Kategorien
Elektronische Kultur Mixed

Hamburger Dialog 2003

telepolis v. 30.01.2003

Gute Stimmung im Tal der Tränen

Der Online-Journalismus der großen Verlage arbeitet stark defizitär – und das wird so bleiben. Auf dem Kongress „Hamburger Dialog“ übte man trotzdem die Gelassenheit und hofft auf Einnahmen in anderen Bereichen des Web.

Noch immer ist die Medien-Branche mit der prüfenden Durchsicht ihrer Aktivitäten im Netz beschäftigt. Besonders akribisch gehen dabei die Tageszeitungen und Wochenzeitschriften bei der Revision ihrer Online-Angebote vor. Die Frage ist mal wieder: Was spült Geld in die Kassen? Die Antwort: Journalistische Inhalte nicht. Auf dem diesjährigen „hamburger dialog“ wurde deutlich, dass sich Bezahlinhalte, sogenannter „Paid-Content“, in naher Zukunft nicht durchsetzen werden. Denn am Kiosk muss immer bezahlen werden, im Netz geht jeder dahin, wo es gratis ist. Was für die einen die genauso originäre wie wünschenswerte Eigenschaft des Netzes ist, bleibt für die anderen die bitterste Praline der Welt: Für die meisten kostenpflichtigen Angebote existiert eine Gratis-Alternative.

Jörg Bueroße von der „Tomorrow Focus AG“ bestätigte, dass nur schwer erhältliche oder gar exklusive Inhalte zum monetären Erfolg führen. So verzeichnet beispielsweise der Online-Scheidungsrechner des FOCUS munteren Zuspruch seitens der User, obwohl dessen Nutzung satte 4,99 Euro kostet. Ähnlich sieht es bei der Datenbank mit Terminen zur Zwangsversteigerung aus. Diese hat nach Angaben von Bueroße knapp 3000 Nutzer, die „nicht preissensibel“ reagieren würden. Mit anderen Worten: Ist die Brauchbarkeit hoch, dann zahlt der Surfer gerne.

Das bloße Publizieren im Web von Artikeln aus der Print-Ausgabe reicht dagegen bei weitem nicht aus, um die Kosten der schmucken Online-Auftritte der Verlage zu egalisieren. Arndt Rautenberg, von der Beratungsfirma „Sapient“ widersprach der oft gehörten Behauptung von der Beliebtheit von Online-Archiven. „Dies honoriert der User zwar, aber eben nur so lange, wie das Angebot kostenfrei bleibt.“ Und tatsächlich bestätigte Jörg Bueroße, dass die kostenpflichtige Archiv-Nutzung des „Focus“ ebenso wie die des „Spiegel“ „unterirdisch schlecht“ sei. Bei optimistischer Schätzung wird die Branche in vier bis fünf Jahren maximal zehn Prozent mit Paid Content umsetzen.

Glaubt man den Experten dient die Online-Präsenz der überregionalen Tageszeitungen wie FAZ oder Süddeutsche Zeitung damit weiterhin rein der Kundenbindung. Der Massenmarkt, den die Verlage in der Offline-Welt bedienen, sei im Internet für sie nicht erreichbar, behauptet Henrik Hörning vom Management-Beratungsunternehmen „detecon“. Die Folge sei eine Entwicklung wie man sie schon vom Privat-Fernsehen kenne: Umsonst und nur durch Werbung finanziert.

Freibier für Alle!

Von dem Ziel, mit ihren Internet-Auftritten rentabel zu wirtschaften, sind deutsche Medienhäuser also auch künftig weit entfernt. Daran wird wohl auch der „dernier cri“ der Branche, die Abonnements, die für ein monatliches Entgelt freien Zugriff auf Datenbanken erlauben, nichts ändern. Das Wall Street Journal, galt lange Zeit als gutes Beispiel für ein etabliertes und funktionierendes Abo-System. Es strotze mit mindestens 500.000 zahlenden Gästen. Das Problem war nur: Ein mit über 100 Leuten besetztes Call-Center, welches die Anfragen der Online-Abonnenten rund um die Uhr beantworten musste, verschlang über Jahre die eingefahrenen Umsätze. Erst heute schreibt der Netzsektor des Wirtschaftsblatts schwarze Zahlen. Nach dem Goldrausch herrscht weiterhin banges Fragen für welche Inhalte die Web-Gemeinde Geld ausgeben würde.

Der Verband der deutschen Zeitschriftenverleger (VDZ) präsentierte auf dem Kongress den Zwischenstand einer neuen Untersuchung, die Netzuser nach ihrer Zahlungswilligkeit befragt hat. Ob Zeitschriften-Artikel, mp3-Download oder Teilnahme an einem Adventure-Spiel: Die User sind nicht bereit viel mehr als 100 Cents auszugeben. Die magische Grenze für sogenannte „Pay-per-Use-Angebote“ sei ein Preis von rund einem Euro, erklärte Alexander von Reibnitz vom VDZ. Video- und Musik-Download haben nach wie vor das größte Potential. Bedingung für ein florierendes Download-Geschäft in diesem Sektor ist allerdings das breitbandige Internet. Kaum jemand ist gewillt Stunden auf einen Song von den White Stripes zu warten, geschweige denn für das lange Warten auch noch erhöhte Gebühren an den Provider zu entrichten. Ohne flächendeckende DSL-Flatrates stehen die Chancen auf Entertainment-Einnahmen denkbar schlecht.

