen den technische Fortschritt. Er passt nicht hierher. Die Vorfahren haben schon vor 2. Jahrtausenden das Wichtigste gesagt und gedacht. Weiter braucht der Grieche nicht. „Hier, nehmt und macht was draus.“

Tage später. Angekündigt ist George Tromaras. Vom Hafen her dudelt Musik, von einer krächzenden Stimme unterbrochen. Auf der Mole bietet sich ein merkwürdiges Bild: Ein altes Campingmobil steht quer, davor auf blankem Zement ein paar Bänke. Auf dem Wagen ist das Konterfei von Tromaras gemalt, darunter sein Name mit dem Zusatz „Champion Greece and Europe“. Worin?, könnte man fragen. Der Mann ist gottkräftiger Eisenbieger. Auf der Motorhaube eines alten Ford-Transit ist mit einem Tau ein Megaphon befestigt, daraus tönt die Stimme des Herrn. Im Hafenbecken daneben liegt ein Frachter, ein wahrer Seelenverkäufer, dessen Heck bis zur Reling im Wasser versinkt, dessen Bug aber unbelastet aller Sorgen in den Himmel ragt. Drei Seemänner in weißen Unterhemden wollen sich das kommende Schauspiel nicht entgehen lassen und lungern an der Rehling rum. Die Fischerboote im nahen nachtschwarzen Wasser sind weiß getüncht. So wie tagsüber der Himmel ins Wasser fließt, so fließt Nachts das Wasser horizontlos in den Himmel über. Die Boote schweben.

Wie aus anderen Welt steht der Utensilienkoffer des Bären vor seiner rollenden Höhle, groß wie ein ledriger Sarg mit Griff. Aus dem Koffer lugen Eisenfedern, eine Stange steht daneben. Kinder wollen den Körperkünstler sehen, dazu ein paar Opas und halbstarke Griechen in Muskelshirts. Er wird biegen und brechen. Schüchtern betrachtet ein Mädchen den Koffer als plötzlich der Herkules, der neue Herkules , mit zwei polternden Sätzen aus dem Mobil auf den Platz springt. Das Mädchen nur halb erschrocken, der Auftritt leicht vermasselt. Da steht er nun mit schwarzem Ringeranzug, die kurzen Beine stecken in dunkelbraunen Ringerschuhen, die ihm fast bis zu den Knien reichen. Bandagen schützen die Gelenke. Schwer atmend steht er da, der legitime Erbe vom Herakles und beginnt seine Rede. Was sagt er? Er spricht von seinen Heldentaten, berichtet von mehrköpfigen Schlangen, die er besiegte, von Riesen, die er bezwang.

Mit kurzer Geste bringt er die am Eingang stehenden Unentschlossenen zum Schweigen – Gehen oder bleiben, aber nicht dumm Rumsabbeln, ihr Ignoranten. Ja, vielleicht ist er nur ein Jahrmarktclown, aber er weiß von seiner Kraft, seinem Stolz und er muss niemanden fürchten hier. Ja, vielleicht steht er kurz vor der Abhalfterung, aber über diese entscheidet er selbst. Sein kleiner Helfer schlägt ihm zum warm werden die Eisenstange drei, sogar vier Mal auf die gewölbte Brust. Herakles schreibt bei jedem Schlag, so laut, dass sich die Stange verbiegt. Zwei Männer hebt er hoch, nur mit dem Nacken, einen Nagel treibt er mit purer Muskelkraft durchs dicke Holz. Gar 18 Männer, 9 auf jeder Seite, zerren an ihm, versuchen ihn zu zerreisen, er brüllt, er schwitz, die Reihe wankt, die Kinder kreischen, die Oma zittert gar vor Furcht, aber er trotzt allen Kräften.

