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Gesundheitssystem

Arzneimittel – der kontinuierliche Skandal, Teil 1

telepolis, 27.12.2012

Über Studiendesign, beauftragte Institute und geistiges Eigentum

Jörg Auf dem Hövel

Die verschiedenen Bestandteile des Systems der Arzneimittelzulassung und Kontrolle sind degeneriert und ihrer ursprünglichen Funktionen beraubt worden. Dies betrifft sowohl Design und Vollzug der klinischen Studien am Patienten, als auch die Kontrollmacht der Wissenschaftsorgane und Regulierungsbehörden. Einblicke in eine kranke Welt, die uns gesund halten soll.

Bevor ein Medikament verschrieben werden darf, muss es eine ganze Reihe von Hürden nehmen. Zunächst wird im Tierversuch die Verträglichkeit des neuen Wirkstoffs getestet. Erst darauf folgt in einer sogenannten „klinischen Studie“ (Phasen I-IV) die Anwendung am Menschen. Der Wirkstoffhersteller finanziert den gesamten Prozess und ist naturgemäß an der Markteinführung interessiert. Aus diesem Grund unterliegt das Design dieser Studien einerseits einer Kontrolle durch Ethikkommissionen, andererseits läuft es immer Gefahr, so entworfen zu werden, dass positive Ergebnisse heraus kommen.

Über die letzten Jahre ist durch wissenschaftliche Analysen, investigative Recherche und Whistleblower immer deutlicher geworden, dass der Output dieser klinischen Studien extrem fehlerbehaftet ist. Mehr noch, ein großer Anteil von Studien, deren Ergebnisse dem Auftraggeber nicht zusagen, wird erst gar nicht veröffentlicht.

Überspitzt könnte man formulieren, dass für den überwiegenden Anteil aller auf dem Markt befindlichen Medikamente nicht fest steht, wie wirksam sie tatsächlich im Vergleich zu anderen (pharmakologischen) Therapiemaßnahmen sind.[1] Die Ursachen sind vielfältig:

 

