Welt am Sonntag v. 25. März 2008
Dem Manne kann geholfen werden
Vor zehn Jahren kam das Potenzmittel Viagra auf den Markt
Jörg Auf dem Hövel
(in der Welt am Sonntag erschien eine gekürzte Version. Am Ende des Beitrags habe ich einen Leserbrief von Günther Steinmetz von der Selbsthilfegruppe Erektile Dysfunktion angefügt)
Das Medikament wurde schnell zur erfolgreichen Stütze für den unter Erektionsstörungen leidenden Mann und geriet zugleich in den Ruf einer Lifestyle-Droge. Ein Jahrzehnt später ist die große Aufregung zwar vorbei, Wirkstoffe für den unbeschwerten Sex haben aber weiterhin Konjunktur.
Jack Nicholson soll gesagt haben: „Viagra? Das nehme ich nur, wenn ich mit mehr als einer Frau zusammen bin.“ Dies beschreibt die Vor- und Nachteile der Potenzpille recht gut, denn Männern mit Erektionsstörungen hilft sie dabei den Schwellkörper zu aktivieren – Männer ohne solche Probleme beschreiben das Phänomen des nicht nachlassende Dauerhochs als eher lästig. Vor zehn Jahren kam Viagra auf den Markt. Es folgte eine pharmakologisch-sexuelle Revolution, wie es sie seit der empfängnisverhütenden „Pille“ nicht mehr gegeben hatte.
Die Angst vor Impotenz bringt Männer seit jeher um den Schlaf, gilt Sex doch als Kit oder gar Grundlage jeder Beziehung. Mit Viagra scheinen sich solche Probleme erledigt zu haben. Das Medikament soll in manches erschlaffte Verhältnis die Spannung zurück bringen. Das zeigt schon der Verkaufserfolg. Im April 1998 kam das Mittel in den USA auf den Markt, innerhalb der nächsten vier Wochen unterschrieben Ärzte mehr als 300.000 Viagra-Rezepte. Schnell entwickelte sich die Arznei zum sogenannten „Blockbuster“, einem jener Medikamente, die mehr als eine Milliarde Dollar im Jahr umsetzen. In der Dekade seit der Einführung 1998 haben sich mehr als 30 Millionen Menschen in 120 Ländern Viagra verschreiben lassen. Millionen haben es sich über das Internet oder auf dem Schwarzmarkt besorgt.
Ein Milliardengeschäft für den Hersteller, den Pharma-Konzern Pfizer, der das Patent auf den Viagra-Wirkstoff Sildenafil bis 2011 besitzt. Denn obwohl sich die ganz große Aufregung um Viagra gelegt hat, wächst der Markt für die Firma weiterhin. 2007 gab das Unternehmen an, im vorangegangen Jahr weltweit blaue Pillen im Wert von 1,7 Milliarden Dollar verkauft zu haben. Sechs Prozent mehr als im Vorjahr. Viagra schien von Anfang an das Bedürfnis eines riesigen Marktes zu befriedigen, Pfizers Mitbewerber wollten partizipieren. Wer über Viagra spricht muss daher heute auch über Cialis reden. Eli Lilly brachte 2003 ebenfalls ein Erektionshelfer in die Apotheken. Wie Viagra wirkt auch Cialis als PDE-5 Hemmer. Das Enzym PDE-5 ist dafür verantwortlich, dass eine Erektion wieder abgebaut wird. Durch die Hemmung von PDE-5 kommt das männliche Glied daher bei einer sexuellen Stimulation leichter in Wallung. Und: Dieser Zustand hält auch länger an. 2006, so Lilly, nahm man mit dem Cialis 971 Millionen Dollar ein. Mit Levitra, einem Gemeinschaftsprodukt von Bayer und GlaxoSmithKline, ist ein weiteres Erektionsmedikament auf dem Markt. Die Konzerne wollten ebenfalls Blockbuster-Spitzenumsätze generieren. Man setzte weltweit 2004 aber nur 200 Millionen Euro um.
Obwohl immer von Viagra die Rede ist, führt im deutschen Erektionsmarkt Cialis vor Viagra und Levitra. Dies liegt vor allem an der längeren Wirkungsdauer von Cialis, das den Mann bis zu 36 Stunden lang in Bereitschaft hält. Insgesamt, so der der Pharma-Dienst IMS Health, wurden 2007 rund zwei Millionen Packungen der Erektionshelfer in deutschen Apotheken verkauft, der Umsatz betrug knapp 117 Millionen Euro. Die Marktanalysten mokieren sich über den seit ein paar Jahren stagnierenden Markt.
