Todesfälle nach dem Genuss des Fliegenpilzes sind in der wissenschaftlichen Literatur bislang nicht dokumentiert worden. Edzard Klapp ist darüber hinaus der Meinung, der Fliegenpilz tauge daher ebenfalls nicht zur Illustration eines Buches zum Thema „Rache“.
Ist das Foto des Buchumschlages einfach irreführend? Nur ein Blickfang?
Seine Rezension zu Katharina Maiers Buch (ISBN 978-3-86539-242-8, marixverlag) lesen Sie hier:
„Bei diesem Buchtitel in Verbindung mit der Abbildung eines tischfertig servierten Fliegenpilzes denkt der Betrachter unwillkürlich, er werde als Leser etwas über die Wirkung des zu verspeisenden Gewächses in Verbindung mit dem Phänomen «Rache» erfahren.
Weit gefehlt! Wie denn überhaupt die junge Verfasserin eine ganze Dimension, auf die sie notwendigerweise hätte eingehen müssen, außer Betracht lässt: In der populären Bildkultur steht die Abbildung des Fliegenpilzes traditionell für tödliche Gefahr, gleichzeitig aber auch für Glück (der Glücks-Pilz). Diesen scheinbaren Widerspruch versucht man seit Langem kenntlich zu machen und zu hinterfragen. Wenn es das Phänomen «Rache» dazu miteinzubeziehen gilt, nähert man sich unweigerlich dem Jenseits, den Jenseitsvorstellungen, Beisetzungsmodalitäten und Bestattungsbräuchen.
Wieso gehen wir ‚in Trauer‘ nach dem Tod eines nahen Angehörigen? Es ist noch gar nicht so lange her, da war durch obrigkeitliche Verordnungen minutiös geregelt, wie lange Trauerkleidung getragen werden konnte und durfte. Andererseits war das Tragen von Trauerkleidung nützlich, war man dadurch doch in jedem Falle ‚richtig angezogen‘, wie man im Eingangskapitel von ‚Tristram Shandy‘ nachlesen kann. In der frühen Neuzeit war das Wissen um die Veranlassung allerdings längst entschwunden. Anlass war nämlich die Angst vor Rache: die Überlebenden fürchteten, der Tote könnte wiederkehren und als ‚Wiedergänger‘ Rache nehmen an denen, die aus magischer Sicht an seinem Tod ’schuld‘ waren. Um sich dem trüben Blick des eine Zeitlang noch unter den Lebenden umgehenden Toten unkenntlich zu machen, beschmierte man sich mit Dreck, streute Asche auf sein Haupt und änderte die Kleidung, ging gar in Lumpen. Gleichzeitig aber sollte der Verstorbene als Geist außerstande gesetzt werden, seine ehemalige Wohnstätte wieder zu erkennen. Dafür wurde durch den sogenannten ‚Dreißigsten‘ gesorgt: das Gesinde wurde mindestens 30 Tage lang weiter beschäftigt, der Betrieb auf dem Gehöft ging scheinbar wie bisher weiter. Der als Geist umgehende Tote sollte auf diese Weise getäuscht werden (‚das kann ja unmöglich mein ehemaliges Haus sein‘), bevor er nach Ablauf dieser Frist in weiter entfernte Jenseitsbereiche entwich. Wie angedeutet, aus solchen der Volkskunde vertrauten Elementen hätte die Verfasserin Katharina Maier Honig in beträchtlichen Mengen saugen können, wie sich denn überhaupt erst durch die Einbeziehung von Jenseitsvorstellungen Material für eine weitere Dimension hätte erschließen lassen. Beispielhaft nenne ich die Arbeit des Briten Istvan Praet (‚People into Ghosts: Chachi Death Rituals as Shape-Shifting‘,
Als Motiv für die prächtige Ausstattung von Gräbern würde man als ‚aufgeklärter‘ Vertreter der Neuzeit auch nicht gerade Angst vor Rache vermuten. Betrachtet man die kostbaren Beigaben, die vor unserer Zeit in das Fürstinnengrab der Ma-wang-Tui, Ch’ang-sha, Honan, (vgl. dazu: Hun und P’O-Seelen im alten China, SPI Research Department of Cultural Beliefs,
Man sieht: da tun sich noch ungeahnte, von der Verfasserin außer Betracht gelassene Weiterungen auf. Besonders befremdlich scheint es in diesem Zusammenhang, dass ausgerechnet der Fliegenpilz, jene geheiligte uralte Rauschdroge, vom Verlag als Blickfang auf dem Cover verwendet wird. Dazu sucht man im gesamten Buch vergeblich auch nur eine einzige erläuternde Zeile. Schade, hier wurde eine Chance vertan und verpasst!“
(Edzard Klapp)