  • Für viele Forscher ist die Unterzeichnung eines Vertrages Normalzustand, in dem sie sich verpflichten, die Ergebnisse geheim zu halten, bevor der Auftraggeber die Genehmigung zu Veröffentlichung erteilt. In einigen Verträgen behalten sich diese auch das Recht vor, die Studie zu jedem Zeitpunkt abbrechen zu dürfen. Auch den Studienteilnehmern, also den Patienten, steht oft nicht das Recht zu, die Ergebnisse einzusehen.
  • In den meisten Fällen ist das Design so ausgelegt, dass das neue Arzneimittel seine Wirkung nur gegenüber einer Placebo-Pille und nicht gegenüber einem bereits auf dem Markt befindlichen Medikament beweisen muss. Dieses Vorgehen legt die Latte niedrig. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der Tatsache bedenklich, dass der Anteil der Placebo-Responder, also derjenigen Probanden, die auf einen Placebo positiv reagieren, aus noch nicht genau bekannten Gründen gerade bei den Psychopharmaka immer höher] wird.
  • Eine andere Variante ist es, zwar ein Konkurrenzprodukt zum Vergleich heranzuziehen, dieses aber in zu hoher oder niedriger Dosis zu verabreichen.
  • Teilweise sind die Versuchsgruppen zu klein, um verallgemeinerbare Ergebnisse zu erhalten.
  • Über die Auswahl der Teilnehmer werden die Ergebnisse präformatiert. Denn oft sind Studienteilnehmer gesünder als die späteren, realen Patienten, im Regelfall sind sie zudem mit weniger Begleiterkrankung belastet. Die Wirksamkeit der Testsubstanz stellt sich dadurch besser dar.
  • Die primären Endpunkte (beispielsweise der komplette Rückgang der Erkrankung) werden nachträglich geändert. Eine Dateianalyse zeigt dies beispielsweise für das Antiepileptikum Gabapentin. Wie üblich war knapp die Hälfte der jemals durchgeführten klinischen Studien zu Gabapentin nie veröffentlicht worden. Für 12 veröffentlichte Studien überprüften die Autoren nun, ob die in den internen Dokumenten im Vorwege gesetzten Endpunkte mit den späteren übereinstimmten. Aber von den 21 genannten Endpunkten erschienen später nur elf. Sechs wurden ganz unter den Tisch fallen gelassen, weitere vier wurden plötzlich zu sekundären Endpunkten.
  • Ein ähnliches Vorgehen attestierten Statistiker klinischen Studien schon 2004. Das Centre for Statistics in Medicine in Oxford nahm 102 klinische Studien unter die Lupe, deren Ergebnisse in 122 Fachmagazinartikeln veröffentlicht wurden. Über die Hälfte der Endpunkte war, glaubt man der Analyse, unzureichend wiedergegeben und fast zwei Drittel hatten im Verlauf ihren primären Endpunkt verändert.
  • Mehrere Endpunkte werden so kombiniert, dass undeutlich ist, das ein vergleichsweise unwichtiger Endpunkt den größten Beitrag geleistet hat.
  • Es werden mehrere Endpunkt gewählt, in der späteren Analyse werden aber nur die mit positiven Ergebnissen genannt.
  • Weil messbare und klar defininierte Endpunkte oftmals schwer zu erreichen sind, werden Ersatz-Messwerte (med. Surrogat-Marker) herangezogen, von denen ein Zusammenhang zu Krankheit vermutet oder aus früheren Untersuchungen als bewiesen gilt. Ein Beispiel hierfür ist die Verringerung der Chance von Herzinfarkten durch das Senken des Cholesterinwerts mit Hilfe von Statinen. Inzwischen reibt man sich an diversen, lange als gesichert geltenden Erkenntnissen, die durch Surrogat-Marker gewonnen wurde, denn es ist bekannt, dass ein statistischer Zusammenhang nicht unbedingt eine Kausalität anzeigt und zudem Ausbruch und Verlauf von Krankheiten von diversen Einflüssen abhängen.
  • Es werden Subgruppen aus der Untersuchungseinheit heraus gelöst, bei denen das Medikament gewirkt hat. Damit werden Hypothesen erst nach der Datenerfassung gebildet.
  • Die Aussteiger aus der Studie werden in der späteren Analyse ignoriert.
  • Eine weitere Möglichkeit ist es, eine Studie früher als geplant abzubrechen, weil die bis dahin gewonnenen Daten positiv sind. Eine systematische Übersichtsarbeit von der McMaster Universität in Kanada kam 2005 zu dem Ergebnis, dass sich die Anzahl der abgebrochenen Studien seit 1994 verdoppelt hatte.
  • Es wird nicht beides, relativer und absoluter Nutzen einer Arznei angegeben. Das geschieht vor allem deswegen, weil Studien gezeigt haben, dass ein relativer Nutzen gerne überschätzt wird.

 

Im Gesamtbild ergibt die Liste eine Beantwortung auf die Frage, warum klinische Studien, die durch den Hersteller der Substanz finanziert werden, zu signifikant besseren Ergebnissen führen.

Aufragsforschungsinstitute: CROs

In den USA von der dortigen Zulassungsbehörde FDA genehmigten Arzneimittel dominieren seit dem 2. Weltkrieg den globalen Markt der Medikamente. Im Rahmen von Harmonisierungsmaßnahmen wurden seit den 50er Jahren die FDA-Reglementierungen von vielen Ländern übernommen, sie bilden daher bis heute die Basis der weltweiten Arzneimittelzulassungspraxis.

Lange Zeit wurden klinische Studien für Arzneimittel primär an Universitätskliniken und den damit verbundenen, sogenannten Academic Health Center (AHC) oder Zentren für klinische Studien in den USA und Europa durchgeführt. Diese hatten selbst Interesse an der Forschung, die Durchführung wurde aber schon immer in mindestens 2/3 aller Fälle von der pharmazeutischen Industrie finanziert.

