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Gesundheitssystem

Ich kann drei Doshas

Erschienen in der Telepolis v. 04.05.2014
Von Jörg Auf dem Hövel

Ayurveda-Kuren sind beliebt. Was lässt sich tatsächlich erreichen?

1. Tag

Stefan Remmler geht mir durch den Kopf. „Er hat den Urlaub nicht gewollt, sie hat gesagt es müsste sein.“ Gemein. Aber was soll ich zwei Wochen lang auf einer Wellnessfarm in Sri Lanka? Peeling und Pediküre?

Der Wagen rumpelt auf der Küstenstraße Richtung Süden. 3 Stunden Fahrt nach 10 Stunden Flug. Wald und Häuser ziehen am Straßenrand vorüber. Meine Frau klärt mich auf: Nicht Wellness sei das Ziel, sondern Ayurveda, eine alte Methode, um Wohlbefinden zu erreichen. Wir würden just durch ein Land fahren, in dem die medizinische Versorgung gratis und die Lebenserwartung vergleichsweise hoch sei.

Ankunft mit lauwarmen Waschlappen, ein müder Blick auf die Resort-Architektur, die singhalesischen Teakholz-Chic mit Krankenhaus-Quadern vereint. Koffer aufs Zimmer und ab zur Ärztin. Zunge, Puls, Fragebogen. Empfundener Zustand? Erschöpft – und zwar nicht nur vom Flug. Das Leben im Westen sei schuld, ich berichte vom System. Können Sie da helfen? Nicht beim System, aber mir, ist die Antwort. Kann das sein?

Sie zieht zunächst den Wellness-Zahn, denn es heißt täglich 5.30 Uhr aufstehen und dann straffes Programm. Ich höre etwas von Abführmitteln. Egal. Grünes Laken um die Hüften und los. Erste Dampfwalzenmassage mit viel Öl, dann stechend-brennende Augentropfen, ich sage „Aua“. Das also ist Ayurveda.

Aus der Eingangsuntersuchung erhalten ayurvedische Ärzte maßgebliche Hinweise über den gesundheitlichen Zustand ihres Patienten und die anzuwendende Therapie. Zentral sind dabei drei grundsätzliche Formen von biologischer Energie, von der die ayurvedische Theorie annimmt, dass sie existieren. Diese sogenannten „Doshas“ heißen „Vata“, „Kapha“ und „Pitta“. Jeder Mensch trägt nun gewisse Anteile dieser Bioenergien in sich, ihr Proporz ergibt einen der sieben Konstitutionstyp.

Stark vereinfacht kann man von eher dünnen, dicken und den Typ mit normalen Körperbau sprechen. Mischformen sind häufig. Allen werden bestimmte Farben, Nahrungsmittel und Aktivitäten zugeordnet, die ihnen gut tun – oder eben nicht. So befolgt man im Idealfall eine auf den eigenen Konstitutionstyp abgestimmte Existenzfibel, bringt damit die Doshas in Harmonie und lebt gesund und zufrieden bis an das Lebensende. Jedwede Krankheit beruht aus dieser Sicht auf einer Disharmonie der Doshas.

Um den Menschentyp zu bestimmen, wenden Ärzte drei Methoden an, nämlich Pulsdiagnose, Zungenbelagskontrolle und Konstitutionsanamnese. Schon die Sinnhaftigkeit dieser Diagnostik ist aus Sicht der westlichen Schulmedizin umstritten, wichtig wäre daher zumindest ein hohes Ausmaß von Übereinstimmung in den Befunden. Genau diese scheint aber schwierig zu sein.

Ein im letzten Jahr (2013) veröffentlichtes Experiment ließ im indischen Bangalore 15 Ayurveda-Ärzte 20 gesunde Patienten untersuchen. Die Begutachtungen durch die Ärzte zeigten dabei ein niedriges Maß an Zuverlässigkeit, anders formuliert, man kam zu den unterschiedlichsten Ergebnissen bezüglich des Zustands der Patienten – und zwar bei allen drei Diagnostikarten. Das wäre in etwa so, als wenn in einem deutschen Krankenhaus die Krankenschwester einen ganz anderen Blutdruckwert misst als fünf Minuten später der Arzt. Allerdings erhält man auch in Deutschland bei komplexeren Krankheitsbildern oftmals divergierende Hinweise auf mögliche Ursachen.

