Kategorien
Gesundheitssystem

Arzneimittel – der kontinuierliche Skandal, Teil 2

telepolis, 29.12.2012

(Teil 1) (Teil 3)

Die Zulassungsbehörden und medizinischen Fachmagazine werden ihrer Aufgabe kaum noch gerecht

Jörg Auf dem Hövel

Jedes in Europa verschriebene Medikament ist von einer nationalen oder der europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) genehmigt worden. Die Behörden entscheiden auf Grundlage von Studiendaten darüber, ob das Medikament wirksam und sicher ist, später beobachten die Mitarbeiter, ob die Substanz im paneuropäischen Großeinsatz bei manchen Bürgern doch zu Problemen führt und entfernen solche Medikamente wieder vom Markt. Das Zulassungssystem wird ergänzt durch die Arbeit der wissenschaftlichen Fachmagazine, in denen die Studiendaten vorgestellt und diskutiert werden. Das klingt reibungsloser, als es in der Praxis ist.

Denn (1) zum einen werden die Zulassungsentscheidungen auf Grundlage schlechter Datenlage gefällt – nur rund die Hälfte aller Studien landen auf den Schreibtischen der Behörden.

Zum anderen (2) ist deren Aufklärungswillen gegenüber den Ärzten und der Öffentlichkeit kaum ausgeprägt – der Aufbau einer öffentlich zugänglichen Datenbank wurde lange verschleppt.

Die (3) Fachmagazine wiederum stehen unter wirtschaftlichem Druck und sehen sich den variantenreichen Marketingbemühungen der Arzneimittelproduzenten ausgesetzt.

(1) Unklare und selektiv veröffentlichte Daten

Experten weisen seit mindestens einem Jahrzehnt darauf hin, dass viele klinische Studien nicht veröffentlicht werden, wenn die Ergebnisse dem Auftraggeber nicht passen. 2010 veröffentlichte eine Forschergruppe eine umfangreiche Übersichtsarbeit zu dem Problem und stellte fest, dass rund die Hälfte aller klinischen Studien, die begonnen und fertig gestellt wurden, nie in einem Fachmagazin oder an einem anderen Ort publiziert worden waren.

Zugleich zeigen andere Übersichtsarbeiten die Dominanz von positiven Ergebnissen in den veröffentlichten Beiträgen. Mit anderen Worten: Negativ verlaufenden Studien, die keine signifikante Wirkung der Arznei zeigen konnten, werden nur halb so oft veröffentlicht wie solche mit positiven Ergebnissen. Die Konsequenz ist genau so erschreckend wie weithin unbeachtet: Täglich werden Arzneimittel auf Grundlage einer einseitiger Studienlage verschrieben. Es ist bei einer Vielzahl von Medikamenten einerseits unklar, ob sie tatsächlich so wirken wie beworben, und andererseits unklar, ob ein Alternativmedikament nicht genauso gut oder schlecht hilft.

Darunter leidet auch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), das in Deutschland den Nutzen von Behandlungen bewertet. Die Mitarbeiter sehen sich durch die selektive Veröffentlichung und das Verhalten der Hersteller in ihrer Arbeit „massiv behindert“.

Liegt ein Medikament beim IQWiG zur Prüfung vor, fragt das Institut beim Hersteller bewusst auch nach unpublizierten Studien nach. Man bekam in den vergangenen Jahren bei 41 Prozent (15 von 37) der Anfragen keine oder nur unvollständige Unterlagen. Diese Art von Publikations-Verzerrungen sind mittlerweile gut bewiesen und begleiten gleichwohl weiterhin die ärztliche Verschreibungspraxis. Eine vom IQWiG im Rahmen einer Analyse 2010 veröffentlichte Liste gibt eine Ahnung von der Größenordnung.

(2) Schleppende Aufklärung

Um diesen Wissensverzerrungen entgegen zu wirken, sind in den letzten Jahren gesetzliche Regelungen in Kraft getreten, die den Zugang der Öffentlichkeit auch zu ungünstigen Forschungsergebnissen sicherstellen sollen. In Deutschland ist ein Studienregister in Freiburg eingerichtet worden. Das Problem: In diesem werden nur die sehr genauen Angaben zu den Rahmenbedingungen der Studien, nicht deren Ergebnisse veröffentlicht. Die Freiwilligkeit soll trotzdem greifen, weil die großen Fachmagazine Studien nur noch publizieren, wenn sie zu Beginn registriert worden sind.

Besser machten es die USA, deren FDA seit 2007 alle Hersteller verpflichtet, die auf den US-Markt wollen, gleich zu Beginn einer Studie dieser unter clinicaltrials.gov einzutragen – eine Art Geburtsurkunde im Netz. Seither kann zumindest nachgeprüft werden, welche Studien angeschoben wurden.

