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Cognitive Enhancement

Ginkgo biloba als Gedächtnisturbo?

Welt am Sonntag v. 05.09.2009

Ginkgo als Gedächtnisturbo?

Das pflanzliche Mittel soll Demenzkranken helfen und auch bei gesunden Menschen die Konzentration stärken. Doch die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind unter den Experten sehr umstritten.

Wer heute durch den Botanischen Garten in Jena streift, der wandelt auf den Spuren Goethes. Der Deutschen liebster Dichter war ein Pflanzenexperte, wobei es ihm eine Pflanze besonders angetan hatte: der Ginkgo-Baum. 1792 ließ er einen männlichen Ginkgo in dem von ihm beaufsichtigten Botanischen Garten einpflanzen. Dieser steht heute noch. Schon Ende des 18. Jahrhunderts war bekannt, dass Ginkgos uralt werden können. Aus Asien eingeführt, entzog sich die Pflanze den gängigen Klassifikationen, denn trotz seiner laubblattähnlichen Blätter ist der Ginkgo kein Laubbaum, sondern eine nacktsamige Pflanze, allerdings auch kein Nadelholz. Schon damals umgab die Pflanze ein Mythos, der durch Goethes Leidenschaft und sein berühmtes Gedicht noch verstärkt wurde. Es beginnt mit den Worten:

Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Giebt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut.

Seither ist der Ruf von Ginkgo (lat. Ginkgo biloba) als geistförderndes Tonikum etabliert. Ob die Inhaltsstoffe aber tatsächlich gegen den altersbedingte Abbau der kognitiven Fähigkeiten helfen ist bis heute umstritten. Weltweit gehen Wissenschaftler der Wirkung der Pflanze auf den Grund.

In Deutschland hat Ginkgo ein pharmazeutische Karriere hinter sich, in keinem anderen Land wurde soviel des Antidementivums verschrieben wie hier. Bei Vergesslichkeit verschrieben Ärzte bis 2002 gerne Ginkgo. Der Grund war auch ein praktischer: Die Nebenwirkungen sind gering, das Mittel gilt als allgemein durchblutungsfördernd und genießt den Ruf eines milden mentalen Stärkungsmittels. Der Grund für die positive Wirkung auf den menschlichen Stoffwechsel wird in der hohen Konzentration an Flavonoiden und Terpenoiden vermutet. Flavonoide gelten als gefäßverstärkend, Terpenoide sind in ihrer speziellen Form, den Ginkgoliden und einem Bilobalid, nur im Ginkgo zu finden. Sie sollen schützende Wirkung auf die Mitochondrien haben. Dies sind fest umschlossene Extra-Bereiche in einer Nervenzelle, die als „Kraftwerke“ der Zelle bezeichnet werden. Auf den ansonsten durch Psychopharmaka so oft angesprochenen Neurotransmitterhaushalt scheinen diese Wirkstoffe weniger Einfluss zu nehmen.

Zwischen 2003 und 2004 kommt es in Deutschland zu einem Einbruch bei den Ginkgo-Verordnungen. Innerhalb kurzer Zeit sacken die Verschreibungen durch deutsche Ärzte um 85 Prozent ab. Der Grund: Die Krankenkassen zahlen seither die Behandlung mit Ginkgo nur noch in Ausnahmefällen. Damit steht Ginkgo nicht allein, der Kauf praktisch aller über 2500 zugelassenen Pflanzenmedikamente wird seither nicht mehr von den gesetzlichen Kassen erstattet.

Lange Zeit waren viele wissenschaftliche Studien rund um die Eigenschaften von Ginkgo von deutschen Medizinern verantwortet. Mehr noch, der größte Hersteller des Tonikums, die Firma „Dr. Wilmar Schwabe“ finanziert bis heute viele der Experimente, die den Mechanismen und mentalen Auswirkungen von Tebonin auf den Grund gehen sollen. Wie andere Hersteller ist auch Schwabe verpflichtet, durch klinische Studien die Wirksamkeit eines Produkts nachzuweisen, wenn er eine Zulassung dafür beansprucht. Das Problem der Glaubwürdigkeit solcher Studien ist systeminhärent.

In einem ersten Schritt wird heute daher grundsätzlich zwischen den Wirkung von auf kranke und gesunde Menschen unterschieden werden. Bereits 1998 nahmen sich Barry Oken und Daniel Storzbach von der Oregon-Universität für Gesundheitswissenschaften in Portland, USA, 50 Studien vor, die den Effekt von Ginkgo auf den Verlauf der Alzheimer-Demenz untersucht hatten. 46 Studien wiesen eine unklare Diagnose auf, die anderen vier zeigten aus Sicht der Autoren eine moderate, aber signifikante Wirkung einer drei bis sechs Monate währenden Behandlung mit 120 bis 240 Milligramm Ginkgo-Extrakt auf die geistige Leistungsfähigkeit.

Unter Leitung von Jaqueline Birks sichtete die unabhängige Cochrane Collaboration 2001 die Lage und bezog alle soliden Studien ein, die Ginkgo an Patienten mit Demenz oder kognitivem Handicap getestet hatten. 35 Studien wurden in die Meta-Analyse einbezogen, damit kommt man auf 4247 Probanden, denen Ginkgo-Extrakte in unterschiedlichen Dosierungen verabreicht wurden. Und schon hier stellte man das erste Problem fest: Die tägliche Dosis schwankte zwischen 80 und 600 Milligramm. Ein weiteres Problem: Die kognitive Leistungsfähigkeit wurde mit Hilfe von über 20 unterschiedlichen Tests überprüft. Aus Sicht der Autoren erschwert dies die Vergleichbarkeit der Studien untereinander enorm.

