Wucht und Wahrheit in Tüten
Nach einem Beschluss der EU werden sich die Werbeslogans und Verpackungsangaben der Lebensmittelbranche radikal ändern müssen
Künftig sollen sich Verbraucher darauf verlassen können, dass die vollmundig-kryptische Werbung für Lebensmittel zutrifft. Die Verordnung über gesundheits- und nährwertbezogene Angaben der Europäischen Union legt fest, welche Substanz-Mengen ein Produkt enthalten muss oder darf, um mit bestimmten Slogans werben zu dürfen. Bislang war gesetzlich nicht geregelt was mit unscharfen Begriffen wie „zuckerarm“ oder „hoher Ballaststoffgehalt“ gemeint war. Zukünftig dürfen sie nur benutzt werden, wenn festgelegte Werte erfüllt sind. So muss ein Lebensmittel mindestens sechs Gramm Ballaststoffe pro 100 g enthalten, um mit der Angabe „hoher Ballaststoffgehalt” werben zu dürfen. Um als natrium- bzw. kochsalzarm zu gelten, muss ein Produkt weniger als 0,12 g pro 100 g oder 100 ml enthalten.
Das auf Packungen beliebte „fettarm“ wird ebenfalls genauer definiert: Erst bei weniger als drei Gramm Fett in 100 g und 1,5 Gramm Fett in 100 ml gilt Nahrung als fettarm. „Fettfrei“ darf sie sich schon nennen, wenn sie weniger als ein halbes Gramm pro 100 g enthält. Auch die für Diabetiker wichtige Bezeichnung „zuckerfrei“ operiert nicht mit dem Nullwert, sondern mit einem halben Gramm pro 100 g.
In der vom EU-Parlament genehmigten Fassung blieb der Artikel 4 über die umstrittenen sogenannten „Nährwertprofile“ erhalten. Danach darf eine nährwertbezogene Angabe nur gemacht werden, wenn das betreffende Lebensmittel ein bestimmtes Profil, beispielsweise einen geringen Gehalt an Salz, Fett oder Zucker aufweist. Diese Profile werden von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) in den kommenden zwei Jahren festgelegt.
Die deutsche Ernährungs-Industrie wird die Erarbeitung dieser Nährwertprofile kritisch begleiten. Aus ihrer Sicht herrscht nun erst einmal Rechtsunsicherheit, denn bis zur Festlegung der Nährwertprofile – so meinen die deutschen Hersteller – kann man nicht sicher sein, ob ein Produkt einem bestimmten Nährwertprofil entspricht und ob er dann bestimmte nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben verwenden darf oder nicht. Jochen Schütz, Geschäftsführer der „Organisation Werbungtreibende im Markenverband“ (OWM), äußert sich entsetzt: „Das sind für Wirtschaftsunternehmen unzumutbare Unwägbarkeiten und machen eine vorausschauende Planung unmöglich.“Beim „Verbraucherzentrale Bundesverband“ (vzbv) sieht man das anders. Angelika Michel-Drees, Referentin für Ernährung beim vzbv, ist zuversichtlich, dass die Nährwertprofile mehr Transparenz bringen werden. Denn: „Nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben für Produkte, die viel Zucker, Fett oder Salz enthalten wie beispielsweise Bonbons, Süßwaren und Knabberartikel können zukünftig nicht mehr künstlich aufgewertet werden, indem ihnen ein gesundes Image verliehen wird. In den letzten Jahren konnte wir gerade bei den angesprochenen Produktgruppen ein hohes und meist auch beabsichtigtes Täuschungs- und Irreführungspotential beobachten.“
Lange Zeit sann man in der deutschen Lebensmittelindustrie darüber nach, wie man mit dem Verbot der Gesundheits-Werbung kreativ umgehen kann. Im ersten Absatz von § 12 des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch ) ist nämlich beschrieben, dass auf Lebensmittelpackungen oder in der Werbung keine Aussagen getroffen werden dürfen, die sich auf die Beseitigung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten beziehen.
Rechtlich zulässig waren hingegen sogenannte „gesundheitliche Anpreisungen“, die nicht zu Täuschung Anlass gaben, wie etwa Hinweise über Natur und Funktion essentieller Stoffe. So konnte auf jeder Packung ein allgemeiner Satz stehen wie „Kalzium ist gut für die Knochen“. Zukünftig werden sich die Marketing-Strategen absichern müssen, denn ein solcher Satz muss in der EU mehrere Hürden nehmen: Er darf nur noch verwendet werden, wenn (1) die Angabe wissenschaftlich belegt, (2) nach einem eigens festgelegten Verfahren genehmigt und (3) in eine Gemeinschaftsliste zugelassener Angaben aufgenommen worden ist.
Zunächst bringt die EU-Verordnung dem Verbraucher mehr Informationssicherheit. In einem zweiten Schritt droht aber seine erneute Verwirrung im Gestrüpp wissenschaftlicher Expertisen und Gegenexpertisen.
Für werdende Mütter wird es sicher bald Vollkornprodukte mit dem Slogan geben: „Kieselsäure unterstützt das gesunde Wachstums des Fötus.“
Wo der Zusammenhang zwischen Batterieversorgung und Schwangerschaft noch weithin unbestritten ist, wartet auf die EU-Experten eine Vielzahl von Fällen, in denen denen der Einsatz oder Zusatz einer Stoffgruppe zu einem Nahrungsmittel umstritten ist.
Die Folgen liegen auf der Hand: Kleinere Unternehmen werden zunächst auf unsichere, nicht wissenschaftlich nachgewiesene Werbefilms verzichten müssen, die multinationalen Konzerne werden sich wissenschaftliche Studien leisten, um sich ihre Versprechungen absichern zu lassen.
