Ginkgo als Gedächtnisturbo?
Das pflanzliche Mittel soll Demenzkranken helfen und auch bei gesunden Menschen die Konzentration stärken. Doch die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind unter den Experten sehr umstritten.
Wer heute durch den Botanischen Garten in Jena streift, der wandelt auf den Spuren Goethes. Der Deutschen liebster Dichter war ein Pflanzenexperte, wobei es ihm eine Pflanze besonders angetan hatte: der Ginkgo-Baum. 1792 ließ er einen männlichen Ginkgo in dem von ihm beaufsichtigten Botanischen Garten einpflanzen. Dieser steht heute noch. Schon Ende des 18. Jahrhunderts war bekannt, dass Ginkgos uralt werden können. Aus Asien eingeführt, entzog sich die Pflanze den gängigen Klassifikationen, denn trotz seiner laubblattähnlichen Blätter ist der Ginkgo kein Laubbaum, sondern eine nacktsamige Pflanze, allerdings auch kein Nadelholz. Schon damals umgab die Pflanze ein Mythos, der durch Goethes Leidenschaft und sein berühmtes Gedicht noch verstärkt wurde. Es beginnt mit den Worten:
Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Giebt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut.
Seither ist der Ruf von Ginkgo (lat. Ginkgo biloba) als geistförderndes Tonikum etabliert. Ob die Inhaltsstoffe aber tatsächlich gegen den altersbedingte Abbau der kognitiven Fähigkeiten helfen ist bis heute umstritten. Weltweit gehen Wissenschaftler der Wirkung der Pflanze auf den Grund.
In Deutschland hat Ginkgo ein pharmazeutische Karriere hinter sich, in keinem anderen Land wurde soviel des Antidementivums verschrieben wie hier. Bei Vergesslichkeit verschrieben Ärzte bis 2002 gerne Ginkgo. Der Grund war auch ein praktischer: Die Nebenwirkungen sind gering, das Mittel gilt als allgemein durchblutungsfördernd und genießt den Ruf eines milden mentalen Stärkungsmittels. Der Grund für die positive Wirkung auf den menschlichen Stoffwechsel wird in der hohen Konzentration an Flavonoiden und Terpenoiden vermutet. Flavonoide gelten als gefäßverstärkend, Terpenoide sind in ihrer speziellen Form, den Ginkgoliden und einem Bilobalid, nur im Ginkgo zu finden. Sie sollen schützende Wirkung auf die Mitochondrien haben. Dies sind fest umschlossene Extra-Bereiche in einer Nervenzelle, die als „Kraftwerke“ der Zelle bezeichnet werden. Auf den ansonsten durch Psychopharmaka so oft angesprochenen Neurotransmitterhaushalt scheinen diese Wirkstoffe weniger Einfluss zu nehmen.
Zwischen 2003 und 2004 kommt es in Deutschland zu einem Einbruch bei den Ginkgo-Verordnungen. Innerhalb kurzer Zeit sacken die Verschreibungen durch deutsche Ärzte um 85 Prozent ab. Der Grund: Die Krankenkassen zahlen seither die Behandlung mit Ginkgo nur noch in Ausnahmefällen. Damit steht Ginkgo nicht allein, der Kauf praktisch aller über 2500 zugelassenen Pflanzenmedikamente wird seither nicht mehr von den gesetzlichen Kassen erstattet.
Lange Zeit waren viele wissenschaftliche Studien rund um die Eigenschaften von Ginkgo von deutschen Medizinern verantwortet. Mehr noch, der größte Hersteller des Tonikums, die Firma „Dr. Wilmar Schwabe“ finanziert bis heute viele der Experimente, die den Mechanismen und mentalen Auswirkungen von Tebonin auf den Grund gehen sollen. Wie andere Hersteller ist auch Schwabe verpflichtet, durch klinische Studien die Wirksamkeit eines Produkts nachzuweisen, wenn er eine Zulassung dafür beansprucht. Das Problem der Glaubwürdigkeit solcher Studien ist systeminhärent.
In einem ersten Schritt wird heute daher grundsätzlich zwischen den Wirkung von auf kranke und gesunde Menschen unterschieden werden. Bereits 1998 nahmen sich Barry Oken und Daniel Storzbach von der Oregon-Universität für Gesundheitswissenschaften in Portland, USA, 50 Studien vor, die den Effekt von Ginkgo auf den Verlauf der Alzheimer-Demenz untersucht hatten. 46 Studien wiesen eine unklare Diagnose auf, die anderen vier zeigten aus Sicht der Autoren eine moderate, aber signifikante Wirkung einer drei bis sechs Monate währenden Behandlung mit 120 bis 240 Milligramm Ginkgo-Extrakt auf die geistige Leistungsfähigkeit.
Unter Leitung von Jaqueline Birks sichtete die unabhängige Cochrane Collaboration 2001 die Lage und bezog alle soliden Studien ein, die Ginkgo an Patienten mit Demenz oder kognitivem Handicap getestet hatten. 35 Studien wurden in die Meta-Analyse einbezogen, damit kommt man auf 4247 Probanden, denen Ginkgo-Extrakte in unterschiedlichen Dosierungen verabreicht wurden. Und schon hier stellte man das erste Problem fest: Die tägliche Dosis schwankte zwischen 80 und 600 Milligramm. Ein weiteres Problem: Die kognitive Leistungsfähigkeit wurde mit Hilfe von über 20 unterschiedlichen Tests überprüft. Aus Sicht der Autoren erschwert dies die Vergleichbarkeit der Studien untereinander enorm.
