Über Orientalischen Mohn und andere Merkwürdigkeiten
Der hirnverbrannte und menschenverachtende „Krieg gegen Drogen“ treibt immer wieder absonderliche Blüten. Bei einer dieser Blüten geht es um eine äusserst beliebte und verbreitete Zierpflanze. So wurde in der Bundesrepublik Deutschland mit Wirkung zum 1. Januar 1982 nicht nur der Anbau von Hanf endgültig verboten, mit der einzigen Ausnahme, wenn er „als Schutzstreifen bei der Rübenzüchtung gepflanzt und vor der Blüte vernichtet“ würde. Auch der Anbau von Schlafmohn (Papaver somniferum) wurde verboten. Dies mag in der Logik der Prohibitionistesn noch verständlich sein, weil sich von den grünen Mohnköpfen, wenn auch unter Mühen, selbst hierzulande hochwertiges Opium ritzen und aus den getrockneten Mohnköpfen ein potenter morphinhaltiger Tee kochen lässt, der zu einem oral einnehmbaren Festextrakt eingedampft werden kann. In Polen und anderen Ländern des Ostblocks braute man aus dem sogenannten Mohnstroh unter Zusatz von Chemikalien ein gesundheitlich äusserst bedenkliches injizierbares Gemisch zusammen, das unter der Bezeichnung „Compot“ oder „Polnische Suppe“ bekannt wurde.
Seltsam ist dagegen das gleichzeitige Verbot einer anderen Mohnart, des Orientalischen Mohns oder Türkenmohns, im damaligen Betäubungsmittelgesetz botanisch Papaver orientale und Papaver bracteatum genannt. Ob es sich bei den sehr ähnlichen Pflanzen doch um zwei verschiedene Arten handelt, ist umstritten. Es gibt zahlreiche Sorten und Kreuzungen. Die mehrjährige Staude, die leicht über Samen und Wurzelstecklinge vermehrt werden kann und mit ihren grossen orangen, roten oder rosa Blüten im Mai und Juni eine Augenweide zahlloser Vorgärten darstellt, enthält weder Morphin noch Codein, die beiden in erster Linie für die berauschende Wirkung des Schlafmohns verantwortlichen Alkaloide. Kein einziger Fall des „erfolgreichen“ Mißbrauchs dieser Zierpflanze dürfte dokumentiert sein. Dennoch setzte man sie pauschal mit Cannabis und Schlafmohn gleich. Der Grund: Die Pflanze enthält in den reifen Samenkapseln mehr oder weniger Thebain. Dieses Alkaloid ist dem Codein und Morphin chemisch nahe verwandt. Es selbst gilt aber zumindest bei Tieren angewandt als „Krampfgift“. Es wirkt demnach nicht sonderlich berauschend sondern eher krampffördernd, eine Wirkung auf die Normalsterbliche in der Regel gerne verzichten. Findige Chemiker könnten allerdings auf die Idee kommen, das Thebain aus der Pflanze zu extrahieren und auf einem nicht ganz einfachen chemischen Wege in morphinähnlich wirkende Substanzen (wie z.B. Codein, Oxycodon, Etorphin oder Buprenorphin) umzuwandeln. In dieser Hinsicht wurde bis in die Siebziger Jahre nämlich von US-Regierungsseite aus eifrigst geforscht. Man hatte die grandiose Idee, diesen chemischen Prozess zu monopolisieren, statt Schlafmohn, der auf dem Weg vom Feld zur Pharmaindustrie überall abgezweigt und ohne grossen Aufwand illegal konsumiert werden kann, den nicht so locker konsumierbaren Orientalischen Mohn anzubauen. So wollte man in Zeiten des Kalten Krieges den medizinischen Bedarf an Codein und anderen Opiaten und die zur Vorbereitung eines drohenden Weltkrieges anzulegenden Vorräte dieser Schmerzstiller sichern, und gleichzeitig der Ausrottung des Schlafmohns, dessen Anbau dann ja eindeutig nur noch dem Zwecke liederlicher verbotener Berauschung dienen würde, freie Bahn geben.