Gottschalks Süßwaren werden auch weiterhin „Kinder froh“ machen, koffeinhaltige Drinks dürfen weiterhin „Flügel verleihen“, aber eine allgemeine „Halbierung der Kalorienaufnahme“ wird der Kunde bald nicht mehr auf den Packungen versprochen kriegen. Auch Angaben wie „baut Stress ab“, „erhöht die Aufmerksamkeit“ oder „verlangsamt den Alterungsprozess“ sind aus Sicht der EU zu vage, um im Regal zu landen. Kluge Ratschläge von Ärzten, zurzeit gerne mit Konterfei versehen, dürften in Zukunft ebenfalls von der Packung verschwinden. Die Begründung der EU: Solche Angaben suggerieren, dass die Nichteinnahme des spezifischen Produkts zu Gesundheitsproblemen führen kann.
Die Industrie hat sich Übergangsfristen erbeten. Frühestens 2009 wird mit der Gesamtliste der zulässigen gesundheitsbezogenen Angaben gerechnet, bis dahin können die alten Slogans und Aufdrucke weiter verwendet werden. Für Firmen und Konzerne aus der europaweiten Ernährungsbranche steht Arbeit an, die sich aber auszahlen wird: Waren die Anpreisungen von Heilerfolgen bisher gänzlich verboten, können zumindest bald solche aufgedruckt werden, welche die von den EU-Experten aufgestellten Hürden genommen haben.
Damit führt die EU ein, was in den USA schon seit längerem Usus ist. Dort überprüft die Zulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) die Formulierungen auf den Verpackungen, ein eigenes Gesetz (NLEA, nennt die Mengenvorgaben, ab wann ein Produkt beispielsweise als „gute Quelle für Vitamin C“ genannt werden darf. Die FDA gibt den Herstellern sogar Beispiele vor, wie ein guter Claim aussehen kann. Die EU-Verordnung ist schon jetzt deutlich an den NLEA angelehnt. Folgt man dieser Linie wird es demnächst in Europa – wie heute schon in den USA – Werbung geben, die neben den funktional-strukturellen Angaben auch auf gesundheitliche Vorteile hinweist. „Vitamin A fördert gesunde Augen“ ist eine Beispiel, „Protein baut ihre Muskeln auf“ ein anderes.
Gerade diese „health-claims“ stehen unter Beobachtung der FDA, mit den Weihen der Wissenschaft lassen sich hohe Umsätze generieren. Nach einer Erhebung aus dem Jahre 2001 trugen nur 4,4 % der Lebensmittel-Packungen Angaben über einen gesundheitlichen Vorteil.
Der von der EU noch zu erarbeitende Katalog mit den wissenschaftlich zurzeit nachgewiesenen Zusammenhängen zwischen Krankheitsvermeidung durch spezifische Inhaltsstoffe in Lebensmittel (zu finden hier: ist in den USA lang. Er erstreckt sich von Kalzium und Osteoporosis, über Folsäure und embryonalen Neuralrohrdefekten, dem bekannten Effekt von Natrium auf den Bluthochdruck bis hin zu den positiven Eigenschaften von Soja-Proteinen bei koronalen Herzerkrankungen.
Damit aber nicht genug. Durch den FDA Modernization Act (FDAMA,<http://www.fda.gov/cber/fdama.htm) von 1997 ist ein weiterer Index entstanden. Dieser weist auf die Gefahr von zu kaliumhaltiger Ernährung und Herzschlag sowie den Vorteilen einer Vollwertkorn-Ernährung hin. In einem weiteren Schritt etablierte die FDA 2003 eine Initiative, die in sogenannten „Qualified health claims“ und einer weiteren Aufstellung mündete. Hiernach dürfen auch vorsichtig formulierte Behauptungen aufgestellt werden, zu denen noch keinen abschließende wissenschaftliche Meinung vorliegt. In dieser Liste (http://www.cfsan.fda.gov/~dms/lab-qhc.html) tummeln sich Phospholipide wie Phosphatidylserin (http://www.cfsan.fda.gov/~dms/ds-ltr36.html), das den Verlauf der Alzheimer-Krankheit verlangsamt und bereits als Getränkezusatz eingesetzt wird, aber auch diverse Nüsse ), die gegen Herzerkrankungen helfen sollen.
Das neue Glück
Ob durch Expertisen abgesichert oder nicht: Alle diese Packungsangaben dürfen keinen Hinweise auf den Grad der Risikominimierung geben, die Hersteller spielen mit dem Konjunktiv. Und: Eine simple Zusammenpanschen von ein paar Ingredienzien reicht in USA nicht aus, um den Segen der FDA zu erhalten. Die Lebensmittel müssen zusätzlich mindestens 10% der Tagesration von einem oder mehr sechs wichtiger Nährstoffe (Vitamin A, Vitamin C, Eisen, Kalzium, Protein, Ballaststoffe) enthalten, die nicht angereichert sein dürfen. Zudem sind Grenzen bei gesättigten Fettsäuren, Cholesterin und Natrium einzuhalten.
Die Zukunft der europäischen Frontseiten-Werbeslogans und die der Angaben auf den Verpackungsrückseiten ist zwar stark reglementiert, die Verordnung gibt aber zugleich eine Richtung vor, die im Bereich des sogenannten „functional food“ zu höheren Umsätze führen wird. Wie sich diese Entwicklung mit der ebenfalls vorhanden Lust der Verbraucher auf „Bio“ verträgt muss sich noch zeigen. Ob „Qualität“ auf Dauer tatsächlich das „besten Rezept“ ist?