Das Kiffen auf Zelluloid hat sich gewandelt. Wo sich früher nur Freaks und Outlaws die Hucke dicht rauchten, tummeln sich heute die fröhlichen Kiffer. Was fehlt also noch? Klar, eine stramme Empfehlung für die wirklich sehenswerten rauchgeschwängerten Filme.
Wen es wundern sollte, der sei aufgeklärt: Nicht jeder Streifen, in dem ein Joint weiter gereicht wird ist es Wert aus der Videothek geschleppt – geschweige denn via Internet auf die Festplatte gesogen zu werden. Viele Filme dienen nur als Klischee für eine weitere Verbreitung des überkommenden Gedankenguts der Prohibition. In ihnen muss der Kiffer dafür herhalten, dass zwischen Holly- und Bollywood Einigkeit darüber herrscht, dass die Droge Cannabis und ihre bösen Derivate „Haschisch“ und „Marihuana“ aus harmlosen Jugendlichen durchgeknallte Bösewichte macht. Das Musterbeispiel dieser staatlich verordneten Verblödung ist immer noch Reefer Madness (USA 1936), ein Aufklärungsfilm aus der Anti-Drogen-Propaganda der USA, der damals für blankes Entsetzen, heute nur noch für Komik sorgt. Die Handlung: Ein junger Musteramerikaner raucht einen Joint und wird dadurch zur mordenden Bestie.
Sieht man einmal von den im Untergrund wirkenden Filmexperimenten ab (so zum Beispiel Sommer der Liebe, Deutschland 1992, Regie: Wenzel Storch), stand der öffentlichkeitswirksame Kinofilm lange Zeit ganz im Dienste der Mythologisierung von Cannabis. Bis in die 60er Jahre hinein waren die Produkte des Hanfs das böse „Rauschgift“ und zu diesem gehörte immer ein schmierige Händler, ein paar Waffen und billige Mädchen. Sie waren die Nachfahren der unrasierten Schurken, die den Indianern Whiskey und Waffen andrehten. Mehr noch: Nicht nur in der Stirb langsam-Reihe (USA 1988) sprechen die Drogendealer gern mit deutschen Akzent. Die Legitimität des Krieges gegen die Drogen wird hier mit der des Krieges gegen Hitler verglichen und abgestützt.
Die andere Seite war der Konsument (vulgo: „Der Süchtige“). Das THC hatte den Mann oder die Frau fest im Griff, und zwar so sehr, dass es zu einer Abspaltung von den sozialen Beziehungen kam. Pot – so stand fest – das war sowohl ein Problem für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Die in den Körper eindringende Nadel eignet sich aufgrund ihrer deutlichen Intimsphärenverletzung zwar erheblich besser zur Inszenierung von Angst, aber auch der vernebelte Zug am Joint wird von den Regisseuren gerne so in Szene gesetzt, dass der Zuschauer nicht mehr genau weiß, ob er in einem Horror- oder Drogenfilm sitzt. Die Grenzen sind hier bewusst fließend gesetzt.
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Von dieser Brandmarkung als Substanz, die den Menschen von sich selbst und der Gesellschaft spaltet, hat sich der Hanf im Gegensatz zu anderen psychoaktiven Substanzen nach und nach erholt. Zu einer ersten Rehabilitierung kam es in den 60er Jahren, als sich die Message der Hippies in Herz und Hirn der Filmfritzen spülte. Inhaliertes Gras, so die gewitzte Umkehrung, spaltet uns nicht, sondern bringt uns näher zu unserem inneren Selbst. 1967 endete auch cineastisch der „Summer of Love“ mit dem Film Easy Rider. Peter Fonda & Co stoßen hier die Pforten der Wahrnehmung weit auf, um sie schließlich von den Spießern wieder vor den Kopf geschlagen zu kriegen.
Kiffen – das ist von nun an en vogue, der ehemals böse Stoff wird kulturell als „weiche Droge“ integriert. Plötzlich steht das Hanfblatt als Symbol für die Gegenkultur im medialen Raum und soll zugleich die Grenze zwischen den Generationen markieren. Ab diesem Zeitpunkt spiegeln die meisten hanfbewegten Filme einen gesellschaftlichen Konsens, der nicht Gesetz geworden ist. Das Bild vom freundlichen Kiffer entsteht.
Der Zeitgeist fordert von den Filmen nun auch die visuelle Umsetzung des im Rausch subjektiv Erlebten – eine knifflige Aufgabe, wie sich schnell heraus stellt. Farbfilter werden vor die Linse gehängt, alles dreht und bewegt sich, man sieht doppelt, Konturen verschwimmen. The Trip (USA 1967, Regie: Roger Corman) ist ein Höhepunkt dieser Versuche. Weitaus gelungener, weil das positiv-spirituelle Moment mancher Abfahrt besser erfassend ist Montana Sacra, (Mexiko 1973, Regie: Alejandro Jodorowsky). Eine Gruppe Heilssuchender tript dabei durch einer Welt voller Absurditäten.
Rund drei Jahrzehnte später nimmt Terry Giliam das Thema noch einmal auf und dreht es endgültig ins Groteske. Im Klassiker Fear and Loathing in Las Vegas (USA 1998, Regie: Terry Gilliam) ist Cannabis die mit Abstand harmloseste aller konsumierten Substanzen. Jonny Depp und sein samoranischer Anwalt fegen durch Las Vegas, zugedröhnt bis unter´s Dach und einem vergessenen Auftrag folgend. Zwar ist die subjektive Drogenvision auch hier Teil der Montage, dem Zuschauer wird aber immer wieder die Möglichkeit zur Distanzierung gegeben, denn so, nein so abgefahren kann, mehr noch, darf kein Trip sein.
Ohne das Beben der 60er Jahre wären auch die heutigen Kiffer-Komödien nicht denkbar gewesen. Die Mutter aller dieser Nonsens-Machwerke ist Cheech & Chong-Reihe (USA 1978ff). Der Erfolg des ersten (Viel Rauch um Nichts, Regie: Thomas Chong) und wohl auch besten Streifens der beiden zotteligen Kiffer-Brüder Pedro und Man ist so groß, dass vier weitere gedreht wurden, die allerdings in ihrer Struktur immer simpler werden. Egal, es wirde gekifft, gelacht und die Bullen werden verarscht. Nie wieder wurde der Insidern bekannte Spass-Faktor des Rauchen so brachial-komisch umgesetzt.
RÜCKBLENDE
Die frühen Filmemacher kannten keine in ihre Arbeit eingreifenden Instanzen. In reglementierungswütigen Deutschland wurde die Filmzensur 1908, in den USA 1922 eingeführt. Die Verherrlichung von Drogenkonsum stand schnell auf der Liste der No-Nos. Der – despektierlich gesagt – Vampir-Klassiker Nosferatu (Deutschland 1922, Regie: Friedrich Wilhelm Murnau) gilt als der erste Drogenfilm überhaupt: Ein ausgezehrte Süchtiger streift durch die nächtlichen Strassen, immer auf der Suche nach seinem Stoff. Süßes, aber gefährliches Gift: So stellt sich von nun an das Filmpublikum die Substanzen des kurzen Glücks vor.
Die Traumfabrik Hollywood stand seit ihrer Gründung unter argwöhnischer Beobachtungen der staatlichen Zensurbehörde. Alle Künstler musste Verträge unterzeichnen, in denen sie sich verpflichteten „nichts zu tun, was die Allgemeinheit schockieren oder beleidigen, öffentliche Moralvorstellungen verunglimpfen oder dem Produzenten oder der Filmgesellschaft schaden könnte“. Trotzdem taten die Produzenten alles, um das Publikum mit Sensationellem zu locken. Und das war halt: Freizügigkeit, Gewalttätigkeit und vor allem „Sex and Crime“. Aber Joseph Breen, Mitte der 30er Jahre Oberzensor in Hollywood, wachte auf die peinliche Einhaltung aller Richtlinien und glättete auch politisch allzu kritische Passagen. Mit Beginn der Ära Roosevelt war dann endgültig das optimistische, saubere Hollywood-Kino geboren.
ANSCHLUSS
Die Legalisierungs-Wunsch-Welle Mitte der 90er Jahre spült das Thema „Kiff und Kiffen“ wieder neu in die Kinos, allerdings unter geänderten Vorzeichen. Zum einen hat der süße Duft die bürgerlichen Schichten erreicht, Hasch-Rauchen ist nicht mehr nur Sache von Freaks oder Ami-Landsern (Apocalypse Now). Durch Filme wie Slackers (USA 1991, Regie: Richard Linklater), Homegrown, (USA 1998, Regie: Billy Bob Thornton) Bang Boom Bang (Deutschland 1999, Regie: Peter Torwarth) schlurfen die netten, immer leicht weggetretenen Dauerkiffer. In The Big Lebowski (USA 1998, Regie: Joel Coen) sehen wir den Anti-Helden Jeff Bridges im Kampf gegen Bowling-Kugeln und Leder-Nazis. Nichts bringt diesen modernen Buddha dabei aus seiner Ruhe. Und bei allem Humor zeigt Coen auch die Probleme eines alternden Single aus der Hippiegeneration. Brilliant! Ähnlich ruhig gepolt und sehenswert ist Kevin Spacey in American Beauty (USA 1999, Regie: Sam Mendes), der sich als Familienvater den amerikanischen Alltags-Horror mit Spliffs versüßt. Der britische Theaterregisseur Sam Mendes wagte hier die Bloßstellung der us-amerikanischen Doppelmoral und gewann – auch an der Kinokasse.
Zum anderen erscheint der negativ besetzte „Konsum“ einem positiven „Genuss“ gewichen, der eine sozial verbindende Komponente in sich trägt. So beschreibt der Hamburger Regisseur Fatih Akin in dem Spielfilm Im Juli (2000) eine köstliche Kiffer-Szene, in der Moritz Bleibtreu den ersten Joint seines Lebens raucht und ein Erweckungserlebnis hat. Es ist kein Zufall, dass er gerade dabei die Augen für seine Begleitung (Christine Paul) geöffnet bekommt. Haschisch, so zeigt Akin, k a n n ein kompetenter Wegbegleiter auf der Strasse zur Liebe sein.
Die Integration von rauchbaren Hanfprodukten in den Film, so bemerkte der Filmkritiker Georg Seeßlen einmal, geschieht aber keinesfalls bedingungslos: „Wir benötigen die Gemeinschaft, wir benötigen den Ausweis der Friedfertigkeit, und wir benötigen die Bereitschaft zum Glück. So wird diese Droge, die eigentlich allenfalls noch eine „Droge“ ist, zum Medium, den Bruch zwischen Gesellschaft und Individuum ebenso wie den zwischen Ich und Welt eher zu kitten als zu vertiefen.“ In all diesen Streifen wird Cannabis nicht mehr als moralisierendes Medium benutzt, dass die Konsumenten in tiefste Tiefen drückt oder höchste Höhen katapultiert, vielmehr ist es Teil eines Lebens, dessen wichtige Momente sich auch ohne das Kraut genießen oder aushalten lassen. Der Hanf ist entmythologisiert, und – wenn überhaupt – eher Teil der Lösung als des Problems.
Die Gesellschaftsfähigkeit des Kiffens erlebt ihren Höhepunkt in den diversen Kiffer-Komödien der späten 90er. Ein eigenes Genre entsteht. Einige deutsche Beispiele: Hans Christian Schmids Crazy, Matthias Lehmanns Doppelpack, Schule von Marco Schmidt oder – als Endprodukt – Lammbock von Christian Zübert: Überall steht Cannabis für eine sozial kompatible Überschreitung, die keiner mehr ernst nehmen will. Fakt ist aber auch, dass dies nach einiger Zeit ebenfalls vom Kinobesucher nicht mehr als ausreichender Grund für einen Kartenkauf ernst genommen wird. Dafür ist Kiffen eben irgendwann wirklich zu normal.
Diese Normalisierung illustriert reizend Nigel Coles Grasgeflüster (GB 2000). Die Handlung: In der konservativ-idyllischen Welt von Cornwall steht eine Witwe vor dem Ruin. Mit Unterstützung eines Freundes legt sie in ihrem Gewächshaus eine riesigen Hanfplantage an. Der Clou: Die ganze Dorfgemeinschaft weiß von dem Vorhaben und… ist begeistert. Cole gelingt es ein Milieu zu schildern, das sich nur deshalb nie vollständig zum geregelten Konsum bekennt, weil er illegal ist. Ist hier der Film Spiegel der Wirklichkeit?
Zumindest ist Cannabis in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Und wo noch in den Werken der 60er Jahre die Droge als Weg dargestellt wurde, die Realität zu verlassen oder neu zu konstruieren, scheint sie heute Ausdruck einer glaubwürdigeren, authentischeren Lebenswelt zu sein. Nun aber ist das Publikum satt: Coole Kiffer-Sprüche in Growing-Anlagen reichen heute nicht mehr für einen Kassenschlager aus und die Visualisierung des inneren Rausches wird von jedem PC-Bildschirmschoner ausreichend bunt umgesetzt. Was bleibt also für einen Film, in dem Cannabis eine Rolle spielen soll? Die oft so herrlich groteske Kiffer-Absurdität bleibt ein weites Feld, sicher auch eine noch detailgenauere Illustration des Menschen in seinen inneren und sozialen Verflechtungen. Und hat eigentlich schon jemand einen Kiffer-Porno gedreht?
„Schmeckt`s?“ Detlef verzieht sein Gesicht: „Geht so.“ Er trinkt gerade einen Becher eines schlammigen, die Mundschleimhäute betäubenden Getränks, zubereitet aus Kavawurzelpulver und Wasser. In etwa einer Stunde wird er vielleicht einen Teil des speziellen Südsee-Feelings begreifen, denn Kava ist die traditionelle Droge der Kulturen der pazifischen Inselwelt.
Kava, auch Kawa Kawa, Yangona oder Rauschpfeffer, botanisch Piper methysticum, genannt, ist ein Pfeffergewächs, aus dessen Wurzelstock schon seit sehr langer Zeit ein entspannendes und mitunter euphorisierendes Gebräu zubereitet wird.
Als Ursprungsort der Pflanze wird die Inselgruppe des heutigen Vanuatu angenommen. Ausgehend von wilden Pflanzen, wahrscheinlich von der Art Piper wichmanii, wurde allein über Stecklinge die heutige Kulturform entwickelt. Bemerkenswert ist, dass Kava nun schon seit Jahrhunderten ausschliesslich über Stecklinge vermehrt wird und von den seefahrenden Välkern praktisch auf jede von ihnen besiedelte Insel mitgenommen wurde. Im Laufe der Zeit wurden von den Kavapflanzern über hundert unterschiedliche domestizierte Varianten mit teilweise erheblichen Wirkunterschieden ausgewählt und selektiv vermehrt. Sie werden zu verschiedenen Anlässen konsumiert. Gerade die milderen und kurzwirksamen Typen werden für den alltäglichen Gebrauch bevorzugt. Eine Haltung, die die soziale Integriertheit dieser Droge unterstreicht. Zentrum der Kavavielfalt ist Vanuatu. Auch auf Papua-Neuguinea, Wallis und Futuna, Fidschi, Tonga, Samoa und Pohnpei wird Kava angebaut und kulturell integriert genutzt. Auf Tahiti, den Marquesas und Hawaii wurde das Kava durch christliche Sekten und Alkohol verdrängt und tritt höchstens noch verwildert oder als Zierpflanze auf. Neuerdings erlebt Kava allerdings im pazifischen Raum ein erhebliches Revival, verbunden mit einer Besinnung auf die eigenen kulturellen Werte und der Erkenntnis der schlimmen Folgen übermässigen Alkoholkonsums. Eingeführt durch Migranten findet Kavakonsum nun auch auf Neukaledonien, in Neuseeland, Australien und den USA (Kalifornien) seine Liebhaber. Kavaexperten sprechen diesem Mittel durchaus eine Zukunft als mildes Rauschmittel im südostasiatischen Raum und vielleicht sogar in den westlichen Ländern zu. Die Kavawirkstoffe sind bereits Bestandteil zahlreicher Arzneimittel. Auch hier besteht ein ausbaufähiger Markt. Seit Ende der Sechziger Jahre wurde immer wieder versucht, Kava als „legale Droge“ in der „Drogensubkultur“ zu vermarkten. bertriebene Versprechungen („mildes Acid“), schwache Qualitäten und der gewähnungsbedürftige Geschmack hielten die meisten Neugierigen davon ab, mehr als ein paar Experimente mit Kava zu machen.
Das vergleichsweise sanfte Kava solte nicht zum „Dröhnen “ genommen werden, zumal es ein derartiges Bedürfnis kaum befriedigen dürfte. Kavawurzel enthält neben Stärke, Fasern, Zucker, Proteinen, Mineralstoffen und Wasser zu 5 bis 15 % eine Gruppe von Wirkstoffen, die man gemeinhin als Kavalactone bezeichnet. Insbesondere sind Kavain, Methysticin, Yangonin, Dihydrokavain, Dihydromethysticin und Demethoxyyangonin an der Wirkung beteiligt. Sie wirken ärtlich betäubend wie Lokalanästhetika, harntreibend, schmerzlindernd, muskelentspannend, anti-epileptisch, krampfreduzierend, beruhigend und schlaffördernd und verstärken und verlängern die Barbituratnarkose, wenn man Wert darauf legt. Auch gewisse bakterien- und pilzhemmende Eigenschaften werden ihnen zugesprochen. Dabei sind sie durchaus als verhältnismässig unbedenkliche Alternative zu herkämmlichen Arzneipräparaten einsetzbar. Für den täglichen Konsum werden andere Kava-Chemotypen bevorzugt als für medizinische Zwecke. Klone mit hohem Gehalt an schnellwirkendem Kavain und niedrigem Gehalt an belkeit erzeugendem, langsam und langanhaltend wirkendem Dihydromethysticin werden lieber für den Alltagseinsatz verbraucht.
Kavalactone sind wasserunlösliche, in den Wurzelzellen fein verteilt vorliegende Harze. Sie müssen zur Zubereitung des begehrten Getränkes aufgeschlossen und in Flüssigkeit zur Schwebe gebracht werden. Deshalb wird zunächst einmal die Wurzel möglichst stark zerkleinert, so dass möglichst viele Zellwände zerstört werden. Traditionell geschah dies durch Zerkauen der Wurzel. Eine Praxis die ursprünglich von jungen Männern oder Jungfrauen ausgeführt wurde. Heute wird diese, die weissen Kolonialherren zutiefst abstossende Methode kaum noch praktiziert, zumal sie nicht nur als unhygienisch gilt, sondern in Anbetracht der Härte der Wurzel und der zu zerkauenden Mengen auch recht anstrengend sein kann. Andererseits hat ein derartig hergestelltes Getränk den Ruf, besonders stark zu sein. Für eine Dosis werden beispielsweise ein bis fünf Mund voll jeweils etwa zehn Minuten kräftig durchgekaut und ausgespuckt.