Wenn überhaupt, dann muss Ginkgo über einen längeren Zeitraum verordnet werden, um Effekte bei dementen Menschen zu erzielen. Bei Experimenten, die mindestens 12 Wochen andauerten, so das Cochrane-Institut, kommt es eher zu signifikanten Unterschied zwischen Placebo- und Ginkgo-Probanden. Insgesamt resümiert man: Die Ergebnisse sind zu inkonsistent und nicht überzeugend genug, als dass Ginkgo für die Behandlung von Demenzkranken empfohlen werden kann. Zugleich bedauert man, dass aufgrund der weltweiten Vorrangstellung der Acetylcholinesterasehemmer bei der Demenzbehandlung die zukünftige Forschung mit Ginkgo biloba erschwert ist.
In Deutschland prüfte zuletzt das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) das Potential von Ginkgo bei der Behandlung der Alzheimer-Demenz. Auch hier wies man auf die Uneinheitlichkeit der Studienlage hin und forderte weitere klinische Vergleiche.
Gehirn-Turbo?
Noch unsicherer ist die oft kolportierte Fähigkeit von Ginkgo auch gesunden Menschen dabei zu helfen, konzentrierter und ausdauernder zu arbeiten. Im Jahre 2000 machte sich eine Forschungsgruppe um den Biopsychologen David Kennedy von der Northumbria Universität in England daran, für konsistente Daten zu sorgen. Allerdings waren es nur wenige Probanden, nämlich 20, die an dem Experiment teilnahmen. Das Phänomen der geringen Teilnehmerzahl zieht sich wie ein roter Faden durch die Erforschung von Ginkgo für Gesunden. In der britischen Studie erhielten die Teilnehmer entweder 360 mg Ginkgo-Tonikum, 400 mg Ginseng, oder in der Luxusvariante 960 mg eines Kombinationsprodukts aus Ginkgo und Ginseng. Man stellte bei allen drei Anwendungen im anschließenden Test eine geringe Verbesserung des Erinnerungsvermögens fest. Nebenbei bemerkt: Die selbe Forschungsgruppe überraschte 2002 die Fachöffentlichkeit mit einem Versuch mit Kaugummi kauenden Probanden. Diese wiesen ebenfalls ein besseres Erinnerungsvermögen auf als die kieferberuhigte Kontrollgruppe. Man sieht, wie wenig es teilweise bedarf, um den Geist in Bewegung zu bringen.
Der australische Psychologe Nicholas Burns von der Universität Adelaide hat die Wirkung von Gingko an gesunden Menschen über einen längeren Zeit überprüft. Die 104 allesamt männlichen Probanden waren zwischen 18 und 43 Jahren alt und erhielten über 12 Wochen eine vergleichsweise geringe Dosis von 120 mg. Die Männer schlossen daraufhin die 13 Tests ihrer kognitiven Funktionen nicht besser ab als die Placebo-Gruppe. Zu einem anderen Ergebnis kommt allerdings eine Forschergruppe um die Leiterin des Gerontopsychiatrisches Zentrum im Alexianer Krankenhaus Krefeld, Brigitte Grass-Kapanke. Sie wollen nach einer dreimonativen Einnahme eine Steigerung der Merkfähigkeit um 25% beobachtet haben. Die Ginkgo-Kandidaten waren durchschnittlich 55 Jahre alt und hatten angegeben, unter Konzentrationsschwierigkeiten zu leiden und auch teilweise sich Dinge nicht mehr gut merken zu können.
Die wissenschaftlichen Erforschung des Ginkgos am Menschen geht in das dritte Jahrzehnt. Aus subjektiver Perspektive verhilft Ginkgo offensichtlich vielen Menschen bei der Linderung ihrer Beschwerden, anders sind die immer noch hohen Verschreibungszahlen in Deutschland, aber auch weltweit, kaum zu erklären. Bei Demenz kann Ginkgo unter Umständen den Lebensalltag der Patienten verbessern, eine Kurierung der Krankheit ist nicht möglich. Gesunden Menschen, die Ginkgo als Mittel zur Förderung ihrer Gedächtnisleistung anwenden wollen, helfen die konzentrierten Wirkstoffe der Pflanze kaum und wenn überhaupt, dann umso eher, desto älter der Konsument ist. Dem 43-jährigen Autoren dieser Zeilen hat ein Ginkgo-Extrakt in einer Testreihe von täglich 240 mg über zwei Monate nicht geholfen.
Das menschliche Gehirn scheint im engen Zusammenspiel mit dem Körper ein Gleichgewicht zu halten, welches nur schwer optimiert werden kann. Ist es außer Kontrolle, besteht eher die Chance, es mit Medikamenten wieder in Schwung zu bringen. Aber ist der natürliche Alterungsprozess des Gehirns eine Krankheit? Wie immer man die Frage beantwortet, zumindest lässt er sich mit den bisher bekannten Medikamenten kaum aufhalten.