Allerdings müssen deren Ergebnisse nur als Zusammenfassung eingepflegt werden. Es bleibt unklar, wie genau die Studien verlaufen sind, ausführliche oder gar komplette Datensätze sind hier nicht zu finden. Dabei zeigt die in Teil 1 beschriebene Studienpraxis, dass nur die komplette Einsicht in die Protokolle Ungenauigkeiten und Fälschungen verhindern können.

Nach langen Jahren der Diskussion richtete die EMA 2004 ein elektronisches Register für alle von europäischen Pharma-Unternehmen durchgeführten Studien ein. Der Name: EudraCT. Es enthält heute die Datensätze von über 30.000 Studien, war aber lange nur Expertenkreisen zugänglich. Erst nach Protesten und Medienberichten wurde eine öffentliche Website (EudraPharm) freigeschaltet, die eine Teilmenge der Studien zeigt. In einem Brief an das British Medical Journal mit dem Titel „Still waiting for functional EU Clinical Trials Register“ bemängelte Beate Wieseler vom IQWIG fehlende Suchfunktionen in der Website.

In Deutschland ist seit der letzten Gesundheitsreform das Arzneimittelgesetz um einen Passus (§42b AMG) ergänzt worden, der zur Veröffentlichung aller Ergebnisse „konfirmatorischer klinischer Prüfungen“ binnen sechs Monaten nach der Zulassung eines neuen Medikaments unter PharmNet-Bund.de verpflichtet. Das klingt gut, ist aber ebenfalls unzureichend: Denn zum einen müssen keine älteren Studiendaten eingepflegt werden. Gerade diese wären aber notwendig, um einen Vergleich zu ermöglichen. Zum anderen müssen keine Studien übermittelt werden, die keine Zulassung erhalten haben. Dabei wären gerade diese von Interesse für die Forscherkollegen und Allgemeinheit.

Unglücklich ist zudem die Beschränkung auf „konfirmatorische“ Studien. Im Normallfall sind damit Studien der Phase III gemeint, Phase I und II sowie Pilot-Studien müssen also nicht gemeldet werden. Dabei wären gerade diese wichtig, um unnötige Doppelprüfungen von Arzneimittelkandidaten zu vermeiden. Aber für die Arzneimittelproduzenten ist die Zurückhaltung von Daten nicht nur ein Versuch, negative Ergebnisse zu verschleiern, sondern eine Strategie, den Mitbewerbern so wenig Wissen wie möglich zu überlassen.

Es ist nicht so, dass hier nur Patientengruppen und Medienvertreter den Zugang fordern. Auch Ärzte fordern seit längerem eine bessere Übersicht über die Studienlage, weil sie sich ein besseres Bild von Arzneimitteln machen wollen. Zuletzt hat der weltweite Verband der Bulletins und Fachzeitschriften (ISDB) gefordert, dass der Zugang zu Informationssystem und Datenbanken [für die Allgemeinheit geöffnet werden muss.

Insgesamt teilen sich die pharmazeutische Industrie und die Regulierungsbehörden das Wissen rund um die Wirkung von Arzneimittel und schließen die Öffentlichkeit, Patienten, aber auch die Ärzte in weiten Teilen aus.

Fragt man die Regulierer selbst nach den Gründen, warum Studiendaten geheim bleiben sollten, verweisen diese auf die Gefahr einer falschen Berichterstattung durch die Medien; diese könnten Daten missinterpretieren.

Dies ist sicher richtig, richtig ist aber auch, dass beispielsweise eine frühzeitige Einsicht in die Dokumente rund um den Grippeimpfstoff Tamiflu dessen Risiken und Nebenwirkungen offen gelegt und enorme Kosten gespart hätte. Aber der Hersteller Roche ist bis heute nicht bereit zentrale Daten zu der Substanz bereit zu stellen.

Nur ein Nebenschauplatz sind da die immer wieder bekannt werdenden Verquickungen zwischen EMA und Industrie. Zuletzt verließ der langjährige Leiter der Agentur, Thomas Lönngren, im Dezember 2010 seinen Posten, um im Januar 2011 seine Tätigkeit bei der NDA Group aufzunehmen, einer Beratungsfirma für die Pharmaindustrie. Dieser Austausch zwischen öffentlicher Verwaltung und Wirtschaft ist kein auf die pharmazeutische Industrie beschränktes Phänomen, stößt aber hier aufgrund der Aufsichtsfunktion besonders auf.