Andere Methoden, die Wurzel zu zerkleinern, sind das Zerstampfen und Zermalmen mit H ilfe von Steinen oder das Zermahlen mit Hilfe von mechanischen Mühlen oder „Fleischwölfen“, die durchaus auch mit Motorkraft angetrieben werden können. Der nächste Schritt besteht darin, die erhaltene Masse mit kaltem Wasser aufzuschwemmen (, heisses Wasser soll sogar ein stärkeres Getränk ergeben; Kokosnussmilch und Kuhmilch können meines Erachtens als löslichkeitsverstärkende Alternative eingesetzt werden, „Geschmackssache“). Schliesslich wird die gut vermengte Mischung durch ein relativ grobes Filter, beispielsweise aus Pflanzenfasern oder Nylonstoff , abgeseiht und die potente Restflüssigkeit aus der zurückbleibenden Wurzelmasse abgepresst. Das erhaltene gräulich-milchige Gebräu wird dann in Kokosnusshälften oder Gläsern ausgeschenkt. Mit mehr oder weniger verzogener Miene spült es der Kavatrinker möglichst frisch runter. Bleibt das Kavagebräu länger stehen, scheiden sich die Wirkstoffe ab, das Getränk wird schal. Das bereits ausgepresste Wurzelmaterial wird oft nochmal für einen zweiten Durchgang verwendet. Die Wirkstärke kann abhängig von Ausgangsmaterial, das heisst Sorte, Reifegrad und Wurzelteil, und Zubereitung sehr variabel und schwer abschätzbar ausfallen.
(Hier möchte ich nochmal einen Hinweis einflechten: Das erhaltene Getränk kann meiner Meinung nach auch mit Rohrzucker oder Honig gesüsst oder mit Gewürzen wie Zimt oder Vanille verfeinert werden. Die Variante mit Kakaozusatz gefiel mir gut. Die Mischung mit Guarana ergibt sowas, wie einen kospeedball. Lecithin erhöht die Aufschwemmbarkeit der Kavalactone. Vielleicht wird in Zukunft einmal ein sprühgetrocknetes Kavainstantgetränk entwickelt.)
In der Regel wird Kava erst abends getrunken, denn helles Licht beeinträchtigt die Wirkung. Meist wird vor dem Abendessen getrunken, damit sich die subtilen Effekte besser entfalten knnen. Ist das Kava sehr stark, kann andererseits eine Mahlzeit vor der Einnahme die Wirkung abmildern. Wird vorher nichts gegessen, kännen eine leichte warme Mahlzeit oder ein heisses Getränk nach Einsetzen der Wirkung über Wärme, Aufläsung in Fetten und die Anregung von Verdauungsvorgängen die Resorption und damit Intensität und Dauer der Kavawirkung intensivieren. Kava selbst dämpft eher den Appetit. Wird zuviel gegessen, kännen belkeit und Erbrechen einsetzen. Softdrinks, Kokosnusssaft oder Erdnüsse helfen gegen den eher unangenehmen Geschmack des Kavagebräus. Lärm kann die Kavaerfahrung stären. Das respektieren auch diejenigen, die kein Kava getrunken haben. In Ruhe wird dann „dem Kava gelauscht“, der veränderte Bewusstseinszustand zugelassen und genossen, wertvolle „Botschaften“ erspürt. In anderen kulturellen Kontexten steht die gemeinsame Kavaerfahrung unter dem Motto lebhafter Unterhaltung, Musizieren, Singen und Witze erzählen. Selten wird unter Kavaeinfluss getanzt oder enthemmt kopuliert.
Kava wird so gut wie nie allein, sondern fast ausschliesslich in geselliger Runde und meist nur von Männern genommen. (Erst in jüngster Zeit erobern Frauen auch diese Domäne.) Die Kavastunde stellt sowas wie einen gesellschaftlichen Feierabend dar. Im traditionellen Kontext wird Kava beispielsweise bei Begrüssungszeremonien, Friedensverhandlungen, Versöhnungen, Heilritualen und zu Vorhersagen als tragendes Element eingesetzt. Auf vielen Inseln gibt es heute aber auch sowas wie Kavakneipen.
Kava dämpft Aggressivität, bewirkt im positiven Falle einen subtilen Zustand der Ruhe, Zufriedenheit, Ausgeglichenheit, Friedlichkeit und Freundschaftlichkeit ohne das Denken zu beeinträchtigen. Man kann den Zustand allerdings auch als eher stumpfe Ruhigstellung empfinden. Manchein Dröhnbütel ist genau auf die abstumpfenden Effekte sehr hoher Dosierungen scharf. Bei einer hohen Dosis können Torkeligkeit, Koordinationsstörungen, belkeit und Erbrechen die Folge sein.
Eine Kavaabhängigkeit auf physiologischer Basis konnte nie festgestellt werden. Langfristiger intensiver Gebrauch kann im Einzelfall zum Austrocknen der Haut und zu Hautausschlägen führen, die sich allerdings bei Absetzen der Droge zurückbilden. Heftiger Kavadauerkosum kann „apathisch“ machen, vor allem wenn die ein besonders potentes Getränk ergebende frische Wurzel verwendet wird. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass Kava gelegentlich und in Massen (, nicht in Massen,) genommen, nach gegenwärtigem Kenntnisstand eine relativ verträgliche Droge ist. Zu warnen ist allerdings vor der Kombination mit Alkohol. Die Effekte verstärken sich gegenseitig, auch die negativen Wirkungen des Alkohols (, besonders die auf die Leber,) werden potenziert. Im allgemeinen wird diese Kombination in der Südsee gemieden: Das „friedliche“ Kava vertrage sich nicht mit dem „aggressiven“ Alkohol, er „vergifte“ die Kavastimmung. Die Kombination mit Cannabis führt zu einer Verstärkung der Cannabiswirkung (, „in Richtung Sofa“, wie Detlef sagt).
Die Kavawurzel wird meist nach 3 bis 4 Jahren geerntet. Eine Wurzel wiegt dann zwischen 5 und 50 Kilogramm frisch. Das ergibt 1 bis 10 Kilogramm getrocknet. Ca. 20 % davon sind Seitenwurzeln. Diese haben einen Kavalactongehalt von ca. 10-15%, der Hauptwurzelstock einen von 5-10% und die Stammwurzel von vielleicht 5 %, nur um mal einen Anhaltspunkt über die variierende Potenz innerhalb der Wurzel zu geben. So werden beispielsweise auf Fidschi die Preise der Wurzelteile entsprechend der Wirkstoffgehalte gestaffelt: 1 Kilogramm Seitenwurzel (waka) kostete 1990 etwa 18 DM, die Hauptwurzel (lewena) 12 DM das Kilo und die Stammwurzel (kasa) nur 6 DM pro Kilogramm. Beste Qualitäten sollen aus Vanuatu kommen. Dort ist die Wurzel bei den Farmern ab 1 DM pro Kilo erhältlich.
Auf Fidschi werden jährlich mehrere tausend Tonnen Kavawurzel geerntet, auf Tonga mehrere hundert, auf Vanuatu wahrscheinlich Mengen im tausend Tonnenbereich. Samoa ist ein weiterer Exporteur.
Bei uns ist Kavawurzel durchschnittlicher Qualität im Kräuterhandel ohne Schwierigkeiten zu moderaten Preisen erhältlich. Die bereits zu feinem Pulver zermahlene Form eignet sich besser zur Zubereitung von Getränken. An die Dosierung tasten sich Anfänger vorsichtig heran, beginnend mit wenigen Teelffeln des Wurzelpulvers. 20 bis 30 Gramm pro Dosis sollten fürs Erste nicht überschritten werden. Weniger ist oft mehr. Kava ist weniger eine Droge, als ein subtiles entspannendes Genussmittel.
Zahlreiche Präparate mit Kavaextrakten sind in Apotheken oder Reformhäusern erhältlich. „Dr. Dünners Kawa-Kawa-Kräutertabletten“ aus dem Reformhaus, bestehend nur aus Wurzelpulver und Extrakt, kännen beispielsweise fein vermahlen als Pulver, teelöffelweise in Milch verührt getrunken werden. „Antares 120“ aus der „Apo“ enthält 120mg Kava-Lactone pro Tablette, „Kavasedon-Tropfen“ enthalten 25 mg Kavapyrone pro Milliliter, „Neuronica“ 200 mg D,L-Kavain pro Kapsel. Hier gilt natürlich, in puncto Nebenwirkungen: Lesen Sie den Beipackzettel und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker!
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Lesetip:
(leider nur auf Englisch)
Chris Kilham
„Kava-Medicine Hunting in Paradise, The Pursuit of a Natural Alternative to Anti-Anxiety Drugs and Sleeping Pills.“
Park Street Press 1996
ISBN 0-892 81-640-6
Vincent Lebot, Mark Merlin, Lamont Lindstrom
„Kava-The Pacific Drug.“
Yale University Press 1992
ISBN 0-300-05213-8
Wie beliebt ist Cannabis unter Schülern? Und welche Folgen hat der Genuss?
Das Blech und die Scheiben von Philips roten Golf erzitterten unter den Klängen von Prince. Es war 1984 in irgendeiner Schule in einer Großstadt. In der großen Pause, ich glaube sie ging von halb bis um 11 Uhr, hatten wir es uns seit einem viertel Jahr zur Angewohnheit gemacht in der rostigen Karre zu verschwinden und eine Riesentüte zu rauchen. „Let´s go crazy“ dröhnte dann so laut aus den Magnat-Boxen, dass Passanten stehen blieben. Unsere Mitschüler, welche die Pause nutzen um aus dem nahe liegenden Penny-Markt Bier zu holen, die grienten nur wissend. Es war die Zeit in der uns endgültig klar wurde, dass Schule keinen Sinn macht, obwohl die Abiturprüfungen nahten. Cannabis stand dabei nie in dem Verdacht das Bewusstsein zu erweitern, wozu auch, wir wussten es ja eh schon besser. Die fetten Joints, die wir uns Tag für Tag reinzogen dienten keinem Ziel, sondern nur dem puren Amüsement. Wir wollten schnell und schmutzig leben, Mutti würde schon weiter zahlen.
Zeitsprung ins Jahr 2002: Eine Gesamtschule in Hamburg. Auf dem Schulhof tummeln sich die Racker, die älteren Schüler ziehen sich mit behördlicher Genehmigung eine seltsame Droge mit Namen „Tabak“ in der eigens dafür geschaffenen „Raucherecke“ rein. „Kiffer suchst Du?“, wiederholt einer der langen Kerls spöttisch und schaut mich von oben bis unten an. „Dann schau mal hinter das Gebäude dahinten. Vielleicht hast du Glück.“ Ich folge seinem Finger. Als mich die kleine Gruppe von Jungmännern sieht, nesteln sie in ihren Taschen rum. „Vom HanfBlatt, coool.“ Ja, sagen sie, „klar kiffen wir in den Pausen“. Jeden Tag? „Ooch ja, eigentlich ja.“ Nein, auf die Leistungen würden sich das nicht auswirken. „Der Unterricht ist sowieso völlig beschissen. Ob ich da breit bin oder nicht, dass macht keinen Unterschied.“ Die Hände in den Taschen, die Hosen in den Kniekehlen stehen sie da. Neuntklässler, die jedwedes Unrechtsbewusstsein beim Cannabisgenuss in die Tonne getreten haben. Für sie ist Kiffen Entspannungskultur, breit sein, high sein.
Das war 1984 nicht viel anders: Die Generation der Anti-Atomkraft-Bewegung mit ihren olivgrünen Parkern und ihren moralinsauren Eiertänzen hatte vor zwei Jahren die Schule verlassen, nun waren wir an der Macht. Wir, dass waren wilde Söhne und Töcher aus Beamtenhaushalten, welche die reduzierte Sprache von Albert Camus genossen und Jean Paul Satre lasen und ihn nicht verstanden. Es entwickelte sich eine Mischung aus krudem Existenzialismus und dem unbedingen Willen, dass Leben in vollen Zügen zu genießen. Techno war noch nicht erfunden, Acid-House war State of the Art und damit dämmerte langsam das Zeitalter des Hedonismus heran. Ohne es zu wissen waren wir die Vorläufer der heutigen Spaßgesellschaft. Wenn wir bekifft aus dem Auto zurück in den Unterricht flatterten, dann war Spaß garantiert – oder stumpfes rumdröhnen. Einmal kippte Philipp vom Stuhl vor Lachen, unser Biologielehrer (Typ: „Ich bin euer Kumpel“) schickte ihn entnervt zur Schulleiterin. Aber die Lehrer waren meist zu blauäugig, um unsere Zustände einzuordnen – oder sie wollten sie nicht sehen, weil wir seit der 11. Klasse den Unterricht eh nur noch für unser Privatscherzchen nutzten, mithin störende Elemente waren.
Tja, und nun die Preisfrage: Was hat das Cannabis mit uns getan? Um es mal mit den Maßstäben der Leistungsgesellschaft zu messen: Der eine Kiffer von damals kauft heute Fussballrechte in ganze Europa ein, der andere hat eine kleine Firma für Marktforschung gegründet, der dritte verdummt die Leute (er ist Angestellter in einer Werbeagentur), der vierte tut das ebenfalls, er schreibt diesen Artikel. Aber es gibt auch andere Wege: Einer aus unserem Kreise fand das Kiffen so großartig, dass er jeden Abend bedröhnt vor der Glotze hing, wir verloren ihn aus den Augen, Jahre später traf ich ihn wieder, er war ziemlich runtergekommen. Kaum jemand kommt auf die Idee, berufliche und private Erfolge am Graskonsum festzumachen, umgekehrt fällt das seit jeher einfacher. Und kaum jemand kommt auf die Idee die Fragestellung einmal umzukehren und eine Untersuchung darüber anzuschieben, welche Vorteile Jugendliche aus dem ja meist gemeinsam praktizierten Rauchritualen ziehen. Die Kiffen ein Problem sein muss, dies ist unausgesprochene Gedanken- und Finanzierungsgrundlage vieler Sucht- und Präventionsbüros.
Um es nicht falsch zu verstehen: Unser Konsum von Haschisch während der Schulzeiten hat die Leistungen in der Schule wahrlich nicht gefördert, im Gegenteil. Ab dem Moment der cannabioniden Intoxination waren wir bei körperlicher Anwesenheit freiwillig vom Unterricht ausgeschlossen. Letzlich waren wir das vorher zwar auch schon, aber nun gab es absolut keine Möglichkeiten für Lehrer und Lehrninhalte durch unseren Nebel aus Selbstgefälligkeit und Frohsinn durchzudringen. Nur hatten wir halt das Glück zu begreifen, dass man die Regeln des Systems irgendwann doch wieder befolgen muss, zumindest soweit, dass man nicht rausgeworfen wird. Die Eskapaden führten nie dazu den ideellen Reigen aus Eltern und sozialem Umfeld ganz zugunsten der hanfinduzierten Glückseeligkeit zu verlassen. Zudem hatten wir Glück, denn ein Lehrer stand dem Hanf nicht abgeneigt gegenüber. Wir teilten ein paar Züge lang unsere Erfahrungen. Der Mann hatte unser Vertrauen und war einer der wenigen Großgewachsenen, den man sich bei Problemen innerhalb und außerhalb der Schule offenbaren wollte.
Und was treibt der Hanfrauch heute aus dem Bewusstsein der SchülerInnen? Die sonore Stimme eines Hamburger Schulpsychologen dringt durch den Telefonhörer: „Ein großer Teil der Jugendlichen kann mit dem Cannabiskonsum umgehen, aber es gibt welche, die das nicht können. Wer zum Frühstück seine ersten Köpfe raucht, der hat schnell ein Problem.“ Der Mann kämpft mit mehreren Aufgaben: Ein Problem sei, dass keine aktuellen Zahlen vorliegen, ob sich der Konsum unter den Menschen unter 18 Jahren tatsächlich erhöht hat. „Wir erhalten schon immer öfter Meldung von Schulen und Eltern, dass die Cannabis konsumierenden Schüler jünger geworden sind.“
Ob Eltern, Lehrer oder Schüler: Die Erfahrungen mit akut gedopten Mitschülern sind schlecht, darum ist man sich einig, dass der Genuss von Hanfkraut in der Schule nichts zu suchen hat.
Wo früher erst die 17-jährigen rauchen, kiffen heute zum Teil schon die 15-jährigen. Dieser subjektive Eindruck wird durch die letzten Erhebungen in Hamburg bestätigt. 1990 hatten insgesamt 27,9 Prozent und 1997 26,5 Prozent der 15 bis 39-jährigen jemals in ihrem Leben Cannabis probiert. Diese sogenannten „Lebenszeitprävalenz“ hat sich über die Jahre also kaum geändert. Aber: Deutliche Veränderungen zeigen sich bei der Gruppe der jungen Konsumenten. 1990 gaben nur 8,4 Prozent der 15-17-jährigen an, im letzten Jahr Hanf geraucht zu haben, 1997 waren das schon 17,9 Prozent. Und so wie es aussieht hat sich dieser Trend eher noch verstärkt.
Kenner beobachten die Verjüngung der Szene schon seit längerem. Ein Head-Shop Besitzer erzählt: „Erst gestern kam hier ein maximal 15-jähriger rein, der einen Bong für die Tasche haben wollte. Der Typ war komplett sediert und fragt auch noch nach einem Gerät, dass er mit in die Schule nehmen kann. Damit ist er jetzt wahrscheinlich der Held in der Klasse.“ Insgesamt sei zu beobachten, dass die Käufer von Paraphenalia über die Jahre jünger geworden sind.
Die spannende Frage ist nun, welche Auswirkungen der Genuss von Cannabis hat. Darüber gehen die Meinungen auseinander, die empirischen Erhebungen im Bundesgebiet unterstützen die These vom kranken Kiffer allerdings nicht. Ein paar Zahlen: Im Jahr 2000 lag der Anteil der aktuellen THC-Liebhaber in Deutschland zwischen fünf und sechs Prozent. Hochgerechnet auf die Wohnbevölkerung sind das in Ostdeutschland 26.000 Personen und in Westdeutschland 214.000 Personen, die regelmäßig Cannabis konsumierten. Glaubt man den Erhebungen weiter haben nur wenige Kiffer Probleme mit ihrem Inhalationssport.