Ikonen
Hat Viagra die Welt verändert? Gestützt durch eine massive Werbekampagne herrschte in den ersten Jahren nach Einführung von Viagra ein medialer Rummel um die Substanz. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Bob Dole warb für Viagra, andere Prominente stellten sich ihm an die Seite, Playboy-Urgestein Hugh Hefner sprach von einem Lebenselixier. Morgan Stanley prophezeite einen Umsatz von 2,6 Milliarden Dollar in 2000, Gruntal & Company gingen noch weiter, die Börsenexperten sprachen von 4,5 Milliarden Dollar in 2004. Die Welt war für kurze Zeit im Viagra-Fieber. Impotenz war plötzlich aus der gesellschaftlichen Schattenecke heraus geholt. Potenzprobleme, vor allem aber ihre schnelle Beseitigung, waren probates Party-Gespräch. Zwar sprach sich schnell herum, dass das Medikament nicht luststeigernd war, sondern nur eine eh schon vorhandene Libido in harte Fakten umsetzen kann. Aber das schien den meisten Männern zunächst egal. Denn, so die einfach- funktionale Schlussfolgerung, steht erst einmal der Kolben ergibt sich der Rest wie von selbst.
Nicht alle waren begeistert. Einige Krankenversicherungen weigerten sich umgehend, die Kosten für eine Viagra-Behandlung zu übernehmen. Man mutmaßte, dass hier nur Männer im besten alten ihren Spaß haben wollten ohne wirklich unter erektiler Dysfunktion zu leiden. Die auf den Plan gerufenen Kulturkritiker wiesen auf Krankheitserfindung und das Problem hin, dass ein Medikament zur Lifestyle-Droge werden könne. Aber zu spät, Viagra war bereits in die Kultur eingedrungen. Die Auswirkung des Viagra-Hypes lassen sich bis heute nicht zuletzt daran ablesen, dass eine ganze Spam-Generation auf den Durchblutungs-Versprechungen basiert. Jeder hat schon einmal Mails mit Verhärtungsversprechungen erhalten. Auch dieser Text musste aus dem Spam-Ordner der Redaktion gefischt werden. Die Substanz ist innerhalb des letzten Jahrzehnts zum weltweit bekannteste Medikament geworden. Es ist aber nicht das am häufigsten verkaufte. Zum Vergleich: In den USA werden Potenzmittel jährlich an die 20 Millionen mal verschrieben, Knochenschwundmittel schon 40 Millionen mal und Antidepressiva über 100 Millionen mal.
Gleichwohl verändert Viagra die Verhaltensmuster der Gesellschaft. Durch das Arzneimittel gestärkt fühlen sich manche Männer berufen ihren zweiten Frühling einzuläuten, jüngere Frauen sind dann das Ziel des Begehrs. Das pharmazeutisch induzierte Selbstbewusstsein führt zu geschürter Krisenstimmung in der Ehe oder gar zu Untreue. So wird berichtet, dass es in den USA immer wieder zu Scheidungen kommen soll, weil graumelierte Herren sich durch Viagra noch einmal zu höherem berufen fühlen. In Floridas Altersheimen sollen Geschlechtskrankheiten zugenommen haben, weil rüstige Rentner sich nach Viagra-Konsum mit Prostituierten vergnügen.
Nach einer Studie der Universität Köln haben in Deutschland vier bis fünf Millionen Männer Probleme mit der Erektion. Warum bleibt oft unklar. Einige Ärzte sehen eher organische Ursachen, andere verweisen auf psychologische Hintergründe. Dabei ist es wahrscheinlich wie so oft: Richtig eingesetzt kann Viagra oder eine anderes Liebesmittel die sexuelle Beziehung eines Langzeitpaares durchaus stimulieren; eine schlechte Ehe wird es indes nicht retten können. In anderer Hinsicht hat Viagra sicher dafür gesorgt, dass Männer das Gefühl haben immer und überall können zu müssen.