Die Aufgrund von Arzneimittelskandalen und Patientenschutzerwägungen verschärften Zulassungsmodi führten dazu, dass sich der Prozess bis zur Markteinführung eines Medikaments zum Leidwesen der pharmazeutischen Industrie immer mehr verlängerte. Im Rahmen der Globalisierung und der entdeckten Vorteile des Outsourcing entstanden in 80er Jahren sogenannte Auftragsforschungsinstitute (Contract Research Organization, CRO), die heute weltweit Arzneimittelstudien in all ihren Phasen durchführen. Weithin unbeachtet von der Öffentlichkeit (eine Geschichte der CROs liegt bis heute nicht vor) wurde Wissenschaft dadurch privatisiert und kommerzialisiert. Diese Entwicklung hat sich verfestigt und dabei nicht nur die Arzneimittelforschung revolutioniert, sondern auch die Wissensproduktion und Publikationskultur radikal verändert.

Die Regierungen drängen seit den 1980er Jahren nicht nur in Deutschland auf eine enge Zusammenarbeit von Industrie, Wissenschaft und öffentlichen Sektor. Man hofft auf Innovationen und gesenkte Kosten. Zudem sind die CROs Teil einer übergreifenden Entwicklung, die die Neuordnung des geistigen Eigentums, des Wandels der Wissensproduktion und des Ghostwriting umfasste.

Das Durchführen von klinischen Studien in CROs dekonstruiert das bis dahin übliche Studiendesign in seine Einzelteile und legt es in unterschiedliche Hände. Die nun zuständigen Beteiligten, seien es Patientenanwerber, Betreuer oder Statistiker sind nur dem Auftraggeber verpflichtet und in keiner Weise mehr an die Belange der medizinischen Wissenschaft gebunden. Die Studienprotokolle sind primär auf die optimale Kontrolle einer zügigen Arzneimittelentwicklung ausgelegt. Das Teilen der Erkenntnis ist sekundär, mehr noch, ob die Daten veröffentlicht werden wird endgültig von der Industrie bestimmt.

2008 stellten Wissenschaftler vom MIT fest (Artikel), dass der überwiegende Teil (66%) der klinischen Forschung nach wie vor in den klassischen Ländern stattfindet. Das wird nicht so bleiben. Die Marktforscher von Frost & Sullivan prognostizieren dem asiatischen CRO-Markt einen jährliche Wachstumsrate von 20% und spätesten 2015 Erlöse von 2,5 Milliarden US-Dollar im Jahr. Hierbei stechen Indien und China hervor, deren Regierungen bemüht sind beste Bedingungen für die Arbeit der CROs zu schaffen. Die Industrie kalkuliert mit den „Kosten pro Patient“, diese sollen in diesen Ländern um zwei Drittel niedriger sein.

Wichtiger noch ist aber die weitaus schnellere Abwicklung der Studien, womit sich der gesamte Zulassungsprozess beschleunigen lässt. Die Vereinigung der CRO-Unternehmen (ACRO) stellt aktuell auf ihrer Website dar, dass von ihren Mitglieder bereits 2009 über 9.000 Studien mit 2 Millionen Teilnehmern in 115 Ländern durchgeführt wurden.

Die Problemfelder solcher Studien sind virulent: Analphabeten müssen die Einwilligungserklärungen vorgelesen werden, unterschrieben wird mit Daumenabdruck. Im Schlepptau der CROs reisen die Beamen der Zulassungsbehörden an, um das korrekte Vorgehen vor Ort zu überprüfen – ein schwieriges Unterfangen.

Damit ist die Rolle der Ethikkommissionen angesprochen, die jede klinische Studien begleiten, um Schaden von den Patienten abzuwenden. Diese sind im Normalfall den Institutionen zugeordnet, in denen die klinischen Studien stattfinden. Der pharmazeutischen Industrie waren und sind diese Kommissionen ein Dorn im Auge, nicht zuletzt weil sie langsam arbeiteten und ausführliche Regelwerke aufstellten. Um den Prozess der Zulassung zu beschleunigen und auch kleineren Forschungsinstituten wie den CROs die Forschung zu ermöglichen, genehmigte die FDA 1981 auch privatwirtschaftlich organisierte IRBs. So entstanden bioethische Beratungsfirmen, die, so zeigten nachfolgende Analysen (Parexel Sourcebook), die Forschungsanträge erheblich schneller bearbeiteten.

