Asphalt, bitte, küsse mich!
Angst: Bungee-Sprung vom Hamburger Fernsehturm
Der Standort präsentiert einen weitreichenden Ausblick über Hamburg, links die Alster, rechts der Hafen, oben eine Wolkendecke, unten der Asphalt, aber ich in der Mitte des Geschehens. „Mitten in der Scheiße“, rumort es in meinem Kopf. „Niemand hat dich gezwungen, also warum stehst Du hier?“ Ich schaue an mir runter und sehe einen dünnen Körper in einem weißen Overall stecken. Lächerlich, ich fungiere auch noch als Werbeträger für diesen Schwachsinn. Das Team von Hamburgs Bunjee-Guru Jochen Schweizer will mich nötigen, als fliegende Litfaßsäule zu agieren. Nur in weiß gekleidete Flieger sind offizielle Flieger, wissen die Gaffer am Fuße des Fernsehturms. Bei andersfarbigen Flugsubjekten lohnt es sich genauer hinzuschauen.
Ich blicke nach rechts. Eine japanische Familie steht lachend am Fenster und bannt meine Angst auf Zelluloid. Besser gesagt VHS. Voller Hacken Schuß. Mein Hirn reagiert zunehmend wirrer, der Überlebensschaltkreis wehrt sich gegen diese Mutprobe. Mut ist doch nur der Sieg der Unvernunft über den Verstand. Durch einen Nebel dringt ein akustisches Signal. „Du mußt schon bis nach vorne gehen, wenn Du springen willst“, sagt mir ein Mann mit Bart. Versteckt sich hinter diesem W ollknäuel auch ein Gesicht? Der Bartmann erklärt mir die Regeln: Bis an den Rand des Stahlbalkons gehen, auf die weiß markierten Fußabdrücke stellen, warten bis das Seil an den Füßen befestigt wurde. Ok? Mit ganz kleinen Schritten tippel ich voran, halte mich dabei am Geländer fest, sehr fest. Die fünf Meter bis zum Absatz dauern lange, der Witzbold hinter mir beweist Geduld. Vorne erwartet mich ein zweiter Bartmann. Auch ihm fallen lockere Sprüche ein, die ich nicht wahrnehme, meine Aufmerksamkeit liegt voll und ganz auf der Kontrolle meiner Körperbewegungen. Ich blicke geradeaus. Mein Hamburg, mein schönes Hamburg. Warum?
Planten un Blomen taucht auf, so nah wie nie zuvor. Gleich wird es noch näher kommen. Die Augen wandern weiter nach unten, der Kopf will nicht hinterher. Der Blick trifft auf Asphalt, der von Autos berollt wird. Das Ziel am Ende meiner Sprungstrecke, mein Ziel in ein paar Sekunden ist diese Straße. Schon Balzac wußte, daß die Menschen umso mehr nach Ausschweifungen trachten, umso weniger der Alltag ihre körperliche Anstrengung fordert. Dieses Wissen schützt nicht, im Gegenteil, trotzdem stehe ich hier, ängstlich. Meine Knie waren das letzte mal so weich, als ich meinen Direktor erklären sollte, warum ich einem Verkehrserziehungspolizisten die Mütze geklaut hatte. Irgendeiner der Bartmänner nestelt an meinen Fußgelenken rum. Das Seil wird befestigt, äußerst dehnbar soll es sein, aber nicht zu dehnbar. Eben so, daß ich weit falle, aber kurz vor dem Aufschlag wieder nach oben zurückschnelle. Keine Unfälle sind bislang bekannt geworden, rede ich mir ein. Doch, da war doch der panische Japaner, der einen Bartmann mit in die Tiefe gerissen hat. War das in Hamburg? Nein.
