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Elektronische Kultur

Computerspiele und Suchtgefahr

Hanfblatt Nr. 104

Shoot me!

Warum Computerspiele eine gute Sache sind – obwohl sie auch abhängig machen können

Computer und Konsole sind allgegenwärtig geworden, kein Haushalt ohne Spielmaschine. Die Wissenschaft streitet: Fördern Prozessorkraft und Joystick den jungen Geist oder führen sie schon früh zu süchtigem Verhalten? Ein Streifzug durch die Seele des homo ludens.

Letztlich kam der neunjährige Sohn eines Freundes zu diesem und sagte: „Papa, das bringt soviel Spaß, ich kann gar nicht mehr aufhören.“ Die Rede war von einem Computerspiel, dass er seit zwei Stunden mit seinem Joystick malträtiert hatte. Zwei Umstände sind an seiner Aussage aufschlussreich: Zum einen bemerkt er seine veränderte Geisteshaltung, zum anderen spricht er mit seinem Vater darüber. Wie, so wird die Frage seiner Zukunft lauten, nutze ich das Potential der Prozessoren ohne mich in ihnen zu verlieren? Die Parallelen zum Gefährdungspotential von Cannabis und anderen Drogen sind deutlich.

Auch dieser Sohn wird erwachsen werden und man muss davon ausgehen, dass Computer und die dazugehörigen Spiele ihn weiter durch sein Leben begleiten werden. Wird er dann bemerken, wenn ein Spiel ihn eventuell über Stunden, Tage und Wochen so sehr packt, dass er andere Interessen total vernachlässigt? Das nennt sich Kontrollverlust. Kommen nun noch Entzugserscheinungen und Toleranzsteigerung hinzu sind schon die klassischen Merkmale einer „Sucht“ vorhanden.

Ralf Thalemann arbeitet im Suchtforschungszentrum der Berliner Charité und hat eine Studie über exzessives Computerspielen durchgeführt. „Die Hirnreaktionen von exzessiven Computerspielern ähneln denen von Alkohol- und Drogensüchtigen“, sagt er. Allerdings schlägt nur ein kleiner Anteil der Spieler diesen Weg ein, glaubt man den Untersuchungen, sind maximal 10 Prozent der Jugendlichen, die gerne mal einen ausdaddeln, süchtig danach. Fazit: Daddeln kann abhängig machen, muss es aber nicht. Stellt sich die Frage, wer besonders gefährdet ist.

Auch hier decken sich die Ergebnisse mit den Erfahrungen aus dem Drogenbereich: Die Ursachen für eine Sucht sind genauso komplex wie der einzelne Mensch. Thalemann behauptet: „Menschen, die nicht gut mit Stress umgehen können, sind eher gefährdet exzessives Computerspielverhalten zu entwickeln. Menschen, die dazu tendieren ihre Probleme nicht lösungsorientiert anzugehen, die versuchen, sie zu verdrängen. Besonders bei Jungen hat das Computerspielen dann einen Stress reduzierenden Effekt – man vergisst seine Sorgen, es macht Spaß, man kann in Welten abtauchen, die einem gut gefallen.“

Liegt dazu noch das Verhältnis zu den Eltern völlig brach und sind auch die Freunde nicht in der Lage ein Korrektiv zu bilden, dann sieht es schlecht aus für den High-Score in zeitnaher Zukunft. Es gibt tatsächlich Typen (und es sind nunmal hautsächlich Männer), die fünf Mal die Woche bis spät in die Nacht zocken und sich wundern, dass sie am nächsten Tag nichts gebacken bekommen.

Über die Diskussion der möglichen negativen Folgen des Spielens am Rechner sind die positiven Seiten lange Zeit aus der Sicht geraten. Das ändert sich gerade, in Köln trafen sich vor kurzem Spieler und Spieltheoretiker, um auf der Konferenz „Clash of Realities“ zu erörtern wie Spiele Gesellschaft und Kultur prägen.

Erstes Ergebnis: Es bestehen riesige Unterschiede in der Sicht auf virtuelle Spiele. Eltern und viele andere Erwachsene sehen nur die Oberfläche des Spiels, beobachten entsetzt, wie jemand Autos zu Schrott fährt oder feindliche Soldaten erschießt. Gerade bei den schnellen Actionspielen tritt aber die Optik nach einiger Zeit in den Hintergrund, es geht dann nur noch um den Wettkampf und vor allem um »Flow«, das fast trancehafte Agieren und Reagieren in der durch die Technik vorgegebenen Umwelt. Die Spiele bedienen nicht nur pubertäre Allmachtsfantasien, sondern können schnelles Denken unter Druck, kollektives Vorgehen und Kreativität fördern. Wer einmal „Crazy Machines“ gespielt hat, kann das bestätigen.

Leider sind die Produktionskosten für ein Spiel mittlerweile so hoch, dass sich nur wenige Firmen Experimente abseits der klassischen Spielgenres leisten können. Das dies in Zukunft anders werden könnte, führt zum zweiten Punkt: Die Spielebranche versucht neuerdings auch Frauen und die ältere Generation an den Bildschirm zu locken. Diese haben weniger actionorientierte Vorlieben beim Spielen.

Drittens: Die Zeiten des reinen Geballers sind vorbei. Seit seinem Start im Jahr 2004 hat das Online- Rollenspiel „World of Warcraft“ weltweit 6,5 Millionen Spieler registriert. Zehntausende verhandeln, kaufen, tauschen und, ja, kämpfen hier täglich. Einer der Entwickler des Spiels, Frank Pearce, bemerkte in einem Interview: „Computerspiele sind wie jede andere Art von Medien und Unterhaltung – man muss sich in Mäßigung üben.“

In den konventionellen Computerspielen gibt es nur Täter oder Opfer. Neue Varianten haben von der Literatur gelernt, dass es auch den hilflosen oder duldenden Zuschauer gibt. Obwohl ein typischer First-Person-Shooter, zeigt beispielsweise „Half Half 2“, wohin die Reise geht. Lange Erzählstrukturen durchwirken das Spiels, reines Betrachten und Interaktivität wechseln sich ab. Aber: Nach einem Wochenende „Half Life 2“ reagieren sensibleren Menschen auf scharrende Geräusche im Treppenhaus schon mal nervös. Selbst wenn man dem Genre gewogen ist, fällt doch die Vorrangstellung der militärischen Ego-Shooter auf dem Markt auf. Da liegt der bedauerliche Schluss nahe, dass die männliche Natur enormen Spaß am Verstecken, Zielen, Ballern und Eleminieren zu haben scheint.