Es wäre interessant zu erforschen, ob CRO-Arzneimittelstudien in Asien und Afrika systematisch zu anderen Ergebnissen kommen. Aber auch dies ist durch das Arkan-Verhalten von Industrie und Regulierungsbehörden zur Zeit nicht möglich. Es ist nicht einmal bekannt, wie viele Studien teilweise oder vollständig in Asien, Indien oder Afrika durchgeführt wurden. Weder die FDA noch die EMA verpflichten die Hersteller zu dieser Angabe.

Um zumindest die technische Qualität zu gewährleisten, bemüht sich ein Zusammenschluss von Regulierern und Industrie (International Conference on Harmonisation of Technical Requirements for Registration of Pharmaceuticals for Human Use) um die Harmonisierung der Rahmenbedingungen in globalisierten Studien. Wie Arzneimittel in verschiedenen Populationen wirken, ist nicht nur eine genetische, sondern auch kulturelle Frage. Von den ethischen Erwägungen ganz zu schweigen, die solche Studien aufwerfen. In den Industrieländern fällt es den Pharma-Herstellern schwer, überhaupt noch unbehandelte, nicht mit diversen Arzneimittel-Vorerfahrung gesegnete Probanden zu finden. In anderen Regionen der Welt treibt dagegen die Armut die Probanden in die Labors.

Ein neuer Weg zu geistigem Eigentum: MTAs

Der Erfolg der Auftragsforschungsinstitute hängt mit einem weiteren Faktor zusammen. Seit die Patentierung von lebenden Organismen möglich ist, haben biopharmazeutische Firmen beispielsweise Patente auf Zell-Rezeptoren zugesprochen bekommen. Damit ist die Nutzung dieses Rezeptors reglementiert, nicht nur als pharmazeutisches Produkt, sondern auch als Forschungsinstrument.

Ein solcher Rezeptor könnte beispielsweise dabei helfen, bis dato unbekannten Hormone zu entdecken. Wer diesen Rezeptor für solche Screenings nutzen will, muss Gebühren an den Patentinhaber zahlen. Diese „lebenden Forschungsinstrumente“ stellten sich als lukrative Geldquelle für kleine und biopharmazeutische Firmen heraus. Zugleich wurden sie aber zu einem Instrument der Geheimhaltung. Wissenschaftler an Universitäten hatten sich bislang solche Rezeptoren kostenlos gegenseitig zur Verfügung gestellt. Für die Industrie ein unhaltbarer Zustand, denn damit konnte im Zweifelsfall auch die Konkurrenz von diesen Forschungsinstrumenten profitieren.

Um eine noch größere Kontrolle über Forschungsergebnisse zu erlangen, entwarfen biotechnischen Firmen und CROs eine juristische Konstruktion mit Namen „materials transfer agreement“ (MTA). In diesen Verträgen werden die Bedingungen geregelt, unter denen Dritten biologische Materialien (Zellen, Antikörper, Rezeptoren, usw.) überlassen werden dürfen. So wird genau festgeschrieben, was ein Dritter mit dem Material überhaupt anstellen darf, wer für etwaige Schäden haftet und vor allem, wie bei Erfindungen und Veröffentlichungen in Fachblättern zu verfahren ist.

Was harmlos klingt, hat nach Ansicht einiger Wissenschaftler zu einer Blockade medizinischer Forschung geführt. CROs und MTAs sind danach komplementäre Instrumente: Dem Auftragsforschungsinstitut wird vertraglich untersagt, geistiges Eigentum zu behalten, der einzelnen Wissenschaftler wird davon abgehalten, geistiges Eigentum zu finden. Im Ergebnis haben die Pharma-Hersteller die Kontrolle über fast jeden Aspekt der klinischen Arzneimittelforschung.


Teil 2 behandelt die schwindende Macht von Behörden und wissenschaftlichen Fachblättern sowie den Zugang zu Studiendaten.

Teil 3 versucht Bestandteile eines optimierten Zulassungssystems zu entwerfen.


Ben Goldacre hat ein erhellendes Buch zu dem Themenkomplex mit dem Titel „Bad Pharma“ geschrieben. Eine unbedingte Empfehlung!

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Gesundheitssystem Psychopharmakologie

Placebos: Warum der Schein besser wirkt als nichts

DIE WELT, 11.Juli 2008

Jörg Auf dem Hövel

Auch ohne den naturwissenschaftlichen Nachweis einer Wirkung können Placebos den Patienten heilen: Wie genau der Effekt entsteht, ist unklar, da die Gesundung nicht unbedingt auf die Einnahme eines Placebos zurückzuführen ist. Doch Mediziner versuchen von den Erfolgen der Scheinbehandlungen zu lernen.