Aber egal ob Artikel-Abruf oder Download eines Videos: Bezahlinhalte sind auch deshalb unbeliebt, weil der Weg der Tilgung meist kompliziert ist. Elektronisches Geld hat sich nicht durchsetzen können, aufwendige Registrierungen überfordern die Nutzer und führen zu Abbruchraten von über 80 Prozent. Hier funktionieren die klassischen Wege über die verpönten 0190-Nummer oder Fax-Polling wegen der Einfachheit und Anonymität noch immer besser als alle anderen Systeme. Ein klassischer Medienbruch, dessen Ende zur Zeit nicht in Sicht ist.

Kategorien
Rezensionen

Rezension Wolf-Dieter Storl: Ich bin ein Teil des Waldes

HanfBlatt Nr. 102

Teil der Natur

Wolf-Dieter Storl ist Hanfblattlesern sicherlich schon als ausgezeichneter Heilpflanzenkenner und Autor zahlreicher Bücher zu diesem Thema bekannt. In einer ehrlichen, offenen, manchmal auch leicht ironischen aber nie überheblichen Schreibe vermittelt er sowohl aktuelle naturwissenschaftliche Erkenntnisse, wie auch überliefertes Wissen alter (vor allem keltisch-germanisch-slawischer und christlicher) und ferner (aber doch mit unseren verbundenen) Kulturen (insbesondere der Indianisch-Nordamerikanischen und der Indischen). Dazu beschreibt er seine eigenen Erfahrungen und Erlebnisse und die anderer Menschen unserer Zeit, die nicht allein auf trockene Fakten vertrauen, sondern sich vom überbewußten Wesen der Pflanzenpersönlichkeiten inspirieren lassen.

Sich auf diese Weise bedeutenden Heilpflanzen anzunähern ist in einer Zeit, in der Pillen Trumpf einer all zu oft beschränkten und selbstgefälligen Schulmedizin sind und selbst das Kamillendampfbad durch Inhalatoren verdrängt wird, äußerst anregend. Wenn man sich selbst einmal wieder der alten Heilweisen besinnt, stellt dies eine echte Bereicherung in dem für viele Menschen von der Natur stark entfremdeten Dasein dar. In seinem jüngsten Werk „Mit Pflanzen verbunden“ porträtiert Storl den Knochenheiler Beinwell, die übrigens interessant schmeckende Engelwurz, den Nierenheiler Goldrute, den Lungenfreund Huflattich(!), die Karde, die gegen Borreliose hilfreich sein kann, die alte Schamanenpflanze, Räucherkraut und Gänsebratenwürze Beifuß, die so bedeutende Tollkirsche, die vielseitig einsetzbare Schafgarbe und den „spirituellen Lehrer“ Hanf. Auf einige Andere wird dann noch etwas weniger ausführlich eingegangen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch noch gleich auf die sehr lesenswerte „Autobiographie“ Storls hinweisen.

„Ich bin ein Teil des Waldes“ ist eigentlich, wie auch der Autor einräumt, eher eine unterhaltsame Sammlung von Geschichten aus dem Leben eines einzigartigen Menschen. 1942 geboren landet er in den 50er Jahren als Kind deutscher Auswanderer in den U.S.A.. Den Kulturschock, der ihm gleichzeitig die Fähigkeit einer beobachtenden Sichtweise beschert, kompensiert er, indem er sich bei jeder Gelegenheit in die Wälder Ohios aufmacht. So keimt schon früh die besondere Beziehung zur Pflanzenwelt. Später studiert Storl, wird Ethnobotaniker und Kulturanthropologe, doziert in den U.S.A., in Bern und Wien, forscht, arbeitet und lebt mit Spiritisten in Ohio, indianischen Medizinmännern, Anthroposophen und Bergbauern in der Schweiz, bei Shiva Sadhus in Indien und Nepal und landet schließlich 1988 als Gärtner, Autor und Referent mit seiner Familie auf einem nicht minder exotischen Einödhof im Allgäu. Als Amerikaner in Deutschland ohne Krankenversicherung beschließt er schließlich, einfach auf das traditionelle Heilpflanzenwissen und die Botschaften, die im Kranksein liegen, zu vertrauen. Ein wahrhaft mutiges Experiment. Als Schamane, wie man ihn mal in einer GEO-Reportage titulierte, versteht er sich nebenbei bemerkt nicht, obwohl das natürlich nicht unbedingt eine Beleidigung ist. Er ist ein Pflanzenkenner. Wir sollten uns alle viel mehr dessen besinnen, was wir den Pflanzen (und natürlich auch den Pilzen und Tieren) verdanken, nämlich alles. Stattdessen verheizen wir im Geschwindigkeitsrausch in kürzester Zeit das fossile Pflanzengeschenk von Jahrmillionen und verschließen uns dem gegenüber, was die Natur uns so offensichtlich zu sagen hat.