2. Tag

Der Tagesablauf für die nächsten zwei Wochen: 6 Uhr Yoga, 7 Uhr Frühstück, 8 Uhr Akupunktur, 9 Uhr Ölmassage des Körpers, heftige Augentropfen, Gesichtsmassage, 10 Uhr Inhalation, 10:15 Uhr Dampfbad, 10:30 Uhr Kräuterpackungen auf Gliedmaßen und Gelenke, duftige Gesichtspaste, Schlummern, 11:00 Uhr Duschen, fertig. Nach dem Mittagessen wird einem oft noch eine spezielle Behandlung angediehen, sei es ein Ölsee auf der Brust oder eine Massage.

Es heißt, auf Sri Lanka wachsen mehr als 1.500 medizinisch wirksame Pflanzen. Allerdings gilt hier jede Gurke, mithin alles Essbare als Medizin, denn alles beeinflusst mehr oder minder die körperlichen und geistigen Funktionen. Die angewendeten Blätter, Rinden, Samen und Wurzeln werden zumeist vermengt, oft gekocht und je nach Leiden und Konstitution des Patienten kombiniert.

Die in der westlichen Medizin wichtigen chemischen Wirkstoffe sind hier oft unbekannt, man vertraut auf die Erfahrung aus Jahrhunderten. Dies ist nebenbei der Grund, weshalb diese Medikamente keine Zulassung als Arzneimittel in der EU oder anderen Staaten erhalten. Bereits im 6. Jahrhundert vor Christus wurde die ursprünglich indische Medizin auf die Insel eingeführt. Später kam mit den Arabern neue Heilmethoden dazu, deren Bestandteil war unter anderem die Viersäftelehre des römischen Arztes Galen. Dies alles stieß auf ein einheimisches Kräuterwissen und wurde mit buddhistischen Lehren vermengt. So entstand über die Zeit eine exotische Mischung aus uraltem Pflanzenwissen, Elementenlehre, Astrologie, Spiritualität, Lebenskultur – und Placeboeffekten.

3. und 4. Tag

Jeder redet entweder über Essen oder eine andere körperlich-geistige Befindlichkeit, die ihn gerade juckt. Alles bekommt eine Bedeutung, der fehlende Salzstreuer auf dem Tisch, das Kopfschütteln der Ärztin, das Verschieben des Massagetermins. So rätselt man ständig, warum welches Pulver, welches nach Knoblauch riechende Stempelkissen, welches Öl, welche Gesichtspaste und welcher Trunk zur welcher Zeit zur Anwendung kommt.

Das System ist in seinen groben Zügen nachvollziehbar, in seinen Feinheiten undurchdringlich. So stehe ich vor einer offenen Geheimwissenschaft. Das Ambiente gleicht einer Klinik unter Palmen, in einer hochästhetischen Mixtur aus Krankenhaus und Wellness fühlt man sich enorm aufgehoben. In den Büschen entlausen sich die Affen, das Konzert der Vögel ist fulminant, der Strand weiß, die Brandung kräftig, die Leute extrem offen, über allem scheint die Sonne, Muskeln und Sehnen sind schon ohne Behandlung dehnbar, die Haut geschmeidig. Jetlag und der abfallende Stress lassen mich in den Zustand des Geschehen lassen übergehen, nicht weit entfernt von Verblödung. Kopfschütteln, lerne ich später, zeigt in Sri Lanka allgemeine Aufmerksamkeit.

Das singhalesische Gesundheitsministerium zählte im vergangenen Jahr über 60 ayurvedische Krankenhäuser und Ambulanzen. Beeindruckende 20 Tausend ayurvedische Ärzte sind registriert. Dazu kommen über 200 Abgabestellen für traditionelle Medizin im Land. Für Einheimische ist der Service kostenlos.