Wenn überhaupt, dann muss Ginkgo über einen längeren Zeitraum verordnet werden, um Effekte bei dementen Menschen zu erzielen. Bei Experimenten, die mindestens 12 Wochen andauerten, so das Cochrane-Institut, kommt es eher zu signifikanten Unterschied zwischen Placebo- und Ginkgo-Probanden. Insgesamt resümiert man: Die Ergebnisse sind zu inkonsistent und nicht überzeugend genug, als dass Ginkgo für die Behandlung von Demenzkranken empfohlen werden kann. Zugleich bedauert man, dass aufgrund der weltweiten Vorrangstellung der Acetylcholinesterasehemmer bei der Demenzbehandlung die zukünftige Forschung mit Ginkgo biloba erschwert ist.

In Deutschland prüfte zuletzt das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) das Potential von Ginkgo bei der Behandlung der Alzheimer-Demenz. Auch hier wies man auf die Uneinheitlichkeit der Studienlage hin und forderte weitere klinische Vergleiche.

Gehirn-Turbo?

Noch unsicherer ist die oft kolportierte Fähigkeit von Ginkgo auch gesunden Menschen dabei zu helfen, konzentrierter und ausdauernder zu arbeiten. Im Jahre 2000 machte sich eine Forschungsgruppe um den Biopsychologen David Kennedy von der Northumbria Universität in England daran, für konsistente Daten zu sorgen. Allerdings waren es nur wenige Probanden, nämlich 20, die an dem Experiment teilnahmen. Das Phänomen der geringen Teilnehmerzahl zieht sich wie ein roter Faden durch die Erforschung von Ginkgo für Gesunden. In der britischen Studie erhielten die Teilnehmer entweder 360 mg Ginkgo-Tonikum, 400 mg Ginseng, oder in der Luxusvariante 960 mg eines Kombinationsprodukts aus Ginkgo und Ginseng. Man stellte bei allen drei Anwendungen im anschließenden Test eine geringe Verbesserung des Erinnerungsvermögens fest. Nebenbei bemerkt: Die selbe Forschungsgruppe überraschte 2002 die Fachöffentlichkeit mit einem Versuch mit Kaugummi kauenden Probanden. Diese wiesen ebenfalls ein besseres Erinnerungsvermögen auf als die kieferberuhigte Kontrollgruppe. Man sieht, wie wenig es teilweise bedarf, um den Geist in Bewegung zu bringen.

Der australische Psychologe Nicholas Burns von der Universität Adelaide hat die Wirkung von Gingko an gesunden Menschen über einen längeren Zeit überprüft. Die 104 allesamt männlichen Probanden waren zwischen 18 und 43 Jahren alt und erhielten über 12 Wochen eine vergleichsweise geringe Dosis von 120 mg. Die Männer schlossen daraufhin die 13 Tests ihrer kognitiven Funktionen nicht besser ab als die Placebo-Gruppe. Zu einem anderen Ergebnis kommt allerdings eine Forschergruppe um die Leiterin des Gerontopsychiatrisches Zentrum im Alexianer Krankenhaus Krefeld, Brigitte Grass-Kapanke. Sie wollen nach einer dreimonativen Einnahme eine Steigerung der Merkfähigkeit um 25% beobachtet haben. Die Ginkgo-Kandidaten waren durchschnittlich 55 Jahre alt und hatten angegeben, unter Konzentrationsschwierigkeiten zu leiden und auch teilweise sich Dinge nicht mehr gut merken zu können.

Die wissenschaftlichen Erforschung des Ginkgos am Menschen geht in das dritte Jahrzehnt. Aus subjektiver Perspektive verhilft Ginkgo offensichtlich vielen Menschen bei der Linderung ihrer Beschwerden, anders sind die immer noch hohen Verschreibungszahlen in Deutschland, aber auch weltweit, kaum zu erklären. Bei Demenz kann Ginkgo unter Umständen den Lebensalltag der Patienten verbessern, eine Kurierung der Krankheit ist nicht möglich. Gesunden Menschen, die Ginkgo als Mittel zur Förderung ihrer Gedächtnisleistung anwenden wollen, helfen die konzentrierten Wirkstoffe der Pflanze kaum und wenn überhaupt, dann umso eher, desto älter der Konsument ist. Dem 43-jährigen Autoren dieser Zeilen hat ein Ginkgo-Extrakt in einer Testreihe von täglich 240 mg über zwei Monate nicht geholfen.

Das menschliche Gehirn scheint im engen Zusammenspiel mit dem Körper ein Gleichgewicht zu halten, welches nur schwer optimiert werden kann. Ist es außer Kontrolle, besteht eher die Chance, es mit Medikamenten wieder in Schwung zu bringen. Aber ist der natürliche Alterungsprozess des Gehirns eine Krankheit? Wie immer man die Frage beantwortet, zumindest lässt er sich mit den bisher bekannten Medikamenten kaum aufhalten.

 

 

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Cognitive Enhancement Übermensch

Einleitung zum Telepolis Übermensch Blog – Projekt Übermensch: Upgrade ins Nirvana

Einleitung zu einem neuen Telepolis-Blog am 21.11.2007

Projekt Übermensch: Upgrade ins Nirvana

Jörg Auf dem Hövel

Robotik, Neuro-Implantate, Hirn-Enhancement, Gentechnik: Wohin führt das?

Zwang und Lust an Vervollkommnung der eigenen Person sind uralt, evolutionär zunächst dem Überleben dienend wurde Erkenntnis zum Kulturgut. Schon die frühen Werkzeuge erweiterten den allgemeinen Handlungsraum des Menschen. Interessant wurde es immer dann, wenn die Werkzeuge inkorporiert wurden, denn dann stand Integrität und Wesensnatur auf dem Spiel.