Kill Bill

Alle paar Jahre taucht die Diskussion wieder auf, ob diese „Killerspiele“ die Gewalt fördern. Dave Grossmann, ein amerikanischer Psychologe, ist überzeugt, dass Jugendliche durch Videospielen das Töten lernen. Als Beweis führt er immer wieder Michael Carneal an, einen 14-jährigen Jungen aus Kentucky. Dieser stahl eine Waffe und schoss auf Klassenkameraden. Fünfen davon in den Kopf, die anderen drei traf er in den oberen Körperbereich. Der Junge hatte nie zuvor eine Waffe in der Hand gehabt, aber er hatte Videospiele gespielt, in denen genau diese Art zu schießen geübt wird.

So einfach ist es aber nicht mit dem Ursache-Wirkung-Prinzip. Studien weisen darauf hin, dass sich aggressivere Kinder von vornherein häufiger die brutaleren Games aussuchen. Mittlerweile gilt als bewiesen, dass Spieler, die heftig Ballern, auch kurze Zeit nach dem Spiel noch aggressive Tendenzen haben. Die Effekte sind aber deutlich geringer als nach dem Anschauen von Kinofilmen mit Gewaltszenen. Das Feuilleton feiert Filme wie „Kill Bill“ und die Ästhetisierung von Gewalt, will aber unter PC-Spielern nur Dumpfbacken ausmachen. Spielen gilt halt, ob nun elektronisch oder nicht, als Domäne der Kinder, Erwachsene haben sich dem Ernst des Lebens zu widmen.

Ob Spiele mit viel Gewalt auch längerfristige Wirkungen zeigen, ist unklar. Es ist aber unsinnig anzunehmen, dass alleine Computerspiele aggressive Ausbrüche bedingen. Man muss immer sehen, was sonst noch im Leben der jeweiligen Personen passiert und welchen Medienzugang sie außerdem haben.

Die Lust der Menschen aufs Geballer hat auch die US-Armee erkannt. Sie gibt ein grafisch anspruchsvolles Spiel heraus: America’s Army. Im Spiel ist man Soldat – und kann man sich direkt von der echten Armee rekrutieren lassen. Über vier Millionen registrierte Spieler gibt es bereits, einige davon spielen über 40 Stunden in der Woche. Die Armee organisiert Hunderte von Turnieren im Jahr, nach den LAN-Schlachten zeigen Sergeants der Army den Spielern echte Waffen, den besten Spielern werden Jobs angeboten.

Aus gesellschaftlicher Perspektive ergibt sich ein seltsamen Phänomen: Nutzt ein Mensch die Rechenmaschine konstruktiv-kreativ, dann darf er durchaus Tage und Nächte vor der Kiste verbringen: Er ist dann ein „Computerfreak“, ein „Geek“ oder „Nerd“, aber kein „Süchtiger“. Dreht man an dieser Gedankenschraube weiter, dringt einem die ohnehin ausgeprägte Begeisterungsfähigkeit der Computer-Fans in den Geist. Die gesamte Programmierer- und vor allem Open Source-Szene, die Entwickler des frühen Internet und auch die Millionen Hobby-Hardcore-User kommen ohne einen gewissen Hang zum Enthusiasmus gar nicht aus. Für Männer ist der Rechner eben das perfekte Objekt: Jedem Reiz folgt eine Reaktion, die Maschine gehorcht und reagiert stets logisch. Das aus jeder Inbrunst auch Übereifer werden kann ist hinlänglich bekannt. Interessanter zu erforschen als das abgekaute Suchtpotential dürfte zukünftig sein, in wie weit die Maschine rein technisches Denken fördert. Aber bisher beschränkt man sich darauf, wie bei den Drogen auch, ein Phänomen, weil man es nicht versteht, primär als Gefahr zu deuten.

 

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Drogenpolitik Gesundheitssystem Interviews

Zur Neurobiologie der Alkoholabhängigkeit

Interview mit dem Suchtforscher Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie der Berliner Charité. Heinz gilt als einer der führenden Experten für Alkoholabhängigkeit in Deutschland.

An den Folgen ihres übermäßigen Alkoholkonsums sterben alleine in Deutschland jährlich rund 40.000 Menschen. Bei einem hohen Anteil der Alkohol-Konsumenten in der Bevölkerung steigt auch der Anteil derer, die mit der Droge Alkohol nicht umgehen können. Trotzdem der Alkoholismus seit Jahrhunderten bekannt ist, bleibt seine Therapie schwierig: Über die Hälfte der Abhängigen erleiden meist mehrere Rückfälle.

Seit einiger Zeit erlauben die bildgebenden Verfahren der Kernspintomographie Einblick in das Gehirn von Alkoholabhängigen, die Wissenschaft erhält Einsichten in die neuronalen Grundlagen der Sucht. Das wissenschaftliche Modell der Wirkung des Alkohols ist komplex: Alkohol stimuliert das sogenannte „Belohnungssystem“ im Gehirn, eine evolutionär alte Instanz, die dafür sorgt, dass Menschen wesentliche Erlebnisse nicht vergessen und auch wiederholt ausführen. Ein Schnaps führt zu einer erhöhten Ausschüttung des Botenstoffes Dopamin, einem der wichtigen Neurotransmitter. Die Folge: man entwickelt Verlangen nach mehr Alkohol. Ebenfalls freigesetzte körpereigene Opiate, die Endorphin, sind für die guten Gefühle beim Alkoholkonsum zuständig. Provoziert man die positiven Gefühle nun häufig und immer wieder, prägt sich das Hirn die Verknüpfung von gutem Gefühl und dafür eingesetzter Substanz ein.

Interessanterweise sind die Andockstellen für die Opiate, die Opiatrezeptoren, bei alkoholabhängigen Patienten im Belohnungssystem eher erhöht, so dass der Alkohol besonders stark wirken könnte. Umgekehrt sucht das Gehirn nach Ausgleich zu der ungewohnten Dopamin-Ausschüttung und reduziert seine Empfangseinheiten, genauer gesagt die Rezeptoren, wo die Dopamin-Reize eintreffen. Dies hat zur Folge, das die Wirkung des Alkohols nachlässt, immer größere Dosen werden benötigt, damit man sich berauscht fühlt.