Eine Mutter aus Maryland (USA) hat einen kleinen Internet-Shop eröffnet: „Efficacy Brands“. Im Sortiment gibt es nur ein Produkt – Dextrose-Tabletten mit Kirschgeschmack. Pillen ohne wirksamen Inhaltsstoff, Placebos. Jeder kann hier ein Medikament kaufen, das keines ist. 50 Tabletten kosten umgerechnet 3,20 Euro. Sie sollen Eltern helfen, ihre Kinder von einer eingebildeten Krankheit zu befreien, aber auch echte Beschwerden zu lindern. In den USA herrscht Aufregung, Medizinethiker wie Howard Brody von der Universität Texas geben zu bedenken, dass Placebos „unberechenbar“ seien, manche Menschen würden „dramatisch stark“ auf ein solches Mittel reagieren, andere gar nicht. Die Diskussion zeigt die Unsicherheit gegenüber einem faszinierenden Phänomen. Obwohl der Placeboeffekt seit Jahrhunderten erforscht wird, ist immer noch unklar, warum er entsteht. Nun wollen Mediziner von der sogenannten Scheinbehandlung lernen.

Placebos sind alle Maßnahmen, die ohne naturwissenschaftlichen Nachweis einer Wirkung dennoch eine positive Reaktion beim Patienten bewirken. Die meisten Ärzteverbände verbieten den Einsatz von Placebos. Dass Ärzte sie dennoch einsetzen, bewiesen zuletzt die dänischen Forscher Asbjørn Hróbjartsson und Michael Norup. Sie befragten über 700 Ärzte. Knapp die Hälfte der Allgemeinärzte hatte in den letzten Jahren mindestens zehn Mal ein Placebo verschrieben – um den Patienten zu helfen, aber auch um herauszufinden, ob jemand simuliert.

Ärzte greifen dann zum Scheinmedikament, wenn der Patient nach einer Behandlung verlang. Der lateinische Ausdruck Placebo heißt übersetzt: „Ich werde gefallen“. Eine weitere Funktion haben die Scheinpillen bei zufallskontrollierten und doppelblinden Studien: Sie helfen der Wissenschaft herauszubekommen, ob eine andere Substanz oder Methode wirklich wirkt. Schon hier ist ein erstes Problem sichtbar. Durch die weltweit größte Akupunktur-Studie Gerac hat sich vor Kurzem herauskristallisiert, dass eine Placebobehandlung durchaus besser als eine Nichtbehandlung sein kann. Hans-Christoph Diener vom Universitätsklinikum Essen stellte fest, dass „eine Scheinakupunktur fast genauso wirksam“ wie eine klassische chinesische Akupunktur sein kann.

Untersuchungen zum Placeboeffekt

Um dem Placeboeffekt auf die Schliche zu kommen, setzt man heute oft eine Kontrollgruppe ein, die weder Behandlung noch Placebo erhält. Antonella Pollo und ihr Team von der Universität Turin gaben Schmerzpatienten beispielsweise zunächst ein starkes Schmerzmittel. Parallel dazu injizierte man eine Kochsalzlösung. Diese zweite Infusion wurde aber durch die Ärzte mit unterschiedlicher Bedeutung aufgeladen: Der ersten Patientengruppe wurde nichts von einer schmerzstillenden Wirkung dieser Infusion erzählt. Der zweiten Gruppe wurde erzählt, dass die Kochsalzinfusion entweder ein kräftiges Schmerzmittel oder aber ein Placebo sein kann. Der dritten Gruppe wurde dargelegt, dass die Infusion ein Schmerzmittel sei. Die Behandlung aller drei Gruppen war also auf physischer Ebene gleich, denn alle erhielten eine Schmerzmittel und parallel dazu unwirksame Kochsalzlösung. Aber die damit zusammenhängende Erklärung war unterschiedlich. Das Ergebnis: Die zweite Gruppe forderte weniger Schmerzmittel nach als die erste Gruppe, der nichts erzählt worden war. Am wenigsten Opiat wollten aber die Probanden der dritten Gruppe haben, diejenigen, die dachten, sie hätten zusätzlich ein starkes Schmerzmittel erhalten.

