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„In einer Utopie der Idioten sehe ich die größte Gefährdung für die kapitalistische Maschinerie“

Hans-Christian Dany über die Wurzeln der sich selbst kontrollierenden Gesellschaft in der Kybernetik

Hans-Christian Dany über die Wurzeln der sich selbst kontrollierenden Gesellschaft in der Kybernetik

Erschienen in der Telepolis v. 01.09.2013
Das Gespräch führte Jörg Auf dem Hövel

Anfang der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts tauchte ein Forschungsansatz auf, der das wissenschaftliche Denken nachhaltig verändern sollte: die Kybernetik. Angelehnt an den griechischen Begriff des „Steuermann“ beschäftigte sich die neue Disziplin mit der Regelung von Maschinen, Organismen und Organisationen. Die Grundannahme: Alles ist ein System und funktioniert nach den Prinzipien von Rückkopplung, Selbstregulation und Gleichgewichtserhaltung. Das oft genannte Beispiel eines kybernetischen Systems ist der Thermostat. Dieser vergleicht den Istwert der Raumtemperatur mit dem Sollwert, der als gewünschte Temperatur eingestellt wurde. Der Temperaturunterschied führt den Thermostaten in einen Regelkreis, bei dem Ist- und Sollwert ständig angeglichen werden. Ahnherr der Disziplin ist Norbert Wiener, ein US-amerikanischer Mathematiker, der über die Analyse von automatischer Zielerfassung von Militärflugzeugen zum Begriff der Kybernetik kam. Die Kybernetik befruchtete zahlreiche andere Domänen, ihre Ideen und Begriffe flossen in Management- und Therapieschulen, Erkenntnistheorien und die soziologische Systemtheorie ein.

Der Hamburger Autor Hans-Christian Dany hat die Geschichte der Kybernetik in seinem Buch „Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft“ [1] neu erforscht und sieht eine starke Verbindung zwischen dem Modell selbstregulierender Systeme und der heutigen, auf ständige Selbstoptimierung ausgerichteten Gesellschaft.


Mehr noch, seine These ist, dass die Kybernetik ein ideologischer Grundstein des aktuellen, informationstechnischen Kommunikations-Panoptikums ist, in dem jeder nun Beobachter aller anderen und ein von allen anderen Beobachteter ist. Demnach wären wir in eine kybernetische Kontrollmaschine eingeschlossen, die jedwedes zivilgesellschaftliches Engagement als funktionale Störung integriert und die durch die Forderungen nach Transparenz noch stabilisiert wird.

Frage: Die Kybernetik gilt als theoretische Grundlage für technische Regelkreisläufe, wie beispielsweise Thermostaten. Durch was bist Du auf den Zusammenhang zwischen kybernetischer Wissenschaft und einer sich selbst optimierenden und kontrollierenden Gesellschaft gestoßen?

Hans-Christian Dany: Hellhörig wurde ich zuerst du das immer öfter auftauchende Wort „Feedback“. Was ich früher aus der Musik kannte, tauchte verstärkt auf, als mein Sohn in den Kindergarten kam. Die Pädagogen baten immer um Rückmeldung. Zugleich wurden im Internet die Mechanismen etabliert, in denen sich Käufer, Verkäufer und Dienstleister gegenseitig bewerten. Im beruflichen Bereich musste ich als Lehrbeauftragter im Rahmen des Bologna-Prozess Evaluationsbögen an meine Studenten austeilen. Das löste eine gewisse Spannung aus: Ich bewerte sie durch meine Noten, sie mich durch das Feedback. Wir formalisierten unsere gegenseitige Beobachtung zu einer Observationssituation. Einerseits ganz gut, denn es half, mich als Lehrenden zu optimieren, andererseits war klar, dass wir uns von nun an in einer polizeilichen Überwachsituation bewegten und aktiv daran mitarbeiten.

Regelkreisläufe tauchen in der Natur und überall auf. Führen sie automatisch zu Überwachungssituationen?

Hans-Christian Dany: Nein, Regelkreisläufe können durchaus positiv sein. Sie wenden sich im Sozialen schnell zu einer Form der gegenseitigen Kontrolle. Eingeführt werden sie meist durch Konsumverhältnisse, sind aber auch in pädagogischen und universitären Bereich mit einer ökonomischen Sprache verbunden. Als Lehrender bin ich die Stelle, an der der Student oder die Studentin Credit Points erhält. Sehr früh kommt von den Studenten die Frage: „Was wollen sie von uns?“ Die Euphorie des Lernens geht verloren, man erfüllt Erwartungen.

Der Kontrollkreis wurde geschlossen.