Es wurde angenommen, dass der demographischer Wandel den Markt für Potenzmittel weiter beflügeln wird. Noch steht aber nicht fest, ob die Generation 60 Plus ein ausgewiesenes Interesse an der Beibehaltung oder Wiederbelebung ihrer sexuellen Aktivität hat. Viele ältere Paare sind mit penetrationslosen Zärtlichkeiten durchaus zufrieden. Weiterhin ist unklar, welche zukünftige Rolle Viagra & Co. als Lifestyle-Droge bei den unter 50-Jährigen spielen werden. Zum einen sind Potenzpillen fast überall verschreibungspflichtig, zum anderen muss der Patient sie aus eigener Tasche bezahlen, denn die Krankenkassen übernehmen die Kosten nicht. Mit der Gesundheitsreform vom Januar 2004 hat der Gesetzgeber festgelegt, dass Medikamente zur Behandlung von Erektionsstörungen nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden dürfen. Manche Ärzte behaupten gegenüber ihren Patienten, dass auch die Diagnostik der ED nicht mehr von der Krankenversicherung übernommen wird. Dies ist allerdings nicht richtig.
Für den gesunden Mann ändert sich im praktischen Liebesverkehr wenig, er weiß, dass dessen Qualität nicht in Härtegraden gemessen werden sollte. Oder, wie der amerikanische Sexualpsychologe Michael A. Perelman es einmal ausdrückte: „Ob man nun einen vollen Tank oder nur einen halb vollen Tank hat – das Auto fährt gleich gut.“
Wie Viagra & Co. wirken
Die für eine Erektion nötige Blutzufuhr in den Penis wird durch kleine Muskeln gesteuert. Im nicht erigierten Zustand sind diese Muskeln angespannt und verschließen die Blutgefäße des männlichen Schwellkörpers. Eine sexuelle Stimulation führt beim Mann innerhalb dieser Muskelzellen zur Ausschüttung einer chemischer Substanz mit der Abkürzung cGMP (cyklisches Guanosinmonophosphat). Dadurch entspannt sich der Muskel, Blut fließt ein und das männliche Glied richtet sich auf. Damit dieser Zustand nicht ewig anhält muss das cGMP wieder abgebaut werden. Dies übernimmt eine Enzym mit Namen PDE-5 (Phosphodiesterase-5).
An dieser Stelle setzen Medikamente wie Viagra an. Sie hemmen den Abbauprozess, indem sie die Wirkung des Enzyms PDE-5 blockieren. Dies gelingt ihnen, in dem sie an das Enzym binden und dieses dadurch nicht mehr zur Aufspaltung an cGMP andocken kann. Das Ergebnis: In den Zellen steht mehr muskelentspannende Substanz zur Verfügung, dadurch fließt mehr Blut in den Schwellkörper ein. Alle drei der zugelassenen Arzneimittel gegen krankhafte Erektionsstörungen (so genannte „erektile Dysfunktion“) wirken auf diese Weise. Die Krankheit beschreibt die Unfähigkeit, über lange Zeiträume hinweg trotz sexueller Erregung eine Erektion zu bekommen. Oft sind die Ursachen organischer Natur, Lecks in den Schwellkörpern können ebenso dafür verantwortlich sein wie Verkalkung der Blutgefäße.
Die Geschichte der Potenzmittel auf Basis der Hemmung des Enzyms PDE-5 beginnt 1985. In den Forschungslabors der Firma Pfizer im britischen Sandwich war man auf der Suche nach einem neuen Wirkstoff für die Behandlung von Brustengegefühl (Angina Pectoris) und der damit zusammen hängenden Herz-Durchblutungsstörung. Nach vielen Versuchen synthetisierte man eine Substanz, die sehr zielgerichtet PDE-5 blockierte und nannte sie Sildenafil. Die Halbwertszeit im menschlichen Körper war mit vier Stunden allerdings zu gering, um als Mittel gegen Angina Pectoris eingesetzt zu werden, zudem waren die durchblutungsfördernden Eigenschaften nicht so ausgeprägt wie erhofft. Einige der Testpersonen berichteten allerdings von einer starken Nebenwirkung: Sie hatten schon nach geringfügigen erotischen Reizen eine Erektion bekommen. Analysen ergaben, dass PDE-5 vor allem im Penisschwellkörper des Mannes vorkommt und Sildenafil daher in erster Linie hier wirkt. Die Marketingabteilung schlug den Namen „Viagra“ vor, das Potenzmittel des neuen Jahrhunderts war gefunden. Bis dahin beruhte die Behandlung der organischen Impotenz auf umstrittenen Naturmitteln oder dem Einsatz von Implantaten und Vakuumpumpen.