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Ist also ein Placebo gegenüber einer Nichtbehandlung immer die bessere Wahl? Nicht unbedingt. 2001 zeigte Asbjørn Hróbjartsson zusammen mit Peter C. Götzsche, dem Direktor des Nordic Cochrane Center in Kopenhagen, dass viele Experimente, die die Placebo- mit Nichtbehandlung verglichen hatten, methodisch auf schwachen Beinen stehen. Ihre Meta-Analyse über 114 Studien fand „wenig Beweise“ dafür, dass Placebos gegenüber Nichtbehandlung große Vorteile haben. Aber diesem Fazit widersprechen Forscher immer wieder.

Selbst wenn der Placeboeffekt nicht zuverlässig arbeitet, unstrittig ist: Er existiert. Die Frage ist nur warum? Bis heute ist unklar, weshalb in manchen Situationen der Placebo wirkt, in manchen nicht. Gibt es überhaupt einen bewährten und wiederholbaren Placeboeffekt? Die Beweislage ist dürftig.

Leicht zu erforschen ist der Effekt nicht, was unter anderem daran liegt, dass beispielsweise nicht jede Gesundung nach Einnahme eines Placebos auf dieses zurückzuführen ist. Viele Symptome bessern sich nach einiger Zeit ohnehin. Einige weitere Rätsel: Offenbar wirken Scheinmedikamente besser, je häufiger sie eingenommen werden, und wenn sie einen Markennamen tragen. Blaue Beruhigungspillen helfen besser als rote, es sei denn, man ist Italiener, dann ist es genau umgekehrt. Deutsche können ihre Magengeschwüre effizient mit Placebos behandeln lassen, in der restlichen Welt ist die Erfolgsquote aber nur halb so gut. Das liegt nicht daran, dass die Deutschen besonders placebosensibel sind. Denn bei Blutdruck-Placebos ist es umgekehrt, hierauf sprechen die Deutschen weltweit am schlechtesten an.

Die Placebo-Sensiblen sind ein Problem für die Arzneimittelentwicklung, viele Studien beginnen daher mit einer reinigenden Maßnahmen, indem sie erst einmal allen Studienteilnehmern ein Placebo verabreichen und die darauf besonders Ansprechenden vom weiteren Verlauf ausschließen. Das Problem ist, dass bis heute keine verlässliche Methode existiert, um diese sogenannten Placebo-Responder zu identifizieren. Es gibt keine typischen körperlichen oder charakterlichen Eigenschaften einer Person, die besonders gut auf ein Placebo reagiert. Menschen reagieren zu einem Zeitpunkt ausgeprägt, zu einem anderen Zeitpunkt kaum auf ein Scheinmedikament. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass viele der eingesetzten Placebos wie Speisestärke, Kochsalzlösungen und Milchzucker durchaus physiologische Eigenschaften besitzen.

Schon das Design von Placebo-Studien ist schwierig: Einige Placebo-Forscher sind nicht davor gefeit, die Überlegenheit von Scheinbehandlungen bereits in ihrem Untersuchungsdesign zu formatieren. Ein Beispiel ist die oft zitierte Arthroskopie-Studie von Bruce Moseley. Seine Bilanz damals, die seither in der Welt steht: Nur angedeutete Kniegelenksoperationen führen ebenso zum Erfolg wie korrekt durchgeführte. Mosley hatte Arthroskopien durchgeführt, bei acht der Patienten allerdings nur einen Schnitt gesetzt, damit die Narbe zur Gesundung beiträgt. Sechs Monate später waren sowohl die Scheinoperierten als auch die korrekt Operierten zufrieden mit dem Ergebnis. Aber anstatt zu schließen, dass die Patienten die OP gar nicht nötig gehabt haben oder der chirurgische Eingriff nutzlos war, weil das Knie auch ohne Eingriff geheilt wäre, zog Moseley einen anderen Schluss: Die Heilung der acht Scheinoperierten sei durch den Placeboeffekt verursacht worden, die anderen Patienten hätten sich besser fühlten, weil sie richtig operiert wurden.