Hans-Christian Dany: Und genauso beginne ich jemanden durch schlechte Bewertungen im Internet vom Markt auszuschließen – mein wertender Blick wird zur Bedrohung. Kurzum: Die kybernetischen Regelkreise sind nicht losgelöst von der Ökonomie zu sehen. Deswegen sind die positiven Erwartungen, die es an die Kybernetik einmal gegeben hat, wie beispielsweise , dass sie helfen kann, eine freiere, basisdemokratischere Gesellschaft zu formen, nicht erfüllt worden. Die Aneignung durch das kapitalistische System verschließt alle Potentiale.

Ist das bei der Piratenpartei mit ihrem „Liquid Feedback“ anders?

Hans-Christian Dany: Die Piratenpartei betreibt keine Wendung der Perspektive, sondern will durch diese Feedback-Methoden einen besseren Kapitalismus ermöglichen.

Aus dieser Logik heraus wäre die Arbeit von autonomen Gruppen und Graswurzelbewegungen obsolet, weil sie dem System zuarbeiten und als Störung integriert werden.

hc-danyHans-Christian Dany: Weil die kybernetisch-kapitalistische Regulationsmaschine so groß und so stabil geworden ist, hat sie viele anders ausgerichtete Aktivitäten vereinnahmt. Ich würde nicht sagen, dass sie alle vereinnahmt hat und es geht darum, ein Außerhalb herzustellen. Ich glaube durchaus, dass Selbstorganisation noch möglich ist, aber es gibt genug Beispiele für kommunikativ repräsentierende Selbstorganisation, die wie ein Exempel des Freiraums im Sinne einer funktionalen Störung wirkt. Die kybernetische Maschine braucht funktionale Störungen, die sie integrieren kann, um am Leben zu bleiben. Wenn sie nur innerhalb ihres geschlossenen Kreislauf agiert, kommt es zur Ermüdung.

Neue Generation von Kapitalisten, die sich gegen die engen Kontrollkreisläufe wehren

Ist die mangelnde Innovationskraft der letzten Jahrzehnte ein Zeichen solcher Ermüdung?

Hans-Christian Dany: Regelkreislaufsysteme tendieren zur Ermüdung und zum späteren Wärmetod, sie müssen sich offen halten für Einflüsse. Seit drei Jahrzehnten hat das ökonomische System aber die Tendenz zur Kontrolle, verstanden im Sinne der gegenseitigen Kontrolle der Teilnehmer. Das führt zu Innovationsmangel. Um die geschlossen Kreisläufe zu beleben, versuchen systemtheoretisch geprägte Manager sie durch Störungen zu öffnen und beleben. Bei diesen Störungen handelt es sich oft um durch Umdeutungen vereinnahmte Widerstände.

Welche vereinnahmten Störungen meinst Du genau?

Hans-Christian Dany: Wenn man betrachtet, wie die Aufstände der letzten Zeit beispielsweise in Brasilien oder der Türkei von Wirtschaftsmagazinen gefeiert werden, dann ahnt man, wo die Hoffnungen des Managementtheorie liegen. Die Magazine sehen dort eine neue Generation von Kapitalisten heranwachsen, die sich gegen die engen Kontrollkreisläufe wehren. Das sind Formen der Protests, die im hohen Maße lesbar sind und daher gut integriert werden können. Demnach kämpfen in der Türkei die Modernisierer gegen die Konservativen, die Korrupten oder den zu starken Islam und in Brasilien die Mittelschicht gegen die alten Eliten. In den Bewegungen selbst mag es sehr viel vielschichtiger sein, aber die Interpretation ist eindeutig. Andere Formen des Widerstands, die sich gegen die engen Kontrollkreisläufe wehren, um sie für überlebensnotwendige Innovation zu öffnen, sind gefährlicher.

Du spielst auf die Aufstände in London und den Pariser Banlieus an, die von den Medien als blindwütiger Mob interpretiert wurden.

Hans-Christian Dany: Diese Bewegungen sind viel weniger eindeutig und agieren aus einer starken Negativität. Die Verweigerung des Sprechens und der Forderung nach sozialer Mobilität fand ich interessant. Das massenhafte Anzünden von Autos in Paris als Verweigerung des Bewegungsgedankens bringt zum Ausdruck: „Wir bleiben hier.“ Das bleibt natürlich irrational und ist nicht genau greifbar. „Wir wollen nicht mehr arm sein, aber wir zerstören auch das klein bisschen Reichtum, das ihr uns anbietet“, ist noch so ein irrationales Bild, das hängen geblieben ist. In London deutet die Plünderung auf ein komplettes Ja zum Kapitalismus hin, gleichzeitig wird das Zeug verbrannt: ein Oszillieren zwischen Negation und Affirmation. Das sind Figuren, die sich zu Störungen auswachsen und Felder des Undurchsichtigen erzeugen können.