Schneller Durchlauf

Im Normalfall ist die Arzneizulassung ein mehrjähriger Prozess. In besonderen Fällen genehmigen die Behörden in Europa und den USA eine Substanz auch schneller. Diese beschleunigten Beurteilungsverfahren werden dann angewendet, wenn eine Substanz verspricht besonders gut zu wirken oder erheblich weniger Nebenwirkungen zu haben.

So sinnvoll diese schnelle Zulassung in einigen Fällen auch sein mag, sie hat dazu geführt, dass es unsichere oder unwirksame Medikamente auf dem Markt schaffen. Durch Verschleppungstaktiken seitens der Hersteller fehlt für einige Medikamente sogar der vollständige Nachweis ihrer Wirksamkeit.

So wurde die Zulassung vom Wirkstoff Midodrin, der gegen Kreislaufstörungen helfen soll, von der FDA im September 2010 zurück gezogen, weil der Hersteller Shire nicht alle Studiendaten zur Verfügung stellen konnte. Später wurde Medikament wieder zugelassen, weil Shire das Nachreichen der Unterlagen zusicherte – was bis heute, Ende 2012, nicht geschehen ist. In Europa ist das Mittel trotz Bedenken weiter auf dem Markt. Eine ähnlich unklare Lage herrscht bei dem Wirkstoff Gefitinib, der Tumorwachstum hemmen soll.

Alltagstauglich

Nach der Zulassung eines Medikaments beginnt der eigentliche Großversuch an der Menschheit. Die EMA beobachtet die Risiken und Nebenwirkungen in der alltäglichen Anwendung, Ärzte und Gesundheitsbehörden melden etwaige Vorfälle mit Patienten. Diese verpflichtet den Hersteller im Bedarfsfall sodann eine neue, mögliche Nebenwirkung auf den Beipackzettel aufzunehmen. Aber auch hier hockt der Teufel im Detail, denn die Hersteller haben ein Mitspracherecht bei der Formulierung des neuen Textes. So kommt es immer wieder zu erheblichen Verzögerungen. So verhinderte 2008 ein Hersteller über Monate, dass eine Warnung der EMA zu einem Cholesterinsenker veröffentlicht wurde, weil er mit dem Wortlaut nicht einverstanden war.

Seine wahres Wirkungs- und Nebenwirkungsspektrum kann ein Medikament erst unter Routinebedingungen beweisen. Hier zeigt sich, wie der Wirkstoff bei Patienten wirkt, die beispielsweise aufgrund ihres Alters unter mehreren Krankheiten leiden und parallel andere Arzneimittel einnehmen. Der Beleg der Effektivität einer Substanz ist dadurch erheblich erschwert, denn Alltagseinflüsse drohen die Resultate zu verfälschen. Rund um dieses Feld hat sich erst in den letzten Jahren die Comparative Effectiveness Research etabliert. Diese Forschung ist von zentraler Bedeutung, weil die hochrelevantensystematischen Übersichtsarbeiten ebenfalls nur die Daten von klinischen Studien analysieren und deren immanente Probleme daher fortschreiben.

Wie sinnvoll solche vergleichenden Untersuchungen unter Alltagsbedingungen sein können, zeigt die ALLHAT-Studie. In ihr wurden zwischen 1994 und 2002 über 40.000 Patienten mit erhöhtem Blutdruck untersucht. Eine bis dahin etablierte Standardtherapie, nämlich die Behandlung mit Chlortalidon, wurde mit der Behandlung mit neueren Blutdruckmitteln (Doxazosin, Lisinopril und Amlodipin) verglichen. Ein zentrales Ergebnis der Studie war, dass bei Patienten im Alter von über 55 Jahren neuere Blutdruckmittel nicht besser wirken.

An dieser Stelle wird ein weiterer Fehler im System deutlich: Selbst wenn bereits eine oder mehrere Arzneimittel für eine bestimmte Krankheit auf dem Markt sind, bestehen die Zulassungsbehörden nicht darauf, dass ein neues Medikament besser wirken oder weniger Nebenwirkungen haben muss. Für die Markteinführung reicht aus, wenn die neue Substanz besser als ein Placebo wirkt. Diese Placebo-Studien sind nicht nur aufgrund der oben genannten Veröffentlichungsverzerrungen nur bedingt geeignet, den Nutzen zu beweisen. Nicht nur die ALLHAT-Studie zeigt, dass erst die vergleichende Analyse sinnvolle Bewertungen möglich macht.

(3) Der Fortschritt der pharmakologischen Wissenschaft lebt von der Veröffentlichung der Resultate und Meinungen

Die Organe dieser Wahrheitssuche sind die diversen medizinischen Fachblätter und Magazine. Je höher das Ansehen (impact-factor) eines Magazins, desto besser für den Autoren des Beitrags, desto besser aber auch für das studierte Arzneimittel.