Die pharmakologische PDE-5-Hemmung ist so effektiv und mit relativ wenigen Nebenwirkungen verbunden, dass nach der Jahrtausendwende zwei weitere Medikamente auf den Markt kommen: 2002 zunächst Cialis mit dem Wirkstoff Tadalafil, 2003 Levitra mit dem Wirkstoff Vardenafil. Wie die Wirkstoffbezeichnungen schon andeuten ist die chemische Struktur der Medikamente ähnlich. Sie alle blockieren PDE-5, wirken aber unterschiedlich lang. Über weitergehende Unterschiede wie beispielsweise dem Härtegrad der Erektion herrscht Uneinigkeit. Viele der wissenschaftlichen Studien werden durch einen der drei Hersteller finanziert.
Levitra ist für den eiligen Patienten geeignet. Es wirkt bereits nach 40 Minuten, eine Studie unter Alltagsbedingungen will sogar eine Anfluten innerhalb von 10 Minuten bei einigen Männern nachgewiesen haben. Viagra-Nutzer brauchen mit rund einer Stunde etwas länger, dafür soll anekdotischen Berichten zufolge die Erektion auch kräftiger ausfallen als bei den anderen Mitteln. Cialis benötigt zwar etwas mehr Zeit bei der Entfaltung im Körper des Mannes, wirkt dafür aber länger. Während die gedeihliche Wirkung bei Viagra vier bis sechs Stunden und bei Levitra acht bis 12 Stunden anhält, kann sie bei Cialis bis zu 36 Stunden betragen. Aus diesem Grund ist das Arzneimittel in Deutschland mittlerweile beliebter als Viagra. Morgens genommen besteht den ganzen Tag die Möglichkeit zum Koitus, dosisabhängig sogar noch am nächsten Morgen.
Online-Leserbrieg v. 28.03.2008 von Günther Steinmetz von der Selbsthilfegruppe Erektile Dysfunktion:
Dieser Artikel hebt sich wohltuend von vielen Artikeln ab, die am 27.3. in fast allen Tageszeitungen zu lesen waren. Inhaltlich fehlt mir, dass zu wenig darauf eingegangen wird, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Viagra und Co. einem Paar wieder zu einer erfüllten Sexualität
verhelfen können. Kurz gesagt, geht es dabei um folgende Punkte:
1. Die Medikamente müssen wirken, was längst nicht bei allen Männern der Fall ist. Besonders nach Operationen im kleinen Becken ist die Erfolgsrate gering.
2. Es dürfen keine Kontraindikationen vorliegen. Das ist allerdings entgegen der weitverbreiteten Meinung, dass Viagra für alle Herz-Kreislauf-Patienten gefährlich ist, nur selten der Fall.
3. Die Nebenwirkungen müssen erträglich sein. Zum Glück lassen oft die Nebenwirkungen nach mehrmaliger Einnahme nach.
4. „Mann“ hat sich über die Voraussetzungen für die Wirkung dieser Medikamente informiert. Bei der Einnahme kann man einige Fehler machen: zu kurze Zeit zwischen Einnahme und Beginn der sexuellen Aktivität, ein vorangegangenes fettreiches Essen (nur bei Viagra und Levitra), fehlende oder unzureichende sexuelle Stimulierung, zu geringe Dosis. Oft führen auch die ersten Versuchen zu keinem Erfolg, weil die ersten Tests auch viel Stress und Angst erzeugen können.
5. Die Partnerin muss damit einverstanden sein, was längst nicht immer der Fall ist. Der heimliche Einsatz dieser Mittel ist besonders konfliktträchtig: er wird irgendwann einmal auffliegen und dann mit Recht von der Partnerin als Vertrauensbruch aufgefasst.
6. „Mann“ kann sich diese Medikamente auch finanziell leisten
Für alle Männer, für die Viagra und Co. nicht in Frage kommen, gibt es aber auch noch andere Möglichkeiten. Manchmal ist die Einnahme von Viagra auch mit der Hoffnung verbunden, dass damit die Beziehung wieder aufblüht. Das ist in aller Regel ein Trugschluss, ein Medikament kann keine Beziehung beleben.
Günther Steinmetz
Selbsthilfegruppe Erektile Dysfunktion (Impotenz)
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