Proteste sind Meldungen, dass etwas reguliert werde muss

Spielt es eine Rolle, was die Akteure sich dabei denken?

Hans-Christian Dany: Im Gegenteil: Es kann eher etwas zu Störung werden, das keine Intention hat. Denn dann laufen die Sensoren ins Leere.

In Hamburg diskutiert man seit einigen Jahren unter dem Titel „Recht auf Stadt“ die städtische Umstrukturierung und kämpft gegen steigende Mieten. Auch da haben Du und andere dem Aktionsbündnis vorgeworfen, dem System nur Frischluft zuzufächeln und Reparaturdienstleister zu sein. Das führte verständlicherweise zu Widerspruch bei den Beteiligten und zu Frust bei jedem Sozialarbeiter.

Hans-Christian Dany: Es gab damals eine große Aufmerksamkeit für politische Bewegungen, die als widerständische Form auftraten. Die Besetzung des Gängeviertels und die Recht-auf-Stadt-Initiative waren zwei Akteure. Die Bewegung „Not in Our Name“, in der sich vor allem Künstler- und Kulturschaffende engagiert haben, wollte sich nicht vom Stadtmarketing vereinnahmen lassen. Ich sage nicht, dass man sein Bemühen, gut miteinander umzugehen, einstellen oder gar aufhören sollte, ethisch zu handeln. Damals ging es aber um sehr symbolisches Auftreten, denn das Manifest kam rotzig daher, schmiegte sich aber gleichzeitig an den Tonfall einer postdemokratischen Medialität. Daher wurde es begeistert aufgegriffen und es kam zu einer Debatte im Senat. Es benötigte jemanden, der diese Fragen damals so aufwarf. Das Gängeviertel hätte von der Stadt Hamburg erfunden werden müssen, wenn es denn nicht selbstorganisiert entstanden wäre. Es tauchte eine neue Ästhetik für Hausbesetzer auf, es gab einen Plan, wie man sich durch das Viertel bewegen kann, es gab einen unheimlich intensiven Kontakt zur Springer-Presse. Heute ist das Gängeviertel ein hoch subventioniertes städtisches Projekt. Das sind sich wiederholende Strukturen, der ewige Runde Tisch, die im Grunde nur eine Entsorgung der gesellschaftlichen Probleme auf einer symbolischen Ebene betreiben.

Die herrschende Ordnung lässt immer nur die Information beziehungsweise Störung zu, die für sie noch erträglich ist?

Hans-Christian Dany: Man dämmt die Mietpreise etwas ein, weil der Markt sonst auch völlig überhitzt. Die politisiert-widerständischen Initiativen dienen als Sensoren der kybernetischen Maschine und sondieren das Gelände. Es gibt einen Slogan dieser Initiativen, der lautet: „Stell dir vor, die Wünsche gehen auf die Straße.“ Das war mal eine Vorstellung, wie ein Aufstand aussieht. Wenn heute die Wünsche ans Licht gehen, dann ist das nur die Meldung: Hier muss was reguliert werden. Dabei könnte es darum gehen, die Störung im Dunklen zu halten, damit sie anschwillt und zur Explosion kommt.

Kybernetik und der Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft

Ein Sprung zurück. Kannst du den Übergang von der sogenannten Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft und den Zusammenhang zur Kybernetik einmal näher erläutern?

Hans-Christian Dany: Bis lange in das 20 Jahrhundert hinein herrschten die Strukturen der Disziplininargesellschaft, in der Autoritäten wie Eltern, Lehrer, Polizei, Ärzte dem Einzelnen vorgaben, was er zu tun hat. Dieses Modell kommt in den 1960er Jahren in die Krise, teilweise durch die emanzipatorischen Bewegungen, aber auch, weil sich Fabriken und Unternehmen kleinteilig auflösen und der Vorarbeiter oder Chef seine Kontrollfunktion nicht mehr wahrnehmen kann. Gilles Deleuze beschreibt die nun entstehende Kontrollgesellschaft Anfang der 90er Jahre. In ihrem Zentrum steht die Selbstkontrolle und Selbstdisziplinierung. Ab jetzt sagt mir nicht mehr der Chef, dass ich morgens pünktlich zur Arbeit erscheinen soll, sondern ich frage mich selbst, was ich schon alles hätte tun können. Dieser Mechanismus ist heute vielen sehr vertraut. Nicht der Arzt sagt mir, dass ich mehr Sport treiben muss, um gesund und arbeitsfähig zu bleiben, ich sage mir selbst: „Ich muss mehr joggen.“

Frage: Dieser Wechsel, der heute tief in der Gesellschaft verankert ist, setzt Mitte der 70er Jahre ein. Heute sind wir ständig dabei uns zu optimieren.