Krücke, Holzbein und Brille sind frühe Prothesen, ihre Linie verlängert sich bis zu den chipgesteuerten Hochleistungsprothesen bei den heutigen Paralympics. Früher waren Prothesen und Implantate schlechter Ersatz, nun ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis eine Prothese oder ein Implantat zum Ausschluss eines Sportlers bei einem Wettbewerb führen wird (Wann ist ein Mann ein Mann?). Der rasante technische Fortschritt, Rechenkapazität gepaart mit Miniaturisierung, ermöglichen den Einzug der Technik in den Körper. Ein wunderbares Beispiel dafür, vor welchen Aufgaben die Sportethik zukünftig stehen wird.

baumkroneCochlea-Implantate übernehmen das Ohr, andere zentrale Funktionen des Körpers werden folgen. Teile der KI-Gemeinde träumen schon jetzt von der Übernahme höherer kognitiver Funktionen. Aber der Künstlichen Intelligenz sind über die Jahre die Grenzen ihres Ansatzes vor Augen geführt worden. Das hält die Apologeten des vollständigen Nachbaus des Menschen nicht davon ab, in unregelmäßigen Abständen den Durchbruch zu verkünden. In den letzten Jahren ist es still geworden um Minsky, Moravec und Kurzweil, dafür durfte Aubrey de Grey ran und die Heilung des Alterns voraussagen. Man kann sich über die Propheten lustig machen, sie sind allerdings nur die Randerscheinung einer umfassenden Geistesströmung, welche die Fähigkeiten des Menschen technisch erweitern will.

Die Rolle der in menschenähnlichen Maschinen verkörperten Künstlichen Intelligenz dürfte dabei klein bleiben. In eng umrissenen Welten wie beispielsweise Schachbrettern ist die KI stark, sobald sie in reale Unwägbarkeiten geworfen wird, zeigt sich die Schwäche der reinen Berechnung. Die Siliziumknechte tummeln sich zur Zeit auf Miniatur-Fußballplätzen oder auf vier Rädern in der Wüste und haben frappante Probleme, sich autonom zu orientieren, anzukommen, geschweige denn auch noch sinnig zu handeln.

Dort wo KI zum Posthumanismus wird, ist die Schwelle zum Erlösungsversprechen übertreten. Ob Reinraum des Cyberspace oder Upgrade eines Androiden mit kompletthumaner Software: Im Kern geht es um den Übergang des menschlichen Wesens in eine neue Seinsform. Logischerweise fließt in diesem Siliziumparadies nur klares Wasser die Flüsse hinunter und alle Frauen haben Körbchengröße G.

Neuro-Enhancement

Weitere Techniken weisen über den Menschen hinaus: Magnetisches und medikamentöses Enhancement der Denkvorgänge und natürlich die Gentechnik. Die Doping-Diskussion ist momentan noch primär an körperlich leistungssteigernden Substanzen wie EPO festgemacht, dabei leben Teile der Gesellschaft in einem dauergedopten Zustand. Morgens Koffein, Abends das Entspannungsbierchen, am Wochenende ein Näschen. Für die Verzweifelten Prozac, für die Willigen Viagra, für die Gestressten Diazepam.

Das spirituelle Doping des Geistes fristet ein Schattendasein in der Ecke der Drogenpolitik. Diese wird mittlerweile ohnehin von den Pharma-Konzernen effektiver betrieben. Indikationen lassen sich immer finden, das Geld kommt mit dem Off-Label-Use rein. Die Diskussion um Neuro-Enhancement mittels neuer, legaler Wirkstoffe ist bereits in Gang, aber in den Pipelines der pharmazeutischen Firmen ist kein Wundermittel mit Namen „Nürnberger Trichter“ in Sicht.

Allerdings werden die Grundlagen des Lernens immer besser ergründet, die Erforschung der Alzheimer Demenz zeigt die neuronalen Bedingungen des Denkens auf, hier lastet Leistungsdruck auf den Arzneimittelforschern. Weil zudem hohe Gewinne locken, ist damit zu rechnen, dass bessere Wirkstoffe entwickelt werden, die zumindest die Degeneration aufhalten. Ob dies in gesunden Menschen zu einer Leistungssteigerung des Denkorgans führt, steht auf einem anderen Blatt.

Genbasierte Designer-Medikamente

Rund zehn Prozent aller Medikamente auf dem Markt sind mit Hilfe gentechnischer Verfahren hergestellt worden – Tendenz steigend. Im Gegensatz zur grünen Gentechnik ist dieser Bereich der roten Gentechnik weithin akzeptiert. Das Einbringen eines fremden Gens in einen Organismus, um diesen zur Expression eines bestimmten Wirkstoffs zu bringen, ist die eine Sache, das Einbringen von fremden Genen in den menschlichen Organismus eine andere.

Aus Sicht einiger Mediziner ist diese „Gentherapie“ nur die logische Fortsetzung der Produktion von gentechnischen Arzneimitteln. Hierbei würde beispielsweise ein Patient mit einer Enzym-Mangelkrankheit keine Medikamente mehr einnehmen, sondern einige seiner Körperzellen würden gentechnisch so verändert werden, dass er das fehlende Enzym selbst bildet.

Bei der erblichen Immunschwäche SCID-X wurde das schon versucht, doch es trat als Nebenwirkung Leukämie auf. Die Mediziner hatten das Enzym-Gen an einer falschen Stelle ins Erbgut der schwerkranken Probanden eingefügt. Gentherapeutisch behandeln tat man auch zwei Männer in Frankfurt am Main. Dort wurde 2005 den zwei schwerkranken Patienten blutbildende, gentechnisch veränderte Stammzellen injiziert. Der Erfolg ist bis heute umstritten, die Langzeitwirkung auf die körpereigenen Zellen unklar.

