Hamburger Abendblatt vom 7. Januar 1998
Ganz Ohr sein
Mozart für das Ohr, dazu die Stimme der Mutter. Eine spezielle Hörkur kann psychische und physische Probleme lösen.
Jörg Auf dem Hövel
Joachim Kunze betrachtet die Hörkurve. „In diesem Frequenzbereich hören sie etwas schlechter“, sagt er und zeigt auf den nach unten laufenden Graphen, „hatten sie mal Probleme im Bereich der Lendenwirbel?“. Ich bin überrascht, denn in dieser Region meines Rückens plagte mich lange Zeit tatsächlich ein Bandscheibenvorfall. Der Leiter des Tomatis-Instituts in Hamburg fährt mit dem Finger auf dem Papier ein Stück weiter. In den hohen Frequenzen entdeckt er ebenfalls ein Abfallen der Kurve. „Haben sie mal Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht gehabt haben?“ fragt er weiter. Ich brauche nicht lange zu überlegen, denn es ist keine vier Monate her, daß mein linkes Gleichgewichtsorgan einen Totalausfall erlebte. An Aufstehen war für mehrere Tage kaum zu denken, nur torkelnd erreichte ich das WC. Unfreiwillig wurde mein Interesse an dem Organ „Ohr“ geweckt. Später erzählte mir ein Freund von der „Tomatis-Hörkur“, die seiner Schwester und ihrem legasthenischen Kind geholfen hätte.
Sollte die Theorie des französischen Hörforschers Alfred Tomatis wirklich stimmen? Ist das Ohr der Spiegel unserer geistigen und körperlichen Verfassung? Und reflektiert unsere Hörkurve den Zustand von Geist und Körper? Der erste Eindruck zumindest ist verblüffend, denn für Joachim Kunze ergeben sich offensichtlich nur aus dem Hörtest Hinweise auf meine gravierendsten somatischen Defizite. Nach der Bestandsaufnahme soll die Therapie folgen, für die nächsten zehn Tage werde ich mit Musik täglich zwei Stunden lang kuriert. Die Theorie der „Tomatis-Hörkur“ klingt simpel: Sie besagt, daß die geschwächten Frequenzen im Ohr wieder normalisiert werden müssen. Lösen sich danach die Probleme von selbst?
Im Kopfhörer schnarrt und zischelt es. Gut, daß ich Mozart genauso gerne mag wie Techno, denn ansonsten fiele die Entspannung schwer. Die Musik klingt hell und schrill, sämtliche Bässe sind entfernt. Dabei wechselt sie in unregelmäßigen Abständen die Frequenz, wird dann für ein paar Sekunden noch höher, kaum noch wahrnehmbar. Trotz der ungewöhnlichen Beschallung entspannt man schnell, viele Patienten schlafen während des Hörens. Auch ich mache ein Nickerchen und wache erst wieder auf, als die voluminösen Stimmen der gregorianischen Choräle in mein Gehör dringen. Die Kur schlägt an: Schon am zweiten Tag bemerke ich eine Veränderung an mir, denn ich wache ungewohnt früh auf und fühle mich trotzdem frisch und ausgeschlafen. Zudem stellt sich eine gewisse Gelassenheit, eine positive Gesamtstimmung ein, die ich mir nicht erklären kann.
Das Ohr ist ein Organ des Fötus´, welches sich im Mutterleib schon früh herausbildet. Lange Zeit bestand unter den Wissenschaftler Uneinigkeit darüber, ob der menschliche Fötus zum Hören in der Lage ist, mittlerweile steht fest, daß ein Kind schon im zarten Alter von viereinhalb Monaten durchaus Geräusche erkennen kann. Damit ist das Ohr das erste Organ, welches voll funktionsfähig ist. Tomatis behauptet nun, daß die Stimme der Mutter, vom Fötus im Bauch wahrgenommen, die erste auditive neurologische Matrize im Nervensystem ist. Die Hörkur bemüht sich um die musikalische Rückführung des Ohres in diesen natürlichen Status. „Wir schaffen keinen künstlichen neuen Zustand“, sagt Kunze, „sondern bauen nur vorhandene Barrieren ab“.