Ganz außer Atem schöpf er Luft aus warmen Himmel, kündigt von der nächsten oder alten Tat. Wir wissen es nicht, zu fremd ist seine Sprache. Einen Knoten nimmt er in den Mund, daran ein Band, zehn Meter lang an dem blauen Transit gut befestigt. Es wackelt nun das Megaphon, der riesenhafte Zwerg zieht nicht nur den einen, nein, auch die dahinter stehende über die Mole; fast bis ins schwarze Hafenbecken. Stühle rücken, verwunderte Gesichter: Wohin will er? Wozu das Alles? Die Menge johlt, die Menge klatscht. Ja, Herakles ist stark, ein Heros, ein Mann aus alter, voralter Zeit sogar, als die Menschen und Götter noch wild zusammen lebten, sich schlugen und bumsten.

Jetzt kommt ein Auto auf die Bühne, Vati sitzt am Steuer, die Kinder auf den Bänken. Der alte Japaner hat bessere Tage erlebt, der Kofferraum ist zugebunden, die Kotflügel verrostet. Einige Worte im harrschen Ton des Kraftmeiers, dann gibt der Vater Gas, doch Herakles hält gegen, hebt den Wagen ganz vorne an, Entlastung wird den Reifen zuteil und aus lauter Dankbarkeit hüllen sie den Platz in Gummiqualm. Nun ist kein halten mehr, die Kinder stehen auf den Bänken, rechts hinten brennt eine rote Fackel, die Show ist aus. Der Gesandte, späte Sohn des Zeus packt seinen Koffer, Schweiß perlt in seine dunkeln Augen, die gütig blinzeln. Pure Kraft ist göttlich wohl.

Jörg Auf dem Hövel

P.S. Deutschland ist so grün aus der Luft. Hamburg ist es auch auf der Erde. Bäume, herrliche Bäume, Sträucher, Gras. Ich möchte reinbeißen. Sonne über der Stadt, die Elbe erinnert mich an das Meer. Der Mann im Elbcafe neben mir setzt sich einen Schuss – Willkommen in der Hochzivilisation. Hier frisst man Scheiße und hängt vor der Glotze ab, Bayer hilft mit Insulin.

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Drogenpolitik Rezensionen

Die CIA und der globale Drogenhandel

telepolis, 15.02.2004

Geheimdienst-Politik unter Drogeneinfluss

Ein umfassendes Werk beschreibt, wie sich CIA und prohibitive Drogenpolitik ergänzen

Alfred McCoy, Professor für Geschichte an der Universität Wisconsin, stellt in seinem Buch „Die CIA und das Heroin“ die unheilvolle Rolle der CIA bei der Verbreitung von Heroin und Kokain auf dem Globus dar. Aus der historischen Aufarbeitung ist eine scharfe Abrechnung mit der prohibitiven Drogenpolitik geworden.

Seit nunmehr 30 Jahren erforscht McCoy die Bemühungen der CIA, in den strategisch wichtigen Regionen der Welt mithilfe unterschiedlicher Machthaber den Einfluss der USA aufrecht zu erhalten. 1971 reiste er erstmals nach Südostasien, um den Bündnissen zwischen Drogenbaronen und Geheimdiensten auf die Spur zu kommen. Heraus kam „The Politics of Heroin in Southeast Asia”, ein Buch, in dem er den Heroinhandel „eher enthüllte als erklärte“, wie McCoy heute sagt. In seinem neuen Buch geht er den Schritt weiter und stellt auf über 800 Seiten ausführlich die Gründe für die historischen und aktuellen Verstrickungen des Geheimdienstes CIA in den internationalen Heroin- und Kokainhandel dar.
Mohn

Sein Credo: Das Vorgehen der CIA war in Burma, Laos, Afghanistan gleich und ist heute in Südamerika ähnlich: Die lokalen Stammesgesellschaften oder Clans wurden von der CIA im Kampf gegen den Kommunismus mobilisiert. Um Kräfte für geheime Operationen und Kriege freimachen zu können, mussten die Menschen Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft abziehen. Um die fehlenden Lebensmittel nun kaufen zu können, setzten sie auf den weniger arbeitsintensiven, aber lukrativen Mohnanbau. Aus Sicht der CIA ersparten die guten Erlöse aus dem Mohnanbau ihnen die Kosten, die geheimen Verbündeten versorgen zu müssen. Soweit, so gut, nur waren die längerfristigen Auswirkungen dieser Politik fatal.