Die größte Studie zu dem Thema von Kleiber und Kovar kommt in feinstem Wissenschaftsdeutsch zu dem Schluss: „Was die Auswirkungen von Cannabis auf die psychische Gesundheit anbelangt, muss aufgrund der vorliegenden Ergebnisse die Annahme, dass der Konsum von Cannabis eine Verschlechterung der psychischen Gesundheit nach sich zieht, zurückgewiesen werden.“ Fest steht auf der anderen Seite, dass diejenigen Menschen, die heute Dauerkiffer sind ihre ersten Erfahrungen relativ früh gemacht haben. Mit anderen Worten: Je früher man anfängt zu knastern, desto größer ist später die Chance dauerstoned durch die Gegend zu eiern.
Wie geht man nun mit dem jugendlichen Fans von Cannabis, Alkohol, anderen Genussmitteln und sogenannten Drogen um? Im Kern stoßen dabei zwei Auffassungen aufeinander. Die eine: Weil alle Rauschmittel das Potential zur Verstärkung und Wiederholung in sich tragen, muss das Ziel die Erziehung zur Abstinenz sein. Die Gefahr, die von der Integration des Drogenkonsums in die Gesellschaft ausgeht, zeigt sich deutlich am Alkohol. Die andere: Eine drogenfreie Gesellschaft ist nicht nur unmöglich, sondern durch ihre prohibitiven Zwangsmaßnahmen zugleich ein teilweise totalitärer Staat. Ziel muss daher die Erziehung zur selbstverantwortlichen Haltung und Handlung sein. Aus der Diskussion ausgespart bleibt meist die betroffene Gruppe, nämlich die, die ab und zu Cannabis zur Entspannung und zur Rekreation nutzt und eigentlich nur ein Problem hat: Dass die Produkte der Pflanze auf dem Markt erscheinen ohne auf Qualität geprüft worden zu sein.
Die Garde der Therapeuten, Suchtberater und Schulpsychologen steht vor dringenderen Problemen. Ihrer Meinung nach setzt das Betäubungsmittelgesetz der Beratungs- und Aufklärungstätigkeit enge Grenzen, zum anderen ist die Unkenntnis über Wirkungen und Auswirkungen von Gras und Hasch unter Lehrern, Eltern und Schülern riesengroß. In den Worten des Psychologen am Telefon: „Die Schule kann bei der momentanen Gesetzeslage keine Anleitung zum regelgeleiteten Konsum geben, und das kann auch nicht Auftrag der Schule sein.“ In der persönlichen Beratung von Schülern allerdings würde nicht nur auf Abstinenz abgestellt, „das wäre völlig unrealistisch“. Auf Veranstaltungen zum Thema Drogenkonsum würde immer wieder die Unsicherheit deutlich werden, die allenthalben unter Eltern, Lehrern und Schülern herrsche. „Zumeist wird der Cannabiskonsum total dramatisiert, andere spielen ihn vollständig runter.“ So oder so sei das Thema enorm emotional besetzt. Fazit des Psychologen: „Versachlichung und Aufklärung tuen Not.“
Bei der Veranstaltung „Jugend im Parlament“ berichteten Hamburger Schüler den Abgeordneten der Hamburger Bürgerschaft im Jahr 2000 von ihren Erfahrungen mit kiffenden Mitschülern. Die Überraschung: Die meisten Jugendlichen teilten mit, sie hätten bisher bei keinem ihrer Mitschüler Verhaltensauffälligkeiten oder Beeinträchtigungen der Leistung durch die Einatmung von geschwängerten Rauch festgestellt.
Im Regelfall würde Cannabis ohnehin in der Freizeit konsumiert, weiß Gert Herweg, der in Frankfurt als Fachberater tätig ist. In der Metropole haben seiner Einschätzung nach bis zu 20 Prozent der Schüler über 14 Jahren Erfahrungen mit Cannabis. Die meisten davon würden den Hanf aber nur probieren, wenige würden zu Gewohnheitsrauchern. Im gesamten Bundesgebiet ist zu beobachten, dass vor allem Schulen in sozial schwachen Wohngebieten von Problemen mit dauerkiffenden Jugendlichen berichten.
Misst man nicht mit ökonomischen Maßstäben, stellt sich die Frage nach den Vor- und Nachteilen des Drogenkonsums noch einmal anders. Was kaum einer der Therapeuten und „Drogenexperten“ auszusprechen wagt, ist doch, dass Cannabis und andere Rauschmittel bei vernünftiger Anwendung eben durchaus zur Weiterentwicklung der Persönlichkeit beitragen können und nicht nur wie ein unablässig wachsendes Geschwür dieselbe zerfressen. Sicher, die Gefahren eines allzu frühen Konsums liegen auf der Hand: Sie bestehen in einer, bildlich gesprochen, Aufweichung einer Plattform, die man sich ja gerade erst -unabhängig von den Eltern- schaffen will. Gleichwohl gilt: Fatal ist doch die zeitweise Ausrichtung des jungen, sich entwickelnden Wertesystems an einer Droge nur dann, wenn der Mensch sich dadurch entweder unglücklich macht oder seine Verantwortung für das natürliche und soziale Umfeld auf längere Zeit negiert. Diese Gefahren bestehen, sind aber nach überwiegender Meinung eher vom Elternhaus und dem Freundeskreis abhängig als von Pflanzenextrakten.
Neugierde und Entdeckerdrang, Abgrenzung zu Autoritäten und das Erleben von Freiheit sind notwendige Bedingungen des Erwachsenwerdens. Sicher tut man der gedeihenden menschlichen Natur nicht zu sehr Gewalt an, wenn man einige Genussmittel per Gesetz kategorisch aus ihrem Erlebnishorizont streicht. Auf der anderen Seite lauern die Gefahren der blinden Konsumwut überall und in der propagierten „offenen Gesellschaft“ sollte es eben auch darum gehen, den Umgang mit diesen zu lernen. Aber wer lehrt diesen, angesichts überforderter Eltern, nicht legitimierter Schulen, die zudem ihren Ruf im Viertel nicht verlieren wollen und einem Freundeskreis, der zur Verharmlosung neigt?
Unsere Serie ist außer Atem, ja, sogar am Ende. Wir haben viel gegeben, haben Zahlen und Fakten gesammelt, Tabellen erstellt, Vergleiche gezogen und das Alles, um den weit verbreiteten Unwahrheiten über den Hanf Einhalt zu gebieten. Vorangetrieben von der Hoffnung, daß in Zeiten (post)moderner Beliebigkeit die Suche nach dem wahren Cannabis überhaupt Sinn macht. Der letzte Teil gibt sich locker, auf intellektuelle Weise konfus, fasst noch einmal die wichtigsten Ergebnisse über die Wirkungen des Rauschhanf auf die Körper-Geist-Einheit zusammen und wagt einen Ausblick.
„Mythen kommen und gehen: Die Zusammenfassung“
Die Mythe, eine altüberlieferte Erzählung, soll in bildhaft-anschaulicher Sprache ein vergangenes Ereignis vergegenwärtigen. Ursprünglich ging es um Geschichten aus einer Zeit, in der Götter und Dämonen regierten, kurz, die Welt noch beseelt war. Die Aufklärung und später die Wissenschaft drängten diesen Komplex in den Bereich des Unbewußten, denn die Welt besitzt keine Seele, meint man. An dieser Stelle könnte ein philosophischer Diskurs ansetzen, aber das würde zu weit führen. Der Ausdruck „Marihuana-Mythen“ soll indes zeigen, daß trotz eines wissenschaftlichen Mäntelchens wissentlich oder unwissentlich Lügen über den Hanf verbreiten wurden und werden.
Gleich die erste Folge nahm sich einen Mythos zur Brust, der in vielen Köpfen herumschwirrt: Die Annahme, daß sich der Konsum von Cannabis unter Jugendlichen stetig erhöht hat. Wir mußten zeigen, daß in der westlichen Hemisphäre der Gebrauch von Rauschhanf über die Jahrzehnte relativ stabil geblieben ist. Er ist zwar gewissen Schwankungen unterworfen, diese sind aber eher durch Veränderungen in der Jugendkultur, als denn durch eine liberale oder restriktive Drogenpolitik zu erklären (HB 23/96). Eine der nächsten Folgen wies nach, daß Hanf durchaus als Medizin genutzt werden kann, es sogar diverse wissenschaftlich fundierte Einsatzgebiete gibt (HB 25/96).
„Marihuana schädigt die Lungen„, nannte sich der vierte Mythos. Klar, rauchen ist immer Gift für unser Atmungsorgan, das steht nunmal fest. Regelmäßige Kiffer leiden öfter als Nichtraucher an chronischen Husten und chronischer Schleimentwicklung. Mischt frau den Hanf zudem mit Tabak, erhöht sich die Risiko einer Krebserkrankung enorm. Die Forschungen auf dem Gebiet laufen, die Liebhaber des Rauchens sollten aber gewarnt sein. Ob Cannabis das Immunsystem insgesamt angreift, bleibt umstritten. Die Ergebnisse der frühen Untersuchungen wurden in den achtziger und neunziger Jahren wiederholt und oft verworfen. Hier darf wie so oft- kein Kausalzusammenhang gezogen werden: Sportliche Menschen mit gesunder Ernährung und einen ausgeglichenem Seelenleben dürfte weitaus weniger schnell krank werden als der faule, fette Fernsehhänger. Die sexuelle Fortpflanzungsfähigkeit von Mann und Frau wird kaum beeinträchtigt: Zwar hat Marihuana leicht unterdrückende Auswirkungen auf die Spermaproduktion, diese ist aber reversibel. Die Damen der Schöpfung stört der Genuß nicht in ihrer Fruchtbarkeit, wohl aber in das Genießen ihrer Schwangerschaft. Wissenschaftler raten zu einer gewissen Prüderie gegenüber Cannabis in den berühmten neun Monaten, denn die Ergebnisse sind zu widersprüchlich. Was der Hanf im Hirn anstellt, darüber läßt sich trefflich streiten. Die Grenze zwischen Psyche und Physis ist gerade hier schwer zu ziehen, somatische Veränderungen wurden aber selten nachgewiesen. Berücksichtigt man die neurochemischen Daten von Tierversuchen, klinischen Fallstudien, empirischen Erhebungen, kontrollierten Laborstudien und Feldversuchen kann gesagt werden, daß Beeinträchtigungen des Hirns zwar möglich sind, bei einem kontrollierten Umgang aber äußerst unwahrscheinlich. Der überwiegende Teil der Erhebungen der Kiffer und Abs tinenzler beäugte, fand keine Unterschiede in den kognitiven oder intellektuellen Funktionen.
Erich Hesse schrieb 1966: „Die regelmäßige Aufnahme des Gifts (Haschisch) führt zur Sucht und auf Dauer zu schweren psychischen Schäden. Daueraufenthalt im Irrenhaus ist das Ende.“ Noch immer hält sich der Mythos von Cannabis als Suchtdroge. Das HanfBlatt bezog in Ausgabe 32/97 Stellung und verwahrte sich gegen die Sündenbockfunktion einer Substanz. Dosierung der Droge, Anforderungen des Berufs, soziales Umfeld und die persönliche Struktur des Konsumenten sind ausschlaggebend für die Wanderung auf dem Grad zwischen Gebrauch und Mißbrauch. Ziellosigkeit und Lethargie sind allen Kiffern bekannte Phänomene nach einer durchqualmten Nacht, daraus aber ein allgemeines „Amotivationssyndrom“ stricken zu wollen, ging uns entschieden zu weit. Interessant ist, daß die großen Feldstudien in Costa Rica, Griechenland und Jamaika keine Beweise für dieses Syndrom fanden. Vor allem junge Menschen sind dann gefährdet, wenn sich der Hauptaugenmerk ihres Lebens einer Droge zuwendet. Zur Theorie der „Einstiegsdroge“ habe wir in Ausgabe 36/97 einige Worte verloren, einer Theorie, die in der Riege der internationalen Wissenschaftler (so wie der Flash-Back) keine ernst zu nehmende Unterstützung mehr findet. Es steht fest: Es sind eher drogenunabhängige Einflüsse, die eine „Umsteigen“ hemmen oder fördern. Von den Niederlanden kann die deutsche Republik in jedem Falle lernen, dort ist eine Trennung der Märkte in „weiche“ und „harte“ Drogen weitgehend gelungen und mehr Menschen kiffen im Nachbarland -trotz einer quasi-Legalisierung- auch nicht.
So, daß war´s. Aber weit gefehlt, denn noch immer forscht die Wissenschaft auf der ganzen Welt nach dem wahren Wesen der Cannabis-Pflanze und ihrer Wirkstoffe. Cannabis verspricht in der Zukunft Linderung für AIDS- und Krebskranke zu bringen, aber auch als Seelenbalsam ohne ärztliche Verschreibung nimmt es immer mehr seinen Platz in einer gestreßten Gesellschaft ein. Schnelllebigkeit und Informations-Overdrive zeichnen die gegenwärtige Epoche aus, der Genuß von Hanf dürfte als beliebte Zeitbremse seinen Platz bei jungen wie alten Menschen behalten beziehungsweise neu finden. Angesichts der neuen Ergebnisse rund um die Wirkung von Cannabis, stellt sich die Frage, was zuerst da war: Die wissenschaftlich fundierte Erkenntnis, daß der mäßige Konsum annähernd frei von Schäden ist, oder eine sozial, kulturell und politisch veränderte Stimmung gegenüber dem Hanf. Denn eines haben die fünfzehn Folgen der „Marihuana-Mythen“ gezeigt: Voraussetzung für Wissenschaft ist eine Idee, wie ein Zusammenhang aussehen könnte. Und diese Idee prägt das Design jeder Forschung maßgeblich vor (von dem persönlichen Hintergrund des Forschers mal ganz abgesehen). Dies heißt nun nicht, daß die „Wahrheit“ der Beliebigkeit des Forschers weichen muß, sondern nur, daß alle Ergebnisse nicht im luftleeren Raum stehen, demnach vor ihrem Hintergrund betrachtet werden müssen. Auf diese Serie selbst angewandt heißt dies, daß die Forderung nach der Legalisierung aller Hanfprodukte Teil ihrer ideologische Basis war. Trotzdem wurde versucht, nicht die Augen vor der möglichen Schädlichkeit zu verschließen und sei es nur mit dem paracelsischen Gemeinplatz, daß die Dosis die Giftigkeit bestimmt.
Alte Mythen werden aufgelöst, neue Mythen entstehen. Um eine so berauschende Pflanze wie den Hanf werden sich immer Ungereimtheiten ranken. Der Wissenschaft obliegt es, ein solides Fundament für die Beurteilung von Cannabis zu schaffen und so damit beizutragen, dem einzelnen Hanfliebhaber einen der Gesundheit nicht abträglichen Genuß zu ermöglichen. Die Jugend mißachtet schon lange eine in den meisten Ländern verfehlte Cannabispolitik. Und erst nachdem Schmerzpatienten vermehrt zu Cannabis griffen, um Linderung zu erfahren, forschte die Wissenschaft nach den Ursachen für die lange ignorierten Wirkungen der Heilpflanze. Die beiden Beispiele zeigen: Die Forschung wird auch in Zukunft durch die Erfahrungen des Konsumenten einerseits relativiert, andererseits aber auch genährt. Das HanfBlatt wird den Fortgang weiterhin teilnehmend beobachten.
Schamanismus-Expertin und Künstlerin Nana Nauwald im Interview
Vom Wandeln zwischen den Welten
Ihre über 20jährige Erfahrung im Schamanismus indigener Kulturen, besonders ihre Exkursionen zu Schamanen des Amazonasgebiets und Nepals haben die Künstlerin Nana Nauwald zu einer Expertin für Schamanismus und Anderswelten gemacht. Einer der wichtigsten Gründe für ihre Aufenthalte in Gemeinschaften dieser Kulturen ist, dort zu lernen wie wir in unserem Kulturkreis die Wurzeln des „alten Wissens“ wiederfinden und beleben können. Es ist ein kühler, feuchter Novembertag, als wir die Künstlerin in ihrem Haus in der Lüneburger Heide besuchen. Schon im Garten stehen afrikanische Statuen, Stelen aus Knochen, liegen Steinhaufen absichtsvoll herum, wickelt sich eine Steinspirale auf, sprießen Federn wie Pflanzen aus dem Boden. Schalen und Abalonemuscheln mit Resten von Nüssen und Körnern erzählen von Speiseopfern an die Geister. Das Atelier wirkt geradezu wie von den kraftvollen Farben ihrer Bilder erleuchtet. Angst vor Farbe hat Nana Nauwald, 55, auf jeden Fall nicht.
HanfBlatt
„Schamanismus“, damit verbinden viele die auf Messen und Wochenendseminaren angebotenen Kurse, in denen man innerhalb von drei Tagen zum Schamanen wird.
Nana Nauwald
Der Jahrmarkt der Seminar-Eitelkeiten macht auch vor der Vermarktung des Schamanen-Begriffs nicht halt. Schamanismus ist eine immer noch lebendige Art, die Welt zu sehen – eine Erfahrungswissenschaft, nichts, was sich durch Seminar erlernen lässt. Nichts, wozu man sich in Kursen ausbilden lassen kann. Hätten all die, die sich bei uns selbstgefällig mit dem Titel „Schamane“ oder „Schamanin“ schmücken, jemals längere Zeit bei Schamanen in deren in der schamanischen Weltsicht lebenden Gemeinschaften verbracht – sie würden sich schon aus Respekt vor der Arbeit eines wirklichen Schamanen nicht mehr diese Bezeichnung anmaßen. Es gibt auch in unserem Kulturkreis viele Menschen, die integer als Heilerinnen und Heiler arbeiten – ohne sich mit fremden Federn und Mänteln der Macht zu schmücken. Unsere Gesellschaft ist geprägt von einer ständigen Gier nach etwas Neuem, dem ultimativen Thrill, der esoterischen Wunderkur mit persönlicher Schnell-Erleuchtung. Das finde ich manchmal fast lustig, weil das Neue fast immer das bewährte Alte ist – wie beim Schamanismus. Wir leben nicht nur in einer materiellen User-Mentalität, sondern auch in einer geistigen User-Mentalität.