Wissenschaftler wie der Humangenom-Pionier Francis Collins, der das „Human Genome Project“ zur Entschlüsselung des menschlichen Genoms leitete, sehen gleichwohl optimistisch in die Zukunft. Er sagt voraus, dass bis 2020 genbasierte Designer-Medikamente für Bluthochdruck, Diabetes und andere der sogenannten „Volkskrankheiten“ verfügbar sein werden.

An dieser Stelle kann der Raum betreten werden, in dem die Zukunftsmusik spielt. Vorstellbar sind zukünftig beispielsweise Gentherapien, die auf die Nachkommen des Patienten vererbt werden. Noch verwehren sich die Mediziner gegen solche Ideen. Und noch geht es nur um ein Stück vom Leben für schwerkranke Menschen.

Der Übermensch des 21. Jahrhunderts

Schon immer gab es Bemühungen, sich mit Hilfe der Errungenschaften der Medizin nicht nur zu therapieren, sondern auch über den normalen Zustand hinaus zu optimieren. An dieser Stelle setzt Enhancement an, die Erweiterung der Basisfunktion.

Dieses Über-sich-Hinauswachsen, der Versuch der Vervollkommnung, die Lust, schier Übermenschliches zu leisten, ist Triebkraft der Menschheit bis heute; mit allen kreativen wie zerstörerischen Konsequenzen. Mit ironischer Konnotation kann man von einer sozialen Bewegung der „Übermenschen“ sprechen.

Aber der Übermensch ist nicht nur einer, der über sich hinaus wachsen will. Nach Friedrich Nietzsche will der Übermensch die Kräfte des heiligen Chaos in das Diesseits bringen. Alle Gefühlsspitzen und Erweckungen, aber auch die bis dato ins Jenseits gerichteten Ekstasen und Hoffnungen auf Erlösung sollen zurück auf die Erde gebracht werden.

Während Nietzsches Übermensch die Religion in sich wieder finden will, hat der Übermensch des 21. Jahrhunderts sie in den Raum technischer Potentiale zurück verfrachtet. Gründe dafür gibt es genug: Der Fortschritt wurschtelt sich in die letzten Fasern des molekularen Daseins hinein, alles scheint erklärbar, wenn nicht heute, so doch morgen. In diesem Sinne ist Wissenschaft zur Quasi-Religion geworden. Das über sich hinaus wachsen ist heute technisch banalisiert, die Aufgehobenheit im heiligen Chaos, dem geistigen Urgrund aller Religionen vor ihrer unheilvollen Institutionalisierung, ist heute eher durch den Cyberspace erwünscht als durch religiöse Praktiken.

Nietzsches Übermensch war ein entscheidendes Stück weiter gegangen. Erst in der Transzendierung des arbeitsorientierten, technisierten Welt findet der Mensch seine wahre Bestimmung: Ein hingebungsvolles Leben als Kunstwerk. Nicht nur am Rande sei hier erwähnt, dass der Übermensch eben auch Gefahr läuft sich einzubilden, über die aus seiner Sicht Zurückgebliebenen zu richten. Wo der Übermensch herrscht müssen die Untermenschen leiden.

Selbstvervollkommnung trägt immer auch die Gefahr der Egozentrik und des Größenwahns in sich. Durch das über sich hinauswachsen entfremdet der Mensch sich dann von sich selbst. Man merkt, hier schwingt im Hintergrund schon die Idee von der Raupe, die noch zum Schmetterling werden muss. Getrieben wird diese nur heute wohl weniger vom naturgegebenen Programm, als von den Anforderungen der Leistungs-, manche würden sagen kapitalistischen Gesellschaft.

Angesichts der ökologischen Lage kann der Übermensch heute nur noch bescheiden von seinem Gipfel aus hinab blicken. Zu lange hat er vergessen, auf welchem Grund und Boden er da eigentlich steht. Nun müssen Aufstreben und Genügsamkeit neu ausbalanciert werden.

Es gibt also viel zu tun, um die Chancen, Gefahren und Absurditäten des Projekts „Übermensch“ zu erläutern. In einem neuen Telepolis-Blog wird davon zukünftig die Rede sein.

 

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Cognitive Enhancement Übermensch

Modafinil, die Firma Cephalon und ein Selbstversuch

telepolis, 23.10.2007

Gehirn-Doping: Augen geradeaus

Wie die Pharmafirma Cephalon die vermeintliche Gehirndoping-Substanz Modafinil im psychoaktiven Markt etabliert. Dazu ein Selbstversuch

Im Jahre 1992 wunderte sich Frank Baldino. Die eigentlich nachtaktiven Mäuse in dem Versuchslabor der Pariser Firma Lafon blieben den ganzen Tag wach. Die Tiere standen unter dem Einfluss einer neu entwickelten Substanz, die gegen Depressionen helfen sollte. Die chemisch korrekte Bezeichnung für den Wachmacher lautete kryptisch 2-Diphenylmethyl-Sulfinyl-Acetamid, kurz „Modafinil“ genannt.

Baldino hatte 1987 in den USA die Pharma-Firma „Cephalon“ gegründet und war in Paris auf der Suche nach einem neuen, aufputschenden und vor allem verkaufsträchtigen Medikament mit wenig Nebenwirkungen. Er entschloss sich Modafinil zu lizensieren. 2006, genau 13 Jahre nach der Lizenzierung, nahm Baldinos Firma bereits jährlich 727 Millionen Dollar alleine mit Modafinil ein. Generika-Hersteller sind in ihre Schranken gewiesen worden, Cephalon kann Modafinil, das in den USA unter dem Namen Provigil (Deutschland: Vigil) über den Tresen geht, bis 2011 ungestört verkaufen.