Denn egal ob in Burma, Laos oder Afghanistan: Aus Warlords wurden mithilfe der CIA unabhängige Drogenproduzenten, die ihr Gewerbe nach dem Ende des Geheimkriegs nicht aufgaben. In den 50er Jahren, als die CIA die irregulär in Burma einmarschierten nationalchinesischen Truppen unterstützte und so maßgeblich zur Entstehung des „Goldenen Dreiecks“ beitrug, in den 60er Jahren, als im Dschungel von Laos mit Wissen der CIA die ersten Labore für Heroin entstanden; die genau das hochwertige Heroin herstellten, welches zunächst von den GIs in Südvietnam konsumiert wurde und später den US-Markt fluten sollte, und in den 80er Jahren, als die afghanischen Freischärler die von der CIA erhaltenen Privilegien für den Aufbau eines riesigen Mohnanbaugebiets im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan nutzen: Die kurzsichtige Politik des amerikanischen Geheimdienstes vor Ort führte nicht nur zu einer global stetig wachsenden Heroinproduktion, sondern hinterlässt destabilisierte Regionen. „So klein und entlegen sie sind, erweisen sich diese Hochlandgesellschaften in der Folge der CIA-Geheimkriege doch als Horte gravierender internationaler Instabilität – als schwarze Löcher der neuen Weltordnung.“ In jedem Drogenkrieg der USA – ob in der Türkei in den 70er Jahren oder in den Anden in den 90er Jahren – hat die Verbotspolitik nach Meinung von McCoy zu unbeabsichtigten Resultaten geführt, weil die lokale Bekämpfung globale Auswirkungen zeigte. Der Logik McCoys ist gut zu folgen: Wie bei den Märkten mit legalen landwirtschaftlichen Erzeugnissen führt eine Verknappung des Angebots ohne gesunkene Nachfrage a) zu höheren Preisen und b) zu einer Verlagerung der Produktion in andere Weltteile. So stieg der weltweite Opiumpreis, nachdem die USA die Türkei 1972-73 zur Bekämpfung des Mohnanbaus im Land gedrängt hatten, deutlich an; und um die weiterhin konstante Nachfrage zu befriedigen bauten nun einige asiatische Länder vermehrt den nötigen Mohn an.

Aber nicht für Asien, auch für Südamerika zeigt McCoy aktuelle Beweise auf. Der „Plan Columbia“ beispielsweise, der vom us-amerikanischen Kongress im letzten Amtsjahr von Bill Clinton verabschiedet wurde, bewilligte ein Antidrogen-Programm in Höhe von 1,3 Milliarden Dollar. Mit diesen Mitteln wurden Militärs vor Ort ausgebildet, Hubschrauber frei gestellt und vor allem die Kokafelder in Kolumbien entlaubt. In kurzer Zeit zerstörten das Militär Ende 2000 30.000 Hektar Kokaplantagen in der Provinz Putumayo, nach Ansicht McCoys „mit dem vorhersagbaren Effekt, dass sich der Anbau in die benachbarte Narino-Provinz verlagerte“. Ein Spiel, das sich noch mehrmals wiederholen sollte. Nach zwei Jahren „Kolumbienplan“ gab das Außenministerium zu, dass sich die Plantagenflächen zwischen 1999 und 2001 trotz aller Bemühungen von 122.000 Hektar auf 170.000 Hektar vergrößert hatten.

Ein Krieg zielt immer auch auf das personifizierte Böse beim Gegner. In Panama stellte dieses Böse General Manuel Noriega dar, in Kolumbien Pablo Escobar, in Burma ein Mann mit Namen Khun Sa. Der Sturz dieser Drogenbarone führte aber nie zu dem gewünschten Effekt der Verringerung, sondern immer nur zur Verlagerung des Angebots.

