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Der prothetische Körper

Noch funktioniert die aktive Prothesentechnik über Muskelströme, an den Schnittstellen zum Nervensystem wird geforscht

Erschienen in der Telepolis v. 10.10.2013
Von Jörg Auf dem Hövel

Der Fortschritt der Prothesen-Technik ist spätestens seit den sportlichen Erfolgen von Kurzstreckenläufer Oscar Pistorius deutlich. Beim Rennen verbrauchen seine Unterbeinprothesen weniger Energie als natürliche Beine. Über kurz oder lang könnten solche passiven, mehr noch aber aktive Prothesen vielen menschlichen Extremitäten und Organen überlegen sein. Wie weit ist die Technik schon jetzt? Und welche kulturellen Körperbilder entstehen?


Den aktuellsten Stand der Prothetik hat in diesem Jahr ein Team um den Robotikexperten Richard Walker in einem Projekt mit dem Titel „Bionic Man“ vereint. Die Wissenschaftler ließen sich aus den weltweit führenden Laboren künstliche Extremitäten und Organe zusenden. So stammt die Wadenmuskel-Achillessehneneinheit von Hugh Herr. Der beinamputierte Kletterer und MIT-Professor behauptet, er würde mit seinen Prothesen besser klettern als vorher. Die zur Zeit fortschrittlichsten künstlichen Hände stammen von den Firmen touch bionics und rslSteeper. Die fünf Finger der i-limb werden durch separate Motoren angetrieben, zudem lässt sie sich um 360 Grad drehen. Gesteuert werden sie normalerweise über Muskelströme, im Fall des Bionic Man können sie über eine Bluetooth-Verbindung bewegt werden. Eingesetzt wurde auch eine Brille, die Bilder an eine künstliche Retina sendet, die wiederum Signale an das Hirn leitet.

Im Projekt wurden über 50% des menschlichen Körpers durch bionische Teile ersetzt. Zusammenarbeiten können die Systeme nicht, erst recht fehlen dezentrale und zentrale Steuerungseinheiten. Der Ersatz einzelner Funktionen wird aber aus Sicht von Hugh Herr und anderen Forschern so schnelle Fortschritte machen, dass körperliche Behinderungen Ende dieses Jahrhunderts komplett durch Prothesen aufgefangen werden können.

An der Johns Hopkins Universität ist in Jahrzehnte währender Entwicklungsarbeit eine modulare Armprothese entstanden, die mit über 100 Sensoren ihren Zustand registriert, sowie 26 Gelenke und 17 Motoren besitzt. Hier ist die Ingenieurskunst der Schnittstellentechnik weit voraus, die Verbindung zum menschlichen Nervensystem ist zur zentralen Aufgabe der Prothetik-Wissenschaftler geworden. Bislang funktionieren die Systeme über Muskelströme, deren Feinjustierung für die Anwender oft schwierig ist. Direktverbindungen mit dem Gehirn sind nötig, aber schwierig. Vor zwei Jahren gelang dies zusammen mit der querschnittsgelähmten Cathy Hutchinson. Chirurgen hatten ihr einen kleinen Sensoren in den motorischen Cortex implementiert. Dieses Video zeigt das erstaunliche Experiment, in dem sie mit der Kraft ihrer Gedanken eine Trinkflasche anhebt, trinkt, und sie wieder absetzt.

Am Zentrum für bionische Medizin in Chicago ist jüngst eine aktive Beinprothese vorgestellt worden, die auf Muskelkontraktionen im Oberschenkel des Trägers reagiert. Die Prothese ermöglicht einen natürlichen, fließenden Gang (Youtube-Video).

Die Unterschiede zwischen Therapie und Enhancement verschwimmen

Diese und andere Teile der Forschung werden vom US-Militär finanziert, um zum einen beeinträchtigten Veteranen ein besseres Leben zu ermöglichen. Zum anderen wird die Chance genutzt, martialische Körperbilder zu etablieren, die auf die Stärke der Verschmelzung von Mensch und Technik hinweisen. Der in Afghanistan verletzte Soldat Alex Minsky wird seit einiger Zeit als Unterhosen-Modell durch die US-amerikanischen Gazetten und TV-Sender gereicht. Seine Beinprothese ist Teil einer Inszenierung, die den Körper an den herrschenden Fitness- und funktionalen Perfektionskult anpassen will. So gelesen verschwimmen die Unterschiede zwischen „natürlich“ und „technologisch“ und zwischen Therapie und Enhancement.

Futuristen und Transhumanisten beobachten die technischen Entwicklungen mit Freude, sind sie doch Anzeichen einer Zeitenwende. Aus ihrer Sicht sind alle Menschen Mängelwesen, die sich optimieren sollten. Vordenker der posthumane Ära wie Nick Bostrom sehen den Wunsch nach Kapazitäts- und Fähigkeitspotentierung tief in jedem Menschen verankert, es sei nur logisch, wenn dies nun mit modernster Technik erfüllt werden will. Dem Self-Tracking soll die Self-Optimisation folgen, erlaubt sind nur individuelle Abwägungen, wie tief der Eingriff gehen sollte. Vitaminpillen oder dann doch Hirnschrittmachung via Magnetstimulation?

Noch sind Hochleistungs-Prothesen nicht nur zu teuer, sondern auch zu deutlich auf beeinträchtigte Personen zugeschnitten, die Steuerung kompliziert. Künstliche Exoskelette, also Rüstungen, die wie beim Iron Man die Bewegungen des Trägers unterstützen, sind ebenfalls noch nicht ausgereift. Sollten sich die Bereiche so schnell entwickeln wie bisher, dürften die ersten reinen Enhancement-Anwendungen bald auf den Markt kommen.

Von Jörg Auf dem Hövel

Jörg Auf dem Hövel (* 7. Dezember 1965) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als freier Journalist u. a. für die Telepolis, den Spiegel und Der Freitag.

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