az
Wolf-Dieter Storl

„Ich bin ein Teil des Waldes. Der Schamane aus dem Allgäu“ erzählt sein Leben.“
Stuttgart 2003
Geb. mit Su., 277 S., 19 SW-Abb., 16 Foto-Tafeln
ISBN 3-440-09548-7
14,95 Euro

„Mit Pflanzen verbunden. Meine Erlebnisse mit Heilkräutern und Zauberpflanzen.“
Stuttgart 2005
Geb. mit Su., 236 S., 48 SW-Abb, 16 Foto-Tafeln
ISBN 3-440-10332-3
14,95 Euro

Beide im Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG erschienen.

Kategorien
Mixed Rezensionen

Gastronomie Tip Restaurant Cuore Mio

Prinz Top Guide 2004

Restaurant „Cuore Mio“ CUORE MIO
Rothestraße 38
22765 Hamburg
Telefon 040 – 39 90 60 29

Dienstags bis Sonntags 18:00-24:00
Hauptgerichte 12-20 Euro
Karten: Keine
Bus 187, 250, Grosse Brunnenstraße

Der Weidenkorb mit den gesammelten Korken steht am kleinen Tresen, die Buntstiftzeichnungen der Enkelkinder hängen an der Wand, dazwischen wieselt Manuela de Bilio durch ihr Weltenreich. Von ihr wird jeder Gast konsequent geduzt, dazu wandert die Schiefer-Speisekarte ständig durch die pastellfarbigen Räume. „Gut gewählt“, sagt sie mit milder Strenge lächelnd, kurz darauf bestätigen das Kaninchenragout auf Fusilli ihr Lob. Die Miesmuscheln duften nach Meer, die Entenbrust meiner Begleiterin ist feurig scharf aufs Gratin gebettet, der Mangold knackig frisch. Manuela reibt derweil parlierend den Parmesan persönlich über die Pasta am Nachbartisch, ein Sänger erscheint und summt italienische Weisen. Wir sind glücklich, denn so muss ein Kurztrip ins Land der Freude sein.
FAZIT: Alles wie bei Mama: Temperamentvolles Ambiente, redliche Speisen. An diesem fairgepreisten Busen darf man labend sich ergehen.

Jörg Auf dem Hövel

 

Kategorien
Cannabis Historische Texte Psychoaktive Substanzen

Mimi und der Kifferwahn – Anti Marihuana Krimis der 50er Jahre

HanfBlatt Nr.81, Jan/Feb 2004

Anti-„Marihuana“-Krimis der 50er Jahre

Ohne Krimi ging die Mimi bekanntlich nie ins Bett. Zu einer spannenden Bettlektüre gehörte ein Cocktail aus Sex and Crime, gerne mal gewürzt mit einer kräftigen Prise Rauschgift. Populäre Unterhaltungsromane spielten schon immer eine wegen ihrer hohen Reichweite nicht zu unterschätzende Rolle bei der Verbreitung rassistischen, sexistischen und drogenfeindlichen Gedankenguts. In ihnen ging es nicht um von unterschiedlichen Menschen bevorzugte Genußmittel, sondern um das dämonische „Rauschgift“ (in den Zwanziger Jahren in erster Linie Opium, Morphium und Kokain). Nach dem Zweiten Weltkrieg betrat aus dem Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten kommend ein neuer Kandidat das Parkett: „Marihuana“. Den in der Nazi-Zeit gleichgeschalteten und von „Volksschädlingen“ bereinigten Deutschen, war der Übergang in den demokratischen Kapitalismus von US-Gnaden sehr entgegengekommen. Die Anslinger´sche Anti-Marihuana-Propaganda wurde ungeprüft in Fachliteratur, Zeitschriften und Romane übernommen. Im Wirtschaftswunderländle ließ es sich beim Schmökern ob der fremden Rauschgiftseuche angenehm schaudern.

Bereits 1951 erschien in der Westernkrimi-Reihe „Conny Cöll der Wunderschütze“ von K. Kölbl ein Heft unter dem Titel „Marihuana“. Im Vorspann heißt es: „Was ist Marihuana? Schätzungsweise zwanzig Millionen Menschen in aller Welt sind in den letzten Jahren Sklaven des mexikanischen Rauschgiftes „Marihuana“ geworden. Dieses sogenannte „Blonde Gift“ lähmt nach seiner ersten anregenden Wirkung sehr bald jeden moralischen Widerstand seiner Opfer und in grauenhaft kurzer Zeit werden die Süchtigen zu Verbrechern und Dirnen, zu Amokläufern des Verkehrs und zu ständigen Insassen der zahlreichen Irrenhäuser.- So harmlos das Rauschgift in seiner pflanzlichen Form auch ist, so zerstörend und so furchtbar sind seine Folgen. In seiner Wirkung ähnelt Marihuana dem orientalischen Haschisch, ist aber weit gefährlicher und nervenzerrüttender als dieses.“ In diesem Tonfall geht es weiter: „Nach Ansicht der amerikanischen Polizei ist ein großer Prozentsatz aller Verkehrsunfälle, Gewalttaten und Sittlichkeitsverbrechen auf das Schuldkonto dieser Giftpflanze aus Mexiko zu setzen.-“ Und. „Die Süchtigen können ohne dieses Gift nicht mehr leben. Der Körper verlangt immer mehr davon. Die Folgen aber sind verheerend. Das Gift zersetzt den Organismus, lähmt verschiedene Nervenbahnen. Und der Endeffekt: Verbrechen – Dahinsiechen – Wahnsinn – Selbstmord!- -Unsere Folge Nummer 12 schildert, wie der Wunderschütze Conny Cöll den ersten Großverbrecher, Duff Garson, der die damals unbekannte Giftpflanze Marihuana in die Staaten schmuggelte, zur Strecke brachte.“