Vorsichtigen Schätzungen zufolge ist der weltweite Drogenmarkt heute ein voll etablierter Wirtschaftszweig, der nach UN-Angaben rund 400 Milliarden Dollar jährlich umsetzt. Dies sind rund acht Prozent des Welthandels – mehr als mit dem weltweiten Verkauf von Automobilen umgesetzt wird.

Die Schuld der CIA, so McCoy, bestehe nicht in der aktiven Mittäterschaft bei Drogengeschäften, dies käme äußerst selten vor, sondern in der stillen Duldung des Handels und der Komplizenschaft mit ihren geheimdienstlichen Handlangern – der ungewollten Aufzucht der „Drogenbarone“.

Die Drogenprohibition ist aus Sicht von McCoy aus zweierlei Gründen nicht durchsetzbar. Zum einen scheitert sie an der wirtschaftlichen Dynamik einer begehrten Ware. Weil die Zwangsmaßnahmen nicht global durchsetzbar wären, seien die Konsequenzen kontraproduktiv. „Nach 30 Jahren gescheiterter Ausrottungsversuche zeigt eine Fülle von Belegen, dass der illegale Drogenmarkt ein komplexes globales System ist, das gleichermaßen empfindlich und widerstandsfähig reagiert und Repression rasch in einen Stimulus verwandelt.“ Im Rückblick auf dieses über 100 Jahre währende Experiment müsse man einräumen, so McCoy, dass die Prohibition aber nicht nur im Hinblick auf die internationale, sondern auch die individuelle Kontrolle gescheitert ist. Mehr noch, der Preis des Scheiterns ist hoch: in den Quellenländern militärische Konflikte und erzwungene Migration, in den Konsumländern Masseninhaftierungen, steigende HIV-Infektionen und soziale Polarisierung.

Das immer offensichtlichere Scheitern eines „Krieges gegen Drogen“ hält den Direktor des Office of National Drug Control Policy, John Walters, nicht davon ab, an der orthodoxen Prohibitionspolitik festzuhalten. Sein Bekenntnis zur Amtseinführung: „Nur wenn wir zurück schlagen, wird das Drogenproblem kleiner.“

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Hamburger Dialog 2003

telepolis v. 30.01.2003

Gute Stimmung im Tal der Tränen

Der Online-Journalismus der großen Verlage arbeitet stark defizitär – und das wird so bleiben. Auf dem Kongress „Hamburger Dialog“ übte man trotzdem die Gelassenheit und hofft auf Einnahmen in anderen Bereichen des Web.

Noch immer ist die Medien-Branche mit der prüfenden Durchsicht ihrer Aktivitäten im Netz beschäftigt. Besonders akribisch gehen dabei die Tageszeitungen und Wochenzeitschriften bei der Revision ihrer Online-Angebote vor. Die Frage ist mal wieder: Was spült Geld in die Kassen? Die Antwort: Journalistische Inhalte nicht. Auf dem diesjährigen „hamburger dialog“ wurde deutlich, dass sich Bezahlinhalte, sogenannter „Paid-Content“, in naher Zukunft nicht durchsetzen werden. Denn am Kiosk muss immer bezahlen werden, im Netz geht jeder dahin, wo es gratis ist. Was für die einen die genauso originäre wie wünschenswerte Eigenschaft des Netzes ist, bleibt für die anderen die bitterste Praline der Welt: Für die meisten kostenpflichtigen Angebote existiert eine Gratis-Alternative.

Jörg Bueroße von der „Tomorrow Focus AG“ bestätigte, dass nur schwer erhältliche oder gar exklusive Inhalte zum monetären Erfolg führen. So verzeichnet beispielsweise der Online-Scheidungsrechner des FOCUS munteren Zuspruch seitens der User, obwohl dessen Nutzung satte 4,99 Euro kostet. Ähnlich sieht es bei der Datenbank mit Terminen zur Zwangsversteigerung aus. Diese hat nach Angaben von Bueroße knapp 3000 Nutzer, die „nicht preissensibel“ reagieren würden. Mit anderen Worten: Ist die Brauchbarkeit hoch, dann zahlt der Surfer gerne.