Zum Glück hat jede modische Mentalitätserscheinung auch immer ein Gegengewicht…
Ja, dieses Gegengewicht wächst. Immer mehr Sucherinnen und Sucher nach den Spuren des alten schamanischen Wissens unseres Kulturraums machen sich auf den Weg, den Strand unter dem Pflaster wieder freizulegen. Dazu gehört, dass die heimische Pflanzenwelt mit ihrem Reichtum an heilenden und die Türen ins Feld des Bewusstseins öffnenden Pflanzen mehr und mehr Beachtung findet. Neue Rituale zum Betreten des Bewusstseinsfeldes, der Anderswelt, sind bei uns entstanden und entstehen weiter neu. Rituale, in denen die entheogen wirkenden Pflanzen mit Respekt behandelt werden und aus der „fun-user“ Haltung eine geistige Haltung wird mit der Absicht, Erkenntnis zu erlangen. Schamanen aus schamanischen lebendigen, indigenen Kulturen lehren uns in diesem Punkt, was zweifelsfrei auch unsere Schamanen und Heiler der vorchristlichen Zeit wussten: entscheidend für die Wirkung alle heilerischen Handlungen und das Erfahren in nicht-alltäglichen Bewusstseinszuständen ist die innere geistige Haltung und die Absicht des Handelns.
Zur Zeit hat der Schamanismus aus dem Gebiet des Amazonas bei den Drogisten und Esoterikern dem Schamanismus Nordamerikas den Rang abgelaufen…
Ein Grund liegt sicherlich darin, dass in den meisten Kulturen Amazoniens mit einem stark entheogen wirkenden Trank gearbeitet wird: Ayahuasca. Liane der Seele, Liane des Todes sind nur zwei ihrer vielen Umschreibungen, die etwas von ihrer Wirkung ahnen lassen. Ayahuasca, gebraut aus zwei Grundstoffen: der Liane Ayahuasca und den Blättern des Chacruna-Strauches. Die Schamanen dort arbeiten in ihren Nachtritualen mit „dem Geist der Mutter des Ayahuasca“ um die Ursachen für Krankheiten und Störungen zu sehen, um in die Welt der Geister und Ahnen zu gehen, zur Heilung und Stärkung des Einzelnen und der Gemeinschaft. Selbst für veränderungserfahrende Besucher aus dem Westen ist die Bilderwelt bei der Einnahme von Ayahuasca überwältigend. Die Schamanen am Amazonas sagen oft von den Weißen, sie würden nur kommen um Dschungelkino zu sehen. Wer mehr will als bunte Bilder, wer die Welt des Geistes der Ayahuasca betreten will, der muss sich auf einen Lernweg einlassen, der nicht mit einigen nächtlichen Sitzungen abgeschlossen ist. Ayahuasca ist nicht mein Weg, bei meinen Erfahrungen, meinem Lernweg und meinen Forschungen könnte ich gut und gerne auf diesen mächtigen Trank verzichten. Jedes Mal, wenn ich es trinke, breche ich fast bis zur Bewusstlosigkeit. Trotzdem, die Erfahrung des Geistes von Ayahuasca hat meinen Magen geheilt und mein geistiges Leben nachhaltig verändert.
Mittlerweile kann man auch in Europa ohne Schamanen an Ritualen teilnehmen, bei denen Ayahuasca getrunken wird.
Die Rituale stehen und fallen mit der Person, die sie leitet und die in der Geisteswelt des Ayahuasca mehr als nur ein Besucher sein sollte. Meine Erfahrung ist, dass sich der Geist einer Pflanze nicht in eine Flasche stecken lässt. Dieser Geist ist kulturgebunden, lässt sich nicht manipulieren und als Instant-Geist am anderen Ende der Welt wieder zu dem ihm eigenen wirkungsvollen Einsatz bringen. Ich weiss, dass im Rahmen der Drogisten-Szenerie auf der Suche nach immer neuen Türöffnern eine andere Meinung zu diesem Thema herrscht. Aber so sehe ich das. Der Teil der Wirklichkeit, der sich mit Ayahuasca erkennen und betreten lässt, kann ungeheuerlich in dem Erfahren sein und bedarf der Führung ortskundiger Menschen.
Individuell ist so eine Suche nach psychedelischen Erfahrungen aber doch legitim und begründbar.
Sicher, eine Suche nach Erfahrung bedarf keiner weiteren Legitimierung als den Wunsch nach Erfahrung. Erfahrung an sich besagt aber noch gar nichts. Wichtig ist, was wir aus der Erfahrung machen. Ich denke, es ist an der Zeit auch daran zu denken, dass wir durchaus auch eine Verantwortung haben im Gebrauch solcher Pflanzen aus indigenen Kulturen den Menschen dieser Kulturen gegenüber. Auch als bewusste Sucherinnen nach dem Wissen und der Erfahrung von Schamanen können wir mit dazu beitragen, dass die Wurzeln ihrer geistigen Kultur durch hungrige Westbesucher durchgetrennt werden. Die heilenden Rituale der Schamanen – gleich aus welcher Kultur – lassen sich nicht von uns imitieren, es sei denn, wir geben uns mit dem Schein der äusseren Form zufrieden. Aber wir können von diesen Schamanen lernen, unseren Blick so zu verändern, dass wir die Zugänge zu den schamanischen Wurzeln unseres Kulturraums erkennen. Dieser Zugang zu den uns umgebenden Kräften der Natur, zum Wissen der Alten, wurde nicht nur durch Jahrhunderte der gewaltsamen Christianisierung gekappt, sondern wurde auch im sogenannten Dritten Reich stark parteipolitisch manipuliert und missbraucht. Erst langsam ist es wieder möglich, die Zugänge zu der „Anderswelt“ unserer Ahnen zu betreten, ohne gleich in die rechte Ecke nationalistischer Naturanbeter zu geraten.
Wie können diese Zugänge freigelegt werden? Und wer leistet dies?
Hauptsächlich Frauen sind es, die behutsam wieder diese Zugänge freilegen. Kräuterkundige, Jahreskreis- und den Mond feiernde Frauen mit Freude an der lebendigen Welt der Wesen und Geister, mit viel Lust am irdischen Leben. Hier geht es mir nicht um einen feministischen Ansatz – ohne die männliche Energie ist keine Bewegung des Lebens möglich. Aber ich denke, dass wir Frauen einen leichteren Zugang zu den nicht-sichtbaren Welten haben, zu dem schöpferischen Potential der kreativen Lebensenergien. Das Thema „aus sich selbst schöpfen und in die Welt bringen“ ist das weibliche Grundthema. Außerdem sind Frauen geduldiger wenn es darum geht, etwas wachsen zu lassen – meistens jedenfalls. Meine Erfahrung ist, dass Frauen viel stärker durch Klang, Rhythmus und Bewegung die Türen zum geistigen Bewusstseinsfeld öffnen können als es Männern meist möglich ist. Männer brauchen häufig stärkere Türöffner.
Klar, spezielle Pflanzen lösen einen biochemischen Prozess aus, der zu einem intensiven Farb-und Bilderleben führt.
Will man aber mehr als das, will man dem Geist der Pflanze so begegnen, dass eine erkennende Erfahrung möglich ist, ist es angeraten das zu tun, was Schamanen im Umgang mit entheogenen Pflanzen tun: sie bereiten sich vor – innerlich und äusserlich. Macht man das in unserer Gesellschaft jedoch in einem ungeschützten Umfeld, ist es ein Leichtes, beim Psychiater zu landen. Wer mit Pflanzen redet, ihnen zuhört, der kann nur verrückt sein.
Wie also hört man zu, ohne verrückt zu werden?
Als erstes braucht man einen von störenden Außeneinwirkungen geschützten Platz. Empfehlenswert ist, vor der Begegnung mit der Pflanze etwas zu fasten – man wird dadurch feinsinniger. Manche setzen sich auch vorher in die Schwitzhütte oder vollziehen eine rituelle Reinigung durch Waschungen oder durch Räucherungen. Und dann braucht man möglichst viel Zeit – ohne eine Uhr in der Nähe. Es kann anfangs eine sehr ermüdende und entnervende Übung sein, vor einer Pflanze draußen in der Natur zu sitzen und nichts weiter zu tun, als die ganze Aufmerksamkeit auf sie zu richten und zu warten. Das funktioniert nicht nach dem Motto: „Ich, der große Krieger, nehme jetzt Kontakt auf“, sondern die Pflanze übernimmt den aktiven Part. Irgendwann macht sie sich bemerkbar, irgendwann nehme ich die Pflanze wahr in der ihr eigenen Wesensqualität. Wirklich wahrnehmen dessen, was ist, kann nur geschehen wenn mein Urteil und meine Interpretation ausgeschaltet sind. Das ist das schwerste an allen Übungen, die den Zustand einer veränderten Wahrnehmung als Erkenntnisprozess zum Ziel haben. Erkennen beinhaltet die Möglichkeit der Wahrnehmung durch alle Sinne. So kann es sein, dass ich die Wirkungsessenz einer Pflanze riechen kann, dass ich ihre Schwingung höre. Diese Art der Wahrnehmung kann machen, dass ich zu einem Teil der Pflanze werde, ihre Wirkungskraft körperlich spürbar erfahre, hinunter zu Ihren Wurzeln und bis in die letzte Blütenspitze klettern kann. Unsere heimatliche Flora ist immer noch voll von wissensdurchtränkten Pflanzen, Sträuchern und Bäumen. Efeu, Haselnussstrauch, Holunder, Wacholder, Eibe – zum Glück füllt altes und neues Wissem um ihr Wesen und ihre Wirkung schon wieder so einige Bücher und Köpfe. Wichtig ist nur, bereit zu sein, alte Denk- und Erfahrungsmuster beiseite zu schieben und immer wieder neu zu „sehen“ und zu „hören“. Fragt man Leute nach ihren Erfahrungen auf der Sinnesebene nach so einer Begegnung, erhält man oft erstaunlich genaue Antworten in bezug auf die durch die Sinne erfahrenen Qualitäten einer Pfl anze. Und ich denke, so viel anders haben das die Seherinnen und Hexen früher auch nicht gemacht.
Das angesprochene Potential von Pflanzen ist weithin unbekannt. Nur bei denjenigen, die mit diesen Welten -meist durch hedonistisch motivierten Zufall- in Berührung gekommen sind, besteht der Drang nach Aufhellung und Einordnung der psychedelischen Erfahrung. „Was ist hinter meiner Alltagserfahrung?“, so könnte man die dahinter stehende Frage formulieren. Ist das deine Frage?
Ja, der Antrieb zur Suche nach der Welt hinter der Welt muss ein Hunger nach Erkenntnis zugrunde liegen, eine Ahnung davon dass die Materie, die ich berühren und sehen kann, nicht alles ist. Oder wie Tolkien sagte:
Es wartet vielleicht um die Ecke / Ein Tor, ein Durchschlupf in der Hecke / So oft ging ich daran vorbei / Doch kommt der Tag da geh ich frei / Den Weg der ins Geheimnis führt / Wo West die Sonne Ost den Mond berührt
Und hinter der Hecke, was wartet dort?
Na, die Teile der Wirklichkeit, die ich mit meinem „Normalfilter“ nicht wahrnehmen kann! Meiner Meinung nach gibt es zwar nur eine Wirklichkeit, aber darin sind viele Räume. Die Erkundung dieser Räume sollte mit dem Wissen um die Verantwortung verbunden sein, die ich beim willentlichen Betreten dieser Räume trage.
Warum?
Ich sehe das so: Wenn tatsächlich ein Bewusstseinsraum existiert, in dem alle Information zeitunabhängig gespeichert ist und sich immer wieder neu kreiert, dann hinterlässt jeder, der diese Räume betritt, auch seine Informationsspuren. Es geht meiner Ansicht nach bei der absichtsvollen Erfahrung des Raumes der Wirklichkeit, des Bewusstseinsfeldes, um mehr als um persönliches Erleben, es geht um die Erfahrung, in welchem Kontext ich in dieses Bewusstseinsfeld gehöre. Wenn ich diesen Kontext erkannt habe, sozusagen meinen Ton im großen Orchester, dann hat das auch Auswirkungen auf mein Leben in der sogenannten „normalen“ Wirklichkeit.
Ein großer Teil unserer Gesellschaft lebt ja dagegen zwanghaft an und ist an einem materiell ausgerichteten Rationalismus orientiert. Anhänger von Religionen wie Christentum glauben daran, dass es ausreicht sich im Wesentlichen ein paar neurotischen Richtlinien zu unterwerfen, um nach dem Tod die Glückseligkeit zu erreichen.
Richtig, das Erfahren der durch Menschen nicht regulierbaren Welten des Bewusstsein, des Feldes der Information, der Kreativität ist in der Glaubenswelt der sogenannten durch Regeln bestimmten Schriftreligionen nicht vorgesehen. Da herrscht das Prinzip des Glaubens. Eigene Erfahrung macht Menschen schwerer beherrschbar, denn die Erfahrung der Bewusstseinswelten kann die Menschen ja in einen Zustand vom Gefühl der eigenen Vollkommenheit und Aufgehobenheit in einem schöpferischen Urgrund führen, auf den ordnende weltliche Mächte keinen Einfluss haben. Die Extase ist verbannt, macht Angst, gehört in den Bereich unwünschenswerter Phänomene. Zur größten Not muss sie ausgetrieben werden. Dabei wäre ein gesellschaftlich erwünschtes und integriertes Erfahren von Ekstase vor allem für junge Menschen die Stärkung ihrer Lebenskraft, aus der heraus sich selbst bewusste Menschen in die Anforderungen eines Erwachsenenalltags hinein wachsen könnten. In den schamanischen Kulturen gibt es Experten, die jungen Menschen beim Erleben von Ekstase und bei den Reisen in die Wirklichkeit helfen.
Experten geben den entsprechenden geistigen Erfahrungen auch manchmal eine sichtbare oder hörbare Form – Klang, Tanz, Skulptur oder Malerei.
Wenn du damit auf meine Malerei anspielst, dann ist es mir zunächst wichtig zu betonen, dass ich nicht male, was ich in den Feldern des Bewusstseins sehe. Das ist gar nicht möglich, solche Farben gibt es als vermalbare Materie gar nicht. Wenn ich male, webe ich auf meine Art den Geschmack einer Energie oder eines Fadens aus diesem Bewusstseinsfeld hier in der Alltagsrealität ein. Ebensogut könnte ich diese Energie auch singen – wenn ich gut genug singen könnte. Zu malen ist mein Weg, die Verbindung zwischen den Welten, den Wirklichkeiten sichtbar zu machen. Wenn ich male, bin ich Ganz, fühle ich mich manchmal für den Bruchteil von Zeit vollkommen. Meine Sehnsucht, die mich seit zwei Jahrzehnten immer neu antreibt zu durchaus unbequemen äußeren und inneren Reisen ist die, diese Verbundenheit aller Lebensenergien in allen Formen zu erfahren. Gesättigt wurde dieser Hunger bisher hauptsächlich da, wo ein Leben in enger Verbindung mit der Natur und einem geistigen Feld geschieht. Die Erfahrung des Seins in diesem nicht immer wahrnehmbaren und trotzdem wirklichen Bewusstseinsfeld hat nichts zu tun mit Visionen oder Halluzinationen. Meine Erfahrungen mit dem Betreten des Bewusstseinsfeldes mit Hilfe unterschiedlicher Techniken haben mein Leben grundlegend verändert, denn ich habe die ungeteilte Wirklichkeit erfahren.
Heisst die Zukunft zurück zum Einfachen, weil es uns so selten enttäuscht?
Ein alter Mann am Ucayalli sagte mir einmal: „Sieh dich um, wir sind sehr arm hier. Wir haben nichts ausser unserem Leben und die Freude am Leben.“ Einfach, nicht? Und oft wie schwer zu leben. Diese Haltung hat für mich sehr viel mit den Grundpfeilern des Schamanismus zu tun: Freude und Lust am Leben. Und ein anderer Pfeiler ist das Wissen, dass zwar jeder Mensch ein ganz eigener Punkt im kosmischen Netzwerk ist, aber in seiner Individualität gelichzeitig immer mit dem ganzen Netz verbunden ist. Alles existiert nur, weil es im Zusammenhang mit allem steht. Bei uns im Westen achten wir immer sehr darauf, dass man als „Punkt“ der wichtigste Punkt von allen ist, mein Wohlergehen immer an erster Stelle steht. Nur – anders gesehen – wie kann ein einzelner Punkt gesund sein, wenn das ganze Gewebe um ihn herum krank ist? Schamanismus beinhaltet auch das Wissen, dass die Gemeinschaft so gesund oder krank ist wie ihr schwächstes Glied. Nicht verwoben zu sein macht krank. Auch in unserer nicht-schamanischen Gesellschaft gibt es Ansätze von Wegen, sich neu miteinander zu „verweben“. Dazu gehören sicherlich die immer mehr zelebrierten Feste des Jahreskreises, rituelle Kreise zum gemeinsamen Erfahren entheogener Pflanzen, Mondfeste und alle Spielarten der Techniken aus verschiedenen schamanischen Kulturen, die das Beleben unseres alten, in unserem Kulturraum verwurzelten Wissens haben. Schwer ist immer nur der Schritt, diese besonderen Rituale in einer Gemeinschaft mit den Bedingungen unserer Arbeitswelt und den in ihr herrschenden Umgangsformen zu verbinden. Diese Art der Rituale tragen eine explosive, klärende Sprengkraft in sich, die fast immer auch klärend auf die Gestaltung des eigenen Lebensfeldes wirkt. Nur ein Benutzen entheogener Pflanzen ohne den Hintergrund einer geistigen Absicht kann durchaus Spaß machen, hat auf längere Zeit gesehen aber fast immer die Wirkung, den Menschen nicht in die Erfahrung der Ganzheit, sondern in die Zerrissenheit und Entwurzelung zu führen. Um zu lernen, die Welten in uns und ausser uns mit Hilfe von Trancezuständen, entheogenen Pflanzen oder anderen Türöffnern in einen harmonischen Zusammenhang zu bringen, braucht es rituelle Schutzräume.
Vielen Dank für das Gespräch.
Zur Person: Nana Nauwald
Ursprünglich als Kirchenmalerin und Restauratorin tätig, verschrieb sich Nana Nauwald 1991 der „visionären Kunst“. Diese veranschaulicht die Vernetzung der geistigen Welten und die Verbindungen von unterschiedlichen Lebensformen. Immer wieder ist Nauwalds Motiv zu erkennen, jedes „Lebewesen“ als das Ganze und ein Teil des Ganzen zur gleichen Zeit darzustellen. Ihre Gemälde sind unter www.visionary-art.de zu sehen. Die Bilder „Amazon Dancing“ und „Der Schamane“ sind als signierte, handabgezogene Siebdrucke erhältlich.