Der Erfolg von Cephalon und Modafinil gilt als Blaupause für die Etablierung eines so genannten „cognitive enhancers“ im Markt, einer Hirnpille, die nicht nur aufmerksam, sondern auch schlauer machen soll. Ursprünglich gegen die plötzlichen Schlafattacken von Narkoleptikern zugelassen, mausert sich das Medikament seit einigen Jahren zum Alleskönner. Aber was kann die Substanz wirklich?

Erster Anlauf
27.7.2007, 16.00 Uhr
 Das Wochenende naht, aber es liegt Arbeit auf dem Schreibtisch. Schrecklich schwere Artikel für die Telepolis? Nein, wildes Geschreibsel für einen Newsletter. Ich nehme die erste 200mg Dosis Modafinil meines Lebens. Set und Setting sind hervorragend: Gut ernährt, drei Wochen Urlaub in Griechenland hinter mir, eine gesunde Frau, Familie und Freunde gut in Futter. Nun will ich leisten und dabei auch noch schlauer werden. Ich bemühe mich möglichst nicht auf die Wirkung zu achten, die muss schon von alleine kommen.
17.30 Uhr
 Leichte, subjektiv empfundene Temperaturerhöhung. Ich arbeite normal weiter. Zügig und gekonnt, wie immer. Weder bin ich schneller an der Tastatur, noch sprudeln besonders brillanten Sätze aus mir in den PC.
19.00 Uhr
 Nun ja, zwei Tassen Kaffee würden mich aufgeweckter, aber auch nervöser machen. Ein ganz subtile Wachheit ist da, gänzlich ohne Euphorie, ohne Schub, nichts, was sich nicht sofort wieder abschalten ließe.
20:30 Uhr
 Feierabend. Das Kino auf der Leinwand erlebt sich nicht anders. Und das bei dem Simpsons-Film. Behalte ich mehr als sonst? Vielleicht ist es auch das eine Duff-ähnliche Bier, das mich etwas träge macht. Alkohol scheint kontraproduktiv. Danach jedenfalls ist mir in der Helligkeit wohler.
22.00 Uhr
 Sozial voll verträglich. Ich plaudere ohne besonders eloquent zu sein. Aber manchmal schaue ich mich um und merke: irgendwas ist anders.
22.15 Uhr
 Plötzlich leichtes ziehen im Unterkiefer, eine Erinnerung an das MDMA der späten 80er Jahre. Allerdings ohne dessen aufwallende, schwitzende Gefühlsschübe. Wahrscheinlich jubeln jetzt die Vertreter der Flashback-Theorien auf. Tja, jede wirklich gute Erinnerung setzt sich halt fest und wird eventuell mal wieder rausgekitzelt.
22:45
 Ich beobachte schon etwas schärfer, oder bilde ich mir das nur ein? Ein Grundproblem von Modafinil. Vielleicht hätte ich keinen grünen Tee beim Asiaten trinken sollten. Aus dem Essen kommen keine Würmer, „Langweilig“, wie Homer Simpson sagen würde. Ich gähne zu dritten Mal. Ist es das Gefühl, bevor aus gleich richtig abgeht? Nein.
23 Uhr
 Ich schaue Ottis Schlachthof auf Bayern 3. Ein sicheres Zeichen, dass ich nicht normal bin. Oder lockt mich der intellektuelle Humor? Unklar.
23.30 Uhr
 Ich lese.
1:45 Uhr
 Immer noch wach. Wahrscheinlich könnte ich gut schlafen, aber warum? Ich dümpel zwischen GTR2-Online Racing und einem Buch über die Lebensgeschichte eines toskanischen Kaufmanns aus dem 15. Jahrhundert.. Leichtes Hangovergefühl im Gesicht macht sich breit. Kein guter Atemrhythmus.
2.30 Uhr
 Immer noch nicht richtig müde gehe ich trotzdem ins Bett und schlafe sofort ein. Kleiner Kater am nächsten Tag, eine gewisse Schwere im Körper.

Off-Label Erweiterung

Nach den klinischen Test genehmigte die amerikanische Zulassungsbehörde FDA 1998 den Einsatz von Provigil bei Narkolepsie. Bei Narkoleptiker verringert Modafinil die Zahl der plötzlichen Schlafepisoden um ungefähr eine Attacke am Tag. Eine höhere Dosierung als 400 mg hilft nicht besser. Die Hälfte der Konsumenten leiden unter Kopfschmerzen, andere Störwirkungen können Übelkeit, Schwindel und Durchfall sein.

Schon vorher hatte Cephalon aber nicht nur Kontakt zu Neurologen aufgenommen, die das unbekannte Medikament zukünftig verschreiben sollten. Mit einer Marketingkampagne sorgte man für die Verbreitung auch bei Ärzten anderer Fachrichtungen. In einer Broschüre wurde auf die hervorragende Wirkung von Modafinil auch bei anderen Krankheiten hingewiesen. Lange Zeit hielt die FDA die Füße still, auch, weil die Substanz als relativ ungefährlich gilt und in dem Ruf steht, auch bei lang anhaltender Anwendung nicht abhängig zu machen.

2002 wurde es der Behörde zu bunt, man rügte die aggressiven Werbemethoden von Cephalon, Ende 2004 ermittelte sogar der Bundesstaatsanwalt. Das Problem: Die Gesetze verbieten Unternehmen die Anpreisung ihrer Mittelchen für andere Indikationen als die von der FDA genehmigten; man kann aber nicht verhindern, dass Ärzte auf eigene Faust experimentieren.