Das bloße Publizieren im Web von Artikeln aus der Print-Ausgabe reicht dagegen bei weitem nicht aus, um die Kosten der schmucken Online-Auftritte der Verlage zu egalisieren. Arndt Rautenberg, von der Beratungsfirma „Sapient“ widersprach der oft gehörten Behauptung von der Beliebtheit von Online-Archiven. „Dies honoriert der User zwar, aber eben nur so lange, wie das Angebot kostenfrei bleibt.“ Und tatsächlich bestätigte Jörg Bueroße, dass die kostenpflichtige Archiv-Nutzung des „Focus“ ebenso wie die des „Spiegel“ „unterirdisch schlecht“ sei. Bei optimistischer Schätzung wird die Branche in vier bis fünf Jahren maximal zehn Prozent mit Paid Content umsetzen.

Glaubt man den Experten dient die Online-Präsenz der überregionalen Tageszeitungen wie FAZ oder Süddeutsche Zeitung damit weiterhin rein der Kundenbindung. Der Massenmarkt, den die Verlage in der Offline-Welt bedienen, sei im Internet für sie nicht erreichbar, behauptet Henrik Hörning vom Management-Beratungsunternehmen „detecon“. Die Folge sei eine Entwicklung wie man sie schon vom Privat-Fernsehen kenne: Umsonst und nur durch Werbung finanziert.

Freibier für Alle!

Von dem Ziel, mit ihren Internet-Auftritten rentabel zu wirtschaften, sind deutsche Medienhäuser also auch künftig weit entfernt. Daran wird wohl auch der „dernier cri“ der Branche, die Abonnements, die für ein monatliches Entgelt freien Zugriff auf Datenbanken erlauben, nichts ändern. Das Wall Street Journal, galt lange Zeit als gutes Beispiel für ein etabliertes und funktionierendes Abo-System. Es strotze mit mindestens 500.000 zahlenden Gästen. Das Problem war nur: Ein mit über 100 Leuten besetztes Call-Center, welches die Anfragen der Online-Abonnenten rund um die Uhr beantworten musste, verschlang über Jahre die eingefahrenen Umsätze. Erst heute schreibt der Netzsektor des Wirtschaftsblatts schwarze Zahlen. Nach dem Goldrausch herrscht weiterhin banges Fragen für welche Inhalte die Web-Gemeinde Geld ausgeben würde.

Der Verband der deutschen Zeitschriftenverleger (VDZ) präsentierte auf dem Kongress den Zwischenstand einer neuen Untersuchung, die Netzuser nach ihrer Zahlungswilligkeit befragt hat. Ob Zeitschriften-Artikel, mp3-Download oder Teilnahme an einem Adventure-Spiel: Die User sind nicht bereit viel mehr als 100 Cents auszugeben. Die magische Grenze für sogenannte „Pay-per-Use-Angebote“ sei ein Preis von rund einem Euro, erklärte Alexander von Reibnitz vom VDZ. Video- und Musik-Download haben nach wie vor das größte Potential. Bedingung für ein florierendes Download-Geschäft in diesem Sektor ist allerdings das breitbandige Internet. Kaum jemand ist gewillt Stunden auf einen Song von den White Stripes zu warten, geschweige denn für das lange Warten auch noch erhöhte Gebühren an den Provider zu entrichten. Ohne flächendeckende DSL-Flatrates stehen die Chancen auf Entertainment-Einnahmen denkbar schlecht.

Aber egal ob Artikel-Abruf oder Download eines Videos: Bezahlinhalte sind auch deshalb unbeliebt, weil der Weg der Tilgung meist kompliziert ist. Elektronisches Geld hat sich nicht durchsetzen können, aufwendige Registrierungen überfordern die Nutzer und führen zu Abbruchraten von über 80 Prozent. Hier funktionieren die klassischen Wege über die verpönten 0190-Nummer oder Fax-Polling wegen der Einfachheit und Anonymität noch immer besser als alle anderen Systeme. Ein klassischer Medienbruch, dessen Ende zur Zeit nicht in Sicht ist.