Für Tomatis beginnt mit dem ersten Schrei nach der Geburt das autonome Leben des Kindes, in diesem Moment versorgt sich das System Mensch selbst mit Energie. Eine selbstregulierender Kreis entsteht: Die vom eigenen Körper ausgesandten Schallwellen werden vom Ohr aufgenommen und stimulieren Hirn und Körper. Im Laufe der Entwicklung eines Kindes setzen sich die gemachten Erfahrungen und Erlebnisse in der Psyche fest und führen nach und nach zu einer Veränderung des Hörens. Jeder Individuum hört nun anders. Hier setzt die Arbeit des Tomatis-Instituts an, von der sich vor allem Mütter mit ihren Kindern Hilfe erhoffen. Sie kommen mit ihren Söhnen oder Töchtern, welche oft unkonzentriert oder nervös sind, Lernschwierigkeiten oder Sprachstörungen haben. Wie beispielsweise Uta Bremer und ihr Sohn Alexander. Den elfjährigen Junge plagten seit Jahren schlechte Schulnoten, er war hektisch und stotterte, sein geringes Selbstwertgefühl wollte er durch ständige Kaspereien und das Ärgern von Schulkameraden kompensieren. „Die Probleme waren massiv“, erinnert sich Bremer. Die konsultierten Kinderärzte und Psychologen wußten keinen Rat. Im Tomatis-Institut unterzogen sich Sohn und Mutter einer Kur, für beide wurde ein individuelles Hörprogramm entwickelt. Schon nach ein paar Tagen wurde Alexander ruhiger, konnte ruhig in der U-Bahn sitzen und nahm auch die Schulaufgaben mit mehr Elan an. Die Leistungen in der Schule stabilisierten sich. „Früher wollte er jeden Abend zum Einschlafen zu uns ins Bett“, erzählt Bremer, „heute schläft er gerne alleine.“ Aber auch die Mutter spürte Veränderungen: „Ich gewann Distanz zu meinem Sohn, viele meiner Ängste gingen verloren.“ Die Fixierung auf das jüngste ihrer drei Kinder ließ nach, auch sie entwickelte neues Selbstbewußtsein. In den über 200 Instituten auf der Welt behandelt man aus diesem Grund Mut ter und Kind immer zusammen, denn ändert sich beim geliebten Nachwuchs etwas, muß auch die Mutter ihrer Erfahrungen relativieren. Die ewige Sorge um den Sprößling weicht einem gesunden Zutrauen in die neu gewonnenen Fähigkeiten. Und dieses Vertrauen bemerkt das Kind auch ohne sprachliche Kommunikation.
Trotz der Erfolge warnt der Leiter des Instituts vor zu hohen Erwartungen. „Wir stoßen zu Entwicklungsschritten an, fördern die Autonomie“, meint Kunze. Werden physische oder psychische Probleme durch die Hörkur erkannt, verweist Kunze die Patienten an Fachärzte aus den entsprechenden Gebieten. Bei den meisten Menschen reicht eine Hörkur von drei bis vier Wochen, spätestens nach fünf Wochen täglichen Hörens wurde das Ohr in seinen ursprünglichen Zustand der Hörfähigkeit zurückversetzt. Nach dieser Regulation gilt es, die neue Wahrnehmung mit neuem Handeln zu verbinden, motorische oder logopädische Übungen helfen, die Denkanstöße umzusetzen. Die soziale Umwelt reagiert nach einer Hörkur anders und auch daran muß sich gewöhnt werden. Mutter Bremer bemerkte erstaunt, daß plötzlich viel mehr Klassenkameraden von Alexander anriefen, um sich zum Spielen mit ihm zu verabreden.
Mittlerweile ist der sechste Tag meiner Kur vorüber, und das Hören klassischer, gefilterter Musik zeigt seine Wirkung auf faszinierende Weise. Vor fünf Jahren lädierte ein Skiunfall das rechte Knie, eine Verletzung, welche die Motorik des gesamten Bewegungsapparates nachhaltig beeinträchtigte. Ohne in meinen sportlichen Aktivitäten behindert zu sein, fiel einigen Freunden und auch mir mein schwach humpelnder Gang auf. Überraschenderweise fängt nun nach der Hälfte der Tomatis-Therapie -ausgehend von einer Bewegung im Knie- das rechte Bein an sich neu auszurichten. Gerade beim Fahrradfahren bemerke ich, daß Oberschenkel, Knie und Unterschenkel zusammen eine leichte Korrektur ihres Zusammenspiels vornehmen.