Literatur
Nana Nauwald: Bärenkraft und Jaguarmedizin. Die bewusstseinsöffnenden Techniken der Schamanen.
Nana Nauwald: Der Gesang des schwarzen Jaguars. Mein Leben bei den Schamanen des Amazonas.“
Der freie respektvolle Umgang mit nicht vom Aussterben bedrohten Pflanzen ist ein Menschenrecht. In diesem Sinne lohnt es sich, die enormen Potentiale unserer pflanzlichen Freunde kennenzulernen, auch wenn es manchmal etwas mühsam erscheint. Aber wie heißt es doch so schön: Erst die Arbeit und dann das Vergnügen.
Zu den wichtigsten heilenden heiligen Drogen der mexikanischen Urbevölkerung gehören neben dem meskalinhaltigen Peyotl-Kaktus, den Psiloc(yb)in-Pilzen, dem Stechapfel und dem Wahrsagesalbei die Samen bestimmter Trichterwindenarten, die als Oluliuqui bekannt geworden sind. Botanisch handelt es sich um die Samen von Turbina corymbosa (, früher auch Rivea corymbosa genannt,) und von Ipomoea violacea (, auch Ipomoea tricolor oder Ipomoea rubro-caerulea genannt). Die Samen von Ipomoea violacea werden häufig mit denen von Ipomoea purpurea verwechselt, deren Wirkstoffgehalt unbedeutend ist. Beide tauchen in Samentütchen des Gartenfachhandels in zahlreichen Varietäten unter dem englischen Namen „Morning Glory“ auf und sind wegen ihrer schönen Blätter und Blüten als einjährige Zierpflanzen sehr beliebt. Um weiteren Mißverständnissen vorzubeugen, hier der aktuelle botanische Hinweis: Die Samen von Ipomoea violacea sind länglich und schwarz, die von Ipomoea purpurea rund und schwarz, und die viel selteneren Samen der Turbina corymbosa sind klein, rund und ockerbraun. In zahlreichen anderen Winden vom Typ Ipomoea wurden praktisch dieselben Wirkstoffe wie in der traditionellen Indianerdroge nachgewiesen, wenn auch meist in geringen Mengen. (Diese Wirkstoffe gehören bemerkenswerterweise zur Gruppe der Mutterkornalkaloide, Substanzen, die sich chemisch von der Lysergsäure ableiten lassen und zu denen auch das nahe verwandte halbsynthetische d-Lysergsäurediäthylamid, abgekürzt LSD, zählt.) Herauszuheben ist die Ipomoea carnea, die einen recht hohen Lysergsäurederivatgehalt aufweist, in den tropischen Gebieten Amerikas vorkommt und deren Samen von den peruanischen Shipibo-Indianern sogar als visionsverstärkender Ayahuasca-Zusatz eingesetzt werden. Aber bei der mit Abstand potentesten Winde unter den psychedelischen Winden, handelt es sich um eine ganz besondere Art.
Die Samen der tropischen Winde mit dem neckischen Namen Baby Hawaiian Woodrose, oder botanisch korrekt Argyreia nervosa, gut zerkaut oder frisch zerstampft auf möglichst leeren Magen einzunehmen heißt, sich auf eine lang anhaltende psychedelische Entspannung einzulassen. Meist stellt sich innerhalb etwa einer Stunde ein wohliges, schlaffes, schließlich sinnlich verstärktes bis schmelzig-erotisches Körpergefühl ein. Der Geist wird wacher. Insbesondere akustische (Musik) und optische Wahrnehmungen (, zum Beispiel der Blick in den Spiegel,) werden intensiver, vielleicht sogar sich halluzinogen wandelnd, empfunden. Begleitet wird der Törn von einer freundlichen bis albernen, irgendwie abgehobenen Enthemmung und energetischer Euphorie. Besonders zu Beginn und während der ersten ein bis zwei Stunden nach Einnahme der Samen kommt es typischerweise zu einer meist vorübergehenden Schwummrigkeit oder gar Übelkeit. Mancheiner scheint hier besonders empfindlich zu sein. So ist es im Einzelfall auch schon zu Erbrechen und Durchfall gekommen. Auch Bauchkrämpfe sollen auftreten können, wogegen das Einnehmen einer entspannten und bequemen Körperhaltung hilft. „Go with the Flow“, zu deutsch, „mit dem Fluß gehen“ scheint das Geheimnis der Argyreia nervosa-Erfahrung zu sein. Zumindest erleichtert es sie ungemein, auch was die körperliche Befindlichkeit betrifft. Während kleine Samenmengen anregend wirken können, kann insbesondere bei höheren Dosierungen ein Gefühl starker körperlicher Mattigkeit ausgeprägt sein. Die individuellen Empfindlichkeiten scheinen auch hier zu variieren. (Man muß ja nicht immer in der Landschaft rumhüpfen, du altes Raverhaus.) Farbige Muster bei geschlossenen Augen, fliessende Wahrnehmungsveränderungen, ähnlich denen unter Einfluß mäßiger Dosen LSD, aber „ruhiger“, und ein anderes Zeit-Raum-Empfinden leiten über in einen tiefen psychedelisch en Erfahrungsbereich. Die Pupillen erweitern sich. Ein Fenster zum visionären inneren Space emotional prall gefüllter Assoziationen und Erinnerungen kann sich öffnen. Wer das nicht will, der sei gewarnt. Bemerkenswert und irgendwie charakteristisch ist, daß die Wirkung der Samen etwa vier bis sechs Stunden nahezu auf demselben, bei höheren Dosierungen recht heftigem Intensitätsniveau bleibt, allso nicht in den Wellen kommt, in denen psychedelische Erfahrungen sonst meist verlaufen. Schließlich läßt sie langsam aber kontinuierlich nach. Nach dem Trip ist Schlaf möglich. Der folgende Tag kann von positiver relaxter Stimmung, aber auch von einem Hangover mit dem Gefühl von Abgeschlagenheit und geistiger Leere geprägt sein. Auch hier spielt die individuelle Prädisposition eine wichtige Rolle.
Bei Überdosierungen kann es auf Grund der gefäßverengenden und blutdrucksenkenden Eigenschaften der Wirkstoffe zu Durchblutungsstörungen und möglicherweise gefährlichen Kreislaufproblemen kommen. Kurze Ohnmachten sind eine sehr ernstzunehmende Warnung. Kranke sollten die Samen auf keinen Fall nehmen (, zumindest nicht ohne kompetente schamanische Betreuung, die man hier kaum finden wird). Sie werden sich wahrscheinlich noch kränker fühlen. Schwangere sollten unbedingt die Finger von (je)der Droge lassen. Die Alkaloide wirken nämlich erheblich wehenfördernd. Vor der Kombination mit anderen Drogen muß gewarnt werden, auch wenn von angenehmen Erfahrungen zum Beispiel in Kombination mit gerauchten Hanfprodukten berichtet wird.
Die wundersame Wirkung der Samen, dieser auch Silberkraut oder Kleine Holzrose genannten wunderschönen mehrjährigen bis zu acht Meter rankenden tropischen Winde mit grossen herzförmigen an der Unterseite silbrig behaarten Blättern und trichterförmigen weißvioletten Blüten, ist wie gesagt auf den höchsten in der Windenwelt bekannten Gehalt an psychoaktiven Mutterkorn-Alkaloiden, insbesondere d-Lysergsäureamid = LSA = LA-111 = Ergin und ähnlichen Substanzen, zurückzuführen. (Das chemisch verwandte, aber doch deutlich anders wirkende halbsynthetische LSD wurde übrigens noch nie in der „freien Natur“ nachgewiesen.) Er wird mit 0,3 % angegeben. Damit wären die Argyreia-Samen aufs Gewicht bezogen etwa 25mal so stark wie analysierte Turbina corymbosa-Samen und immer noch 5mal so stark wie analysierte wildwachsende mexikanische Ipomoea violacea-Samen. Der Wirkstoffgehalt von in nordischen Gefilden gewachsenen Ipomoea violacea-Zierformen soll noch erheblich niedriger ausfallen.
Ein Argyreia-Same wiegt im Schnitt etwa 0,1 Gramm. Liebhaber dieser potenten Droge raten zu vorsichtiger Dosierung und langsamem Herantasten an eine individuell verträgliche psychedelische Dosis. Schon ein Same kann deutlich gespürt werden. Mancheine(r) ist mit derartigen Dosierungen schon voll und ganz zufrieden. Als volle Dosis gelten vier bis neun Samen. Als obere Grenze werden höchstens so um die dreizehn Samen veranschlagt. Ab dieser Dosis treten häufig Kreislaufprobleme auf, ohne daß der Trip dabei mehr hergibt.
Wie erwähnt, werden die ziemlich harten Samen gut zerkaut oder zerstampft, bevor man sie runterschluckt. Ansonsten würden sie den Verdauungstrakt ohne allzugroßes Trara passieren. Man hat mit mäßigem Erfolg versucht, das Risiko von Magen-Darm-Problemen durch Waschen der noch ganzen Samen und Abreiben der äußeren Samenschale zu reduzieren. Durch mehrstündiges Einweichen der zermahlenen Samen in kaltem Wasser an einem dunklen Standort mit anschließendem Abfiltern durch einen Kaffefilter und Runterspülen des so entstandenen Extraktes soll eine mögliche Magenreizung umgangen werden. Diese Art der Zubereitung eines Kaltwasserauszugs entspricht der traditionellen indianischen Methode einen Oluliuqui-Extrakt zuzubereiten. Aber vermutlich hängen die Nebenwirkungen der Windensamen zumindest teilweise auch direkt mit den psychedelischen Wirkstoffen zusammen.
Die Samen sollten so frisch wie möglich genommen werden. Die empfindlichen Alkaloide zersetzen sich im Laufe der Zeit. Es können unerwünschte nicht psychoaktive Zerfallsprodukte entstehen. Die ganzen Samen, kalt und trocken im Dunkeln gelagert, mögen etwa ein halbes bis vielleicht ein Jahr nur wenig an Potenz verlieren. Dann sind sie jedoch irgendwann ausmusterungsbedürftig. Beim Erwerb bedenke man, wie lange die Samen bereits unter welchen Bedingungen gelagert wurden. (Beim Händler erfragen!)
Die Samen der Argyreia nervosa werden als Dauerbrenner unter den „Legal Highs“ nun schon seit bald dreissig Jahren in den USA im Versandhandel angeboten. (1965 wurden sie zum ersten mal analysiert, und ihr hoher Wirkstoffgehalt sprach sich in den psychedelischen Sechzigern schnell rum.) Zahlreiche Kleinanzeigen in Magazinen wie „High Times“ bezeugen, daß es eine anhaltende und gerade in letzter Zeit im Rahmen des psychedelischen und schamanischen Revivals sogar noch gestiegene Nachfrage für die Samen geben muß, obwohl ein regelmässiger Gebrauch sehr ungewöhnlich und bedenklich ist. Typisch bei den meisten Argyreiaprobierern ist eine vorübergehende Experimentierphase, die bald eingestellt wird, zumal wenn andere, weniger den Verdauungstrakt belastende und körperlich ermattende Psychedelika wie LSD oder Pilze zur Verfügung stehen. Damit gelangen die Samen in den Ruf eines Provinzpsychedelikums. (Die Provinz dabei sozusagen als der Ort verstanden, wo man aus der Not heraus selbst Muttis Muskatnüsse oder Engelstrompeten aus den öffentlichen Grünanlagen futtert, nur um nicht immer nur besoffen sein zu müssen.) Dies wird ihren ganz eigenen Qualitäten jedoch in keiner Weise gerecht. Es wurden und werden Preise von bis zu einem Dollar pro Samen verlangt. In der Regel sind sie aber in den USA, insbesondere bei Abnahme größerer Mengen, natürlich nur zur Blumenzucht und nicht zum menschlichen Konsum gedacht, erheblich günstiger erhältlich, nämlich zu Preisen von umgerechnet zwischen etwa 8 und 30 Pfennig das Stück. Bei uns wird im ethnobotanischen Fachhandel häufig ein etwas überhöhter Standardpreis von 1 DM pro Samen verlangt. Die Samen sind (noch) kein Betäubungsmittel im rechtlichen Sinne.
Die hawaiianische Baby-Holzrose wird nicht nur auf Hawaii und in Kalifornien zur Samengewinnung angebaut. Sie gedeiht auch in anderen tropischen Gebieten. So soll sie in Südindien heimisch sein. Weltweit wird sie vereinzelt als attraktive mehrjährige Zierpflanze gezogen. Nicht zuletzt tragen Freaks mit ein paar Samen im Gepäck zur Verbreitung bei, so gesehen auf der Insel Koh Phangan/Thailand. Die Argyreia nervosa wird außerdem in den Staaten für die Floristik angebaut, wo die hübschen Samenkapseln in (Trocken-)Blumenarrangements zum Einsatz gelangen. Auch bei uns läßt sich aus den Samen oder über Stecklinge eine hübsche licht- und wärmeliebende Kübelpflanze ziehen, die, da kälteempfindlich, im Gewächshaus oder in der Wohnung überwintern muß. Es gibt eine Reihe weiterer Argyreia-Arten, die wohl auch Lysergsäure-Derivate enthalten, deren Wirkstoffgehalte aber noch weitgehend unbekannt sind. Die Baby Hawaiian Woodrose oder Argyreia nervosa wird manchmal mit der Large Hawaiian Woodrose, zu deutsch Große Holzrose, oder Merremia tuberosa verwechselt. Diese sieht völlig anders aus. Das gilt auch für die Samen, die größer ausfallen, aber einen deutlich geringeren Wirkstoffgehalt aufweisen.
Zusammenfassend läßt sich nocheinmal herausstellen: Geniesser dieser megapotenten Superturbohüperheiperwindensamen sind besonders angetan von intensiviertem akustischen Erleben und einer Enthemmung in Kombination mit einem schmelzig-erotisch-sinnlichen Körpergefühl. Manche schätzen die introspektiven Potentiale bei einem relativ hohen Grad von Selbstakzeptanz, sprich keiner ausgeprägten Ego-Auflösung sondern mentales Driften auf anhaltend hohem energetischen Niveau. Einige mögen die als niederschmetternd empfundene Wirkung überhaupt nicht, fühlen sich eher krank, deuten soetwas an wie eine Empfindung psychedelischen Stumpfsinns, so es denn soetwas überhaupt geben kann. Für die meisten der an der Einnahme psychedelischer Substanzen interessierten Menschen handelt es sich einfach um eine irgendwie anstrengende Erfahrung, die dann auch wieder nicht so interessant ist, als daß man sie ständig wiederholen möchte. Nichtsdestotrotz ist Argyreia nervosa ein einzigartiges Beispiel für ein leicht erhältliches, einfach zu konsumierendes hochpotentes pflanzliches Psychedelikum aus dem fruchtbaren Schosse der Natur, obendrein noch nahe verwandt mit dem berüchtigten LSD, vielleicht sogar schon ein „moderner Klassiker“ unter den „High-Pflanzen“?!
„Fühlst Du Dich auch so animalisch?“ „Ich fühle mich argyreia nervosa!“
Weihnachten ist längst vorbei und trotzdem noch spuken Märchen durch die Köpfe der Hanf-Experten. Die Mythen rund um den Hanf richten nachhaltigen Schaden an, fast undurchdringbar scheint das Gewirr der Behauptungen, die den Labors und Forscherstübchen entweichen. Wie sieht es tatsächlich aus: Welchen Nutzen und welche Schäden kann der Konsument von Cannabis aus den pflanzlichen Wirkstoffen ziehen? Wo liegen Gefahren für Körper und Geist, wo Chancen für ihre Genesung? Der fünfte Teil einer Serie überprüft die Behauptung:
„Marihuana schwächt das Immunsystem“
Mehrere wissenschaftliche Untersuchungen behaupten den Zusammenhang zwischen Marihuana-Gebrauch und einer Schwächung des Immunsystems. Das Risiko, durch Erkältungen und anderen Infektionskrankheiten ins Bett geschickt zu werden, sei, so diese Meinung, bei Konsumenten von Rauschhanf erheblich höher, als bei Abstinenzlern. Bereits in den 70er Jahren entstanden, erhielten diese Behauptungen in den 80er neue Bedeutung, als vermehrt über den Gebrauch von Marihuana unter AIDS-Kranken berichtet wurde. Sollte man den Kiffer auf der Straße an seiner chronisch roten Nase erkennen?
DIE FAKTEN
sprechen eine relativierende Sprache. Um in diesem Fall für Aufklärung zu sorgen, muß zunächst ein Rückblick in die Historie gewagt werden. Die Ausgangstudie, die die ursprüngliche Beeinträchtigung des Immunsystems durch Gras behauptete, ging folgendermaßen vor: Man entnahm von Kiffern und einer Kontrollgruppe Blut und isolierte die weißen Blutkörperchen. Die Hälfte der weißen Zellen sind Lymphozyten, wiederum etwa 70 Prozent dieser werden T-Lymphozyten genannt. Diese stürzen sich im Bedarfsfall auf Eindringlinge im Körper, sie bilden einen Bestandteil der Immunabwehr des Körpers. Wittern sie Gefahr, vermehren sie sich um dem Feind in großer Zahl entgegentreten zu können. Der französische Wissenschaftler G.G. Nahas zeigte nun in der Studie, daß sich die T-Lymphozyten bei den Fans des Marihuanas nicht nur langsamer vermehrten, 44 Prozent der kleinen Kämpfer waren sogar außer Kraft gesetzt. Bei Krebspatienten sind das meist „nur“ bis 40 Prozent. Aber: Keine Untersuchung konnte die Zahlen von Nahas und seinen Kollegen je wieder nachweisen, sie wurde vielfach widerlegt. Zu spät, ein Mythos war geboren.
An dieser Stelle sei, daß Nahas noch heute als einer der angesehensten Wissenschaftler in seinem Heimatland gilt und mitverantwortlich ist für die unsäglich rigide Cannabis-Politik im Lande des berauschenden Weines. Aber schütten wir keinen Zorn und keine Häme aus, sondern wenden uns wieder dem Thema zu. 1988 zeigte eine andere Untersuchung das Gegenteil: Hanfraucher und Raucherinnen erfreuen sich bester Gesundheit, ihr Immunsystem sei sogar intakter als das von vergleichbaren Kontrollgruppen. Andere Wissenschaftler wollten 1979 nachgewiesen haben, daß einer der psychoaktiven Wirkstoffe im Hanf, das THC, die Widerstandsfähigkeit gegen das Herpes simplex-Virus senkt. Auch diese These wurde später (1991) überpüft und verworfen. THC bindet sich an das Herpes-Virus und inaktiviert es somit. Die äußerliche Anwendung eines Alkoholextrakts aus Cannabis sorgte dafür, daß vorhandene Bläschen innerhalb eines Tages verschwanden.