Man vermutet, dass die hohe Lebenserwartung von 76 Jahren im Land zum Teil auf dem ayurvedischen Lebensstil beruht. Allerdings sind in den Buchhandlungen der Hauptstadt Colombo Lehr- oder Aufklärungsbücher über Ayurveda Mangelware. Nachfragen führt hier nicht weiter. Auch Unterhaltungen mit Einheimischen in der Hauptstadt zeugen nicht gerade davon, dass Ayurveda von jedermann mit der Muttermilch aufgesogen wurde. Vielen ist die Heilslehre unbekannt, andere kennen sie zwar, wenden sie aber nicht an.

5. und 6. Tag

Die Damen und Herren haben den Hauptwaschgang eingeschaltet. Die über den Tag einzunehmenden Pülverchen werden immer widerlicher, der Abendtrunk ungenießbar. Die zweite Konsultation hat mich zum Pitta-Knaben abgestempelt. Ich wäre lieber Kapha, also gemütlich.

Mittagessen, oder auch Stuhlgangvorbereitung. Currys, Fladen, Salate, unglaubliche Vielfalt am Buffet. Die Rohstoffe liegen zur Ansicht neben der Schüssel, zudem ein Schild mit der medizinischen Wirkung. Ich haue rein, die Ärztin schaut mich an, egal, ich kann drei Doshas. Die träge-schaurig-schöne Slowakin starrt in ihr Essen, „controlled diet“ ist ihr Stichwort. Danach ein Glas warmes Wasser in der Lobby. Die fröhlichen Russinnen spielen Bridge, auf den Sofas Stirngussmenschen, erkennbar am weißen Turban, sie sitzen weise herum. Anmaßend, denke ich.

Noch nicht weit her mit meiner Entspannung. Samtene Luft, leise Verdauungsgespräche. Der freundlich-kluge Schweizer berichtet von seinem Asthma. Ansonsten wird wenig über Krankheiten und mehr über Gesundheit gesprochen. Auch das trägt. Kolonialzeit ohne Gin und Tabak, die Hälfte der Besatzer sind Deutsche, oft Wellness-Wiederholungstäter. Sie tragen die Erfolgsgeschichte in die Heimat.

Ayurveda ist mittlerweile als Wellness-Anwendung in Deutschland etabliert. Pionierarbeit hierfür leistete der indische Guru Maharishi Anfang der 1980er Jahre. 1984 entstand in den USA das erste ayurvedische Gesundheitszentrum in einem westlichen Land, 1988 folgten Zentren in Deutschland und Europa. Maharishi baute derweil rund um seine Denkschule ein multinational agierendes Unternehmen.

Ayurveda, seine Produkte und Dienstleistungen waren in Europa lange mit dem Namen Maharishis verbunden. Heute ist das Geschäftsfeld in Deutschland diversifiziert. Wie viele Ayurveda-Anbieter tätig sind ist unbekannt, Qualitätskriterien sind schwer zu erarbeiten. Der Verband Europäischer Ayurveda-Mediziner & Therapeuten (VEAT) hat ein Qualitätsleitbild für Ayurveda-Praktizierende erarbeitet, ob dieses weite Verbreitung gefunden hat ist unklar.

Heilpraktiker geben Ölmassagen, Wellness-Zentren bieten Ayurveda-Wochenenden an, Krankenhäuser wie die Immanuel-Klinik in Berlin führen Studien über den Nutzen verschiedener Anwendungen durch. Der Nutzen dieser Anwendungen ist nach wie vor umstritten. Die Studienlage gilt als dürftig, gesetzliche Krankenkassen erstatten keine Ayurveda-Leistungen. Die ehemals kritischen Wellness-Experten sind allerdings bereits konvertiert.

„Ayurveda-Kuren sind im deutschen und europäischen Raum zu einer überaus kostspieligen Modeerscheinung geworden“, hieß es beim Deutschen Wellness-Verband noch 2003. Seit 2006 steht Ayurveda allerdings als „Medical Wellness“ Anwendung auf der Agenda des Verbands. Man preist die Vorzüge der Behandlung, betont aber zugleich seine kritische Haltung gegenüber unregulierten medizinischen Angeboten. Da viele Anwendungen weit über die Grenzen des Wellness hinaus gehen, mahnt Iris Hüttner, Ayurveda-Expertin im Verband, zur vorsichtigen Auswahl. „Manche Kurende berichten davon, wie nach einem Erschöpfungssyndrom ihre Lebensgeister von Tag zu Tag zurückkehrten und sie sich am Ende wie neu geboren fühlten. Es kann aber auch sein, dass die stärkende Wirkung der Kur erst ein paar Wochen später zuhause spürbar wird.“