Das Ohr
Mit dem Ohr verbindet man das Hören. Dies ist zwar die naheliegenste Funktion, doch unser Hörorgan übernimmt weit mehr Aufgaben, als den Schall der Umgebung wahrzunehmen. Im Inneren des Ohres sitzt das Vestibular- oder auch Gleichgewichtssystem. Dieses kontrolliert die Balance, die Koordination des Körpers genauso wie die Spannkraft der Muskeln und die Muskeln unserer Augen. Durch den Gleichgewichtssinn sind wir in der Lage, ein Bild unseres Körpers im Raum zu fabrizieren. Das Vestibularsystem ist eine wichtige Relaisstation für alle sensorischen Informationen, die unser Gehirn erreichen wollen. Funktionieren die Gleichgewichtsorgane im rechten und linken Ohr korrekt, hält der Mensch die Balance.
Glaubt man Alfred Tomatis, spielt das Ohr aber noch andere, erheblich weitergehende Rollen im menschlichen Körper. Im Verlauf seiner Tätigkeit will der heute 77jährige Forscher entdeckt haben, daß hohe Frequenzen das Hirn aufladen, während niedrige Töne Energie uns zu einer motorischen Aktivität auffordern. So erklärt Tomatis die Neigung des Menschen, nach tiefen Rhythmen zu tanzen, während das Hören der Brandenburgischen Konzerte ein gänzlich anderes Verhalten produziert. Im Umkehrschluß bedeute dies, daß hyperaktive Kindern durch ständige Bewegung versuchen, ihr Gehirn mit mehr Energie zu versorgen und die Disbalance zwischen den beiden Ohren wiederherzustellen. Ist unser Hirn „gut geladen“, so Tomatis, fällt es einfach sich zu konzentrieren, organisieren, zu lernen und zu erinnern.
Rechts- und Linkshörer
Es hört sich komisch an, aber nach der Tomatis-Lehre besitzen alle Menschen ein dominantes Ohr. Wie Rechts- und Linkshänder gibt es bei Tomatis Rechts- und Linkshörer. Viele der jungen Patienten im Institut in Hamburg fallen durch eine Linkslastigkeit ihres Gehöres auf, sie verarbeiten einen Großteil der auditiven Stimulation mit dem linken Ohr. Das Team um Joachim Kunze bemüht sich um ein Ausbalancieren des aktiven Hörens, denn das rechte Ohr ist schneller bei der Verarbeitung von Informationen. Intensität, Frequenz, Timbre, Rhythmus und der Fluß der Sätze: Rechtshörer sind besser in der Lage, die Parameter ihrer Sprache zu kontrollieren und eine effektive Kontrolle der Stimme garantiert eine bessere Kommunikation, womit auch der Zusammenhang von Stimme und Ohr deutlich wird. Bereits 1953 postulierte der agile Franzose einen Satz, der heute als das „1. Tomatis-Gesetz“ bekannt ist: „Die Stimme enthält nur das, was das Ohr hört.“ Damit wollte er die untrennbare Verbindung zwischen Hörfähigkeit des Ohres und stimmlicher Äußerung verdeutlichen.
In der Praxis bedeutet dies, daß die durch die Hörkur erreichte Änderung im Ohr sich auch auf die Stimme auswirkt. Die legendäre Sopranistin Maria Callas vertraute sich aus genau diesem Grund Professor Tomatis an: Ihr Gehör war nicht in der Lage die just produzierten Töne korrekt zu interpretieren. Um ihre und andere Stimmen zu korrigieren erdachte Tomatis das, was er heute als „elektronisches Ohr“ bezeichnet. Vereinfacht gesagt, besteht dieses Hilfsgerät aus einem speziellen Kopfhörer und einer Musikanlage. Dabei spielt es die gefilterte Musik so ab, wie ein intaktes Ohr hören würde; eben so gesund, wie der Fötus im Mutterleib einmal hörte. Dem Ohr des Patienten wird vorgeführt, wie es wieder richtig hört. Am Beispiel des „elektronischen Ohres“ wird auch deutlich, worin sich die Tomatis-Methode von der klassischen Theorie des Hörens unterscheidet. Diese nimmt nämlich an, daß allein Hammer, Steigbügel und Amboß die Schallüberträger vom Trommelfell zum Innenohr sind. Nach Tomatis überträgt sich der Schall aber vom Trommelfell auf den gesamten Schädel und bringt diesen leicht zum Schwingen. Deswegen ist auch der Kopfhörer in der Hörkur um eine zusätzliche Variante bereichert worden: Über einen kleinen Extra-Lautsprecher wird der verzerrte Mozart dem Patienten nicht nur über die Ohren, sondern auch über die Mitte der Schädeldecke zugeführt. Kunze erklärt: „Die Knochenleitung unterläuft den Filter im Ohr, der durch die Jahre währende Prägung entstanden ist.“ Der Test am Anfang jeder Therapie vergleicht die Luft- mit der Knochenleitungshörkurve, im Idealfall verlaufen beide parallel. Die Therapie unternimmt die behutsame Angleichung der beiden Kurven durch Training der winzigen Ohrmuskeln.