Nun greift leider auch die Marihuana-Forschung auf Tiere als Versuchssubjekte zu. Das Immunsytem von Nagetieren wurde in Mitleidenschaft gezogen, als sie THC in hohen Dosen verabreicht bekamen. Die Aussagekraft dieser Ergebnisse sind stark angezweifelt worden, weil die Tagesdosis bei 100mg pro Kilogramm lag, etwa 1000 mal so hoch, als benötigt wird, um beim Menschen eine psychoaktive Wirkung zu erzielen.
In den drei großen Marihuana-Feldstudien in den 70er Jahren (Jamaica, Costa Rica, Griechenland) fanden die Forscher bei den Grasrauchern keinen Unterschied in der Empfänglichkeit für Krankheiten gegenüber Nichtrauchern. Einschränkend sei aber hier angeführt, daß neuere Forschungen THC-Metaboliten in der Lunge gefunden haben, und dies noch sieben Monate nachdem mit dem Rauchen des Hanfs aufgehört wurde. Diese Metaboliten sind durchaus imstande, daß Immunsystem anzugreifen. Die Gefahr einer Bronchitis ist unter Marihuana-Raucher höher als unter Nichtrauchern (siehe HANFBLATT 1/97).
Neue Nahrung erhielt der Mythos von der Schwächung des Immunsystems durch die Krankheit AIDS. Der ehemalige oberste Drogenwächter Nord-Amerikas, Carlton Turner, behauptete in den 80er Jahren, daß Marihuana den Ausbruch von AIDS begünstige. Alle ernstzunehmenden Studie widerlegten seine Annahme, trotzdem ließ er sich nicht überzeugen. Er krönte sein unwissendes Haupt zudem mit dem verbürgten Ausspruch, daß Hanf-Konsum zur Homosexualität führe. Ende gut, Alles gut: Turner trat später auch aufgrund dieser Fehltritte zurück.
Es steht fest: Weder begünstigt Marihuana den Ausbruch von AIDS, noch führt es zur Verstärkung der Symptome unter AIDS-Patienten. Im Gegenteil, heute nutzen viele AIDS-Kranke die Wirkung des Hanfs, um ihren Appetit anzuregen und ihre Übelkeit zu bekämpfen. Mittlerweile gehen manche Wissenschaftler sogar davon aus, daß THC stimulierende Effekte auf das menschliche Immunsystem hat.
Völlig unberücksichtig bei der schulmedizinischen Betrachtung bleibt der psychische Aspekt, der im folgenden kurz angerissen wird. Man weiß seit längerem, daß der Ausbruch vieler Krankheiten auch immer eine psychologische Komponente besitzt. Kurz: Wer sich wohl fühlt, wer sich an seinem Leben erfreut, wer gesund lebt, bleibt auch gesund. Marihuana besitzt nun wahrscheinlich das Potential, sowohl positiv wie negativ zu wirken. Zuviel Pot, zum falschen Zeitpunkt, am falschen Ort dürfte den Körper des Kiffers zur Rebellion verführen; der wohldosierte, in Ruhe genossene Konsum dagegen durchaus zur Stabilität des körperlichen und seelischen Gleichgewichts beitragen.
Rolf Pfeifer schrieb zusammen mit Christian Scheier „Understanding Intelligence – eine auch für Nichtinformatiker leicht lesbare Gesamtdarstellung der „Neuen künstlichen Intelligenz“. Jörg Auf dem Hövel:
Biologie und Biorobotik arbeiten im Zürichicher AI-Lab eng zusammen, wobei die Künstliche Intelligenz viel von der Natur lernen kann. Was aber kann denn die Biologie von ihnen lernen?
Rolf Pfeifer:
Ein Beispiel: Die Wüstenameise Cataglyphis orientiert sich am Polarisationsmuster der Sonne. Im Aufnahmeapparat der Ameise existiert Rezeptoren, die das Licht in unterschiedlicher Richtung polarisieren. Der eine Rezeptor oder Polarisationsfilter arbeitet also beispielsweise nach vorne, der andere zur Seite. Die Theorie der Biologen besagte nun folgendes: Wenn man nun die verknüpften Polarisationssensoren dreht, dann ändert sich in systematischer Weise der Output des betreffenden Neurons. Während die Ameise sich also dreht, ändert sich der Output. Sie muss das Maximum des Output suchen um eine Referenzrichtung zu erhalten. Als wir diese Konstruktion auf einem Roboter implementierten sahen wir, die Richtung des Maximums einen relativ grossen Fehler aufweist. Mit dieser Unschärfe würde die Ameise aber nicht so geradlinig zum Nest zurückkommen, wie sie das in der Realität tut. Als wir einen Roboter mit diesem Mechanismus zu bauen versuchten, bemerkten wir, wie unpräzise er mit diesem Verfahren fährt. Dann haben wir ein wenig rumgespielt und hin und her versucht. Schließlich versuchten wir es mit drei Sensorsystemen, die auf 0 Grad, 60 Grad und 120 Grad ausgerichtet sind, so wie das von der Ameise bekannt ist. Wenn man die Outputs dieser drei Systeme miteinander verknüpft, und die absolute Differenz von zwei Systemen vom Wert des ersten System abzieht, dann ergibt sich eine hohe Schärfe der Orientierung. Dies stellt nun eine Hypothese dar für die Biologen – gibt es tatsächlich bei den Ameisen oder den Bienen, die ebenfalls diese Orientierungsmöglichkeit besitzen, Neuronen, die diese Art der Berechnung durchführen? Es scheint gewisse Hinweise darauf zu geben, aber ob man das tatsächlich gefunden hat oder nicht ist mir zur Zeit nicht bekannt.
Haben Sie noch ein anderes Beispiel?
Sicher. Dimitri Lambrinos und Ralf Möller haben überlegt, ob es ausreicht, wenn der Sahabot in der nahen Umgebung des Nests nicht einen kompletten Snapshot, sondern nur einen Mittelwert über alle Landmarken bildet und damit nur einen Vektor abspeichert. Erstaunlicherweise findet der Roboter in den meisten Fällen genauso gut zum Eingang des Nestes zurück. Das funktioniert ebenfalls, wenn man statt weniger Markierungen hunderte von Markern setzt, an denen der Roboter sich orientieren kann. Später testeten wir das in normalen Büroumgebungen und das funktionierte ebenfalls. Das ist natürlich Wahnsinn, denn es müssen nur zwei Zahlen gespeichert werden, um eine komplexe Umgebung im Körper zu repräsentieren. Wenn man das zudem analog macht, dann kostet das praktisch nichts. Ein gutes Beispiel für cheap design, welches sich in der Natur so häufig durchsetzt. Die Biologen testen zur Zeit, ob die Ameise nach dem Snapshot-Modell oder dem Average-Landmark Modell vorgeht. So kann die Robotik Hypothesen aufstellen und die Biologen können sie überprüfen.
Trotz der Verkörperung und der damit beabsichtigten Verabschiedung der symbolverarbeitenden Maschine, arbeiten ihre Roboter ja gleichwohl mit Prozessoren, die Algorithmen ausführen. Wie passt das zusammen?
Das ist ein guter Punkt und bleibt ein Problem, obwohl ich es eher in den philosophischen Bereich rücken würde. Zum einen arbeiten wir mit Neuronalen Netzen, die zwar letztlich auch in einem Mikroprozessor ablaufen, die aber vom Konzept her natürlichen Neuronen nachempfunden sind. Die Idee dabei ist, das man auf einer gewissen Abstraktionsebene von künstlichen Neuronen spricht und nicht von ihrer digitalen Simulation. Wenn man die Auflösung genügend fein macht, dann hat das weithin analogen Charakter. Zum anderen haben wir tatsächlich Roboter gebaut, die ganz ohne Software auskommen. Diese bestehen nur aus analogen Schaltkreisen. Den Analog-Robot hat Ralf Möller entwickelt, der jetzt beim Max-Planck-Institut in München ist.
Das wirft auch ein anderes Licht auf den Begriff der Wahrnehmung.
Die Leute denken immer an Input bei Wahrnehmung. Und ich mache meine Mitarbeiter in den Diskussionen fast wahnsinnig, weil ich immer wieder darauf hinweise, dass es sensormotorische Kopplungen sind, die das Erleben bestimmen. Um das zu zeigen haben wir einen analog-VLSI Chip entwickelt, diesen an die Peripherie des Roboters geschoben und dort eine komplette sensormotorische Schleife konstruiert. Von den lichtsensitiven Zellen über das „attentional processing“ bis zum Berechnen des Steuersignals für die Motoren ist bei diesem Analog-Roboter alles auf einem analog-VLSO-Chip implementiert. Es ist also durchaus möglich ganz ohne digitale Simulation des neuronalen Netzes auszukommen.
Ein Kernpunkt der Neuen KI ist Emergenz. Wie kam man in der Neuen KI darauf, dass Intelligenz aus dem Zusammenspiel einfacher, an und für sich unintelligenten Teile, entstehen, halt emergieren kann? Was führte zu der Einsicht, dass der symbolverarbeitende Ansatz allein nicht ausreicht, um intelligentes Verhalten zu entwickeln?
Das ergab sich zum einen sicherlich aus dem Betrachten evolutionärer Vorgänge. Aus einfachen Elementen entstehen komplexe Komponenten, die wiederum Teil von größeren Einheiten sind. Aus toter Materie ist schließlich auch der Mensch entstanden. Auf der anderen Seite erkannte man Anfang der 80er Jahre, dass der symbolverarbeitenden Ansatz an seine Grenzen gestoßen war. Es existierte ein Haufen von KI-Gebieten, von Expertensystemen, Wissensrepräsentationen, Problemlösen, Theorembeweisen. Viele von uns interessierte damals aber nicht nur das Schreiben von Computerprogramme, die eine Aufgabe erfüllen, sondern wir wollten etwas über natürliche Intelligenz lernen. Wenn man die klassische KI anschaut, dann erkennt man sehr wohl die wertvollen Beiträge, die sie beispielsweise für die mathematische Logik und die Algorithmik geleistet hat. Aber sie hat sehr wenig zum Verständnis natürlicher Intelligenz beigetragen und stieß aus diesem Grund an eine Grenze. Das hat viele Forscher frustriert. Den Paradigmenwechsel eingeleitet hat dann sicherlich die Theorie der Neuronalen Netze…
Christoph von der Marlsburg…
Genau. Der Mann ist immer noch einer der originellsten Köpfe in dem Gebiet. Nun, auf alle Fälle haben viele Forscher darin eine Antwort auf die Frage gesehen, wie ich Symbolen Bedeutung geben kann. Ein weiterer Punkt für den Wechsel war sicherlich das Scheitern, mit den bisherigen Ansätzen intelligent handelnde Roboter zu bauen. Man merkte damals nämlich, dass man nicht einfach ein symbolverarbeitenden Programm nehmen, eine Kamera anhängen und einen Pixel-Array auf die internen Symbole abbilden kann. Wenn man mal reale Kamerabilder angesehen hat und diese mit sich bewegenden Kamerabildern vergleicht, dann sieht man, dass das nicht funktionieren kann. Es wurde also langsam klar, dass dies eine völlig falsche Sicht der Dinge ist. Rodney Brooks hat seine Dissertation im Bereich der klassischen Computer-Vision gemacht und war frustriert, mutmaßte, dass der bisherige Ansatz salopp gesprochen völliger Quatsch ist.
Da war er nicht der Einzige.
Sicher. Schon Hubert L. und Stuart E. Dreyfus haben das kritisiert. Terry Winograd schrieb Anfang der 70er Jahre das Programm SHRDLU und fing Anfang der 80er Jahre an, über diese Dinge vertieft nachzudenken und den Ansatz der klassischen KI zu kritisieren. In den Insiderkreisen zirkulierten damals schon Manuskripte, später kam sein Buch „Understanding Computers and Cognition“ heraus. Im Rotbuch-Verlag erschienen, erlangte es schnell Kult-Status. Ebenfalls mit dabei war William J. Clancey, der an medizinischen Expertensystemen arbeitete und alle paar Jahre einen Artikel veröffentliche, der die scientific community schockierte.
Zentral für ihre Arbeit ist ebenfalls der Begriff der Emergenz. Was verstehen sie darunter?
Ein gutes Beispiel für Emergenz ist das Vehikel I von Braitenberg. Das hat vorne einen Sensor, hinten einen Antrieb und ein die beiden Elemente verbindendes „Gehirn“, welches aus einem einzigen künstlichen Neuron besteht. Je mehr Qualität der Sensor liefert, umso schneller läuft der Motor. Die Beschaffenheit des Sensors ist dabei beliebig wählbar. Der kann Temperatur, Lichtintensität oder chemische Konzentration messen. Nehmen wir einen Temperatursensor und angenommen, dass Vehikel ist im Wasser, dann fährt es nicht einfach gleichmäßig geradeaus. Dort existieren Strömungen, Wirbel, andere Fische, Temperaturschwankungen und so fährt es an einem Ort schneller, an einem anderen langsamer. Da kann der Beobachter leicht zu der Annahme kommen, dass es sich lieber im kalten Wasser aufhält. Dabei macht das Gehirn nichts anderes, als den Sensor mit dem Motor zu verbinden. Schon bei zwei Sensoren und zwei Motoren wird das Verhalten enorm komplex. Der Punkt von Braitenberg ist der, dass man die Mechanismen genau erklären kann, es ist aber sehr schwierig, aus dem Verhalten zurück auf die Mechanismen zu schließen. Verhalten, welches kompliziert aussieht, lässt sich häufig viel einfacher erklären. Das ist die Idee der Emergenz.
Aber den umgekehrten Fall gibt es auch.
Wenn ich mit dem Finger von meiner Nase weg geradeaus fahre, dann ist das eine sehr viel schwierigere Bewegungen als eine kreisförmige mit dem ganzen Arm.
Deswegen ist das auch der Trunkenheitstest bei der Polizei. In us-amerikanischer Tradition versucht Brooks sich wieder am Nachbau des Menschen.
Der Brooks ist wahrscheinlich viel intelligenter als die Leute glauben. Er hat wahnsinnig gute Intuitionen, die er leider nicht theoretisch weiter verfolgt. Wenn man mit ihm über theoretische Dinge reden will, dann sagt er meistens: „Ah, forget about the theory.“
That´s the american way.
Der Mann ist nicht Amerikaner, sondern Australier. Er lebt nur seit 20 Jahren in den USA.
Dann ist er konvertiert.
Seine Argumentation ist im Grunde folgende: Der Schritt von den Einzellern zu mehrbeinigen Insekten war der wichtige in der Evolution. Von den Insekten zu den Menschen war es dann nur noch ein vergleichsweise kleiner Schritt. Wir müssen also erst einmal verstehen, wie und warum sich Einzeller zu komplexen Lebewesen entwickelt haben, dann wird der Rest recht einfach.
Und wie ist der Erkenntnisstand der Neue KI zur Zeit? Nach Dennet befindet sich die Robotik ja noch im Stadium des Bakteriums. Robocteria?
Ich bin nicht ganz sicher. Natürlich haben Bakterien schon eine enorme Komplexität. Sensorik, Motorik, interne Verarbeitung, Stoffwechsel…
Selbstreproduktion…
…richtig, sie hat genetisches Material. Insgesamt enorme Komplexität. Wir versuchen heute in erste Linie das Verhalten von Insekten zu verstehen, machen aber auch Experimente, die in Richtung des Verständnis´ menschlicher Intelligenz gehen. Brooks liebt es Roboter zu bauen, und letztlich wollte er einen humanoiden Roboter bauen, weil das spektakulärer ist. Aber auch hier hat er wieder die richtigen Ideen gehabt und sehr viel Wert auf die Sensormotorik gelegt. Er ist ohnehin ein ungewöhnlicher Forschertyp. Sein Onkel ist der Regisseur Mel Brooks, wie er einmal erzählte. Ich weiß nicht genau, ob das stimmt.
So oder so hat er anscheinend Humor.
Der kann die Leute nach belieben verarschen. Und wenn er sagt, dass sie einen Roboter bauen werden, der die Intelligenz eines 4jährigen Kindes hat, dann darf man das nicht allzu ernst nehmen. Ich erinnere mich, dass er auf einem Vortrag einmal die erste Folie auflegte auf der stand nur: „THINK BIG“.
In der Neuen KI kommen die Gedanken der Systemtheorie, eigentlich schon in den 60 Jahren entworfen, zu später Ehre. Rückkopplungsschleifen, stabile Eigenwerte, Selbstorganisation. Was bedeuten diese Begriffe für die Neue KI? Und wie hängen Rückkopplungsschleifen und sensormotorische Kopplung zusammen?
Feedbackschleifen sind mittlerweile überall entdeckt und nutzbar gemacht worden. Die alten Kybernetiker, wie beispielsweise Norbert Wiener, waren ja zugleich an den Entwicklungen der ersten Digitalcomputer beteiligt. Man muss die damalige Euphorieverstehen, denn plötzlich stand eine anscheinend alles könnende Maschine zur Verfügung. Die Kybernetik geriet so in den Sog der Bestrebung, alles zu digitalisieren. Parallel dazu entwickelte sich die Idee, dass auch das natürliche Denken wie ein Computer funktioniert. So kam es zum Ausdruck des „Elektronengehirns“ und der Idee, dass auch der Mensch nach dem Schema von Input, Verarbeitung und Output arbeitet. Viele Talente der Kybernetik und des systemischen Denkens wanderten zur klassischen KI. Die frühen Kybernetiker formulierten Grundlegendes, die Ideen eines Heinz von Foerster sind beispielsweise so aktuell wie nie. Dann schlief die Bewegung ein und erst durch das Aufkommen der Neuronalen Netze wurden die Ideen wiederbelebt. Ich erinnere mich an eine Zeit, da war es in der klassischen KI verpönt, überhaupt von reellen Zahlen zu reden. Man unterhielt sich in Form von abstrakten Symbolen, welche die Essenz der Intelligenz darstellen sollten. Durch die Neuronalen Netze kam eine neue Qualität in Bezug auf Feedback ins Spiel. Bei diesen hat man eben nicht mehr nur einen Wert und eine Rückkopplungsschleife, sondern man hat eine enorme Menge von Rückkopplungsdaten. Deswegen spricht man heute auch eher von rekurrenten Netzen. Edelmann fing damit an, von Re-Entry und nicht von Rückkopplung zu sprechen. Die dichte Verknüpfung der Netze untereinander und Rückkopplungen in diesen Verknüpfungen stellen die neue Dimension da, die nicht mehr allein durch das Prinzip von „set-value – Feststellung einer Abweichung vom effektiven Wert – Fehlerkorrektur“ bestimmt werden kann.