Hans-Christian Dany: Schon Deleuze sagte in einem Interview, dass die Kybernetik die zentrale Maschine der Kontrollgesellschaft ist. Ständig arbeiten wir an uns, überprüfen, ob wir gut aussehen und witzig sind. Die kybernetischen Bewertungmaschinen forcieren diese Entwicklung. Über Facebook und die anderen Medien kontrollieren wir uns, ob wir wirklich cool und voll auf Zack, also immer gut informiert sind. Es bedarf keiner Autorität von außen mehr, das alles am laufen zu halten, das erledigt der einzelne selbst. Als die Kontrollgesellschaft sich etabliert hatte, war die Kybernetik schon länger aus dem kollektiven Bewusstsein verschwunden.

Konkret technischer Höhepunkt war sicherlich die Regulationsmaschine, die Salavador Allende in Chile 1972 durch den Betriebswissenschaftler Stafford Beer installieren ließ, um den Staat zentral zu verwalten.

Hans-Christian Dany: Ein in verschiedener Hinsicht interessanter Ansatz: Stafford Beer prägt das kybernetische Management und galt als Retter der britischen Stahlindustrie. Aber ihm ist egal, ob er für ein kapitalistisches oder sozialistisches System arbeitet, er sagt, dass jede Ordnung der Kybernetik unterworfen wird. Als Postideologe wird er also zum Berater von Allende, der ihn mit dem Bau einer kybernetischen Staatssteuerung beauftragt. Er entwirft ein Netzwerk mit einer Zentrale in der Hauptstadt, das von über 50 Fernschreibern permanent Informationen erhält und diese zu regulieren versucht. Höchster Informationsstand und höchste Transparenz sollten zu höchster Regulierbarkeit führen. Die Zentrale sieht aus wie Raumschiff Orion und ist zu einem Kult geworden. Der Putsch setzt dem ein Ende und im Rahmen der allgemeinen Technologieskepsis geraten die Ansätze, ein politisches System in Echtzeit zu kontrollieren in Vergessenheit. Später tauchen dann die kybernetischen Managementansätze in St. Gallen und bei Unternehmensberatungen wie McKinsey wieder auf.

Beobachter des Beobachters

Heinz von Foerster war der frühe Star der Bewegung. Was war an ihm so faszinierend?

Hans-Christian Dany: Zunächst einmal ist Heinz von Foerster ein toller Wissenschaftserzähler und eine schillernde Persönlichkeit. Seine Kybernetik 2. Ordnung war stark von der Biologie beeinflusst. Aus der Erkenntnis heraus, dass jeder Mensch, aber auch jedes System, einen blinden Fleck besitzt, entwirft von Foerster eine Managementtheorie, die die Beobachtung des Beobachters einführt. Der blinde Fleck beim Menschen ist der Punkt im Augeninneren, an dem die Nervenstränge zusammenlaufen. Man selbst erkennt aber nicht, dass man an dieser Stelle nicht sieht. Man braucht eine weitere Instanz, die einen über den Fleck in Kenntnis setzt.

Aber von Foersters waren durch zunächst grundsätzlich nicht für die Betriebswirtschaft gedacht, sondern erkenntnistheoretisch formuliert.

Hans-Christian Dany: Er fand aber bei den Managern Gehör. Denn um die blinden Flecken seiner selbst aufzuheben, muss der Manager die Mitarbeiter in die Betriebsführung miteinbeziehen.

Was als Heterarchie, „flache Hierarchie“ und Mitbestimmung gefeiert wurde.

Hans-Christian Dany: Was dabei gerne übersehen wurde: Das bedeutet eben nicht, an den Produktionsmitteln beteiligt zu sein. Der Angstelle wird zwar viel stärker in die Arbeit miteinbezogen, Betriebsanteile werden sogar vergeben, aber die Beteiligung täuscht über die Eigentumsverhältnisse hinweg. Und die shares kann man schnell verlieren. Es geht immer darum, wie bestimmte Begehren integriert werden können, die die kapitalistische Ordnung stabilisieren.

Aber die Selbstorganisation fand doch aus Ausdruck in nichtökonomischen Zusammenhängen.