Das dopamingesteuerte Belohnungssystem

Spielt sich der Placeboeffekt nur im Kopf ab? Die Frage ist falsch gestellt, negiert sie doch den Fakt, dass jede psychische Begebenheit ein körperliches Korrelat hat. Im Falle der Placebos deuten das obige Experiment und die anderen Erfolge mit Schmerzpatienten darauf hin, dass die körpereigenen Opiate eine wichtige Funktion übernehmen. Vanda Faria, Doktorandin an der Universität in Uppsala, hat vor Kurzem 24 Studien zu den neuronalen Veränderungen durch Placebogabe überprüft. Danach spielen Endorphine, Cortisol und anderer körpereigene Substanzen beim Placeboeffekt eine Rolle. Schein- und Normalbehandlung können dabei ähnliche neuronale Mechanismen auslösen. Zusätzlich scheint das dopamingesteuerte Belohnungssystem wichtig zu sein.

Unklar ist, inwieweit das Wissen um den Placeboeffekt dessen Wirkung beeinflusst, ob also ein hohes Maß an richtiger Lageeinschätzung und an korrekter Selbsteinschätzung die Erfolgschancen verringern oder erhöhen. Für beides gibt es Hinweise. Unklar ist auch, wie sich messen lässt, ob der Patient überhaupt geheilt werden will.

Fest steht: Der Kontext, in dem ein Medikament vergeben oder eine Methode angewandt wird, spielt bei der Wirkung eine entscheidende Rolle. Heilung besteht aus mindestens drei Faktoren: der Wirkung von Medikament, Operation oder anderer Intervention, durch die biochemische Prozesse angeschoben oder krankhafte Veränderungen im Körper eliminiert werden. Zum anderen wirken die Selbstheilungskräfte des Patienten. Und dann ist da noch die wichtige Interaktion zwischen Patient und Arzt. Diese auch „Bedeutungserteilung“ genannte Interaktion ist ein entscheidender Faktor.

Schon 1985 war man der Bedeutungserteilung bei der Medikamentenvergabe auf der Spur. Ein Team um Richard Gracely nahm sich einige Patienten vor, denen die Weisheitszähne entfernt worden waren. In einer Doppelblindstudie konnten diese daraufhin einen Placebo, ein Schmerzmittel (Fentanyl) oder sogar einen Schmerzblockadehemmer erhalten. Der Clou: Einer Hälfte der beteiligten Ärzte wurde erzählt, es gäbe ein technisches Problem, daher würden die Patienten kein Fentanyl erhalten können. Diese Finte führte in der Placebo-Gruppe zu einer denkwürdigen Konsequenz: Obwohl ihnen von den Ärzten nichts über die vermeintlich technischen Probleme mitgeteilt wurde, stieg die Schmerzstillung bei denjenigen Placebo-Patienten erheblich, deren Ärzte daran glaubten, sie könnten Fentanyl injiziert bekommen. Eine der besten Erklärungen für dieses Phänomen ist: Die Ärzte haben ihr Wissen um die mögliche Schmerzmittelinjektion nonverbal an die Patienten kommuniziert.

Eine anhaltende Gesundung eines Menschen ist umso wahrscheinlicher, je eher die physikalisch-chemische Therapie und die Bedeutungserteilung durch Arzt und Patient in die gleiche Richtung zielen. Der Placeboeffekt rüttelt nicht nur ein weiteres Mal an der überkommenen Vorstellung der Trennung von Körper und Psyche, er kann als Instrument dienen, um der Zeicheninterpretation auf die Spur zu kommen, die ein Arzt gegenüber einem Patienten leisten muss. Diese Interpretation kann nicht allein auf einer Deutung der biochemischen Ereignisse in dessen Körper beruhen. Der Arzt muss den Patienten befragen, um seine individuelle Vorgeschichte zu erfahren und zudem seinen kulturellen Kontext berücksichtigen. Doch das kostet Zeit. Wie die Versuche mit Schmerzpatienten zeigen, hätte eine gründlichere Erklärung des Placeboeffekts einen weiteren Vorteil: Es wären weniger Medikamente nötig, um Heilung zu erzielen.