Roboterbau bedeutet ja aber auch heute noch nicht, dass auf sensormotorische Kopplung und Situatedness gesetzt wird.
Leider nicht. Im Forschungszentrum eines grossen Automobilkonzerns brachte mir im Jahr 2000 ein Roboter eine Tasse Kaffee. Er rollte zunächst zum Kaffee-Automaten, scannte mit einem enorm teuren Laser den Abstand für ein Distanzprofil, sodann setzte er seinen Path-Planer ein, der den Pfad für die weitere Aktion berechnet hat. Während der dann folgenden Ausführung des Pfads fand keine Kopplung mit der Umwelt da. Leider lag aber die Tasse etwas schräg im Greifarm des Roboters, so dass er fast das Rohr, aus dem der Kaffee strömen sollte, abgebrochen hat. Wenn er eine sensormotorische Kopplung gehabt hätte, wäre das gar kein Problem gewesen, weil er das sofort bemerkt hätte.
Ein Problem beim Aufbau komplexer Systeme besteht ja offen sichtlich darin, dass sich die einzelnen Elementarverhalten gegenseitig beeinflussen. Wie wollen Sie das Scaling-Up-Problem lösen?
Wenn man unter verhaltensbasierter Robotik die Grundidee versteht verschiedenen Verhalten parallel laufen zu lassen, dann ergeben sich da tatsächlich Probleme der Interaktion. Unbedingt zu berücksichtigen ist aber, dass sich die lose gekoppelte Prozesse weitgehend über den Körper und die Interaktion mit der Umwelt selbst koordinieren. Brooks mit seinem Ansatz der Subsumption hatte da mal wieder eine gute Intuition. Wer das ganz brillant in seine Arbeit einbezogen hat, ist der Holk Cruse aus Bielefeld. Als Beispiel: Wenn man klassisch denkt, dann geht man immer davon aus, dass alles von einem neuronalen Zentrum koordiniert werden muss. Cruse hat für gewisse Stabinsekten herausgefunden, dass diese beim Gehen kein Zentrum benötigen, welches die Bewegung der Beine koordiniert.
Wie geht das?
Zum einen ändert sich die Kraft auf allen anderen Beinen, wenn das Insekt ein Bein vom Boden abhebt. Also brauche ich lediglich noch Kraftsensoren in den Beinen, die diese Veränderung messen und ich habe globale Kommunikation der Beine untereinander, aber nicht über das neuronale System, sondern über die Interaktion mit der Umwelt. Und diese Kommunikation kann nun zur koordinierten Fortbewegung verwendet werden. Die sechs Beine sind untereinander neuronal gekoppelt, wobei nicht einmal eine Verbindungen zwischen allen Beinen besteht, sondern die benachbarten und gegenüber liegenden Beine verbunden sind. Wenn das Insekt mit seinen sechs Beinen auf dem Boden steht und ein Bein hebt, dann ändert sich in diesem Moment die Kraftverteilung auf den anderen Beinen und diese werden leicht in die angedeutete Richtung mitgezogen. Dann braucht es nur noch einer positiven Feedbackschleife in den Gelenken, um die Bewegung zu verstärken und das Insekt läuft. Der Witz ist: Die Beine kommunizieren global miteinander, aber eben nicht über neuronale Verbindungen, sondern über die Umwelt! Zugleich nutzen sie ihr Embodiment aus. Es ist hilfreich, sich dieser beiden Vorgänge bei der Konstruktion komplexerer Systeme bewusst zu sein.
Zugleich ein wunderbares Beispiel für „cheap design“.
Ich sage immer: „Die Physik ist gratis.“ Von der Bewegungsabläufen von Insekten ist enorm viel zu lernen. Wenn man einen Schritt weiter denkt, dann kann die Natur gar nicht immer mit zentralen Steuerungen arbeiten. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Das sechsbeinige Insekt hat pro Bein drei Gelenke. Wenn zentral die Pfade und Trajektorien von 18 Gelenken berechnet werden müssten, dann wäre das Gehirn des armen Insekts hoffnungslos überlastet. Da ist es viel intelligenter, dass Embodiment auszunutzen.
Funktionieren Gliederbewegungen beim Mensch ebenso?
Wenn von Embodiment gesprochen wird, dann denken viele, dass Steuerung noch viel komplizierte wird, weil ich dann zusätzlich noch physikalische Gesetze berücksichtigen muss und somit mehr Parameter zu optimieren habe. Wenn man das Hand-Arm-Schulter System beim Menschen anschaut, dann fallen zunächst die enorm vielen Freiheitsgrade auf – über 30 Stück. Für einen Control-Engineer ist die Steuerung eines solchen Systems ein Albtraum. Wenn ich aber die Gegebenheiten des Körpers und seine Dynamik ausnutze, dann führt das zu überraschenden Ergebnissen. Lässt man beispielsweise die Hand im Gelenk abknicken, so dass die Fingerspitzen nach unten zeigen, und greift dann zu, dann treibt es die fünf Fingerspitzen automatisch in die Mitte zusammen, was nur durch die natürliche Formung der Gelenkschalen und der Hand bedingt ist. Genauso eine simple Funktion kann man zum Bau einer Robotergreifhand nutzen. Ergo: Wenn die Anatomie stimmt, wir nennen es in der Robotik die Morphologie, dann ist die Steuerung fast trivial, auf jeden Fall viel einfacher.
Die meisten Roboterhände sind aber nicht so konstruiert.
Dass ist ja der Fehler, denn die Steuerung der Finger wird dadurch wahnsinnig kompliziert. Viele Erbauer berücksichtigen die Morphologie der Körper nicht. Warum beispielsweise greifen Sie eine Tasse nicht mit den Handrücken zu Ihnen gekehrt, sondern immer so, wie man eine Tasse halt greift?
Es erscheint mir als die natürliche Bewegung.
Eben. Das Muskel-Sehnen-System hat Eigenschaften wie eine aufgezogene Feder, wenn sie den Arm bewusst nach außen drehen und sie lassen dann los, dann dreht der Arm sich automatisch wieder in die natürliche Position zurück. Und zwar nicht, weil ich das vom Hirn aus steuere, sondern aufgrund der Materialeigenschaften des Muskel-Sehnen-Systems. Dieses System übernimmt für mich eine dezentrale Steuerungsfunktion. Unter Berücksichtigung der Materialeigenschaften wird ein Problem, welches auf den ersten Blick enorm kompliziert aussah, plötzlich ganz einfach.
Bei der Erforschung des Menschen wird ja auch immer mehr fest gestellt, dass der Körper nicht allein vom Gehirn gesteuert wird, sondern Körper und Geist zwei Seiten einer Medaille sind. Nicht alle Vorgänge werden berechnet…
…und sind auch nicht berechenbar! Die klassische KI wurde oft kritisiert, weil gewisse Dinge, zum Beispiel Lernen, als „computationally intractable“ galten, eben schlicht aufgrund ihrer Komplexität in ihrer Gesamtheit als nicht berechenbar. Das ist genau der Punkt: Wenn man alles als reine Rechenaufgaben ansieht, dann führt das schnell an Grenzen. In der realen Welt haben wir anatomische und materielle, halt physikalische Einbettungen, deren Berücksichtigung zu Konvergenzen führt. Wenn ich mich in der Umwelt bewege, dann verarbeite ich ja nicht irgendwelche Inputvektoren mit ihren dazugehörigen Merkmalen, sondern ich habe Sensorstimulationen, die sich kontinuierlich verändern. Zudem ändert sich die Sensorstimulation enorm, je nachdem was ich tue. Der Witz ist der: Wenn ich Wahrnehmung als etwas ansehe, was passiv ist, wo ich passiv dasitze, dann muss ich aus diesem Strom irgendwie Information herausholen. Bei der visuellen Wahrnehmung hieße das dann, den auf mich einflutenden Pixelwust zu verarbeiten. Wenn ich das aber umdrehe und sage, „o.k., ich bin ja ein Akteur, ich kann mit der Umwelt interagieren“, dann komme ich dazu, dass ich durch die Interaktion mit der Umwelt meine Sensorstimulation strukturieren kann.
Ein Beispiel, bitte.
Bleiben wir bei der Tasse. Wenn ich eine Tasse fasse und zum Mund führe, dann passiert enorm viel. Erst einmal habe ich visuelle Stimulation, zudem haptische an den Fingerspitzen, dann Stimulation an den Lippen…
…und wenn Sie dabei reden, verändert sich auch die akustische Stimulation durch die Nähe der Tasse…
Richtig. Dieses Muster ist für einen Moment stabil und normiert. Das ist ja, nebenbei gesagt, eines der großen Probleme der cognitive science. Die proximale Stimulation auf der Retina ist zwanzig Zentimeter vor meiner Nase völlig anders als fünf Zentimeter davor. Trotzdem ist es immer ein und dasselbe Objekt. Wenn man die Ähnlichkeiten zwischen diesen Mustern statistisch analysiert, dann ist die praktisch Null. Irgendwie muss der Mensch das transformieren und wie tut er das? Eben durch die verkörperte Interaktion mit der Umwelt, welche die Sensordaten gewissermassen vortransformiert und damit das Problem um Grössenordnungen vereinfacht. Ich bringe das Objekt in das visuelle Feld, erzeuge multimodale Sensorstimulation und diese Stimulation ist korreliert. Mit der Zeit, das heißt der Übung dieser Bewegung, wird aus der extrahierten Information aus einem Sensorkanal ein partieller Prädiktor für die Sensorinformationen, die ich aus anderen Kanälen extrahiere. So lernen auch Kinder: Erst mit der Übung kann es alleine aus der visuellen Sensorextraktion das Objekt rekonstruieren. Die Anatomie und die Interaktion tragen gewissermaßen gratis zur Lösung bei und das vereinfacht das Lernproblem ungemein. Dies kann ein Schlüssel, wohlgemerkt kann, ein Schlüssel zum Scaling-Up Problem sein.
Nun hatte bei uns die Evolution lange Zeit.
Sicher, deswegen können wir gewisse Bewegung halt nicht machen. Einer Maschine wird es immer besser gelingen eine Schraube einzudrehen als einem Menschen.
Ihre Aufgabe ist also der Bau von Robotern, die mit ihrer ganz eigenen Morphologie, die nicht immer an die menschliche Anatomie angelehnt sein muss, Aufgaben in eng begrenzten Bereichen lösen.
Exakt. Die spezifische Morphologie ist anders, aber das Prinzip der sensormotorischen Koordination gilt genau so. Und das auch mit unterschiedlichen Sensoren, sogar welchen, die in der Natur nicht existieren. Das ist dann Artificial Intelligence.
Die Natur arbeitet ja wohl nicht mit der Trennung von Hardware und Software. Muss diese Begriffsspaltung auch in der Robotik überwunden werden?
Ich bin überzeugt davon, dass die Trennung von Hard- und Software eine artifizielle ist. Die liegt uns aber einfach im Blut, weil man die Software mit dem Denken, die Hardware mit dem Körper assoziiert. Eigentlich ein völliger Blödsinn.
Ich erinnere mich an trinkfeste Wochenenden der Jugend, die ein Freund stets mit der Bemerkung „Format C:/“ einläutete. Seine Festplatte sollte formatiert werden. Die bildgebende Kraft des Computers.
Die Computermetapher wird nicht nur von den Forschern der Künstlichen Intelligenz und der Psychologie verbreitet. Auch die Menschen auf der Straße denkt in dieser Metapher. Wie sollte es denn anders sein, so diese Vorstellung, als nach dem Schema Input-Verarbeitung-Output? Oder, wenn man es verfeinert, Sense-Model-Plan-Act? Wir müssen uns von dem Bild verabschieden, dass natürliche wie technische Systeme Informationen verarbeiten, die von außen reinkommen, dann verarbeiten werden und dann erst ein Handeln erfolgen kann. Aber wie gesagt: Das Erzeugen der Sensorstimulation wird durch die verkörperte Interaktion mit der Umwelt bestimmt. Schon bei den Neuronalen Netzen gibt es auf der konzeptionellen Ebene keine Trennung von Programm und Daten mehr. Auch unsere Gehirn funktioniert nicht so. Wo im Gehirn sind die Programme, wo die Daten? Künstliche Neuronale Netze sind ein Schritt in die richtige Richtung, aber das Embodiment muss dazu kommen. Wenn jemand zu mir kommt und von einem Modell mit Neuronalen Netzen spricht, dann will ich das immer in einem Roboter sehen. In dem von uns entwickelten Analog-Robot existiert diese Trennung eben darum auch nicht.
Spielt die Erforschung des Bewusstseins des Menschen eine Rolle in Ihrer Arbeit? Könnte das Sinn machen, dass ein Roboter ein Selbstbild hat, ein Körperbild von sich? Ist Bewusstsein die Super-Instanz, die über alles wacht oder eher ein Nebenprodukt von dem, was vorher abgelaufen ist?
Ein Philosoph sagte uns einmal, wir hätten das Problem des Bewusstsein in unserem Buch „Understanding Intelligence“ clever umschifft. In der Forschung haben wir uns effektiv damit noch nicht befasst. Ich bin mir aber sicher, dass es wichtig für die zukünftige Arbeit ist, dass Roboter eine „Vorstellung“ von ihren Körpern haben sollten. Wenn sie eine Bewegung ausführen, dann sollten sie eine Verhaltensprognose machen können. Wenn eine Roboter eine sensormotorische Kopplung und stabile Sensormuster hat, dann gibt es gute Gründe dafür, dass dieser Roboter selbst die Sensormuster analysieren und nutzen kann. So kommt man langsam auf eine Ebene, wo man dem Roboter so etwas wie Bewusstsein zuschreiben könnte, wenn man das möchte. Das ist natürlich eine nüchterne Sicht, aber wir Schweizer tendieren dazu. Die Amerikaner würden das wahrscheinlich anders ausdrücken und behaupten, „ja klar, wir haben längst Roboter mit Bewusstsein“. Ein Schweizer würde sagen, dass jetzt „feed-forward Netzwerke für Verhaltensprognosen“ existieren. Die Frage ist zudem, was man meint mit einem Körperbild.
Beim Menschen ist ein Körperbild eine möglichst vollständige Ausdehnung des Ich auf den gesamten Körper.
Dann bleibt die Frage, ob das Ich als zentrale Instanz einen Überblick über den gesamten Körper hat oder ob es keine zentrale Lokalisation des Körperbilds gibt. Die zweite Variante scheint mir plausibler und wenn Roboter in Zukunft wirklich gut sein sollen, dann brauchen sie so ein Körperbild.
Welche Rolle spielt die Parallelität von Sensormotorik und kognitiver Leistung?
Wir haben viel mit Kategorisierungen gearbeitet, die ja die elementarste kognitive Operation ist. Wenn ich keine Unterscheidungen in der realen Welt mache, dann kann ich nicht viel, dann überlebe ich nicht lange. Die Idee dabei war, dass über die Sensormotorik Kategorisierung geleistet wird und darauf aufbauend Kognition gewissermaßen „gebootstrapt“ wird. Rizolatti hat da interessante Experimente mit Primaten durchgeführt, später wurde das auch bei Menschen nachgewiesen. Zwei Menschen sitzen sich dabei gegenüber. Wenn der eine die Hand auf dem Tisch liegen hat und einen Finger hebt, dann soll die zweite Person ebenfalls den Finger heben oder nicht. Im prämotorischen Kortex sind dann bei der zweiten Person gewisse neuronale Areale aktiv und zwar unabhängig davon, ob diese die Bewegung selbst ausführt oder nur anschaut. Das gibt zu Spekulationen Anlass, wie sich so ein Verhalten evolutionär entwickelt haben könnte. Die Hypothese dahinter ist, dass die sensormotorische Entwicklung die Grundlage für die kognitive Entwicklung bildet. Spekulativ, aber hoch interessant.
Ein Hinweis darauf, dass Gehirn und Körper sich evolutionär parallel entwickelt haben?
Sicher. Es ist ja nicht so, dass ich die Morphologie habe und sich das Gehirn dann daran anpasst. In der Natur gibt es immer eine Koevolution von Morphologie und neuronalem Substrat. Wie macht das die Natur? Die Struktur des Gehirns ist ja nicht vorkodiert, denn der Informationsgehalt des Genoms ist dafür viel zu klein. Was allerdings im Genom kodiert ist, sind die Wachstumsprozesse. Und wir versuchen nun diesen Prozess künstlich in Gang zu setzen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Gerne, und jetzt machen wir eine kurze Tour durch das Lab.
Das Interview führte Jörg Auf dem Hövel.
Von Jörg Auf dem Hövel ist im discorsi Verlag jüngst das Buch „Abenteuer Künstliche Intelligenz. Auf der Suche nach dem Geist in der Maschine“ erschienen.
Rolf Pfeifer
Prof. Dr. Rolf Pfeifer hat seinen Magister der Physik und Mathematik und seinen Doktorgrad in Computerwissenschaften an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich (ETH), Schweiz, erworben. Nach seiner Promotion arbeitete er drei Jahre an der Carnegie-Mellon University und der Yale University in den USA. Seit 1987 ist er Professor für Computerwissenschaften am Institut für Informationstechnologie der Universität Zürich und Direktor des Labors für künstliche Intelligenz. Sein Forschungsinteresse gilt der „embodied artificial intelligence“, der Biorobotik, autonomen Agenten/mobilen Robotern, der Bildungstechnologie, der künstlichen Evolution und Morphogenese sowie der Emotion.
… und zwischen Enddarm und Container. Wie fließen die Haschisch- und Marihuanaströme über den Globus?
Cannabis ist die am häufigsten gehandelte illegale Droge der Welt. Dem logistisch gut organisierten Warenverkehr stehen manchmal die Gesetze im Wege. Welche Routen nehmen Haschisch und Marihuana?