Dass der gegen Minderheiten gerichtete Nazi-Jargon in der Verteufelung der Drogen und derer, die mit ihnen umgehen, eine akzeptierte Fortsetzung fand, belegt folgende Passage (S. 29f): „Dem G-Man fiel sofort der feine, süßliche Geruch auf, der ihm entgegenströmte. Ein plötzlicher Gedanke durchfuhr ihn. Sollte er vielleicht jener vielgenannten Lasterhöhle auf der Spur sein, von der auch Oberst Sinclair sprach, als er ihm den Auftrag übermittelte, dieses Rauschgiftzentrum mit Stumpf und Stiel auszurotten. Wenn Oberst Sinclair von „Ausrotten“ sprach, dann mußte es etwas außerordentlich Gefährliches und Verbrecherisches sein, denn der Chef der G-Abteilung der Geheimen Nordamerikanischen Bundespolizei war sparsam mit solchen Ausdrücken.- Ausrotten! – Dieses Wort gefiel ihm, dieses Wort war Balsam für die Seele Conny Cölls. Bei diesem Gedanken mußte er unwillkürlich lächeln. Ausrotten! Dieses Wort gefiel ihm sogar außerordentlich.“ und wenig später: „im dritten Raum sah er nichts als schlafende Menschen. – Süchtige, mit diesem Teufelszeug aus Mexiko vergiftete Menschen. Ein maßloser Ekel stieg in Conny Cöll hoch und eine plötzliche Wut gegen den Urheber dieses menschlichen Viehstalls, Duff Garson, überkam ihn. Er wußte, daß diese Menschen für das normale Leben verloren waren, daß sie einem langen, furchtbaren Siechtum entgegengingen und in diesem Moment verstand er die Worte des Obersten Sinclair: Ausrotten mit Stumpf und Stiel!“ Natürlich muß Duff Garson sterben. Dem Rest der „Marihuana“-Schmugglerbande ergeht es nicht besser (S.32): „Alle Angeklagten wurden zum Tode durch den Strang verurteilt! – Dann erfuhr man auch die Tragödie der schönen Dorothe. Als sie verhaftet wurde, weil man sie im Halbdämmerzustand und noch ganz unter dem Eindruck des Rauschgiftes vorfand, brach sie in ein hysterisches, kreischendes Gelächter aus, das auch nicht verstummte, als das Polizeiauto mit ihr davonfuhr. Die erste Nacht in der Zelle war für sie die Hölle auf Erden. Sie bot dem grauhaarigen Wächter alles an, was sie besaß, für eine einzige Zigarette von der Sorte, die man ihr bei der Einlieferung abgenommen hatte. Sie bot ihr ganzes Geld, dann ihre kostbare Armbanduhr, ihren prachtvollen Saphirring, ihre wundervolle Perlenkette und dann sich selbst! – Vergeblich. – Am nächsten Morgen, als sie zum Verhör vor den Polizeirichter geholt werden sollte, fand man sie an ihrem schmalen Gürtel erhängt in der Zelle. – Ende.“

„Marihuana“ heißt auch der Mitte der Fünfziger Jahre aus dem Amerikanischen übersetzte Kriminal-Roman von Kenneth Stuart. Er wird im Vortext folgendermaßen angepriesen:
„Rauschgift! Ein neuer erregender Kriminalroman. Gewissenlose Verbrecher werden unbarmherzig und ohne Gnade gejagt.- Rauschgift! Eines der schrecklichsten Laster, von dem die Menschheit unserer Erde befallen ist. Tausende siechen unter qualvollen Leiden dahin. Doch immer wieder finden sich Verbrecher zusammen, die die Drogen mit hohem Gewinn an den Mann bringen. Die Gewinnsucht läßt sie vor nichts halt machen, ihnen gilt der Mensch nichts, der Profit alles…Dieser spannende Roman läßt einen tiefen Blick hinter das Netz eines internationalen Rauschgiftringes tun, und der Leser wird hinter der harten Sprache viel Wahrheit wiederfinden.“

 