7. Tag

Seit einer Woche Gotu Kola-Suppe am Morgen. Ich erkenne das Kraut wieder, die centenella asiatica steht im Verdacht, Hirnfunktionen zu fördern. Meine Testreihe vor einigen Jahre erbrachte keine Effekte. Rein damit, die grüne Pampe passt zu meinem Zwischenzustand zwischen Lagerkoller und Zauberberg.

Schade, dass alle hier so freundlich sind. Ein Lächeln öffnet ein Lächeln – und so lächeln halt alle. Wohlgemerkt sind die Einheimischen die Initiatoren dieses Spiels. Im Restaurant rücken wir einen Tisch nach vorne, näher zum Ausblick, zum Wald, zur Freiheit. Aufstieg in der Hierarchie, jawohl, wir lassen Neuankömmlinge und Uneingeweihte hinter uns. Ihr werdet auch noch begreifen, wie locker man sein kann!

Ein Chamäleon hockt im Pflanzenkasten, ich sinniere über eine Kontrollgruppe am Pool, mit einer Woche Bier und guter Musik. Erschreckend, wie substanzfixiert das im Grund alles ist. Selbst am Pool sieht man regelmäßig Menschen kleine Briefchen öffnen und den Inhalt, meist ein braunes Pulver, in ein Wasserglas schütten.

Flockige Unterhaltungen mit den Tischnachbarn, eine lustige Schicksalsgemeinschaft, man spricht nahezu mit jedem mal. Optimierungscharaktere im Alter 55 Plus. Eingestreut immer auch härtere Fälle, Neurodermitiker, Diabetiker, Rheumageplagte. Viele berichten Wunderbares.

Gudrun Ulrich-Merzenich von der Poliklinik Bonn ist eine der wenigen deutschen Medizinerinnen, die ayurvedische Methoden in einer klinischen Studien geprüft hat. In einem Experiment, das am Tarachand Ayurvedic Hospital in Pune durchgeführt wurde, behandelte man 44 Patienten mit rheumatoider Arthritis zehn Monate lang mit Kräutern und suchte über Abführungen und andere Reinigungsprozesse den Körper zum Ausstoß von Stoffwechselabbauprodukten zu bewegen. Über die Hälfte der Patienten zeigten Verbesserungen ihrer Gelenkentzündungen. 41 Patienten konnten ganz auf die typischen Antirheumatika verzichten, die übrigen die Dosis um die Hälfte reduzieren.

8. Tag

Wir meditieren mit einem buddhistischen Mönch aus dem benachbarten Kloster. Das Leid kommt in die Welt, so sagt er, weil wir unseren Ideen, Vorstellungen, Wünschen und Gedanken überhaupt anhaften. Kurzzeitig einverstanden. Wir preisen den Atem, dann ein Armband für jeden, Love & Kindness, wir sind dabei.

Im Jahr 2005 schaute sich Jongbae Park von der Harvard Medical School in einer Übersichtsarbeit drei placebokontrollierte Studien genauer an, die ayurvedische Methoden bei rheumatischen Erkrankungen angewendet hatten. Zwei Experimente zeigten danach keine Wirkung, die über Placebo hinaus ging, die dritte Studie wohl.

Das Problem vieler Ayurveda-Studien ist die wissenschaftliche Bewertung der Wirksamkeit. Im Westen treten neue Arzneimittel gegen Scheinmedikamente an, Einläufe oder Massagen sind allerdings nicht scheinbar zu verabreichen, placebokontrollierte Studien schwer möglich. Möglich wären Vergleichsstudien, die ein etabliertes Medikament gegen ein ayurvedisches Behandlungspaket antreten lässt. Einen reproduzierbaren Studienaufbau zu gewährleisten ist allerdings schon bei der Anwendung nur eines Wirkstoffes komplex, dies bei einer ayurvedischen Kur mit ihren individuell abgestimmten Arzneimischungen, Massagen und Nahrungsaufnahmen zu garantieren nahezu unmöglich.