Weitere Prozesse kommen zum Tragen: Die Moleküle des Alkohols setzen an den GABA(A)-Rezeptoren des Hirns an, genauer gesagt ist eine relativ kleine Tasche, die durch 45 Aminosäuren gebildet wird, mit dafür zuständig, dass Alkohol als sedierend empfunden wird. Der dauerhafte Genuss von Spirituosen aber auch „weicheren“ Alkoholen führt zu einer Verminderung dieser Rezeptoren. Viel und oft getrunkener Alkohol blockiert zudem die Signal-Übertragung am NMDA-Rezeptor, der den Transport eines weiteren Neuotransmitters, des Glutamats, regelt. Auch dies führt dazu, dass zunehmend mehr Alkohol konsumiert werden kann, ohne das eine starke Ruhigstellung des Konsumenten erfolgt. Die Folge: Er oder sie kann trinken, ohne sediert zu sein, eine Erhöhung der Dosis ist oft die Folge, der Schritt in den Kreislauf der Sucht ist getan.

Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie der Berliner Charité, gilt als einer der führenden Experten für Alkoholabhängigkeit in Deutschland. Im Gespräch erläutert Heinz die Wirkung verschiedener psychoaktiver Substanzen auf das Gehirn, warum die Alkoholabhängigkeit so schwer zu therapieren ist und ob Medikamente gegen die Sucht helfen können.

Frage: Lange Zeit unterschätzt bei der Ausbildung einer Alkoholabhängigkeit wurde die körperlich bedingte Fähigkeit viel zu trinken ohne am nächsten Morgen den berühmten „Kater“ zu haben. Welche neuronalen Grundlagen hat dieses Phänomen der Trinkfestigkeit? Wie viel Prozent der Deutschen sind davon betroffen?

Andreas Heinz: Es gibt keine scharfe Grenze, aber je „trinkfester“ eine Person ist, desto eher neigt sie dazu, zu viel Alkohol zu konsumieren. Dies gilt für Jugendliche wie für junge Erwachsene, und für Männer ebenso wie für Frauen. Eine neurobiologische Grundlage ist im jeweiligen Zustand des Botenstoffsystems zu suchen, das nach dem Transmitter Serotonin benannt ist. Besonders „trinkfest“ ist, wer genetisch bedingt oder auch nach einer ausgeprägten Stresserfahrung über relativ mehr Serotonin-Transporter verfügt, wer also Serotonin nach Freisetzung sehr schnell wieder in die Nervenzellen aufnehmen, sozusagen „recyceln“ kann. Dann ist nämlich die über die GABA(A)-Rezeptoren vermittelte sedierende Wirkung des Alkohols vermindert.

Frage: Existiert eine Qualitäts-Reihenfolge der Wirkmächtigkeit verschiedener Substanzen auf das Belohnungssystem? Wie aktiviert beispielsweise Alkohol dieses System im Vergleich zu Kokain?

Andreas Heinz: Alkohol erhöht die Dopaminausschüttung um etwa 50-100%, Kokain um circa 1000%, ist also viel stärker wirksam. Die Alkoholwirkung befindet sich im Bereich weiterer Drogen, wie Nikotin oder die Opiate. Auch neuartige Reize wie ein ungewohntes gutes Essen steigern die Dopaminausschüttung, diese nimmt aber beim erneuten Essen schnell ab: man „gewöhnt sich“ beziehungsweise habituiert. Das ist bei Alkoholkonsums wie beim Konsum aller anderen Drogen nicht der Fall. Sie wirken also ungewöhnlich lange beziehungsweise immer wieder neu, man spricht deshalb auch davon, dass sie das Belohnungssystem „kidnappen“.

Frage: Trotz ausgedehnter Erforschung der Alkoholsucht ist eine Therapie derselben äußerst schwer, die Rückfallquoten sind hoch. Woran liegt das aus neurobiologischer Sicht? Und kann man den Anteil bestimmen, den diese körpereigenen Prozesse gegenüber sozialen Faktoren haben?

Andreas Heinz: Die Folgen jahrelangen Alkoholkonsums auf das Nervensystem lassen sich nicht einfach in wenigen Therapietagen revidieren oder durch neue Lernerfahrungen überlagern. Hier hilft nur eine mehrdimensionale Therapie, die eine Beratung, Psycho- und Soziotherapie, Fragen der Lebensgestaltung, Selbsthilfegruppen und eine zusätzliche medikamentöse Rückfallprophylaxe beinhaltet. Soziale Faktoren wirken sich ja auf das Organ Gehirn aus, so dass die Trennung zwischen körperlichen und seelischen Prozessen künstlich ist. Die messbare Reaktion des Gehirns auf Alkoholreize erklärt beispielsweise etwa die Hälfte des Rückfallrisikos in den folgenden Wochen, die Reaktion selbst wird aber natürlich durch Lernvorgänge, Stressfaktoren, Folgen chronischen Alkoholkonsums und einiges mehr beeinflusst.

Frage: Die Übererregung des zentralen Nervensystems im Alkohol-Entzug, die sich durch die sogenannte Entzugserscheinung manifestiert, kann durch Medikamente wie Benzodiazepine abgeschwächt werden, gelernte Entzugserscheinungen wahrscheinlich durch Acamprosat. Gibt es weitergehende Ansätze die Hirnchemie so zu verändern, dass nicht nur Entzugserscheinungen, sondern auch andere neuronale, suchterhaltende Prozesse verändert werden? Was sind die Probleme bei der Entwicklung von Medikamenten dieser Art?