Die Hände krallen sich um die Stahlrohre, der Abgrund scheint sich zu bewegen. Plötzlich ruckt es an den Knöcheln, und eine Kraft zieht in Richtung Globus. Die Hände packen noch fester zu. „Das ist das Seil, was wir heruntergelassen haben“, tönt es durch den Nebel. Ich stehe noch auf dem Balkon. Langsam dreht sich mein Kopf, aus einer dunklen Höhle im Bart schweben wiederum Signale. Anweisungen folgen, rät das Stammhirn. „Wenn Du bereit bist Hände in den Nacken legen und einfach langsam nach vorne fallen lassen“, fusselt es aus dem Mund des Bartmanns. Bereit sein? Alles andere als das, ich bin vielmehr drauf und dran die gesamte Suizid-Party Hier und Jetzt zu sprengen, den ganzen Kram hinzuschmeißen. Lieber in warmen Pantoffeln vorm Fernseher einen Bericht über Extremsportarten reinziehen. Aber diese Blöße gönne ich dem Bartvolk nicht. Trotzdem ist Eitelkeit nicht der eigentliche Trieb, der mich näher an den Rand zieht. Eher konsequente Neugier. Lust auf mehr. Noch mehr. Zwei mal fünf Finger greifen hinter dem Kopf ineinander, Haut und Haar spüren sich, steife Nackenhaare kitzeln die Kuppe des kleinen Fingers. Ohne zu wissen warum, schaue ich gen Himmel und lasse mich nach vorne fallen.
Der innere Druck entlädt sich durch Lunge und Mund, die Stimmbänder vibrieren: Ich schreie den Schrei meines Lebens. Laut und ungehemt, orgiastisch geradezu findet meine Angst ihren Ausdruck. Mit viel hatte ich gerechnet, aber nicht mit diesere enormen Geschwindigkeit des Falls. Mein Körper rast, nur durch die Schwerkraft gesogen, auf die Erde zu. Asphalt, bitte, küsse mich! Bin das tatsächlich ich, der diesen Lärm verursacht? Die Windgeräusche sind infernal, ein Krach als wenn man auf der Autobahn bei 160 den Kopf aus dem Seitenfenster legt. Tränende Augen, verzerrte Gesichtszüge. Alles so schnell, aber die Zeit vergeht langsam. Das Leben geht nicht in einem Film an mir vorüber, aber es ist ein Sprung in den Tod, die Todesangst stürzt mit. Mit jedem Meter rückt der Ende des Daseins näher, denn es bleibt bis zum letzten Augenblick völlig unklar, ob das Seil hält. Nicht mal bewußt ist mir, ob überhaupt ein Seil existiert. Senkrecht fliege ich weiter und weiter, nein, ich fliege nicht, ich falle. Der nicht enden wollenden Schrei hallt im Kopf, führt zu Rückkopplungen, ich schreie weiter. Die Augen verweigern ihren Dienst, nichts ist zu erkennen, weder Planten un Blomen noch der Asphalt, auch nicht das riesige Luftkissen, welches später zum abseilen dient. Mittlerweile droht meinem Körper der Überschlag, die Drehung ist soweit fortgeschritten, daß ich auf dem Rücken landen werde. Die Wirbelsäule zermanscht auf schwarzem Teer, was für ein häßlicher Tod. Aus dem Augenwinkel sehe ich plötzlich doch das Luftkissen, zum greifen nah, der Fuß des Heinrich-Herz-Turmes taucht ebenfalls deutlich vor mir auf. Gleich ist es soweit, Operation gelungen, Patient tot.