So greifen Forscher immer nur Bestandteile heraus, was wiederum dem ganzheitlichen Ansatz der Kur widerspricht. Die kurze Liste der klinisch kontrollierten Studien zu Ayurveda zeigt daher vor allem eines: Die exotischen Natursubstanzen und Massagen tun sich schwer damit über den Placeboeffekt hinaus zu wachsen. Zur handfesten Empfehlung von Ayurveda will sich kaum ein Forscherteam durchringen.

Für einen ayurvedischen Arzt ist es im Gegenzug kein Problem, dass er wahrscheinlich einen anderen Therapieansatz wählt als seine Kollegen. Der unbedingte Wille zur Standardisierung ist ihm fremd. Dies gibt einerseits die gewünschten Freiheitsräume im Eingehen auf den einzelnen Patienten, andererseits erschwert es den Vergleich und öffnet die Tür für unsauberes Vorgehen.

9. und 10. Tag

Ein magischer Trunk am frühen Morgen, danach Stuhlgänge im Viertelstundentakt. Die Ausleitung soll Giftstoffe aus dem Körper spülen. Innere Reinigung macht schlechte Laune, ich vegetiere auf dem Zimmer, meine Frau schweigt dazu. Muss sie, denn sie ziert ein Turban, gestern Stirnguss, heute Schweigen. Nicht Lesen, kein Sonnenbad, nichts tun. Die eine in Zwangsmeditation, der andere ständig auf Klo, quasi ein Irrenhaus.

Ein Fragebogen mit Zeitpunkt und Beschaffenheit des Stuhlgangs ist auszufüllen. Unter „Smell“ notiere ich nach dem zweiten Mal : „Not bad“, nach dem fünften Mal „Like teen Spirit“. Matter Spaziergang durch die Anlage. Ich treffe eine Frau aus Baden-Würtenberg, die seit Jahren an Diabetes leidet und sich zum dritten Mal hier behandeln lässt. „Auch Wochen nach der Rückkehr sind meine Werte noch besser“, sagt sie.

Diabetes ist auch in der ayurvedischen Medizin bekannt. Therapieziel ist hier, wie immer, die Korrektur der aus dem Gleichgewicht geratenen Doshas. Christian Kessler vom Immanuel Krankenhaus in Berlin hat 25 Typ-2-Diabetes Studien untersucht. Er kam einerseits zu dem Ergebnis, dass die mehr als 45 verschiedenen Behandlungsformen es erschweren, qualitativ hochwertige Studien aufzusetzen, die den Ansprüchen der evidenzbasierten Medizin genügen. Andererseits konstatierte er eine „große Effektgröße“ für einige der Kräutertherapien.

11. und 12. Tag

Knetmassenring auf die Brust, warmes Öl rein und raus, ein unendlich währender Schöpfungsvorgang. „Was soll das?“, denke ich. Später fühle ich mich, als ob ein Chirurg eine Brustöffnungsklammer gesetzt hätte. Freies Atmen, breite Brust, frappierend. Konsultation bei Frau Doktor.

Ich teile meine Begeisterung mit und frage nach Studien. Es folgt eine kurze Diskussion über den Sinn von Doppelverblindung und Placebokontrolliertheit, Ansätze, mit denen man hier vor dem Hintergrund von 1.000 Jahren Anwendungshistorie nicht agiert. Westliches Konzept, nicht schlecht, so höre ich raus. Man sammelt mittlerweile die Patientenakten und hat begonnen, sie systematisch auszuwerten.

Später erfahre ich vom indischen Gesundheitsministerium, dass es seit Jahrzehnten klinische Studien finanziert und sich um die Standardisierung der eingesetzten Substanzen bemüht. Unter ayushportal.ap.nic.in sind Tausende von ayurvedischen Studien erhältlich, darunter viele durchaus randomisiert und placebokontrolliert. Bei wem es besonders gut hilft, will ich wissen. Zuckerkranke, Rheumatiker, Schmerzpatienten, sagt Frau Doktor. Die Frau strahlt mit jedem Satz enorme Kompetenz aus, jetzt will ich es wissen und berichte von HLA-B27-Eiweißen auf meinen Körperzellen. Gelenkschmerzen können die Folge sein, weiß sie. Das ist profunde Schulmedizin, die Dame lässt sich nicht ins Bockshorn jagen.