Wie die Publikumszeitschriften auch leben viele dieser Magazine heutzutage weniger von ihren Abonnenten als von den geschalteten Werbeanzeigen. Jedes Jahr, so lautet die Schätzung von IMS Health, schaltet die Pharmaindustrie für rund eine halbe Milliarde US-Dollar in den Fachmagazinen. Alleine die anerkannten Magazine NEJM und JAMA erhalten mindestens 10 Millionen US-Dollar jährlich.

Dieser Einfluss auf die Unabhängigkeit der Medien setzt sich fort. Denn die Blätter leben nicht nur von Werbeeinnahmen, sondern auch vom Nachdruck ausgewählter Artikel, deren Inhalt die Studienergebnisse für ein bestimmtes Medikament hervorheben. Diese Nachdrucke wiederum werden im Bedarfsfall von dem Hersteller geordert. Mehr noch, einige Verlage entwickeln in Zusammenarbeit mit den Pharma-Herstellern eigenständige Werbe-Magazine, die wie wissenschaftliche Journale aussehen. Der Verlag steht mit seinem guten Namen für die Qualität und Innovation der Beiträge, die allerdings primär Arzneimittel des Kooperationspartners behandeln.

Ein augenfälliges Beispiel dieses Vorgehens kam 2009 ans Licht. Der unter Medizinern anerkannte Elsevier Verlag hatte im Auftrag des Pharma-Konzerns Merck Inc. (nicht zu verwechseln mit Merck) mehrere Zeitschriften herausgebracht, unter anderem das „Australasian Journal of Bone and Joint Medicine“. Sie waren wissenschaftlichen Journalen äußerst ähnlich, bestanden aber nicht aus den sonst üblichen peer-reviewed Artikeln.

Es existieren weitere Hinweise darauf, dass die finanzielle Abhängigkeit der medialen Gralshüter das gesamte System wissenschaftlich fundierter Informationsvermittlung unterminiert. 2011 veröffentlichte eine deutsche Forschergruppe einen Aufsatz, in dem sie der Frage nachgingen, ob die Einkommensquelle deutscher Fachblätter Auswirkungen auf deren Arzneimittelempfehlungen hat. Es zeigt sich, dass kostenlose Journale (Ärztezeitung, Der Hausarzt, Medical Tribune, Der Allgemeinarzt) eher zu Empfehlungen von Substanzen tendieren, die von Journalen, die primär durch die Leserschaft finanziert werden, eben gerade nicht empfohlen wurden. Aber während die genannten kostenlosen Magazine mit Auflagen zwischen 50.000 und 67.000 in den Praxen der Republik verteilt werden, erscheinen Abo-Magazine wie das arznei-telegramm, Der Arzneimittelbrief und die Zeitschrift für Allgemeinmedizin mit einer Auflage zwischen 3.000 und 14.000 Stück.

Die Geister, die ich rief…

Die Qualität der Beiträge in den Magazinen leidet zudem unter Ghostwriting. Medizinische PR-Beratungsfirmen wie DesignWrite stellen gesamte Artikel oder wichtige Teile wie statistische Analysen zur Verfügung. So erarbeiten Auftraggeber, Beratungsfirmen und Autoren zusammen Fachartikel, die mehr oder mindern unauffällig die Vorteile einer neuen Anwendung postulieren.

Richard Horton, ehemaliger Herausgeber des Lancet, sprach gegenüber dem britischen Unterhaus von einem „Standardinstrument“, die Journale mit Ghostwriter-Editorials, Rezensionen, Reviews und Artikeln zu beglücken. Seltsamerweise ist noch nie ein Autor dafür belangt worden, dass er seinen Namen für einen Beitrag zur Verfügung gestellt hat, den er selbst gar nicht geschrieben hat.

Ghostwriting nachzuweisen ist schwierig, meist sind es Einzelfälle, die bekannt werden. Das letzte prominente Beispiel ist der Fall des anerkannten Osteoperose-Experten Robert Lindsay, dem vorgeworfen wird, über Jahrzehnte eng mit verschiedenen Pharma-Unternehmen zusammen gearbeitet zu haben.

Um dem Phänomen empirisch näher zu kommen, wählten 2011 Forscher eine repräsentative Auswahl von Artikeln in sechs der führenden medizinischen Fachblätter und kontaktierten alle deren rund 900 Autoren. Acht Prozent waren danach fremdbestimmt geschrieben worden, die Dunkelziffer dürfte erheblich höher sein. Bereits Ende der 90er Jahre hatte die Cochrane Organisation darauf hingewiesen, dass ihre Analyse von Fachartikeln Hinweise auf neun Prozent Ghostwriting und 39 Prozent „gift-autorship“, also die Bereitstellung des Namen in einem Autorenkollektiv, gefunden habe.