Andreas Heinz: Acamprosat beeinflusst einen Rezeptor für den erregenden Botenstoff Glutamat und wirkt wahrscheinlich am stärksten auf gelernte Entzugserscheinungen: das Gehirn erwartet Alkohol, reguliert dagegen und wenn kein Alkoholkonsum erfolgt, kommt es zu konditionierten Entzugserscheinungen, die den Patienten in den Rückfall treiben können. Naltrexon blockiert Opiatrezeptoren und kann so die angenehmen Wirkungen des Alkoholkonsums abschwächen. Die Probleme sind keine anderen als bei der Entwicklung weiterer Pharmaka im neuropsychiatrischen Bereich: die Substanzen werden meist im Tiermodell gescreent und es wird geprüft, ob sie den Alkoholkonsum von Laborratten oder Mäusen senken, dann in Bezug auf ihre Sicherheit und schließlich auf klinische Wirksamkeit und Nebenwirkungen getestet. Je besser die Sozio- und Psychotherapie ist, desto geringer kann allerdings unter Umständen der Effekt der Medikamente ausfallen, so dass sie gegebenenfalls gegenüber Placebo keine signifikante Wirkung mehr zeigen.

Frage: In welchem Bereich sehen Sie die größten Chancen für die Entwicklung von Medikamenten gegen die Sucht?

Andreas Heinz: Am ehesten ist aus dem Bereich der Antiepileptika mit Neuentwicklungen zu rechnen, hier gibt es bereits erste erfolgreiche Studien mit einzelnen Substanzen wie Topiramat. Es ist möglich, dass auch das Verständnis der molekularen Reaktionsketten, die durch Alkohol und andere Drogen in der Zelle selbst aktiviert werden, zur Entwicklung von neuen Medikamenten führt. Interessant wäre auch die Entwicklung von Medikamenten, die vor den neurotoxischen Wirkungen der Drogen schützen, als neuroprotektiv sind.

Frage: Wird diese Art der Impfung gegen Drogenwirkungen, wie sie beispielsweise das Scripps Research Institute in La Jolla entwickelt, auch in Deutschland erforscht? Wie funktioniert diese Impfung im Gehirn?

Andreas Heinz: Die Grundidee ist, dass sich Antikörper gegen die Droge bilden und diese bereits im Blut ausgeschaltet wird, so dass sie das Gehirn gar nicht erst erreicht. Ob das im Einzelfall klappt und welche Nebenwirkungen das Verfahren hat, muss man sehen. Eine ähnliche Testreihe wie in La Jolla ist mir für Deutschland nicht bekannt. Aber es gibt Untersuchungen zur Wirkung von Depot-Naltrexon, das die Opiatwirkung blockiert, allerdings direkt am Rezeptor, nicht als Impfung. Das kann helfen, aber nur, wenn der Betroffene unbedingt abstinent bleiben will und eine Sicherheit braucht, dass im Fall des Rückfalls die Droge nicht wirkt. Bei Opiatabhängigkeit hilft aber öfter die Substitution, also der Ersatz der Drogen durch gleichartig wirkende Medikamente, die den Vorteil bieten, dass sie legal verschrieben werden und die Folgen der Illegalisierung für den Abhängigen aufheben.

Frage: Könnte ein ausgebildeter Mensch aus neurobiologischer Sicht mit jeder Substanz vernünftig umgehen oder sollten gewisse Drogen grundsätzlich aus dem Verkehr gehalten werden?

Andreas Heinz: Es gibt unterschiedliche Wirkstärken, beispielsweise setzt eben Kokain etwa 10 Mal so viel Dopamin frei wie Alkohol. Hinzu kommt die Frage, ob eine Gesellschaft eine lange Tradition mit Ritualen ausgebildet hat, die bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung helfen, den Substanzkonsum in Grenzen zu halten. Bei der zunehmenden Vereinsamung und Zersplitterung der Lebenszusammenhänge nehmen diese Rituale aber auch im Umgang mit den lange etablierten Drogen ab. So sank das Einstiegsalter für Rauchen auf 12-13 Jahre. Letztendlich kommt es immer darauf an, was eine Gesellschaft an risikoreichem Drogenkonsum zulassen will.

Frage: Wobei die Illegalität die Probleme eher verschärft?

Andreas Heinz: So einfach ist das nicht. Legale Beschränkungen der Zugänglichkeit von Drogen begrenzen immer den Konsum und damit auch die drogen-assoziierten Probleme – das gilt sogar für die Alkoholprohibition. Die wurde nicht etwa aufgehoben, weil sie nicht wirkte – der Alkoholkonsum sank sogar recht deutlich – sondern weil die Große Wirtschaftsdepression kam, und die Alkoholsteuer als gute Alternative zu einer Einkommenssteuer gesehen wurde, die eher die oberen Schichten betroffen hätte. Aber natürlich hat sich damals das organisierte Verbrechen der illegalen Droge Alkohol angenommen, und das gilt heute ebenso für alle illegalen Drogen.

Frage: Daneben postuliert die „akzeptierende Drogenarbeit“ allerdings, dass ein großer Teil der Probleme von Abhängigen aus der Illegalität ihres Konsums entsteht.

Andreas Heinz: Abhängige, die illegale Drogen konsumieren, leiden an beidem: An den Folgen sowohl ihrer Abhängigkeitserkrankung wie der Strafverfolgung, insbesondere, wenn sie Beschaffungsdelikte verüben, um die Drogen bezahlen zu können und um die für sie unerträglichen Entzugssymptome zu vermeiden. Viele Migranten können in dieser Situation abgeschoben werden und kommen aus Angst davor gar nicht erst in Therapie – der Grundsatz „Therapie vor Strafe“ ist hier oft nicht verwirklicht. Es gibt circa 2000 Menschen, die pro Jahr an den Folgen illegaler Drogen sterben, ungefähr 40. 000 sterben am Alkoholkonsum und rund 100.000 an den Folgen des Rauchens. Die meisten leiden also an den Folgen des Konsums von Drogen, die in dieser Gesellschaft legal und frei verkäuflich sind.

Frage: Zugleich offenbart das Problem der Drogen aber auch eine Stärke des Menschen.

Andreas Heinz: Rasch zu lernen und sich dabei von Vorfreude und Belohnung leiten zu lassen, das können zwar grundsätzlich auch alle Tiere, die Lernvorgänge und die zu erlernenden Situationen sind beim Menschen aber ungleich vielfältiger, und die resultierende Verhaltensflexibilität hat uns ja viele Handlungsmöglichkeiten beschert. Abhängigkeitserkrankungen sind ein Preis der Freiheit, und auch deshalb gebührt den abhängig kranken Menschen unser Respekt und sie haben dasselbe Recht auf Behandlung und Hilfe wie alle anderen Kranken.