Über die Ausbildungsqualität der ayurvedischen Schulungseinrichtungen auf Sri Lanka existieren keine Daten. Das indische System gilt als heterogen. Rund 240 Colleges bietet auf dem Subkontinent zur Zeit den ayurvedischen Bachelor-Abschluss an, mehr oder minder gut kontrolliert durch das Gesundheitsministerium. Dieses hat diverse Vorschriften und Ausbildungsregularien erlassen, die nicht immer befolgt werden.

Die Hindu-Universität in Varanasi überprüfte 2011 in einer Stichprobe die Ausbildungsqualität von über Tausend Absolventen und Lehrern an 32 Colleges. Studienleiter Kishor Patwardhan spricht von „ernsthaften Mängeln“ im System. Ob in den vielen Ayurveda-Ressort in Indien und auf Sri Lanka gut ausgebildete Ärzte zum Einsatz kommen, ist für den Besucher kaum kontrollierbar. So ist man auf anekdotische Berichte angewiesen, informiert sich eher in Urlaubscheckportalen und achtet auf den wie auch immer aufgebauten Ruf einer Einrichtung.

12. und 14. Tag

Stirngusstag, sagenumwoben bei uns Heimbewohnern. Das Öl läuft und läuft über meinen Kopf, ein ewiger Fluss der Wärme. Skalpierungsgefühl. Dann ist es soweit, Turban auf und Redeverbot. Meditieren dürfe ich, sagt die Ärztin. Danke. Eingeschränktes Essen.

Später erwische ich mich dabei, wie ein bis dahin unbekannter Teil meiner selbst ein komplettes Räucherstäbchen beim Abbrennen beobachtet und den wabernden Schwaden folgt. Ich bilde mir dabei ein leises Anklopfen an Kräfte jenseits zur Zeit messbarer Sphären ein. Die westliche Medizin stände vor der Frage, ob es möglich sei, diese Sphären zu inkorporieren, um Gesundheitsprozesse, Achtung: „ganzheitlich“, zu begreifen.

Jeden Morgen Yoga, gutes Essen, freundliche Mitmenschen und kein Stress – diesen Faden in Deutschland weiter zu spinnen, darf eine Aufgabe sein. Am übernächsten Tag ist wieder volle Buffetleistung erlaubt. Essen ist hier Medizin, weiß ich nun, hau rein ist Tango. Fröhliche Tage in der Gesundheitsdiktatur, es wird das Ideal des vollständigen Wohlbefindens gepredigt. Ich bin munter in alle Fallen getappt, die das System aufstellt. Flug in die Instant-Selbstoptimierung, um sich daheim doch wieder dem Stress anheim fallen zu lassen, Kreisen um sich selbst, ohne die einheimische Umwelt an sich ran zu lassen.

Ayurveda-Medikamente dürfen daheim nur als Nahrungsergänzungsmittel importiert und verkauft werden. Vor einigen Jahren sorgten mit Schwermetallen verseuchte Chargen für Schlagzeilen. Von der Zulassung als Arzneimittel sind die Substanzen und Substanzmischungen weit entfernt, Patente sind nicht zu vergeben, die nötigen Studien will keine Universität finanzieren. Die Medikamente wären eh nur ein Bestandteil eines Systems, das in einer falschen Ernährungs- und Lebensweise die Hauptursache für Krankheiten und Missstimmungen sieht.

Um hier auf den grünen Zweig zu kommen, müssen nicht nur Qualität und die Art der Zubereitung der Nahrungsmittel stimmen, eine ebenso wichtige Rolle spielt die Kombination und zu welcher Tageszeit die Nahrung aufgenommen wird. So sollten beispielsweise in jeder Mahlzeit die sechs Geschmacksrichtungen süß, sauer, salzig, scharf, bitter, zusammenziehend enthalten sein. Insgesamt ergibt sich ein alltagserfüllendes Konstrukt, dessen Befolgung enorme Disziplin und Zeitaufwand beinhaltet. Sicherlich ist dies eine Chance für das erschöpfte Selbst in den westliche-urbanen Strukturen.