Zwar weiß bis heute keiner ganz genau wie die Droge im Körper funktioniert, das hindert aber gerade in den USA wenig Ärzte Provigil bei allerlei Wehwehchen zu verschreiben: Chronische Müdigkeit, Schläfrigkeit, Herzfehler, Jet-Lag.


Baldino weiß: Inzwischen erzielt Cephalon die Hälfte aller Provigil-Einnahmen aus diesem legalen, aber argwöhnisch beobachteten „Off-Label Use“. Und dieser ist nicht nur bei Modafinil das Einfallstor für den Einbruch in neue Märkte.

Zugeben darf das niemand. In der Cephalon-Niederlassung in Martinsried bei München zeigt man sich daher zugeknöpft, wenn es um Auskünfte rund um Modafinil geht. „Kein Kommentar“, heißt es.

Noch wandelt Baldino sicher durch das Minenfeld des amerikanischen Kontrollsystems. Einerseits will er die FDA dazu bringen die Liste der Indikationen für Provigil zu erweitern, andererseits will er deren Ängste zerstreuen, die Substanz könne sich zur Lifestyle-Droge mausern. Dass dies längst geschehen sei, suggerieren Medienberichte, aber solide Studien über die Verbreitung der Substanz zur reinen Optimierung der Lebensleistung liegen nicht vor.

Aufmerksamkeitsstörung

Bis heute ist Modafinil als Mittel gegen Schlafapnoe- und Schichtarbeit-Syndrom in den USA zugelassen, aber Baldino, der seine pharmakologische Karriere bei DuPont begann, hatte schon früh ein nächstes Marktsegment ausgeschaut. In den USA boomt bei Kindern seit den 90er Jahren die Zappelphilip-Diagnose, als Mittel der Wahl bei ADHS gilt trotz aller Diskussionen noch immer Ritalin (Methylphenidat). Novartis setzte 2006 über 330 Millionen Dollar allein mit diesem Medikament um. Studien hatten ergeben, dass auch Modafinil beim Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Syndrom helfen kann. Die Analysten freuten sich schon, als sich die Gerüchte verdichteten, die FDA würde Cephalon die Vermarktung als Anti-ADHS-Mittel unter dem Namen „Sparlon“ genehmigen. Im September 2006 kam die Ernüchterung: Die FDA erteilte den Plänen eine Abfuhr, es war zu einem Fall von arzneimittelallergisch bedingten Hauterkrankung gekommen bei einem Probanden gekommen.

Für Provigil gilt: Die Substanzgruppe ist wirklich neu und kein sonst wie geartetes Derivat der Amphetamine, Alkaloide oder gar serotoninverwandten Halluzinogene. Dieser Umstand schiebt es zunächst einmal aus den Fokus der Drogenkontrollinstitutionen. Und Langzeitwirkungen konnten noch nicht erforscht werden. So ist die Aufregung unter Experten und Off-Label-Usern groß, selbst nüchterne Wissenschaftler wie Danielle Turner von der Universität Cambridge sprechen von einer „vielversprechenden Substanz“.

Friendly Fire

Die Euphorie der ersten Modafinil-Studien zog schon früh das Interesse der Streitkräfte an. Aus militärischer Sicht ist der Mensch eines der schwächsten Instrumente der Kriegsführung. Er braucht Essen, Wundversorgung und den Glauben, dass sein möglicher Tod der guten Sache dient. Und er braucht Schlaf, zufiel Schlaf, denn ohne Schlaf macht er Fehler.

Die Untersuchung eines Zwischenfalls in Afghanistan im Jahre 2002 zeigte das deutlich. Zwei Amerikanische Piloten hatten damals vier kanadische Soldaten unbeabsichtigt getötet. Vor dem Kriegsgericht gaben die Anwälte der Piloten an, dass ihre Mandanten zur Zeit des Unfalls unter dem Einfluss von Dexedrin standen. Anders formuliert: Sie waren auf Speed, dem klassischen Amphetamin, ein beliebter Stoff seit den Schlachten des 2. Weltkriegs.

Für Normalbürger verboten, ist Speed für das Funktionieren der US-Streitkräfte elementar. Dr. Pete Demitry, Arzt bei der Luftwaffe und selber Pilot, sagte während einer Pressekonferenz zu dem Kriegsgerichtsverfahren: „Die Air Force nutzt Dexedrin seit 60 Jahren. Und wir wissen, dass es sicher ist, weil wir nie einen Zwischenfall hatten, der nachweislich in kausaler Beziehung zu dem Anregungsmittel stand.“

Speed

Es ist eine weitere Ironie der Drogenpolitik, dass 60 Jahre militärische Anwendung anscheinend nur fröhlich-konzentriert aufgeputschte Soldaten erlebt haben soll. Und das wo doch Amphetamin in den USA immer wieder als Horrordroge bezeichnet wird („Speed kills“).

Tatsächlich ist die häufige Einnahme von Amphetamin gesundheitsschädlich, das Militär sucht nach Alternativen – und Modafinil ist eine davon. Die DARPA (http://www.darpa.mil/) hat 100 Millionen Dollar für ein Forschungsprojekt bereit gestellt, das im Ergebnis die kognitiven Leistungsfähigkeit der Soldaten während lang andauernden Schlafentzug erhalten soll.

Air Force und Cephalon sponsorten eine Studie der Harvard Universität, in der 16 gesunde Probanden 28 Stunden ohne Schlaf auskommen mussten. Die Personen mit Modafinilbeigabe schnitten in den kognitiven Tests besser ab als die mit Zucker-Placebo. Weltweit waren die Generäle begeistert. 2004 gab das britische Verteidigungsministerium zu, seit 1998 über 24.000 Tabletten Modafinil eingekauft zu haben. Die Verwendung blieb im Dunklen, auffällig war allerdings laut Guardian die jeweilige Bestellung größerer Mengen vor dem britischen Engagement in Afghanistan und Irak.