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Drogenklassifikationsversuche

Hanfblatt Nr 107, Mai 2007

Die Einteilung des Unverstandenen

Sinn und Unsinn der Klassifikation von Drogen

Ein Bericht eines britischen Wissenschaftlerteams sorgt für Aufsehen. Die Forscher ordnen die Gefährlichkeit von Drogen neu ein und fordern eine gänzlich reformierte Einteilung der Drogenklassen. Hilft das weiter?

Es ist bei vielen Drogen unklar, weshalb sie als besonders gefährlich gelten. Manche sind eher durch Zufall in die Kontrolllisten geraten, wie beispielsweise Cannabis, manche sind legal, obwohl sie schädlich sein können, wie beispielsweise Alkohol. Im Rahmen ihrer Studie fragten David Nutt von der Universität Bristol und seine Kollegen rund 80 britische Suchtexperten nach ihrer Einschätzung des Gefahrenpotentials von legalen und illegalen Drogen und Medikamenten, die sie selbst auswählen konnten. Im angesehenen medizinischen Fachblatt Lancet (2007, Nr. 369, S.1047-1053) publizierten sie eine Rangliste, die sie als Grundlage neuer Betäubungsmittelgesetze sehen wollen.

Dazu benannten sie drei Kriterien, welche das Gefährdungspotenzial durch Drogen umschreiben. Dies sind: körperliche Schädlichkeit, die Verursachung einer Abhängigkeit und drittens die soziale Wirkunge, die der Drogenkonsum auf Familie, Bekanntenkreis und Gesellschaft hat.

Herausgekommen ist ein Verzeichnis (s. Abbildung), das in deutlichen Gegensatz zu den weltweiten Anti-Drogen Gesetzen steht. Noch gewohnt sind die Spitzenplätze von Heroin und Kokain. Dann aber folgen schon die Barbiturate, auf Rang 5 steht bereits Alkohol, es folgen Ketamin und Benzodiazapine, fast gleich auf mit den im allgemeinen als gefährlicher eingestuften Amphetaminen. Cannabis steht auf Platz 11. Die Liste soll der britischen Regierung vorgelegt werden und sorgt schon jetzt für Gesprächsstoff. Die Autoren hoffen auf eine Neueinordnung der auf der Insel bekannten Drogenklassen.

In Großbritannien werden psychoaktive Substanzen in drei Klassen eingeteilt, die den Grad ihrer Gefährlichkeit entsprechen sollen. In der Klasse A stehen Drogen wie Heroin, sie gelten als die gefährlichsten Substanzen, in der Klasse C stehen Drogen wie Cannabis und Benzodiazepine (Beruhigungsmittel), sie gelten als die ungefährlichsten Drogen. Dazwischen tummeln sich Substanzen wie Speed, das in Großbritannien eine Klasse B Droge ist. Auch das deutsche Betäubungsmittelgesetz kennt die dreiteilige Einordnung, hier ist von „nicht verkehrsfähigen“, „verkehrsfähigen, aber nicht verschreibbaren“ und „verkehrsfähigen und verschreibungsfähigen“ Betäubungsmitteln die Rede. Die USA arbeiten mit der Klassifikation von Schedule I bis Schedule V.

Die Einteilung in „harte“ und „weiche“ Drogen hat nicht weit geführt. Sie ist heute unter Experten und Usern umstritten, denn weder ist Alkohol eine „weiche“, noch LSD zwangsläufig eine „harte Droge“.

Welchen Sinn könnte nun eine neue Klassifikation ergeben, wie sie Nutt und seine Kollegen vorschlagen?
Zwei Extreme bestimmen die Diskussion um die Schädlichkeit von Drogen. Da ist zum einen die Ansicht, es existiere gar nicht so etwas wie eine schädliche Drogen an sich, es seien Konsummuster und Dosierung, die aus einem Medikament eine Droge machen. Eine Einteilung von psychoaktiven Substanzen nach Gefahrenklassen ist aus dieser Sicht unsinnig, weil es immer das (sozial eingebettete) Individuum ist, dass die Wirkung einer Droge bestimmt. Als Beispiel wird der Wein angeführt, der eine muntere Abendbegleitung mit sogar gesundheitlich fördernder Wirkung sein kann – oder aber eben das Gift ewiger Trunkenheit.

Wahrscheinlich spricht tatsächlich wenig dagegen, sich einmal im Jahr in einer Kurklinik in den Schweizer Alpen reines Heroin spritzen zu lassen. Aber: Praktisch dürfte eine solche Politik nur zu verantworten sein, wenn eine Jahrzehnte vorher angelaufene Aufklärung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen die Signalwirkung in vernünftige Bahnen lenkt. Bislang verwurstet das Zusammenspiel menschlicher Triebe und sozialer Konsumkultur noch jeden Wunsch in eine Gier. Es kann vermutet werden, dass erst diese Prozesse geändert werden müssen, aber das würde eine völlig umgekrempelte Gesellschaft erfordern.
Am anderen Ende der Extreme steht die Ansicht, dass die medizinische Erforschung der Wirkung und Auswirkung von Drogen immer weiter Fortschritte macht. Die Neurowissenschaften zeigen, dass Substanzen unterschiedliche Wirkstärken im menschlichen Körper haben, die durchaus übergreifende Geltung beanspruchen können (s. das Interview mit Andreas Heinz auf dieser Webseite). Zugleich zeigen sie aber auch die Mächtigkeit der sozialen Einflüsse auf physiologischer Ebene.

Es ist die „objektive Wissenschaft“, die aus Zahlen Fakten schafft und die individuelle und intersubjektive Perspektive dabei vernachlässigt. So hat sich die Wissenschaft immer weiter vom Menschen entfernt, die Folgen sind Hinwendung zu Alternativ-Medizin oder gar Esoterik. Man beginnt erst langsam wieder einzusehen, dass schon bei der einfachen Aspirinvergabe eine Passung von Substanz und Patient vorhanden sein muss.

Es war und ist diese reduktionistische Wissenschaft, die in jedem Drogenkonsumenten primär einen armen Wicht und potentiellen Süchtigen sieht. Es war zunächst nur die Gegenkultur der 60er Jahre und später das Aufkommen der massenhaften Verbreitung von „Tripberichten“ im Internet, die dieser starren Pathologisierung Einhalt geboten haben.