Neue Zugänge
Eine Kontrolle meiner Hörkurve am Ende der Kur zeigt die Unterschiede: Die beiden Hörkurven haben sich angenähert, auch sind einzelne „Ausreißer“ vom ersten Hörtest in ihren normalen Verlauf zurückgekehrt. Neben dem Verbessern der Feinmotorik des Bewegungsapparates bemerke ich eine andere, vielleicht sogar noch erstaunlichere Veränderung. Als eher rationaler Typus war ich bislang beim Zeigen von Gefühlen eher vorsichtig, der Zugang zur emotionalen Seite des Charakters fiel schwer. Schon während der Hörkur bemerkte ich eine Öffnung für die sensiblen, sich nicht allein durch logische Erwägungen ergebenen Seiten des Miteinanders. An einem Abend ergriff mich eine -rational betrachtet- ziemlich abgegriffene Soap-Opera im Fernsehen tief, im Gespräch mit Freunden und Bekannten zeigte ich öfter Emotionen. Ein Veränderung, die bis heute anhält. Für den Experten Kunze Kunze kein Wunder. Er erklärt mir, daß bei entsprechender Filterung die Veränderungen in der Struktur der Persönlichkeit durchaus gravierend sein können.
Für Tomatis endet die Reichweite seiner Theorie nicht in der Heilung von Kindern und der Stimmverbesserung bei Erwachsenen. Er ist sicher, daß durch seine Hörkur jeder Mensch mehr Bewußtsein für sein Selbst und damit mehr Selbständigkeit erlangen kann. „Zu-Hören“ bedeutet für ihn auch, den Gegenüber zu akzeptieren. Im Laufe seiner Forschung maß Tomatis die -wie er es nennt- „akustischen Millieus“ in unterschiedlichen Regionen auf dem Globus. Aus seiner Sicht deckt sich die Entstehung der verschiedenen Ethnien genau mit den diversen Hörmillieus. Liegen die Hörkurven gewisser Völker trotz ihrer räumlichen Nachbarschaft weit auseinander, haben diese erhebliche Verständigungsprobleme. Beispielhaft will er dies an den Hebräern und den Arabern nachgewiesen haben. Sein Ansatz zur Lösung: „Über die Hörkur öffnet sich eine Tür von Herz zu Herz“, sagt er und behauptet weiter, daß durch die verbesserte Kommunikation ein besserer Dialog entsteht. „Und damit auch weniger Dummheiten in der Welt.“
Die Hörkur
Eine akustische Entbindung
Während der Hörkur durchläuft der Kunde die fünf Phasen der Entwicklung seines Gehörs noch einmal neu. Die musikalische Rückführung (1. Phase) gewöhnt den Patienten an die ungewohnten hochfrequenten Töne. Schon in der zweiten Phase führen gefilterte Stücke von Mozart zurück in das vorgeburtliche Klangmillieu. Hier kommt auch gegebenenfalls die Stimme der Mutter zum Einsatz. Nun folgt die „zweite Geburt“, die akustische Entbindung, der Übergang von Flüssigkeit (Mutterleib) auf Luftübertragung (Welt) wird nachvollzogen. Der Mensch ist bereit, mit reinem Gehör neu in die Welt der Geräusche einzutreten (3. Phase). In der anschließenden vorsprachlichen Phase begegnet man gregorianischen Gesängen, Kinderliedern, aber auch der eigenen Stimme. Der fünfte und letzte Abschnitt ist der (Wieder-) Aufnahme der Kommunikation gewidmet. Mit lauten Sprachübungen schließt die Sprachentwicklung und damit die Hörkur ab.
Weiterführende Informationen bietet das Tomatis-Institut, Büschstraße 12, 20354 Hamburg, Tel: 040 / 547 48 106 . Hier nennt man Ihnen auch ein Institut in Ihrer Nähe.
Hörbereich
Hörbereich wird derjenige Frequenzbereich genannt, in dem die Frequenzen der elastischen Schwingungen von Materie(teilchen) liegen müssen, um vom menschlichen Ohr als Schall wahrgenommen werden zu können. Der Hörbereich des Menschen erstreckt sich von 16 Hz (untere Hörgrenze) bis zu 20000 Hz (obere Hörgrenze; für 60jährige 5000 Hz); er umfaßt also etwa 10 Oktaven.