Gewaschene Welt

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„Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“

Antoine de Saint-Exupéry

Die Versuche, zu lesen, werden immer seltener und sind von kurzer Dauer. Romane, Erzählungen nehme ich für einige Minuten noch zur Hand. Keine Vertiefung scheint mir in diesen Zeiten mehr möglich, keine Aussicht. Die Perspektiven verschwimmen.

Einige Gedichte retten mich, so bunt und nah wie die Erinnerung. „Wer die Schönheit angesehen mit Augen, ist dem Tode schon anheimgegeben.“ Ich staune, darf mich noch wundern, schaue nach innen.

„Gut Licht!“ Dies wünschen sich wohl Fotografen: ein Abbild der Welt zu schaffen, – schaffen zu können. Das Leben mit neuen, anderen Augen sehen.

Vor Zechenhäusern grüßt man mit „Glück auf!“ – In der Stube sitze ich teilnahmslos fernsehend, wähne erste Triebe am Geäst der Straßenbäume. Es ist eine Sehnsucht. Es ist eine Traurigkeit, die mich umfängt. Es ist die Angst vor dem entscheidenden Schritt. So beiläufig sagt man: „Auf Wiedersehen!“

„Es knospt unter den Blättern, das nennen sie Herbst“, tröstet mich die Poesie. Vor verschlossenen Fenstern träume ich schemenhaft mäandernde Abendsterne hinter Gartenhorizonten, lasse meine Fingerspitzen über weiche Felle kreisen, rieche das Leben, mache Bilder mir von Küchenrosmarin, von Heu und Halmen, Hundehaaren.

Antike Philosophen ahnten, dass Augen-Licht den dunklen Raum erhelle, bis Selbstversuche Einsicht brachten und Gedankenspiele widerlegten.

Auch heute nämlich scheint dieselbe Sonne noch. Aber meine Augen sind grau geworden.

Alltag, trübe Sicht. Die Gedichte könnte ich im Ofen verbrennen, vielleicht erhellten sie noch einmal eine Nacht. Retten werden sie mich nicht.

Doch werde ich kein Blindgänger sein. Nur fehlte zuletzt die Zündung.

Ich muss es wagen. Ich kann es wagen. Ich will es wagen. Mein reines Bekenntnis zur Farbe. Endlich.

***

„Kuckuck!“ sagt der Arzt albern, „Essen ist fertig! Sprach Gott, als er das Ruhrgebiet erschaffen hatte.“ Mir ist nicht zum Lachen zumute nach der Narkose, zu weinen traue ich mich nicht. „Heute gab´s Linsen.“

Wie oft hat er den Satz routiniert schon gesagt? Ich blinzle, kann kaum denken. Alles schwimmt, ein ewiger Fluss: das Licht der Welt erblicken, am Ende des Tunnels. Aufwachen! Nebelfelder lichten sich nur langsam.

In fliegender Eile dann über die A 40 nach Hause, in Schrecken und wortlos. Augen zu und durch!

Doch Bilder soll man nicht überstrapazieren, denke ich noch. Erst die Wärme heimischer Räume wird mir die Augen schließlich öffnen. Wer ich bin, weiß ich seit Langem. Jetzt werde ich mich wiedersehen im Spiegel. Was wird meine Tochter sagen?

Bedächtig hebe ich die Lider und den Blick vom Boden. Die Erwartung verleiht mir eine Haltung zarter Explosionen.

Frühling! Im Festspielhaus des Gartens! Frühling! Grün! Naturgefärbte Pracht. Die Blumen blüh´n! Ich knie auf dem Sofa und will hinaus, will schrei´n vor Freude und singen vor Demut. Bäume umarmen, die ja schon Laub tragen.

Nein, Laub war gestern, – sanfte Töne locken mich, der Ursprung, leuchtend, schattenlose Energie. So sieht das Leben aus. Barfuß laufe ich nach draußen ins Zuhause. Festkrallen möchte ich mich an der Scholle, handelnd zum Zuschauer befördert, zum Gast von Löwenzahn und Gänseblümchen. Die Rosen rot, der Wein trägt zarte Reben. Mit bunten Mützen hocken reglos sieben Zwerge neben Tannen, nein, es sind acht, neun, zehn, zwölf, dreizehn. Vor Kirschlorbeer. Ein Hain des Segens. Ich streichele die Barthaare des Mohns.

Schafft Mut Verzweiflung und Verzweiflung Mut? Bedingungslos steh´n Lilien auf dem Felde.

Ein Grashalmkünstler muss am Werk gewesen sein, so Formen, Farben, Vielfalt: Überfluss. Dem Kleefeld mag ich mich noch einmal schenken, in Blüte, sehend mit Genuss. Vertraut sein mit dem Augenblick, ihn schaffen, spüren. Rasen. Holunder wachsen schon vor Hecken. In orangener Flut steht am Himmel ein einziger Stern. Sich hingeben der Wahrnehmung. Sehe ich Strahlung, die vor Zeiten erloschen?

Das Telefon klingelt. Der Anrufbeantworter tut seine Pflicht. Es wird Liebe sein.

Später dann, fernmündlich, sagt Katia, während die Dämmerung droht:

„Na, hast du´s gewagt?“

„Und überlebt!“

„Das freut mich.“

„Deine Mutter hat sich im Spiegel geseh´n. So gut ging´s mir selten. Hab´ vor der Haustür heut´ die Kelche der Blumen betrachtet, beinahe studiert. Alles ist neu für mich. Klar und rein. Weißt du, die Welt scheint, als sei sie gewaschen worden!“

„Du hast die Welt gewaschen! Endlich! Man sieht auch Wesentliches mit den Augen. – Schaffen nicht Aussichten immer auch Einsichten?“

Geben Freudentränen den Blüten Nahrung?

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(Foto & Text: nh. Fiktionalisierte Auftragsarbeit nach der Idee einer Hasselerin, die – beinahe erblindet – nach Augenoperationen dem Frühling sprachlos, doch klaren Blickes sehend, wiederbegegnet.)

p.s.

Als “Dankeschön” erhielt ich ein wundervolles Marderfell:

Ja, so funktioniert unser Dorf, die Metropole Ruhr!