Eine neue und „realistischere“ Klassifizierung von Drogen, wie sie Nutt und andere nun vorschlagen, ist nur dann ein Schritt in die richtige Richtung, wenn auch diese Liste wieder nur als die halbe Wahrheit angesehen wird, weil auch sie mit den Konstitutionen verschiedener Menschen schwer abzugleichen ist. Sicher, der Mensch braucht Kategorie um die Dinge für sich einzuordnen. Aber er braucht auch den Freiraum die Gültigkeit dieser Kategorien für sich und seine geistigen Verwandten zu erforschen. Anders herum: Es gibt Menschen, für die dürfte selbst der Konsum des von Nutts Experten als relativ ungefährlich eingestufte Khat schnell zum Problem werden.

Der Kenntnisstand über eine Droge ist zudem immer zeitabhängig. Die heute aktuellen Therorien und „Beweise“ über cannabisinduzierte Schizophrenien könnten schon morgen über Bord geworfen werden, weil irgendwelche bis dahin unberücksichtigten Variablen auftauchen. Es besteht nur eine vage Hoffnung, das mit Hilfe von Verfahren wie Cochrane und Meta-Studien wirklich die industrie- und interessengeleitete Spreu vom Weizen der reinen Erkenntnis getrennt wird. Ob die sagenumwobene „evidenzbasierte Medizin“ zur Klärung strittiger Fragen beiträgt, das ist zu hoffen.

Noch einmal anders gesehen gebiert auch eine „Neuklassifikation der Schädlichkeit“ nur eine weiteres Schreckgespenst, das sich von Angst und Unwissenheit nährt. Zukünftig kann es nicht nur darum gehen, einen risikoarmen Umgang zu fördern, sondern den Augenmerk auf die vielen positiven Eigenschaften zu lenken, die den vielen pflanzlichen und chemischen Wirkstoffen inne wohnt. Von den verborgenen Potentialen der Wiedererkennung des unauflösbaren Zusammenhang zwischen Mensch und Natur mal ganz abgesehen.

Man braucht gar nicht so weit reiten, um zu ahnen, dass der Vorschlag von Nutt & Co. in politischen Kreisen ohnehin auf taube Ohren stoßen wird. Nicht zuletzt ist das britische Betäubungsmittelgesetz, der „Misuse of Drugs Act“, ein Versuch den Anforderungen des UN-Abkommens von 1961 (Single Convention on Narcotic Drugs) stromlinienförmig gerecht zu werden. Ein Ausscheren aus den Reihen der internationalen Gemeinschaft wird Großbritannien nicht wagen; ein Argument, das auch in Deutschland immer wieder angeführt wird, wenn es um die mögliche und nötige Reform der Drogengesetze geht. Der Weg zu einer realistischen Drogenpolitik führt über kurz oder lang über UN, deren drogenpolitischen Ansichten sind allerdings so verschroben und von diversen Kräften getrieben, dass eine Besserung zur Zeit nicht in Sicht ist.

 

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Dope auf dem Schulhof

HanfBlatt, Nr. 77, 2003

Dope auf dem Schulhof

Wie beliebt ist Cannabis unter Schülern? Und welche Folgen hat der Genuss?

Das Blech und die Scheiben von Philips roten Golf erzitterten unter den Klängen von Prince. Es war 1984 in irgendeiner Schule in einer Großstadt. In der großen Pause, ich glaube sie ging von halb bis um 11 Uhr, hatten wir es uns seit einem viertel Jahr zur Angewohnheit gemacht in der rostigen Karre zu verschwinden und eine Riesentüte zu rauchen. „Let´s go crazy“ dröhnte dann so laut aus den Magnat-Boxen, dass Passanten stehen blieben. Unsere Mitschüler, welche die Pause nutzen um aus dem nahe liegenden Penny-Markt Bier zu holen, die grienten nur wissend. Es war die Zeit in der uns endgültig klar wurde, dass Schule keinen Sinn macht, obwohl die Abiturprüfungen nahten. Cannabis stand dabei nie in dem Verdacht das Bewusstsein zu erweitern, wozu auch, wir wussten es ja eh schon besser. Die fetten Joints, die wir uns Tag für Tag reinzogen dienten keinem Ziel, sondern nur dem puren Amüsement. Wir wollten schnell und schmutzig leben, Mutti würde schon weiter zahlen.

Zeitsprung ins Jahr 2002: Eine Gesamtschule in Hamburg. Auf dem Schulhof tummeln sich die Racker, die älteren Schüler ziehen sich mit behördlicher Genehmigung eine seltsame Droge mit Namen „Tabak“ in der eigens dafür geschaffenen „Raucherecke“ rein. „Kiffer suchst Du?“, wiederholt einer der langen Kerls spöttisch und schaut mich von oben bis unten an. „Dann schau mal hinter das Gebäude dahinten. Vielleicht hast du Glück.“ Ich folge seinem Finger. Als mich die kleine Gruppe von Jungmännern sieht, nesteln sie in ihren Taschen rum. „Vom HanfBlatt, coool.“ Ja, sagen sie, „klar kiffen wir in den Pausen“. Jeden Tag? „Ooch ja, eigentlich ja.“ Nein, auf die Leistungen würden sich das nicht auswirken. „Der Unterricht ist sowieso völlig beschissen. Ob ich da breit bin oder nicht, dass macht keinen Unterschied.“ Die Hände in den Taschen, die Hosen in den Kniekehlen stehen sie da. Neuntklässler, die jedwedes Unrechtsbewusstsein beim Cannabisgenuss in die Tonne getreten haben. Für sie ist Kiffen Entspannungskultur, breit sein, high sein.