Gänzlich unerwartet spüre ich einen Zug an den Beinen, der schnell an Kraft gewinnt. Das Seil! Kautschuk-Bäume aller Länder, ich liebe und bewundere euch. Noch immer saugt Mutter Erde aber bestimmend an mir, möchte den fallenden Körper zu sich nehmen. Doch das Gummi gewinnt zunehmend an Einfluß, und reißt mich aus der Rückenlage zurück in die Senkrechte und darüber hinaus. Für einen Moment stehe ich bewegungslos in der Luft, sprachlos, am Nullpunkt des Augenblicks angelangt, Hamburg zehn Meter unter mir, das neue Leben über mir. Am Umkehrpunkt des Körpers wechselt auch die Stimmung, die Todesangst weicht dem Glücksgefühl, denn nun steht fest: Das Seil hält, ich bin ein Held. Ein tiefes Raunen entfleucht der Lunge, der Bauch gluckst. Für einen Moment hat das Nervensystem Ruhe, der enorme Streß fällt ab, ab jetzt kann es nur noch aufwärts gehen im neugewonnenen Leben. „Rebirthing“ nennt dies die Esoterikgemeinde wohl. Mit kaum vorstellbarer Beschleunigung geht es nun aufwärts zu meinem nächsten Reiseziel, dem Himmelreich. Der Hölle knapp entkommen, werde ich gleich Gott in seinem Vorgarten die Hand schütteln. In Rückenlage schießt der katapultierte Körper empor. Ein dröhnendes, animalisches „Jaaa“ entreißt sich den Stimmbändern, ich balle die Faust, „Juhuuu“. Ich schwinge mich auf, lasse die Erde unter mir, hebe ab, mit jedem gewonnenen Meter steigt die Laune. „Higher, baby, Higher“. Gefallen bin ich schon öfters, aber wann fliegt man schon mal nach oben? Schnell kommt die Sprungplattform auf mich zu, ach ja, ich hatte einem Bartmann meine Kamera in die Hand gedrückt, jetzt drückt er ab, es blitzt. Das Seil kräuselt sich ein paar Meter neben mir, dahinter die Turmwand. Mein Körper fühlt sich seltsam leicht an, schwebend nähert er sich dem nächsten Umkehrpunkt, wieder stehe ich f ür einen Wimpernschlag still in der Luft, die Selbstmordrampe 30 Meter über, die Autos 100 Meter unter mir, drehe mich mit einem Ruck in die Bauchlage und bin wieder auf dem Weg hinab. Dieses mal freue ich mich, nehme sogar die Arme nach vorne und schraube mich um die Längsachse. Spielend leicht nehme ich den nächsten Umkehrpunkt und federe wieder himmelan. Einem Flummi gleich wiederholt sich dieses Spiel fünf bis sechs mal, die Intervalle werden kürzer, die zurückgelegten Flugstrecken auch. Beruhigen kann ich mich immer noch nicht, gluckse weiter vor mich hin, lebe mein Heldentum. Gewagt und geschafft, eine nur eingebildete Schwäche überwunden. Großartig.
Allmählich aber fällt das Blut zu Kopf, staut sich, wie ein Seemann an der Rah dümpel ich nur noch mit minimalen Auschlägen in der Luft. Unter mir staut sich dagegen der Nachmittagsverkehr, ich erkenne einzelne Zuschauer auf dem Fußweg.
Langsam läßt die Winde mich abwärts, auf dem Luftkissen wartet ein Bartmann ohne Bart auf meine Ankunft. Er redet mit mir, ich verstehe ihn nicht. Das Seil löst sich schwer von den Füßen, mehrere Verschlüsse müssen überwunden werden. Ich schau mich um: Zwischen benebelt und high stelle ich meinen Zustand fest, die großen Büsche nebenan leuchten jedenfalls merkwürdig grün, erheblich klarer als sonst. Mein Ego ist aber stark, bärenstark. Ich gleite vom Kissen und gehe Richtung Fahrstuhl. Etwas unsicher ist der Gang, schnell ist er aber unter Kontrolle und als ich am Rand eine gutaussehenden Frau entdecke, schalte ich auf John Wayne. Das weibliche Wesen kommt auf mich zu, sucht meinen Blick, fordert Kontaktaufnahme. Pure Neugier spricht aus ihrem Blick, als sie fragt: „Na, wie war´s?“ Perplex über diese Frage antworte ich ohne nachzudenken: „Können Sie mir erklären, wie sie sich beim Kacken fühlen?“ und gehe weiter. Was habe ich getan? Nach ein paar Metern murmel ich eine innere Entschuldigung und verfluche meine schlagfertige Arroganz. Aber bitteschön, was auch für eine blöde Frage.