Wie diese Wahrheit aussieht, sollen ein paar Zitate veranschaulichen. So erzählt eine „Marihuana“-Händlerin wie ihr Geschäft von statten geht (S. 126f): „Meine Gäste sind größtenteils Highschool- oder Collegeboys und -girls“. (Also quasi die Unschuldslämmer in Person.) „Die Schlepper bieten dem Jungen oder dem Mädel eine „Annemarie“ an, und die merken es ja beim Rauchen fast nie. Dann kommt der Rausch…Was glauben Sie, was wir hier schon für Ekstasen erlebt haben,…Ja und dann…dann kommen sie immer wieder. Die meisten von ihnen haben ein sehr reichliches Taschengeld. Manchmal bringen sie auch Schmuck oder andere Wertgegenstände. Haben sie das Zeug erst einmal ein paar Wochen geraucht, kommen sie nie wieder davon los!“ Und auf die Frage, was sei wenn die Süchtigen kein Geld hätten und mit einem Skandal drohten, antwortet die Frau: „“Die machen schon keinen Skandal. Die wollen Zigaretten haben und wissen, daß sie bei einer Anzeige in eine Entwöhnungsanstalt kommen und ihnen kein Händler in den ganzen Vereinigten Staaten mehr auch nur ein Gramm verkauft. Wir sind sehr gut organisiert, und wer kann mir etwas beweisen? Meistens aber gebe ich in solch einem Fall ein paar Zigaretten umsonst und verspreche für jeden neuen Kunden, den sie mir zuführen, 10 Stück. Was meinen Sie, wie die dann werben?“ Jimmy nickte nachdenklich mit dem Kopf. Das war das Verhängnisvolle bei den Rauschgiften, wen es einmal gepackt hatte, den ließ es nicht wieder los, und das Ende war meistens das Irrenhaus.“

Und hier noch ein Klischee, das ein Politiker aus der Alkoholikerfraktion einer christlichen Partei nicht besser verzapfen könnte (S.170): „Die Sängerin legte sich mit ihren quälenden Gedanken auf die Couch und kämpfte minutenlang mit der Versuchung, durch eine Marihuana-Zigarette sich für eine Stunde einen schönen Traum zu erkaufen. Dann siegte aber die Vernunft. Im Liegen goß sie sich ein Glas voll Whisky und leerte es mit einem Zuge.“Dass die „Marihuana“-Süchtigen ein erbärmliches Bild abgeben ist klar (S. 248):

„Deutlich war der junge Bert Warring zu erkennen, der in einem Büro auf einem Sessel saß und schluchzte: „So geben Sie schon eine Zigarette, ich will auch alles sagen.“ Die Stimme des Antwortenden…fragte: „Wann haben Sie zum ersten Mal Marihuana geraucht?“ Das Gesicht des dem Rauschgift Verfallenen war jetzt groß und deutlich auf der Leinwand zu sehen. die eingefallenen Wangen, der schmale Mund und die entzündeten, tränenden, beinahe irr blickenden Augen…“
Schliesslich wird der „Rauschgifthändler“ überführt (S. 250):
„Sie Bestie in Menschengestalt haben Tausende der Armen auf dem Gewissen, die in unzähligen Irrenanstalten langsam dahinsiechen.“

 

Die Angst vor der Gefahr des Überschwappens der neuen Rauschgiftseuche aus den fernen USA wird auch noch geschürt, in dem der Autor in der Handlung zehntausende „Annemarie“-Zigaretten nach Berlin schmuggeln läßt.

 

Von Paul Altheer erschien 1956 der Kriminal-Roman „Marijuana das neue Gift“. Im Klappentext heißt es: „Wieder einmal ein Roman von Paul Altheer, sagt sich der Leser und freut sich im voraus auf ein paar Stunden angenehmer Unterhaltung, geistreich, einfallsreich, anregend und erfüllt mit jener angenehmen Spannung, die den Leser in eine andere Welt zu entführen vermag.- Diesmal ist es der Kampf gegen eine weltumspannende Organisation von Rauschgifthändlern, die mit dem neuen Gift „Marijuana“ Millionengeschäfte macht und jene armen Menschen verseucht, die ihm verfallen.“

In einem eigenen Kapitel „Marijuana“ wird kräftig vom Leder gezogen. Hier einige Ausschnitte (S. 137ff) „aus einem Vortrag über dieses neue Gift, dessen Auftauchen in Berlin man vor einigen Wochen mit Entsetzen festgestellt hatte“: „Die harmlos aussehende Pflanze zeigt die gleichen vernichtenden Eigenschaften wie das Opium, ja, sie ist in gewisser Hinsicht noch viel gefährlicher und zerstörender…Verheerend ist die Wirkung von Marijuana. Nach dem Genuß der ersten Zigarette kommt ein ungewöhnliches Glücksgefühl über den Raucher. Er wird fröhlich und möchte am liebsten die ganze Welt umarmen. Nach der zweiten Zigarette aber wird er melancholisch. Eine tiefe Depression erfaßt ihn; Selbstmordgedanken und tiefe Traurigkeit durchströmen ihn. Nach der dritten Zigarette aber verliert der Raucher jeden Sinn und jedes Verständnis für Raum und Zeit…Die Katastrophe aber folgt nach der vierten Zigarette. Bei neun von zehn Rauchern stellen sich Mordgelüste ein. Ein Zustand ähnlich dem des Amokläufers überfällt ihn. Der friedlichste Mensch wird zum Raufbold und zeigt einen absoluten Vernichtungswillen, der sich nun aber nicht mehr gegen sich selber, sondern gegen seine Mitmenschen wendet.-
Das Furchtbare aber ist, daß ein Mensch, der einmal Marijuana geraucht hat, von dem unstillbaren Verlangen nach diesem Gift erfaßt wird. Noch weit mehr als bei Haschisch, Heroin, Morphium und ähnlichen Giften, drängt es den ihm Verfallenen, den wirklich Süchtigen, alles aufzuwenden, um in den Besitz des unentbehrlich gewordenen Giftes zu kommen…Es hat übrigens sehr viel Ähnlichkeit mit einem andern Gift, das unter dem Namen Zombi auf Haiti bekannt ist. Ja, im Grunde genommen ist es dasselbe…Sie wissen, daß Zombi, wenn es im Uebermaß genossen wird, jede Erinnerung auslöscht und den Willen tötet…“