Das war 1984 nicht viel anders: Die Generation der Anti-Atomkraft-Bewegung mit ihren olivgrünen Parkern und ihren moralinsauren Eiertänzen hatte vor zwei Jahren die Schule verlassen, nun waren wir an der Macht. Wir, dass waren wilde Söhne und Töcher aus Beamtenhaushalten, welche die reduzierte Sprache von Albert Camus genossen und Jean Paul Satre lasen und ihn nicht verstanden. Es entwickelte sich eine Mischung aus krudem Existenzialismus und dem unbedingen Willen, dass Leben in vollen Zügen zu genießen. Techno war noch nicht erfunden, Acid-House war State of the Art und damit dämmerte langsam das Zeitalter des Hedonismus heran. Ohne es zu wissen waren wir die Vorläufer der heutigen Spaßgesellschaft. Wenn wir bekifft aus dem Auto zurück in den Unterricht flatterten, dann war Spaß garantiert – oder stumpfes rumdröhnen. Einmal kippte Philipp vom Stuhl vor Lachen, unser Biologielehrer (Typ: „Ich bin euer Kumpel“) schickte ihn entnervt zur Schulleiterin. Aber die Lehrer waren meist zu blauäugig, um unsere Zustände einzuordnen – oder sie wollten sie nicht sehen, weil wir seit der 11. Klasse den Unterricht eh nur noch für unser Privatscherzchen nutzten, mithin störende Elemente waren.

Tja, und nun die Preisfrage: Was hat das Cannabis mit uns getan? Um es mal mit den Maßstäben der Leistungsgesellschaft zu messen: Der eine Kiffer von damals kauft heute Fussballrechte in ganze Europa ein, der andere hat eine kleine Firma für Marktforschung gegründet, der dritte verdummt die Leute (er ist Angestellter in einer Werbeagentur), der vierte tut das ebenfalls, er schreibt diesen Artikel. Aber es gibt auch andere Wege: Einer aus unserem Kreise fand das Kiffen so großartig, dass er jeden Abend bedröhnt vor der Glotze hing, wir verloren ihn aus den Augen, Jahre später traf ich ihn wieder, er war ziemlich runtergekommen. Kaum jemand kommt auf die Idee, berufliche und private Erfolge am Graskonsum festzumachen, umgekehrt fällt das seit jeher einfacher. Und kaum jemand kommt auf die Idee die Fragestellung einmal umzukehren und eine Untersuchung darüber anzuschieben, welche Vorteile Jugendliche aus dem ja meist gemeinsam praktizierten Rauchritualen ziehen. Die Kiffen ein Problem sein muss, dies ist unausgesprochene Gedanken- und Finanzierungsgrundlage vieler Sucht- und Präventionsbüros.

Um es nicht falsch zu verstehen: Unser Konsum von Haschisch während der Schulzeiten hat die Leistungen in der Schule wahrlich nicht gefördert, im Gegenteil. Ab dem Moment der cannabioniden Intoxination waren wir bei körperlicher Anwesenheit freiwillig vom Unterricht ausgeschlossen. Letzlich waren wir das vorher zwar auch schon, aber nun gab es absolut keine Möglichkeiten für Lehrer und Lehrninhalte durch unseren Nebel aus Selbstgefälligkeit und Frohsinn durchzudringen. Nur hatten wir halt das Glück zu begreifen, dass man die Regeln des Systems irgendwann doch wieder befolgen muss, zumindest soweit, dass man nicht rausgeworfen wird. Die Eskapaden führten nie dazu den ideellen Reigen aus Eltern und sozialem Umfeld ganz zugunsten der hanfinduzierten Glückseeligkeit zu verlassen. Zudem hatten wir Glück, denn ein Lehrer stand dem Hanf nicht abgeneigt gegenüber. Wir teilten ein paar Züge lang unsere Erfahrungen. Der Mann hatte unser Vertrauen und war einer der wenigen Großgewachsenen, den man sich bei Problemen innerhalb und außerhalb der Schule offenbaren wollte.

Und was treibt der Hanfrauch heute aus dem Bewusstsein der SchülerInnen? Die sonore Stimme eines Hamburger Schulpsychologen dringt durch den Telefonhörer: „Ein großer Teil der Jugendlichen kann mit dem Cannabiskonsum umgehen, aber es gibt welche, die das nicht können. Wer zum Frühstück seine ersten Köpfe raucht, der hat schnell ein Problem.“ Der Mann kämpft mit mehreren Aufgaben: Ein Problem sei, dass keine aktuellen Zahlen vorliegen, ob sich der Konsum unter den Menschen unter 18 Jahren tatsächlich erhöht hat. „Wir erhalten schon immer öfter Meldung von Schulen und Eltern, dass die Cannabis konsumierenden Schüler jünger geworden sind.“

Ob Eltern, Lehrer oder Schüler: Die Erfahrungen mit akut gedopten Mitschülern sind schlecht, darum ist man sich einig, dass der Genuss von Hanfkraut in der Schule nichts zu suchen hat.

Wo früher erst die 17-jährigen rauchen, kiffen heute zum Teil schon die 15-jährigen. Dieser subjektive Eindruck wird durch die letzten Erhebungen in Hamburg bestätigt. 1990 hatten insgesamt 27,9 Prozent und 1997 26,5 Prozent der 15 bis 39-jährigen jemals in ihrem Leben Cannabis probiert. Diese sogenannten „Lebenszeitprävalenz“ hat sich über die Jahre also kaum geändert. Aber: Deutliche Veränderungen zeigen sich bei der Gruppe der jungen Konsumenten. 1990 gaben nur 8,4 Prozent der 15-17-jährigen an, im letzten Jahr Hanf geraucht zu haben, 1997 waren das schon 17,9 Prozent. Und so wie es aussieht hat sich dieser Trend eher noch verstärkt.

Kenner beobachten die Verjüngung der Szene schon seit längerem. Ein Head-Shop Besitzer erzählt: „Erst gestern kam hier ein maximal 15-jähriger rein, der einen Bong für die Tasche haben wollte. Der Typ war komplett sediert und fragt auch noch nach einem Gerät, dass er mit in die Schule nehmen kann. Damit ist er jetzt wahrscheinlich der Held in der Klasse.“ Insgesamt sei zu beobachten, dass die Käufer von Paraphenalia über die Jahre jünger geworden sind.

Die spannende Frage ist nun, welche Auswirkungen der Genuss von Cannabis hat. Darüber gehen die Meinungen auseinander, die empirischen Erhebungen im Bundesgebiet unterstützen die These vom kranken Kiffer allerdings nicht. Ein paar Zahlen: Im Jahr 2000 lag der Anteil der aktuellen THC-Liebhaber in Deutschland zwischen fünf und sechs Prozent. Hochgerechnet auf die Wohnbevölkerung sind das in Ostdeutschland 26.000 Personen und in Westdeutschland 214.000 Personen, die regelmäßig Cannabis konsumierten. Glaubt man den Erhebungen weiter haben nur wenige Kiffer Probleme mit ihrem Inhalationssport.