Zweiter Anlauf
4.8.2007, 18.00 Uhr
 Eine Open Air Party in Norddeutschland, der Techno-Beat wummert seit 18 Stunden, es ist aber erst Samstag. Der Blister knackt, 200 mg rein damit. Heute geht es weniger um das Steigern von Arbeits- und Kurzzeitgedächtnis, sondern um gute Unterhaltung im doppelten Sinne: Entertainment und Kommunikation. Zudem lässt sich das Wirkspektrum einer Substanz in der fiebrigen Atmosphäre einer vollelektronischen Goa-Party besser abtasten.
18.30 Uhr
 Wenn es denn was abzutasten gibt. Obwohl gut ernährt rumort der Magen und entleert sich in einem chemisch angehauchten Schiss im nahe gelegenen Maisfeld. Ist es die Pille oder die Aufregung?
19.45 Uhr
 Ich fuhrwerke auf der Tanzfläche rum, Musik und Erleben sind großartig, aber im Normalbereich. Nur mit sensiblen Antennen lässt sich ein Verschieben optischer Frequenzen ausmachen. Oder sind das die Haschischschwaden, die über das Feld wabern? Auch beim zweiten Versuch erweist sich die Mischung mit Alkohol in den ersten Stunden als unklug. In der polytoxomanen Gesellschaft hier vor Ort bin ich wahrscheinlich einer der nüchternsten Kandidaten.
21.00 Uhr
 Erst nur eine Andeutung wird klar: Modafinil fördert bei mir eine zackige Roboterhaftigkeit. Die Motorik ist kontrolliert, sehr kontrolliert. So aufmerksam will ich gar nicht sein, zumindest nicht heute. Das Körpergefühl ist nicht unangenehm, aber der Fluss der Bewegung wirkt abgehackt. Wie immer bei Modafinil aber nichts, was sich nicht durch Aufmerksamkeit, in diesem Fall das Besinnen auf Geschmeidigkeit, wieder in den Griff kriegen lässt.
23.30 Uhr
 Könnte „cognitive enhancement“ die Bewusstseinserweiterung des zweiten Jahrzehnts werden? Eine Art 60er- und 90er Revival? Nein. Dafür sind die Substanzen nicht einschneidend genug, ihnen geht die Kraft zur psychischen Ausgrabung völlig ab. Eher wirken Modafinil & Co. wie aus Silikon entsprungene Banalitäten. Droht die Menschheit zur einer Horde vigilant arbeitswütiger Spacken zu verkommen?
2.50 Uhr
 Gesteigerte Kommunikationsfähigkeit oder Zufall? Auf jeden Fall bleibe ich an jedem Getränke- und Essensstand auf einen Schnack hängen. Zurück auf der Tanzfläche brettert der Sound durch die Menschenmassen. Lichtblitze, feuerspeiende Schönheiten, Mutanten auf Stelzen, Laser-Shiva Animationen, der Rest ein wild gewordener Schweinekoben. Ein Raver wälzt sich horizontal im Gras, Konvulsionen, „break on trough to the other side“, nach Spaß sieht das nicht mehr aus. Vielleicht wäre eine Encounter-Gruppe in Freiburg der sicherer Ort für solch' eine Abfahrt gewesen.
4.30 Uhr
 Ich bin weder hellwach noch getrieben, sondern einfach nur nicht müde. Na dann, gute Nacht. Nach fünf Minuten bin ich tatsächlich schon eingeschlafen. Kaum Hangover am nächsten Morgen.

Schubvergleich

Greg Belenky vom „Walter Reed Army Institute of Research“ in Silver Spring, Maryland, wollte es genauer wissen. Er verglich die Wirkung von Modafinil, Speed und Koffein an Soldaten, die bis zu 85 Stunden wach gehalten wurden. Sein Fazit: „Kurz gesagt wirken sie alle ähnlich: Gibt man sie jemanden, der müde ist, dann fühlt er sich besser. Allerdings wirkt Modafinil länger als Amphetamin und beide wiederum länger als Koffein.“

Sicher, Modafinil wirkt bis zu 12 Stunden, aber sollte das der einzige Unterschied gegenüber Speed und Koffein sein? Die Schreiber in den weltweiten Drogenforen dürften widersprechen und auf die verschiedenen und dosisabhängigen Effekte auf die Psyche hinweisen. Und natürlich hat auch Modafinil seine Nebenwirkungen. Je nach Dosierung können Nervosität, Übelkeit, Reizbarkeit, Zittern, Schwindel, Mundtrockenheit und Kopfschmerzen auftreten.

Höhere Weihen

Soldaten, Studenten und nun sogar die Professoren. Philipp Harvey, Professor für Psychiatrie an der Emory Universität in Atlanta, erzählte der Times vor kurzem freimütig von seiner Modafinil-Affinität zum Überwinden des Jet-Lags. Seine Kollegin Barbara Sahakian, Professorin für Neuropsychologie in Cambridge, berichtet von mehreren ihr bekannten Wissenschaftlern, die die Droge verschrieben bekommen haben, weil sie öfters Zeitzonen überqueren.