Es wäre naiv anzunehmen, dass finanziellen Bindungen zwischen Autoren und pharmazeutischer Industrie nicht Auswirkungen auf den Inhalt der Aufsätze und Artikel hat. Und auch das wurde mittlerweile mehrfach nachgewiesen. Eine Studie untersuchte beispielsweise die Abhängigkeit von positiver Einschätzung von Calciumkanalblocker durch wissenschaftliche Autoren und deren ökonomischen Beziehungsgeflecht. Ihr Fazit: „Unsere Ergebnisse zeigen einen starken Zusammenhang zwischen den von Autoren veröffentlichten Positionen zur Sicherheit von Calcium-Kanal-Antagonisten und ihren finanziellen Beziehungen zu den Arzneimittelherstellern.“

Interessanterweise trägt der Erfolg der in Teil 1 beschriebenen Auftragsforschungsinstitute zur Ausbreitung von Ghoswriting bei. Denn die CROs spalten klinischen Studien in ihre Bestandteile auf, um diese von unterschiedlichen Personen und Teams bearbeiten zu lassen. Autorenschaft und die Publizierung in wissenschaftlichen Organen haben dabei keine Priorität, die Karriere des zuständigen Mitarbeiters hängt nicht an der Veröffentlichung von Beiträgen in möglichst hoch bewerteten Journalen ab. Das Outsourcing auch dieses Prozesses bietet sich an.

Insgesamt ist bei aller Flut von medizinischen Arzneimittelstudien der wahre, evidenzbasierte Wissensstand über Medikamente ungenügend. Die traditionelle Kontrolle von Aufbau, Durchführung, Analyse und Nachbereitung klinischer Studien funktioniert unter den Bedingungen des modernen Marktes nicht mehr. Negative Studiendaten werden unterschlagen, Fachmagazine und Autoren in Abhängigkeit gebracht, Behörden in Grabenkämpfe verwickelt. Die pharmazeutische Wissenschaft droht sich vom Wahrheitsfindungsprozess abzukoppeln, weil auch sie im System allgegenwärtiger Rationalisierung, Ökonomisierung und Globalisierung agieren muss.


Teil 3 behandelt das Pharma-Marketing und umreißt Strukturen eines optimierten Zulassungs- und Kontrollsystems.

Kategorien
Drogenpolitik

Nützliche Varianten – Wie der Staat mit Cannabis umgehen sollte

HanfBlatt, Nr.91, Oktober 2004

Nützliche Varianten

Neue Lösungswege gesucht – und gefunden. Wie der Staat mit Cannabis umgehen sollte

Das drogenpolitische Feld wird national und international von verhärteten Fronten dominiert. Auf der einen Seiten stehen „Prohibitionisten“, auf der anderen „Legalisierer“. Wer mit Diskussionsbeiträgen auf dieses Feld tritt, der muss sich schnell entscheiden und in die sichere Deckung der einen oder anderen Seite springen. So wird jede Studie, jede Forschungsarbeit, jeder Aufsatz und jeder Artikel schnell einer der Seiten zugeordnet. Unter diesen Bedingungen kann kaum vernünftige Wissenschaft, geschweige denn Politik betrieben werden. Bisher entsteht bei den Debatten mehr Hitze als Licht.

Hanf

Gesucht ist ein Ausweg aus der leidvollen Ironie, das die Cannabis-Gesetze primär erlassen wurden, um den Konsumenten vor sich selbst zu schützen, diese Gesetze selbst aber die größte Gefahr für ihn darstellen. Also Freigabe? Die Idee der Legalisierung erfuhr auf politischer relevanter Seite schon immer äußerst wenig Unterstützung, während Entkriminaliserung in den frühen 70er durchaus en vogue war. In den USA beipielsweise, heute das Motherland des „War on Drugs“, entkriminalisierten 11 Staaten den Genuss und Besitz kleiner Mengen von Marihuana; die in den Jahren nachfolgenden Statistiken wiesen keinen Erhöhung des Konsums nach. Veränderte politische Großwetterlagen ließen keine weiteren Experimente zu.

Fest steht, dass die Prohibition gescheitert ist. Seit Jahrzehnten aber steht trotzdem hinter der Drogenpolitik der UNO und der globalen Regierungen der Glaube, dass immer mehr von demselben die Weltbevölkerung auf wundersame Weise zum drogenfreien Glück führt. Aber jede – auch zukünftige – Gesellschaft wird eine „Drogenproblem“ haben, egal welche Drogenpolitik gewählt wird. Die Aufgabe ist, die Probleme zu minimieren, und zwar die Probleme, die durch den Drogenmissbrauch und durch die Politik selbst verursacht werden. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die Wissenschaft von den Drogen, die Drogenpolitik und deren staatliche Durchsetzung allzu sehr auf die relativ wenigen Süchtigen fokussiert. Diesen muss geholfen, die Anderen müssen in Ruhe gelassen werden.