Die größte Studie zu dem Thema von Kleiber und Kovar kommt in feinstem Wissenschaftsdeutsch zu dem Schluss: „Was die Auswirkungen von Cannabis auf die psychische Gesundheit anbelangt, muss aufgrund der vorliegenden Ergebnisse die Annahme, dass der Konsum von Cannabis eine Verschlechterung der psychischen Gesundheit nach sich zieht, zurückgewiesen werden.“ Fest steht auf der anderen Seite, dass diejenigen Menschen, die heute Dauerkiffer sind ihre ersten Erfahrungen relativ früh gemacht haben. Mit anderen Worten: Je früher man anfängt zu knastern, desto größer ist später die Chance dauerstoned durch die Gegend zu eiern.

Wie geht man nun mit dem jugendlichen Fans von Cannabis, Alkohol, anderen Genussmitteln und sogenannten Drogen um? Im Kern stoßen dabei zwei Auffassungen aufeinander. Die eine: Weil alle Rauschmittel das Potential zur Verstärkung und Wiederholung in sich tragen, muss das Ziel die Erziehung zur Abstinenz sein. Die Gefahr, die von der Integration des Drogenkonsums in die Gesellschaft ausgeht, zeigt sich deutlich am Alkohol. Die andere: Eine drogenfreie Gesellschaft ist nicht nur unmöglich, sondern durch ihre prohibitiven Zwangsmaßnahmen zugleich ein teilweise totalitärer Staat. Ziel muss daher die Erziehung zur selbstverantwortlichen Haltung und Handlung sein. Aus der Diskussion ausgespart bleibt meist die betroffene Gruppe, nämlich die, die ab und zu Cannabis zur Entspannung und zur Rekreation nutzt und eigentlich nur ein Problem hat: Dass die Produkte der Pflanze auf dem Markt erscheinen ohne auf Qualität geprüft worden zu sein.

Die Garde der Therapeuten, Suchtberater und Schulpsychologen steht vor dringenderen Problemen. Ihrer Meinung nach setzt das Betäubungsmittelgesetz der Beratungs- und Aufklärungstätigkeit enge Grenzen, zum anderen ist die Unkenntnis über Wirkungen und Auswirkungen von Gras und Hasch unter Lehrern, Eltern und Schülern riesengroß. In den Worten des Psychologen am Telefon: „Die Schule kann bei der momentanen Gesetzeslage keine Anleitung zum regelgeleiteten Konsum geben, und das kann auch nicht Auftrag der Schule sein.“ In der persönlichen Beratung von Schülern allerdings würde nicht nur auf Abstinenz abgestellt, „das wäre völlig unrealistisch“. Auf Veranstaltungen zum Thema Drogenkonsum würde immer wieder die Unsicherheit deutlich werden, die allenthalben unter Eltern, Lehrern und Schülern herrsche. „Zumeist wird der Cannabiskonsum total dramatisiert, andere spielen ihn vollständig runter.“ So oder so sei das Thema enorm emotional besetzt. Fazit des Psychologen: „Versachlichung und Aufklärung tuen Not.“

Bei der Veranstaltung „Jugend im Parlament“ berichteten Hamburger Schüler den Abgeordneten der Hamburger Bürgerschaft im Jahr 2000 von ihren Erfahrungen mit kiffenden Mitschülern. Die Überraschung: Die meisten Jugendlichen teilten mit, sie hätten bisher bei keinem ihrer Mitschüler Verhaltensauffälligkeiten oder Beeinträchtigungen der Leistung durch die Einatmung von geschwängerten Rauch festgestellt.

Im Regelfall würde Cannabis ohnehin in der Freizeit konsumiert, weiß Gert Herweg, der in Frankfurt als Fachberater tätig ist. In der Metropole haben seiner Einschätzung nach bis zu 20 Prozent der Schüler über 14 Jahren Erfahrungen mit Cannabis. Die meisten davon würden den Hanf aber nur probieren, wenige würden zu Gewohnheitsrauchern. Im gesamten Bundesgebiet ist zu beobachten, dass vor allem Schulen in sozial schwachen Wohngebieten von Problemen mit dauerkiffenden Jugendlichen berichten.

Misst man nicht mit ökonomischen Maßstäben, stellt sich die Frage nach den Vor- und Nachteilen des Drogenkonsums noch einmal anders. Was kaum einer der Therapeuten und „Drogenexperten“ auszusprechen wagt, ist doch, dass Cannabis und andere Rauschmittel bei vernünftiger Anwendung eben durchaus zur Weiterentwicklung der Persönlichkeit beitragen können und nicht nur wie ein unablässig wachsendes Geschwür dieselbe zerfressen. Sicher, die Gefahren eines allzu frühen Konsums liegen auf der Hand: Sie bestehen in einer, bildlich gesprochen, Aufweichung einer Plattform, die man sich ja gerade erst -unabhängig von den Eltern- schaffen will. Gleichwohl gilt: Fatal ist doch die zeitweise Ausrichtung des jungen, sich entwickelnden Wertesystems an einer Droge nur dann, wenn der Mensch sich dadurch entweder unglücklich macht oder seine Verantwortung für das natürliche und soziale Umfeld auf längere Zeit negiert. Diese Gefahren bestehen, sind aber nach überwiegender Meinung eher vom Elternhaus und dem Freundeskreis abhängig als von Pflanzenextrakten.

Neugierde und Entdeckerdrang, Abgrenzung zu Autoritäten und das Erleben von Freiheit sind notwendige Bedingungen des Erwachsenwerdens. Sicher tut man der gedeihenden menschlichen Natur nicht zu sehr Gewalt an, wenn man einige Genussmittel per Gesetz kategorisch aus ihrem Erlebnishorizont streicht. Auf der anderen Seite lauern die Gefahren der blinden Konsumwut überall und in der propagierten „offenen Gesellschaft“ sollte es eben auch darum gehen, den Umgang mit diesen zu lernen. Aber wer lehrt diesen, angesichts überforderter Eltern, nicht legitimierter Schulen, die zudem ihren Ruf im Viertel nicht verlieren wollen und einem Freundeskreis, der zur Verharmlosung neigt?

Jörg Auf dem Hövel