Später wird in der „Geschichte des Studenten Fernand“ noch einer draufgesetzt (S.153):
„Wir dürfen ohne weiteres sagen: Wer einmal Marijuana genossen hat, kommt von ihm nicht mehr los. Tausendmal stärker als Morphium, Heroin, Opium und alles Aehnliche, was wir kennen, ist dieses Marijuana in seiner Kraft, mit der es sich an denjenigen klammert, der ein einziges Mal von ihm genossen hat. Der Student Fernand hat alle Stadien des Marijuana-Süchtigen durchgemacht. Er war froh und ausgelassen wie nie zuvor – nach der ersten Zigarette. Er wurde melancholisch und schwermutsvoll wie ein russischer Emigrant – nach der zweiten Zigarette. Er verlor sich in unendliche Träumereien, in uferloses Sinnen und Denken – nach der dritten Zigarette. Als er es aber einmal bis zu vier Zigaretten kommen ließ, war die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten. Wie ein Verfolgter begann er um sich zu schlagen. Seine Fäuste bluteten, der Schaum stand ihm vor den Lippen. Und als seine Freunde ihn zu beruhigen versuchten, griff er sie an, einen nach dem andern und alle zugleich, bis er durch einen Zufall den Dolch eines jungen Mädchens, das er über alles liebte, in die Hand bekam und sich damit auf seine Kameraden stürzte. Grace, das Mädchen, dem der Dolch gehörte, warf sich zwischen die Kameraden, mehr um ihn vor einer unbesonnenen Tat zu bewahren, als ihre Kameraden zu schützen. Sie sank, unter den Stichen ihres eigenen Dolches, bewußtlos zusammen. Fernand tobte wie ein Amokläufer, stach blindlings um sich, verletzte drei seiner besten Feunde und Kameraden, von denen einer heute noch zwischen Leben und Sterben schwebt…Bis er sich endlich müde getobt hatte und zusammensank, wie von einem Sandsack auf den Kopf getroffen…Nun liegt er, neben zweien seiner Freunde, im Krankenhaus und weiß von allem nichts. Er sinnt vor sich hin wie ein böses Tier, das nur ein Ziel kennt: Blut. Sein Ziel allerdings – wir wissen es leider nur zu gut – heißt Marijuana. Wenn es ihm gelingt, uns zu entwischen, auszureißen, dann wird sich die Katastrophe wiederholen, so oft wiederholen, bis sein Körper von dem Gifte mitleidlos zerfressen und der endgültigen Zerstörung anheimgegeben ist…Wir haben kein Mittel gegen dieses neue Gift. Noch nicht. Wir stehen ihm machtlos gegenüber. Es gibt nur eins: Die Quellen verstopfen, die dieses Verderben, genannt Marijuana, ausspeien.“
Das ist Kifferwahn in Reinkultur.