Eine Drogenpolitik, die die fundamentale Erkenntnis leugnet, dass Drogenkonsum Spaß bringen kann, und das ein hoher Anteil von Menschen durch diesen Spaß auch keine psychischen oder physischen Probleme bekommt, darf sich nicht wundern, dass die Jugend die gut gemeinten Botschaften der Aufklärung nicht erhört.

Leider ist das durch Schule, BRAVO und Kumpels vermittelte Wissen über Drogen schlichtweg mangelhaft oder gar ungenügend (Setzen, 6!). Und weil sie zur Zeit keinen Alkohol- oder Kokainabhängigen Mitschüler kennen, glauben Schüler nicht daran, dass einer dieser forschen Typen in fünf Jahren seine Nase nicht mehr aus dem Puder kriegt.

Im Kern exisitieren fünf Modelle, wie der Umgang mit Hanf, dessen Produkten und dessen Konsum reguliert werden kann. In der Tabelle unten sind neben den Vor- und Nachteilen die Realisierungsaussichten des jeweiligen Modells aufgeführt.
(1) Unter dem Begriff „Entpönalisierung“ sind die Regulierungs-Möglichkeiten aufgeführt, bei denen der Besitz von Cannabis weiterhin illegal bleibt, aber mit milderen Strafen als bisher belegt wird. Hierzu gehört auch das holländische Modell.
(2)Der Begriff der „Entkriminalisierung“ trägt in seiner unterschiedlichen Verwendung zur Verwirrung bei. In der oft genutzten Form meint er, dass Produktion, Verteilung und Verkauf illegal bleiben, aber keine strafrechtlichen Verfolgung des Besitzes für den persönlichen Gebrauch existiert. Ein Beispiel für eine ersatzlose Entkriminalisierung durch die Herauslösung bestimmter Straftatbestände ist der Vorschlag von Sebastian Scheerer, Kriminologe an der Universität Hamburg, den § 29 BtMG so zu revidieren, daß Handel mit nicht geringen Mengen weiterhin mit Freiheitsstrafe bedroht wird, der Handel mit geringen Mengen als Ordnungswidrigkeit zu ahnden ist und nicht auf Handel bezogene Tatbestände gänzlich straffrei gestellt werden.
In einigen anderen Definitionen der „Entkriminalisierung“ bleibt aber die Möglichkeit der Geldbußen bestehen, die, wenn sie nicht gezahlt werden, doch wieder zu Gefängnisstrafen führen können.
Darum wird die sagenumwobende „Entkriminalisierung“ hier in einen neuen Begriff überführt: Partielle Prohibition. Das erlaubt den Besitz von kleinen Mengen und einigen Pflanzen. Wie hoch diese Mengen dann tatsächlich sind, darüber lässt sich in den Einzelheiten trefflich streiten, hier soll nur der prinzipiell-praktische Weg aufgezeichnet werden.
(3) Die über Lizenzen regulierte Abgabe ist die erste von drei Variante, die dem Staat Steuereinnahmen bringt. Eine weitere ist die Gleichstellung von Cannabis mit Alkohol und Tabak, erst die dritte und letzte nennt sich „Legalisierung“ und beinhaltet die Freigabe des Hanfs.

Welche Folgen das Entstehen einer Cannabis-Wirtschaftzweig nach sich ziehen würde bleibt Spekulation. Die Szenarien reichen von einer völlige Banalisierung der Droge in Richtung eines jugendlichen Massenkonsumprodukts (Alkopops) über die Billig-Fusel-Variante (knallt toll – bis zur Verblödung) bishin zur Connaisseure-Welt, die, ähnlich wie bei hochwertigen Weinen, den Rausch und das dafür nötige Produkt zelebriert. Aus Sicht einer Drogenpolitik, die unter der Prämisse arbeitete, dass jeder Nichtkonsument ein guter Bürger ist, weist diese Art der Regulierung noch weitere Pferdefüße auf. Würde Cannabis eine der Waren im Kreislauf der Konsumgüterindustrie, wäre es auch dessen Gesetzen unterworfen. Gänzlich freigegeben wäre es ein Marketingobjekt, dessen Bewerbung vielleicht offiziell verboten wäre, dessen Konsumenten aber viel zu kaufkräftig wären, um nicht Zielgruppe der Werbestrategie großer Konzerne zu sein. Schon jetzt spiel die Industrie mit den Symbolen der Hanfbewegung, jede Gesetzeslücke würden in Zukunft sicher ausgenutzt werden, um potentielle Kiffer von der „ganzen und reinigenden Kraft des göttlichen Krauts“ zu überzeugen.