Sahakians Mitarbeiterin, Danielle Turner, testete die Substanz 2003 an 60 gesunden Probanden. Gegenüber Placebo schnitten sie in einem Test des Kurzzeitgedächtnis signifikant besser ab.
Die genauere Analyse des Turner-Tests relativiert die Ergebnisse: So verbesserte sich beispielsweise die Werte bei der Mustererkennung und dem Zahlenerinnerungstest Digit-Span (hier online), nicht aber beim schnellen Erfassen visueller Informationen und dem CANTAB-SWM, einer klassischen Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung. Die Testpersonen waren auf Modafinil in der Bearbeitungsgeschwindigkeit beim Zahlen-Verbindungs-Test (ZVT) nicht besser als andere. Man vermutet daher, dass die Leistungssteigerungen auf einer verlangsamten Reaktion beruhen: „Es sieht so aus“, sagt Turner, „als ob die Probanden durch das Modafinil etwas länger nachdenken, bevor sie antworten.“

Ist das alles die Aufregung wert? Es existieren pharmakologische Studien mit vergleichbaren Design, die andere Substanzen nutzten. Das Arbeitsgedächtnis wird ebenfalls durch Noradrenalin- und Dopamin-Agonisten (link) positiv beeinflusst. Selbiges gilt für die bekannten Stimulanzien wie Methylphenidat, bekannt als Ritalin, und sogar Amphetamin (link).
In Leipzig erforschten die Universität Leipzig und das Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaft die Substanz (link). Auch hier fand man in einer doppelblinden und randomisierten Studie eine leicht verbesserte Leistungsfähigkeit in Tests des Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis.

Wie das?

Der weltweite Wissenschafts-Hype um die Substanz steht auf schwachen Beinen, denn der Mechanismus, nach dem Modafinil im Körper funktioniert ist noch immer weitgehend ungeklärt. Obwohl millionenfach verschrieben bleibt der pharmakologische Grund für den stimulierenden Effekt der Droge im Dunklen. Während Forscher wie Luca Ferraro die steigernde auf den Glutamathaushalt und verringerte GABA-Ausschüttung verantwortlich sehen (link), wollen andere die Veränderung des Hypocretin-Levels als Ursache ausgemacht haben. Es gibt Hinweise, dass der Hypocretinhaushalt bei Narkolepsie gestört ist. Wieder andere Wissenschaftler weisen auf die indirekte Stimulation von Noradrenalin und anderen Neurotransmittern am Alpha-1 Rezeptor hin (link). Dafür spricht, dass bestimmte Alpha-1 Blocker wie Prazosin die Wirksamkeit von Modafinil beeinträchtigen.

Fest steht: In Internet-Foren (und link) äußern sich User nicht nur euphorisch über die Substanz. Narkoleptiker sprechen von erheblichen Nebenwirkungen, Off-Label- und illegale Tester von einer Beeinträchtigung des Sprachvermögens oder der Kreativität (link). Anderen gefiel das „medikamentöse Dauerhoch“ (link) nicht.

Dritter Anlauf
Dienstag, 21. April 2007, 11.00 Uhr
 Sollte denn die innere Einstellung zu einem Medikament eine Rolle bei dessen Wirkung spielen, dann hat Modafinil bei mir wenig Chancen. Die bisherigen Versuche zeigten mich zwar als vigilen, aber genauso töffeligen Menschen. Schachgroßmeister werde ich nicht mehr.
11.30 Uhr
 Gute Idee, ich spiele eine Runde Schach gegen den PC, der mich aber wie immer gekonnt abfiedelt.
13.35 Uhr
 Leicht fickerig, wie der Experte sagt. Dazu das inzwischen bekannte flaue Gefühl im Magen. Alles nur subtile Erscheinungen. Das Basteln an html- und css-code geht leicht von der Hand.
16.00 Uhr
 Mir schwant, dass Modafinil seinen Platz vor allem dort finden wird, wo wenig Kreativität und viel Arbeitsleistung gefragt ist.
19.00 Uhr
 Ein normaler Arbeitstag geht dem Ende zu. Wäre da nicht dieses zarte Ziehen in der Gesichtsmuskulatur, das eine Richtung hat: Nach vorne. Das physische Resultat der beharrlichen Fokussierung auf den Monitor, bilde ich mir ein.
23.00 Uhr
 Die Substanz fordert schon Aufgrund ihrer Schlichtheit zur simplen Kosten-Nutzen-Abwägung auf. Zunächst ein individueller Prozess: Modafinil ist stärker als Koffein und andere milde Pusher, die Fokussierung enger. Sieht man vom durchaus beeinträchtigten Körpergefühl ab, bleibt die Substanz in ihrer psychischen, vor allem aber emotionalen Wirkung subtil. Merkfähiger oder gar kreativer macht sie nicht, eher breitet sich Fließbandatmosphäre im geistigen Raum aus. Gut, wenn Narkoleptiker von einer Substanz mit wenig Nebenwirkungen profitieren können. Als gesunder Mensch werde ich mich weiterhin eher auf die seit Jahrhunderten erprobten, naturnahen Wirkstoffe verlassen.

Spiegelkabinett

Um weiterhin kräftige Gewinne zu garantieren griff Cephalon vor kurzem in die pharmakologische Trickkiste. Man spiegelte und drehte ein wenig am Modafinil-Molekül und schuf ein Isomer mit gleicher Struktur und Summenformel, aber unterschiedlicher Konfiguration der Atome. Fertig war Armodafinil, das unter dem Namen „Nuvigil“ im Juni diesen Jahres den Segen durch die FDA erhielt. Das Patent läuft bis 2023. CEO Frank Baldino ist zufrieden: „Die Zulassung von Nuvigil erlaubt es uns, die Spitzenposition im Bereich der Wachsamkeit zu halten.“ Die Substanz wirkt länger, Wissenschaftler testen schon den Einsatz bei weitere Krankheiten. Nun sollen sogar Menschen, die an Depression oder Schizophrenie leiden, von dem Mittel profitieren.