Geradezu herzlich nimmt sich dagegen der Kriminal-Roman „Marihuana für Yukatan“ von Hanns Hart aus, der ebenfalls Mitte der Fünfziger Jahre erschien. Eingangs heißt es: „Mord und Angst rufen das Inferno der Hölle…..!! Unheimliche Aktionen im Dschungel der Nacht nehmen jedem den Atem…..!!…ein echter Hanns Hart spannungsgeladen…atemraubend.“ Immerhin bringt der Ich-Erzähler nichtsahnend „Marihuanazigaretten“ unters Volk (S. 212f): „“Du Hund willst mich wohl auch süchtig machen?“ sagte er rauh. „Behalte deine Glimmstengel für dich, du Idiot. Damit kannst du Weiber reinlegen, aber nicht mich. Wieviel Marihuana brauchst du denn, bis du in Stimmung bist, Hurt?“ – Ich starrte ihn an und begriff es nicht. Ich sollte…? Und dann wußte ich es plötzlich. Es brauchte mir niemand zu sagen. – Die Chesterfield! Die Packung Chesterfield in meiner Tasche…! – Das war es. Es waren Marihuanazigaretten. Vier oder fünf Millionen rauschgiftverseuchte Zigaretten. Mit ´ner Spezialmischung aus Tabak und Marihuana. Ich lachte los. Es war ein giftiges Lachen, das ihn mich anstarren ließ. Ich lachte immer weiter. Immer weiter, weil ich wußte, was ich für ein Idiot gewesen war. Ein Riesennarr, der irgendwem auf den Leim gekrochen war…Chesterfield geimpft! Es war zum Totlachen!“ Schliesslich werden die wahren Übeltäter aber von ihm gestellt und er zwingt sie „unter dem Druck der MP-Mündung“ ihr „eigenes Kraut“ zu „probieren“ (S.234f). „Ich zwang sie, auf Lunge zu rauchen. Es war ein feines Schauspiel, und ich ließ ihnen keine Ruhe. Sie mußten auch noch zwei andere Chesterfield zwischen ihre Lippen klemmen. Sie waren grün vor Wut. Aber dann stellte sich die Wirkung ein. Ihre Augen glänzten seltsam.- Jetzt hatte ich sie soweit. Sie hatten keine Hemmungen mehr…gar keine.“ „Und ich kannte den Zustand, der nach dem Genuß von Marihuana erzeugt wird. Sie fühlten sich jetzt wie Helden…wie Riesen, die Bäume ausreißen konnten.“ Was ihnen bei der anschliessenden Keilerei allerdings nichts nützt, denn (S. 241) der Angreifer „sah alles in krankhaft verzerrten Farben“. Natürlich werden die Übeltäter überwältigt. Ende gut alles gut…

Kategorien
Mixed

Tief in den Darmverschlingungen des Dr. Frankenstein

hanfblatt, Januar 2004

Die anatomische Ausstellung „Körperwelten“ wandert durch die Republik. Die Diskussion um Sinn und Unsinn der Fleischbeschau bricht nicht ab. Wir beenden sie.

Ein etwa 12-jährige Mädchen steht am Schaukasten, in dem eine sauber präparierte Hüfte einer alten Frau liegt. Der Oberschenkelknochen ist bis zur Hälfte seines inneren Marks ausgefräst, mittig in dem zylindrischen Loch steckt eine massive Schraube, die allein einen Golf III-Motorblock am Chassis halten würde. Auf der Schraube steckt eine strahlend verchromte Kugel. Sie schmiegt sich perfekt in das rosig-glänzende Hüftgelenk der Verstorbenen ein. Das Mädchen ruft: „Schau mal, Mutti, sowas hat Omi doch auch.“ Mutti kommt geeilt, sagt, „oh, ja, recht hast du“.

Es ist Montag Morgen und hunderte von Menschen wandern durch die Ausstellung „Körperwelten“. Der Plastinator himself, Gunther von Hagens, stellt hier seine Exponate aus. Es sind menschliche und tierische Leichen, die der Mann mittels eines speziellen Verfahrens haltbar gemacht hat. Einfach gesagt: Das Wasser im Gewebe wird durch Kunststoff ersetzt. Die biologischen Präparate werden durch diese Plastination geruchsfrei und behalten ihre natürliche Oberflächenstruktur, mehr noch, sie sind bis in den mikroskopischen Bereich hinein identisch mit ihrem Zustand vor der Konservierung. Damit aber nicht genug: Die Biomasse wird durch die Plastination nahezu beliebig formbar.

Wahrscheinlich fangen hier die Probleme an, denn von der Flexibilität seiner Objekte macht von Hagens mächtig Gebrauch. Er dehnt und zieht die Sehnen, faltet und staucht die Muskeln, lässt sie fliegen, hängen und baumeln, er versetzt die Organe, öffnet das Rückgrat und arrangiert die Aterien und Venen. Das könnte Kunst sein, aber von Hagens versichert, dass seine Arbeiten „weder Kunst sind, noch Wissenschaft vermitteln, sondern aufklären“ wollen. Das ist, gelinde gesagt, Schwachsinn. Spätestens nach der Inhalation von ein paar getrockneten portugiesischen Seetangblättern sieht man in den Ausstellungsstücken den Gestaltungswillen von Hagens durchschimmern. Der Mann verwirklicht hier offen sichtlich mit Fetischen seinen Kindheitstraum. Er veranstaltet, da hat DIE ZEIT schon Recht, eine „Olympiade der Leichen“, mit welcher von Hagens gerne den Sieg über den Tod davon tragen möchte.

Immer neue Leichen müssen herhalten, immer grandioser müssen die Objekte werden. Mit dieser Unmäßigkeit will auch das Publikum nicht mithalten. Während die ersten Räume der Ausstellung das Interesse an Körperbau, Adernverlauf und Organbeschaffenheit so groß ist, dass manche Betrachter sich bis auf wenige Millimeter Milz und Leber nähern, stirbt die Lust an dieser Erfahrung von Raum zu Raum. Spätestens wenn der Kenner dem plastinierten Kamel und dem riesigen Pferd mit Reiter oben drauf gegenüber steht, fragt er sich: „Was will der Künstler uns damit sagen?“ So kippt das zunächst didaktisch aufgebauete Körper-Museum in eine Kadaver-Sammlung, eine monströse Fleischbeschau um. Hauptsächlich wegen dieser Monstranzen wird von Hagens seit Beginn vorgeworfen, er spiele mit der Würde der Toten, er wolle „Todes-Touristen“ anlocken wollen, er würde, so gab beispielsweise die Ärtzekammer Hamburg kurz vor der Ausstellungseröffnung zu Protokoll, „unter dem Deckmantel der Wissenschaft Tabubruch, Voyeurismus, Gruseleffekt und unwürdige Objektmachung“ in Kauf nehmen.