Unter strikter Lizenz des Staates würde der Cannabis-Behörde die unheilvollen Rolle eines „Dealers“ zukommen, der an der Abhängigkeit einiger Konsumenten verdient. Diese Doppelmoral ist von Alkohol und Tabak bekannt. Die zweckgebundene Verwendung der Einnahmen aus der Cannabissteuer wäre ein Trost, dessen heilsame Wirkung sich wiederum schwer in Zahlen fassen lässt.
Wie auch immer sich die Politik zukünftig bewegen wird, sie wird weitere Steuerungsverluste vermeiden wollen. Keiner weiß genau zu sagen, ob das Verlangen nach Cannabis nach einer Neuregulierung des Besitzes ansteigen oder nachlassen wird. Die Wissenschaft geht zwar eher davon aus, dass es zunächst leicht ansteigen, sich später aber wieder auf dem gewohnten Niveau einpendeln wird, festlegen lassen will sich da aber aus gutem Grund kein solider Wissenschaftler.
Zieht man dazu noch in Betracht, dass „Die Seuche Cannabis“ (SPIEGEL Titel 27/2004) zur Zeit mal wieder auf einem Hoch der medialen Aufmerksamkeitswelle liegt, die nach dem Prinzip „Horror-Droge in Anmarsch“ für mehr Verwirrung als Aufklärung sorgt, dann sieht es für die Evolution der Drogenpolitik weiterhin mies aus. Dabei wären alle der hier genannten fünf Regulierungsmodelle ein Fortschritt gegenüber der herrschenden Stagnation.

 

Wie der Staat mit Cannabis umgehen kann

Regulierungsmodell

Vorgehen

Vorteile

Nachteile

Realisierungsaussichten

Prohibition mit milderen Strafen (Entpönalisierung I) – Strafen für Eigenbedarf werden herabgesetzt.– Strafbarkeit des Handels bleibt bestehen. – Cannabis-Liebhaber werden nicht mehr „sehr hart“ für ihr Hobby bestraft.
– Kann ein erster Schritt Richtung Normalisierung sein.  
– Konsum ist weiterhin stigmatisert, Genießer werden bestraft.– Kleinstmöglicher Schritt, der fälschlicherweise als ausreichend angesehen werden könnte.– Polizei u. Gerichte weiterhin stark beschäftigt.

– Schwarzmarkt bleibt.

– Obwohl nur eine Normierung des Faktischen, da die Gerichte ohnehin schon oft milde Strafen ausstellen, ist eine Realisierung unwahrscheinlich: Die bei Politikern unbeliebte Cannabis-Diskussion wäre ausgedehnt, das Ergebnis dafür minimal.
Prohibition mit Zivilstrafen (Entpönalisierung II:   Geldbuße) – Konsum und Besitz von Eigenbarf sind keine Straftaten mehr, sondern werden zivilrechtlich behandelt (Ordnungswidrigkeit).
– Evtl. werden Geldbußen verhängt.– Der Handel bleibt strafbar.
– Die Konsumenten sind nicht mehr vorbestraft.
– Gerichts- und Polizeikosten fallen.– Hohes Maß an staatlicher Kontrolle möglich. Aus staatl. Fürsorgesicht blieben die Vorteile des prohibitiven Systems bestehen. 
– Wer die Geldbußen nicht zahlt oder sich für unschuldig hält landet doch wieder vor Gericht (50% in Süd-Australien).
– Schwarzmarkt bleibt.
– Stigmatisierung der Konsumenten bleibt.
– Evtl. erhöht Polizei Verfolgunsgsdruck (so in Kanada).
– Von den Gegnern würde das Schlagwort d. „falschen Signals“ aus der Mottenkiste der längst widerlegten Argumente gezerrt werden.– Den fallenden Gerichtskosten würde der Verwaltungsaufwand der Ordnungsämter gegenüberstehen (so in Spanien seit 1991).
Prohibition mit Zweckmäßigkeitsklausel (Entpönalisierung III: Niederlande) – Der Besitz von bis zu 5g wird nicht verfolgt, obwohl er als Straftat gilt.– Bei über 5g Geldstrafen, bei über 30g Ermittlungsverfahren.– Coffeeshops dürfen 5g pro 18-jähr. und Tag verkaufen. – Seit 25 Jahren erprobtes Modell.
– Zumindest i. d. Niederlanden kein Anstieg der Konsumentenzahlen . 
– Übertragbarkeit des Modells unsicher.
– Rechtlich wässrig: Besitz illegal, aber erlaubt.
– Coffee-Shop Hintertür-Problem.
– Händler mit einem Bein im Gefängnis.
– Aufgrund der rechtlichen Unklarkeit in Deutschland unerwünscht.– Obwohl das niederl. Modell als erfolgreich gilt, haftet ihm aus Sicht der Prohibi- und Präventionisten der wilde Duft der Anarchie an.
Partielle Prohibition (Entkriminalisierung) – Besitz kleiner Mengen für Erwachsene (10-40g) legal.
– Besitz von bis zu 5 Pflanzen pro Haushalt legal.
– Non-profit Weitergabe unter Erwachsenen erlaubt.
– Kein Konsum in der Öffentlichkeit.
– Keine vorbestraften Kiffer.
– Entlastung von Polizei u. Gerichten.
– Tauschnetzwerke etabl. sich.
– Abschreckung bleibt, da Handel und Produktion gr. Mengen illegal bleiben.
– Entemotionalisierung möglich.
– Drogenaufklärung glaubwürdiger.
– Flexibles Modell, kann rückgängig gemacht werden.
– Die „Droge“ Cannabis bleibt verboten: der Schwarzmarkt bleibt bestehen.
– Was ist mit männl. Pflanzen?
– Vielfalt eingeschränkt: Tendenz zu großen und potenten Pflanzen möglich.
– Für starke Raucher bleibt Verfolgungsdruck bestehen.
– Trotz bestechender Logik würde das Modell als „Legalisierung“ gebrandmarkt werden.
– Politik hat Angst vor „Schleusenfunktion“.
– Die Crux ist der Eigenanbau: Dieser ist politisch kaum durchzusetzen, aber ohne ihn bleibt die Versorgung illegal.
– International eher zu realisieren, als in Deutschland. Aus positiven Auslandserfahrungen könnten Inlandsdruck resultieren.
Lizensierung
(Regulierte Abgabe)
– Vergabe von Kiffer-Lizenzen.
– Kiffer werden registriert und dürfen festgelegtes Quantitätslimit nicht überschreiten.– Cannabis-Industrie oder Behörde leiten Coffee-Shops.– Zentr. Datenbank erfasst Käufer.