Warum aber nun diese Diskrepanz? Auf der einen Seite steht eine Lehre, die ihre Wirksamkeit haben muss, ansonsten wäre sie nicht seit Jahrhunderten in Sri Lanka und Indien verbreitet. Dazu gesellen sich die vielen europäischen Ayurvedaurlauber, die Positives erleben und berichten. Auf der anderen Seite stehen die Standards der westlichen Medizin und Pharmazie.

Diese hat nach wie vor enorme Probleme, die Wirksamkeit der Behandlung zu bestätigen und subjektive Erlebnisse in objektive Verallgemeinerungsfähigkeit zu überführen. Die Ursachen für diesen Widerspruch sind nicht offensichtlich. Eine Erklärung liegt sicherlich in der erfahrenden Zuwendung. Mittlerweile wird allgemein eingestanden, dass die Qualität einer Therapie nicht nur auf dem, was getan wird, beruht, sondern auch darin, aus welcher Motivation und mit welchem Anspruch sie vollzogen wird. So gesehen ist der gemeinhin gescholtene Placeboeffekt unabdingbarer Bestandteil einer Behandlung. Damit sind Faktoren wie Beziehung und Ambiente angesprochen.

Es ist nicht allein die Technik, die Methode, sondern auch das Beziehungsgeschehen zwischen Arzt und Patient, das den therapeutischen Erfolg beeinflusst. Viele Menschen empfinden die Schulmedizin als entpersonalisiert, ein Eindruck, der angesichts des ökonomischen Drucks auf Praxen und Krankenhäusern durchaus real ist. Die sogenannte „Alternative Medizin“ setzt an genau dieser Stelle an. Der Therapeut wendet sich einer einzigartigen Person zu und wählt einen Behandlungsansatz, der genau für diese Person geeignet scheint. Der Patient wiederum fühlt sich ernst genommen und ist zur Mitarbeit im Heilungsprozess bereit. Die Arzt-Patient Beziehung wird dann nicht mehr als tote Funktion empfunden, sondern etwas Lebendiges, hier verstanden als System, das offen für Eigensinn und Überraschungen ist.

Nachhaltig erfolgreich ist Ayurveda abseits von Urlaubstherapien vor allem da, wo die inneren und äußeren Kräuter- und Ölanwendungen mit einer Änderung des gesamten Ernährungs- und Lebensstils einher gehen, die über einen längeren Zeitraum von einem Arzt begleitet werden.

Drei Wochen später

Die Voodoo-Kur wirkt immer noch nach. Bis auf die hartnäckigen Gesichtspickel fühle ich mich ausgesprochen gut. Koriandertee und dunkle Pillen wurden mitgegeben. Wundersam, wie sehr ich mich als ansonsten pharmakritischer Mensch auf den ständigen Pilleneinwurf einlasse.

Freunde schütteln den Kopf ob meiner Begeisterung, ich kann sie beruhigen. Gebt mir nur etwas Zeit und ich bin wieder einer von euch: rauchend, wurstfressend, muffelig.

Von Jörg Auf dem Hövel

Jörg Auf dem Hövel (* 7. Dezember 1965) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als freier Journalist u. a. für die Telepolis, den Spiegel und Der Freitag.

2 Antworten auf „Ich kann drei Doshas“

Hallo Jörg

Bin gerade selbst auf Sri Lanka während einer Ayurvedakur. Ich suchte etwas über Goto Kola und bin auf Ihren Bericht gestoßen.
Mich hat es ja zeitweise fast von der Liege geworfen vor Lachen.
Das tut in dieser sogenannten relaxing Einöde einfach nur gut.

Übrigens ich hatte gebucht und meinen Mann mit im Schlepptau-ganz ähnlich, skeptisch aber nun entspannt und erfreut. Er wird sicher ein Wiederholungstäter :))))

Nun genieße ich noch meine restlichen Tage und freue mich schon auf das nächste Mal.

Liebe Grüße aus dem Oruwa Induruwa Hideaway
Angelika

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