Seltsamerweise zeigen die Besucher nicht die Phänomene einer sensationslüsternden Menge. Sie sind sichtlich fasziniert vom Aufbau des menschlichen und damit ihres eigenen Körpers. Vor den Schaukästen mit dem Athroseknie versammeln sich die über 50-Jährigen in stiller Trauer und vor der tiefgrauen Raucherlunge die leise hustenden Männer. So ergab denn auch eine unabhängige Umfrage unter über 2000 Besuchern, dass 46% den Rundgang „sehr gut“, 45% als „gut“ bewerten. Fast 30 % der Befragten waren zudem Mediziner oder Biologen. Wie sie den Geisteszustand des präparierenden Professors einschätzen, danach wurde zwar niemand befragt, es ist aber anzunehmen, dass sie ob seiner Passion ahnen: Er seziert und kassiert halt gerne.

Das ist so neu nicht. Schon in den deutschen und europäischen Universitätsstädten des 17. Jahrhunderts werkelten die Mediziner bei öffentlichen Sektionen an (oft illegal beschafften) Leichen herum. Nur nebenbei: Auch Gunther von Hagens sieht sich Vorwürfen der unlauteren Objektbeschaffung gegenüber. Die russische Staatsanwaltschaft in Novosibirsk ermittelt und ein 2,40 Meter großer Basketballriese aus St. Petersburg wedelt mit einem Wisch auf dem „G.v.H.“ prangt. Der Professor soll ihm laut MDR viel Geld für die postmortale Verwendung seines Hühnenkörpers geboten haben. Schon damals waren solche Veranstaltungen eine Mischung aus Lehre, Theaterschauspiel, Sensationslust und eben auch Selbstdarstellung des Anatomen. Die Schelte von der Kanzel folgte postwendend, sah man doch den Menschen auf seine natürliche Leiblichkeit reduziert. Nach christlicher Lehre aber sind wir Gottes Ebenbilder. Aber viel geistig enthoben Göttliches war in den Gedärmen nicht mehr zu entdecken.

Die Kritik der Kirche klingt heute noch genauso abstrus wie damals, spürt sie doch, dass es das weitere Absterben ihrer Institution bedeuten könnte, wenn die Menschen erkennen, dass zwischen ihnen und dem faszinierenden Werk der Natur keine Würdenträger zur Vermittlung nötig sein müssen. Dieser Vorteil des Spektakels ist zugleich der größte Nachteil. Die Erfahrung der eigenen Leiblichkeit, der Umstand, dass man „nur“ eine süßduftende Note der Natur ist, diese Erfahrung ist für viele Besucher noch immer neu. Soweit, so gut, von Hagens bleibt hier aber nicht stehen, ihm ist der aufklärerische Auftrag nicht genug. Natürlichkeit, das heißt immer auch Endlichkeit und diese wird durch die Plastination überwunden.

Nicht zufällig haben sich schon über 6000 Menschen beim Plastinator gemeldet, um später einmal Epoxidharz oder Polyester in den Körper gespritzt zu bekommen. Sie haben die Botschaft verstanden: „Werdet unsterblich!“ Damit ist auch die Frage beantwortet, wie diese Ausstellung sich in das Gefüge des seit Jahren medial omnipräsenten Körperkults einfügt. Die Antwort: Sie ist sie ein weiteres Exempel der Perfektionierung des Menschen, eine weitere Bildpropaganda des gestylten Körpers und des Jugendwahns, da sie auf die Überwindung des Altern und schließlich des Todes hindeutet. Während die Gesellschaft immer älter wird, will die Menge in das Paradies des ewig-jugendlichen Körpers einziehen. Geht es nach den Machern von „Körperwelten“ ist der Körper nicht mehr nur durch Fitness-Studio, Schönheits-Chirurgie und Reproduktionsmedizin formbar, sondern es besteht auch nach dem Tod die Chance auf eine idealisierte Präsenz im Raum.


 

Körperwelten

Die Wanderung der Leichen ist die weltweit erfolgreichste Ausstellung aller Zeiten. Über 12 Millionen Besucher sahen die Präparate von Gunther von Hagens, 58, unter anderem in Japan, London, Brüssel, München und Hamburg. Vom 16. Januar bis 18. April 2004 sind die Körper nun in Frankfurt zu sehen. Die Kritik an der Ausstellung reißt nicht ab, dabei ist der Besuch nach wie vor freiwillig. Von Hagens ist begeistert, Kritiker werfen ihm vor, für den Erfolg über Leichen zu gehen.