– Entzug der Lizenz bei Vergehen.

– Qualität ist gewährleistet.– Geschultes Personal verkauft.– Steuerneinnahmen.

 

– Überwachung der Raucher: Orwellscher Staat.– Arbeitgeber, Versicherungen usw. mit Zugang zu dem Register?– Austrocknung des Schwarzmarktes unsicher.

– Neuer Behördenwasserkopf.

– Ein Modell mit dem Charme des überdrehten Rechtsstaates. Von daher in Deutschland nicht ganz unwahrscheinlich.– Gegenargument wird sein: „Staat darf nicht zum Dealer werden.“
Partielle Regulierung
(Cannabis gleicht Alkohol und Tabak)
– Spezielle Behörde registriert Cannabis-Bauern.– Diese Behörde legt Steuern, Etikettierung, Reinheit und Potenz des Cannabis fest.– Lizensierte Abgabstelle verkaufen (an Erwachsene).

– Keine Werbung, kein öff. Konsum.

– Schwarzmarkt wird nahezu stillgelegt.– Qualitätskontrolle.– Steuereinnahmen.

– Glaubwürdige Drogenpolitik möglich: Drogenkonsum ist Teil der Gesellschaft.

– Polizei u. Gerichte sind entlastet.

 

– Der Staat verdient an den (wenigen) Cannabisabhängigen.– Ist Eigenanbau legal? Wenn ja, dann müsste dieser wie heute das „Bierbrauen im Privatkeller“  gelöst werden.  – Gering, da zu weit vom beliebten und herrschenden Modell der präventitiven Prohibition entfernt.– Noch eine Droge in der stets suchtgefährdeten Konsumgesellschaft? Das wollen wie wenigsten CDU u. SPD-Abgeordneten ihrem Wahlkreis erklären wollen: Zu anstrengend, zu wenig neue Wähler.
Legalisierung
(Freigabe mit Qualitätskontrolle)
– Das entscheidenste Drogengesetz ist das von Angebot und Nachfrage.– Steuern werden erhoben.– Cannabis ist ein Lebensmittel.

 

– Preis und Qualitätskontrollen sind dem Markt überlassen.– Schwarzmarkt bricht zusammen.– Polizei- und Gerichte mit mehr Zeit fürs Wesentliche.

– Trennung der Märkte.

– Werbung ist –wenn auch wie bei Tabak- möglich.– Wirtschaft und Staat verdienen an der Abhängigkeit.– Wie wird das Konsumverbot für Jugendliche geregelt? – Nach kosmischer Zeitrechnung gut, nach irdischen Maßstäben gleich Null.