Schlafmohnsamen als Quelle von Öl, Brötchenbelag, Würzmittel oder Bestandteil schlesischer Leckereien hielt man schlichtweg für ersetzbar, z.B. durch Samen anderer Mohnarten. Die Endlösung der Schlafmohnfrage erschien den Forschern in greifbare Nähe gerückt. Nun bleiben wissenschaftliche Erkenntnisse, die in jederman zugänglichen Fachzeitschriften publiziert werden, ja auch kriminellen Elementen nicht lange verborgen. Selbst in der „High Times“ wurde schliesslich darüber berichtet. So befürchtete man, dass die zunächst genialisch anmutende Idee auch nach hinten losgehen könnte. Was wäre, wenn chemisch versierte Übeltäter einfach Orientalischen Mohn anpflanzen, das Thebain extrahieren und in potente Opiate umwandeln würden. Irgendwie so muss man gedacht haben, als man auf die Schnapsidee kam, den Orientalischen Mohn in der BRD zu verbieten. Dieses Verbot blieb in der Öffentlichkeit praktisch vollkommen unbeachtet. Im Frühjahr blühte der Türkenmohn wie eh und je auch in den Gärten von Richtern, Polizisten, Politikern und Staatsanwälten, ohne dass sich jemand einer Schuld bewusst war. Am 1.September 1984 wurde dann sang- und klanglos der Anbau zu Zierzwecken wieder zugelassen. Ende einer absurden Episode möchte man meinen.
Nicht ganz, denn jetzt kommen aus den USA Meldungen über die zunehmende Verbreitung des Konsums eines „neuen“ und dabei doch mal wieder so alten „Superopiates“: Oxycodon (= früher Dihydroxycodeinon= heute Dihydrohydroxycodeinon) heisst die Substanz, die aus Thebain synthetisiert wird. Von dieser Teilsynthese wurde zuerst schon 1916 in Deutschlands Fachpresse berichtet. Als medizinisches Präparat wurde es von der Firma Merck 1919 unter dem Namen Eukodal zur Schmerzlinderung und Hustendämpfung eingeführt. Bereits 1920 berichtete man in der Fachliteratur von einem ersten Fall von „Eukodalismus“. Fälle von „Eukodalsucht“ hielten sich aber bis in die Dreissiger Jahre in Grenzen. Dennoch unterstellte man die Substanz schliesslich dem Opiumgesetz. Zu einem neu aufflammenden Interesse an diesem lange Zeit im Abseits dümpelnden Opiat dürfte jetzt auch das neue recht teure Buch des Chemieafficionados mit Undergroundattitüde Otto Snow beitragen. Er hat sein Werk schlicht und einfach „Oxy“ (ISBN 0-9663128-2-1, 31.95 US-$) genannt. Es handelt sich um eine Sammlung von Reprints überwiegend älterer englischsprachiger und sogar einiger deutscher wissenschaftlicher Texte rund um den Anbau von Schlafmohn, die Gewinnung von Morphium, die Extraktion von Thebain und die Teilsynthese von, man kann es schon erahnen: Oxycodon. Praktische auf eigenen Erfahrungen beruhende Anleitungen gibt er nicht. Das Ganze versteht sich eher als sammlerische Vorarbeit und Herausforderung an die Drogenpolitik – denn, indem Snow den Menschen ein gewisses Know How zur Gewinnung und Herstellung der wirksamsten und verträglichsten Gruppe von Schmerzmitteln, nämlich den Opiaten, zur Verfügung stellt, ermächtigt er sie, sich selbstbestimmt und unabhängig von staatlicher Gnade und restriktiven Gesetzen zum Beispiel in Zeiten der Krise von katastrophen- oder kriegsbedingten Schmerzen zu befreien. So gesehen sicherlich ein heroischer Akt.