Hans-Christian Dany: Natürlich gab und gibt es Ansätze, die „Noise out of Order“ in antikapitalistischen Bewegungen zu nutzen. Die frühe Techno-Bewegung ist ein Beispiel. Zudem hat von Foerster selbst die große Suchmaschine der Gegenbewegung, den „Whole Earth Catalog“, auf die Universitäten zu übertragen. Im „Whole University Catalog“ konnten die Studenten direkt ihre Seminare wählen.

Kommen wir zur modernsten kybernetischen Maschine, dem Internet in Verbindung mit den mobilen Netzen. In diesem sind wir unter ständiger Beobachtung. Zudem ist es enorm gewinnbringend, die Daten, die wir mit jedem Anruf, jeder Suchanfrage und jeder Bewegung hinterlassen, zu erfassen und zu analysieren. Gibt es einen Ausweg, wenn man das als Einzelner nicht will?

Mit dem Internet ist etwas total schief gelaufen

Hans-Christian Dany: Zunächst einmal bleibt zu attestieren, dass da etwas total schief gelaufen ist mit dem Internet. Da lagen Potentiale drin, aber es scheint mittlerweile komplett erfasst von der schnöden Logik des Kapitals, da scheint nur noch die schwarze Sonne der Langeweile. Vielleicht sollte man sich davon abwenden.

Oder alles verschlüsseln?

Hans-Christian Dany: Für mich ist die Diskussion bizarr. Du hast mich vor 18 Jahren zum Thema Verschlüsselung interviewt und wir wollten uns ja eigentlich weiter entwickeln und müssen nun wieder über Pretty Good Privacy oder ähnliche Programme reden, als ob sie gestern erfunden wurden. Warum haben wir plötzlich Menschen, die denken, ihre Emails seien für irgendeinen Geheimdienst relevant? Warum haben wir einen Bundespräsidenten, der einen Verräter lobt? Es ist eine Scheindiskussion, denn was ist das für eine Privatsphäre, wenn es keine politische Öffentlichkeit mehr gibt. Verschlüsselung kann bestimmte Nebelbänke im Gefüge herstellen, mehr nicht. Wahrscheinlich geht es auch hier nun um die Lancierung neuer Märkte für deutsche Technikfirmen. Von daher finde ich es nicht sehr interessant. Zudem wird dadurch suggeriert, dass es um die Überwachung durch einen Geheimdienst oder eben die Polizei geht. Aber es geht darum, dass du mein Polizist bist und ich deiner.

Auch Organisationen wie WikiLeaks arbeiten mit der Vorstellung, es gäbe ein Geheimnis der Macht. Ist das falsch?

Hans-Christian Dany: Die Kategorien stimmen nicht mehr. Die Forderung nach Transparenz beinhaltet, dass wir uns alle gegenseitig transparent machen. Die avancierteste Position nimmt die Piratenpartei ein.

Die argumentieren, dass nur die staatliche Macht transparent sein soll und unsere Daten dagegen geschützt.

Hans-Christian Dany: Aber es wird ein positives Bild der Kontrolle gezeichnet. Auch die Piraten sehen es positiv, wenn wir uns alle gegenseitig bewerten und den Strom der Information weiter aufrechterhalten. Ich soll das Café nach dem Gespräch hier verlassen und bewerten und erzählen, dass die Toiletten nicht geputzt waren.

In Deinem Buch entwirfst Du die Figur des Idioten, also des Privatmanns im eigentlichen Sinne. Rückzug ins Private? Ist das nicht eine Kapitulation? Wie ernst ist das gemeint?

Hans-Christian Dany: Das ist schon ernst gemeint. Das fällt schwer, weil man viel abkappen muss. Ich sehe das Hauptpotential in einer Verweigerung der Kommunikation. Der Idiot ist ein gangbarer Weg, er ist eine nicht lesbare Störung. Störungen sind halt zweischneidig. Das System braucht sie einerseits als Impuls und es ist fraglich, wie man Störungen implementiert, die nicht mehr verdaut werden können. Wie die genau aussehen, das kann man ja auch nicht genau beschreiben. In einer Utopie der Idioten sehe ich die größte Gefährdung für die kapitalistische Maschinerie. Denn diese hat keinen Horizont entwickelt und kann keine Vorstellung der Zukunft mehr zulassen, weil sie sich wie ein Homöostat nur nach Störungen ausrichtet. Sie hat keinen Plan von sich selbst. Utopien könnten an dieser Stelle ansetzen.

Erschienen in der Telepolis unter http://www.heise.de/tp/artikel/39/39754/1.html

Von Jörg Auf dem Hövel

Jörg Auf dem Hövel (* 7. Dezember 1965) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als freier Journalist u. a. für die Telepolis, den Spiegel und Der Freitag.

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