Zart sind die Sprossen des Hanfs und zart begann auch der Handel. Cannabis wächst auf allen Erdteilen der Welt und wird auch überall kultiviert, ob nun drinnen und draußen. Oft wurde zunächst nur für die Versorgung des lokalen Marktes angepflanzt, erst später, wenn die Nachfrage da war, kam es zum Transfer ins Ausland. Weniger die unbedingte kapitalistische Wille der Einheimischen, als vielmehr reiselustige Menschen bilden seit jeher die zweite nicht versiegende Quelle für Cannabis auf der ganzen Welt. Der Urlaub bietet für jeden Liebhaber des gepflegten Kiff seit jeher die Gelegenheit ein Stück Rauschkultur des jeweiligen Landes als persönliches Mitbringsel mit in die Heimat zu nehmen. So etwas gab es schon immer, professionalisiert wurde es in den 60er Jahren, als die ersten Hippies wahnsinnsgutes Haschisch aus Indien und Nepal in die Welt brachten. Seither ist diese Luft- und Landbrücke nie wieder abgerissen. Der Zoll nennt es Ameisenhandel, andere nennen es Völkerverständigung. Leider liegen keine Schätzungen darüber vor, wie viel des weltweit genossenen Cannabis von nahen und entfernten Freunden stammt.
Grasgeschiebe
Der Handel mit den Blütenständen des Hanfs fokussiert sich auf einige Brennpunkte: Praktisch auf den Flughäfen der gesamten Welt wird Gras aus Kambodscha aus den Rucksäcken der Traveller gepickt. Kein Wunder, kostet das Kilo (!) meist minderwertigen Hanfkrauts in dem Land nur rund fünf Dollar. In der Provinz Koh Kong sollen noch immer recht himmlische Zustände herrschen. Hier ist eine traditionelle Hochburg des Hanf-Anbaus, zudem gibt es einen direkten Zugang zum südchinesischen Meer. Größere Mengen werden über vor der Küste liegenden Schiffen zunächst nach Thailand, später in die Welt distribuiert (siehe Karte). Die Australier verzeichnen seit Jahren einen regen Handel mit südwest-asiatischen Marihuana. Apropos Australien: Down under zeigt sich ein Trend, der sich weltweit durchzusetzen scheint. Über die Hälfte des in den letzten Jahren beschlagnahmten Grases stammte aus der Indoor-Zucht. Ähnliches lässt sich in Kanada und den Ländern der Europäischen Union beobachten. Die vielen Genießer haben mittlerweile erkannt, dass die Aufzucht und Hege von Cannabis nicht nur eine simple Angelegenheit ist, sondern sogar Spaß bereitet.
Neben Kambodscha sind es vor allem Indonesien, Laos, die Philippinen und Thailand, die auf größeren Feldern Hanf anbauen. Die UNO zeigt sich in ihrem letzten Drogen-Bericht sehr besorgt darüber, dass seit einiger Zeit auf Sumatra und Java vermehrt Cannabis angebaut wird. Insgesamt, so die Organisation, seien im Jahr 2002 über 4500 Tonnen Gras weltweit aufgegriffen worden. Wenn man nun berücksichtigt, dass dies schätzungsweise zehn Prozent der tatsächlich gehandelten und konsumierten Menge ist, dann bekommt man eine Vorstellung von dem ungeheuren Ausmaß des globalen Hanfrausches.
Interessant dabei ist natürlich, wo das meiste Marihuana beschlagnahmt wird, gibt dies doch Hinweise auf die (unterbrochenen) Reisewege. Manch´ einer wird es geahnt haben: Fast die Hälfte der jährlich ergatterten Menge wird in Mexiko einkassiert. Nirgendwo auf der Welt wird so viel gekifft wie in den USA und dieser Markt will halt versorgt werden. Ob in Trucks, auf Schiffen oder in Flugzeugen Marihuana wird auf vielen Wegen über die Grenze ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten geschafft. Der fermentierte Geruch von jamaikanischem Gras ist in Deutschland und Europa selten geworden, mittlerweile exportierten die karibischen Inseln das meiste ihres Killer-Weed ebenfalls in die USA.
Neben Mexiko ist Kolumbien der zweitgrößte Anbaustaat auf dem amerikanischen Kontinent. Von hier aus wird das Gras entweder in die USA geflogen oder über die karibischen Häfen (oft: Covenas) nach Europa verschifft. Ansonsten übt sich der südamerikanischen Markt in Selbstgenügsamkeit. Wo der lokale Anbau nicht ausreicht, stehen die zentral gelegenen Länder Bolivien (Region um Cochabamba), Brasilien (Region Bahia und Pernambuco im Nordosten) und Paraguay gerne zur Seite.
In Europa selbst hat sich neben den bekannten Gras-Ländern Niederlande und Schweiz Albanien zu einem beachtlichen Anbauland von Marihuana gemausert. Das Bundeskriminalamt schätzt sogar, dass der Staat mittlerweile der größte Marihuanaproduzent Europas sein dürfte. Auch hier wird nicht auf blauen Dunst hin angebaut, sondern für einen Markt, der sich recht unabhängig von den restriktiven Drogengesetzen nach kulturellen Modeerscheinungen ausrichtet. Kiffen ist in: Nur darum hat sich in den letzten zehn Jahren sich die Menge des sichergestellten Cannabis in Europa verdoppelt.
Afro-Look
Glaubt man den Zahlen der Drogenkontrollbehörden, aber auch den Berichten der Presse, wird die Anpflanzung von Cannabis in den mittleren und südlichen Länder Afrikas immer beliebter. Für den Verbraucher bleibt meist undurchsichtig, woher genau das Gras kommt. Die prinzipiellen Wege aus den Ländern: Hanfkraut, welches in den kleinen Staaten Lesotho, Malawi und Swaziland angebaut wird über die Straßen nach Südafrika verbracht, um von dort aus entweder mit dem Flugzeug oder aber mit dem Schiff über Kapstadt oder Durban nach Europa transportiert zu werden.
Im Februar 2001 verbrannte die Polizei am Mount-Kenia über 328 Tonnen feinstes Marihuana. In den Worten des UNO-Berichts 2001: In Ost-Afrika, speziell in Äthiopien, Kenia, Madagaskar, Uganda und Tansania, hat Cannabis, welches bis dahin nur für den lokalen Markt angebaut wurde, die Stellung einer ökonomisch signifikanten Pflanze eingenommen. Neben Nigeria, über dessen legendären Hafen Lagos der Hanf aus der Region abtransportiert wird, ist der Kongo ein Hauptanbaugebiet im mittleren Afrika. In der Mindouli-Region im Süden des Landes wird seit Generationen Cannabis großgezogen. Im Kongo ist nach Angaben der OGD (Observatoire géopolitique des drogues), die einen (allerdings recht anekdotisch) jährlichen Bericht zur Situation des Drogenanbaus auf dem Globus gibt, der Anbau von Cannabis schwer umkämpft. Es kommt zu Verletzten und Toten. Die Lari, seit Generationen passionierte Hanfbauern, bestehen trotz internationaler Vereinbarungen auf ihr altes Recht den Hanf zu kultivieren. Der alte Präsident des Kongo, Bernard Kolelas, war Mitglied dieser Ethnie – er stand in der internationalen Politiker-Gemeinschaft seit jeher im Verdacht, den Handel nicht nur toleriert, sondern daran auch kräftig mitverdient zu haben.
Dies ist hier erwähnt, weil ohne die Kooperation hoher Regierungsstellen der gesamte, professionell organisierte Cannabis-Schmuggel auf der Welt zusammenbrechen würde. Ob in Südamerika, Indien, der Türkei oder eben in den afrikanischen Ländern: Nicht nur kleine Zöllner verdienen an der Prohibitions-Politik mit, schaut man einmal hinter die Fassaden der internationalen Plattitüden der Drogenbekämpfungspläne, fällt immer wieder auf, dass lokale Politiker, hohe Beamte und zum Teil eben auch Regierungspolitiker in den Handel involviert sind.
Hasch-Brüder
Damit ist man beim Haschisch angelangt, dessen groß angelegter Schmuggel gerade in Marokko und Spanien ohne die freudige Mitarbeit der offiziellen Kräfte so nicht möglich wäre. Kein Wunder, soll doch die Haschisch-Marge rund 10 % des Bruttoinlandsprodukts ausmachen. Über die Jahren zeigt sich: Rund 50 % des weltweit beschlagnahmten Haschisch werden in Spanien aufgetan, nur rund 10-15 % in Marokko selbst, weitere rund 5 % in Frankreich, etwa 3 % in den Niederlanden. Diese Zahlen zeigen die herausragende Stellung, die Marokko bei der Harzherstellung spielt. Das die EU-Regierungschefs dagegen nur recht lässig vorgehen, liegt nicht zuletzt daran, dass Marokko als wichtige Barriere gegen den gefürchteten islamischen Fundamentalismus gilt. Hier offenbart sich mal wieder ein schönes Beispiel für die Doppelmoral in der Drogenpolitik. Es bleibt weiterhin zu vermuten, dass zudem einige UNO-Vertreter der Anbauländer die weltweite Prohibition unterstützen, weil diese eine Quelle ihrer Einnahmen ist.
Aber zur Sache: An den Hängen des Rif-Gebirges hocken seit Jahrzehnten Einheimische und ausländische Geschäftsmänner zusammen. Zum Teil ernten sie gemeinsam, sodann wird das Kif an die Küste gebracht und von dort entweder mit Privat-Yachten, Fischerbooten oder zu auf Reede liegenden Großschiffen gebracht. Beliebt soll es neuerdings sein, schwächeren Schmugglergruppen die Ware mit Waffengewalt abzunehmen und dann selber weiter zu vertreiben. So oder so verdienen die lokalen Amtmänner an den Transporten mit. Nach Aussage von Stefan Haag, Autor von Hanf weltweit, bieten manche Händler sogar einen Lieferservice an, für Zusatzkosten von rund 2500 Euro pro Kilo kommt das Haschisch frei Haus via Amsterdam nach Mitteleuropa. Die Kleinschmuggler nutzen die Fähren zwischen Tanger oder Ceuta nach Algeciras (Spanien) und die Fähren von Melilla nach Malaga und Almeria.
Wie es dann weiter geht, dass zeigte plakativ ein Vorfall im Herbst 1999. Ein Verkehrsunfall in der südspanischen Region Andalusien führte Drogenfahnder auf die Spur international operierender Cannabis-Händler. Ein Lastzug einer deutschen Spedition stürzte nahe Malaga auf regennasser Straße um – neben Ost und Gemüse auch mit 526 Kilo Haschisch an Bord. Die Ermittlungsgruppe machte schnell zwei Speditionen im Landkreis München und im Landkreis Freising als Transporteure ausfindig. Sie schmuggelten im Auftrag einer italienischen und einer spanisch-marokkanischen Organisation Cannabisharz quer durch Europa. Marokkanisches Haschisch wurde von Spanien aus zunächst an Abnehmer in Norditalien geliefert. Von dort aus wurde es in kleineren Portionen nach ganz Europa distribuiert. Es wird vermutet, dass es ohnehin meist die rund 1,5 Millionen Menschen umfassende marokkanische Diaspora in Europa ist, die den Verkehr mit dem Rauschgold aus ihrem Heimatland organisiert.
Die im obigen Fall angesprochene Gruppe transportierte auch Heroin und Kokain von Mazedonien via München nach England. Damit ist man bei der Frage, in wie weit der Cannabis-Schmuggel von den gleichen Menschen organisiert wird, die nicht nur andere Drogen lukrativ an den Mann bringen möchten, sondern realer Teil des Schreckgespenstes Organisierte Kriminalität sind, das von den staatlichen Ermittlungsbehörden seit einigen Jahren so vehement propagiert wird. Legenden wie Howard Marks halten seit jeher das Bild der chaotisch-liebenswerten Haschisch-Brüder aufrecht, die ohne Waffen und Gewalt den Menschen in der Welt gute Lebens-Mittel beschaffen. Ob der international mit großen Mengen operierende Güteraustausch tatsächlich so harmlos abläuft, darf bezweifelt werden. Um es wage zu formulieren: Wo es um viel Geld geht, dürften Gier und Neid nicht fern sein. Zugleich steht fest, dass zumindest Teile der fester strukturierten Gruppen neben Cannabis auch mit Heroin (Asien) und Kokain (Südamerika) handeln und damit bewusst die Sucht ihrer Kundschaft in Kauf nimmt.
Nordafrika ist aber selbstredend nicht der einzige Großproduzent von Haschisch. Rund 10 % des weltweit beschlagnahmten, wohlriechenden Harzes landet in Pakistan auf dem drogenprohibitiven Scheiterhaufen. In dem Land laufen einige Kanäle aus dem Orient zusammen. Nicht nur landeseigene Produkte, sondern auch das Cannabis aus Afghanistan wandert zu einem Teil zunächst über die südliche Grenze. Dreh- und Angelpunkt in Vorderasien ist nach wie vor Karachi, über dessen Seehafen die dunklen Sorten mit den blumigen Namen in die Welt gehen.
Seidenweich
Der Bosporus galt lange als die Meerenge, welches das in Europa genossene Haschisch überwinden musste. Ob Libanese oder Afghani – an den türkischen Zöllnern führte kein Weg vorbei. Opium, Heroin, Haschisch, die Türkei wurde als strategisch wichtiger Basis angesehen, um den ungehemmten Substanzfluss auf der sogenannten Balkanroute zu gewährleisten. Noch heute prahlen libanesische Haschisch-Dealer damit, dass ihre Kontakte türkischer Zöllner so ausgezeichnet seien, dass die Beförderung nach Europa kein Problem wäre. Früher einer der größten Haschischproduzenten der Welt, dümpelte im Libanon die Erzeugung im vergangenen Jahrzehnt etwas vor sich hin – nun wird aber wieder vermehrt angebaut. Im Hauptanbaugebiet im Bekaatal bei Baalbek rollen wieder die Traktoren durch die Hanffelder.
Zwei Faktoren haben über die letzten Jahre die Balkanroute zumindest für den Haschisch-Transport uninteressanter werden lassen. Da ist zum einen das rigide Eingreifen der iranischen Behörden, die zunehmend keinen Lust verspüren als Transit-Land für gotteslästerliches Teufelszeug zu fungieren. Zum anderen dienen die uns immer noch recht fremden zentralasiatischen Staaten mit Namen Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Kirgistan und Kasachstan nur allzu gerne als Transit- und Produktionsländern. Dies ist die klassische Seidenroute. Gerade in Kasachstan wächst das Gras in jedem Kuhdorf. Allein im legendenumwebenden Chu-Tal soll der Hanf auf einer Fläche von 138 Tausend Hektar wachsen. Schmiermittel und Kompetenzgerangel zwischen den Drogen-Behörden, dazu der Umstand, dass die Grenzen zwischen den genannten Staaten und auch dem großen Nachbarn Russland so gut wie unkontrolliert sind, führen zu einem ansteigenden Fluss von Haschisch und Marihuana über diese Seidenroute. Begünstigend kommt hinzu, dass die Verkehrsinfrastruktur relativ gut ist. Ob in Russland, in dessen Weiten quasi überall Hanf wächst, oder den baltischen Staaten, die als Transit-Stationen genutzt wird: Überall hier wird mehr und mehr Cannabis beschlagnahmt.
Diese Beschlagnahmungen durch die Polizei sind aber nicht immer der beste Indikator für einen regen Handel. So steht fest, dass in Europa die Städte Amsterdam und auch London ein Hauptumschlagsplatz für Cannabisprodukte sind. Selbiges gilt für Kopenhagen, von wo aus diese skandinavischen Ländern aus versorgt werden. Gleichwohl wird die Polizei hier nicht exorbitant fündig, was nur zum Teil an ihrer Verblödung, mehr noch an einer bewusst laxen Einstellungen gegenüber dem Haschisch-Schmuggel liegen dürfte. Viel spricht dafür, dass Amsterdam die Drehscheibe für Haschisch in Europa ist. Dies liegt nicht nur an der toleranten Drogenpolitik des Landes, sondern auch an der geographischen Position und ihrer Tradition als Kolonialmacht, die seit jeher mit Transport und Verteilung vertraut ist.
Eine weithin unbeleuchtete Rolle im internationalen Drogenhandel spielen Personen, die für ihre Regierungen tätig sind. Für den Kokain- und den Heroin-Handel steht mittlerweile fest, dass Mitarbeiter von Geheimdiensten (beispielsweise des CIA) und Armeeangehörige ihre Stellung nutzen, um von dem zu profitieren, was sie eigentlich bekämpfen sollen. Noch steht der Beweis aus, dass dies auch beim Cannabishandel eine maßgebliche Rolle spielt.
Die allermeisten Seiten im Netz sind für Behinderte schlecht nutzbar. Die Bundesregierung und das W3C wollen dies ändern. Folgt die Wirtschaft?
Wem ist es noch nicht passiert, dass er beim Navigieren den falschen Verweis geklickt hat, weil die Links zu eng gesetzt waren? Das bunte Gewimmel auf Webseiten irritiert oft schon den Otto-Normal-Surfer mächtig. Für Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung ist die Navigation auf den meisten Seiten dagegen eine verzwickte Angelegenheit, wenn nicht gar eine Zumutung.
Die zahlreichen Initiativen wie „Schulen ans Netz“, aber auch die staatlichen Anstrengungen des elektronisch gestützten Bürgerservice, wie e-voting und Ausweisverlängerung drohen ins Leere zu laufen, wenn behinderte oder alte Bürger vor technischen Barrieren stehen, welche die Wahrnehmung ihrer Bürgerrechte und -pflichten zum virtuellen Abenteuer macht.
Seit Juni 2002 ist nun eine Verordnung in Kraft, das alle staatlichen Einrichtungen und Behörden dazu verpflichtet bis 2005 ihre alten Internet-Auftritte so zu gestalten, dass sich wirklich jedermann darin zurecht findet. Mehr noch – gänzlich neu erstellte Amtsseiten müssen ab sofort sauber programmiert werden. Das Werk mit dem holprigen Namen „Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung“ ( BITV) legt fest, ab wann sich eine Homepage „barrierefrei“ nennen darf und orientiert sich dabei an den Richtlinien der WAI (Web Accessibility Initiative).
Schnörkelloses HTML
Diese Arbeitsgruppe des World Wide Web Consortiums (W3C) bemüht sich um die technische Funktionalität und Universalität des Internet. Mit den Richtlinien liegen seit geraumer Zeit genaue Spezifikationen vor, wie der html-Code einer Webseite barrierefrei gestaltet werden kann – nur richten tut sich kaum ein Unternehmen danach. Der Bundestag hatte deshalb im ebenfalls im letzten Jahr verabschiedeten Behindertengleichstellungsgesetz ein Schmankerl für die gebeutelte deutsche Internet-Ökonomie parat. Zukünftig wolle man darauf hinwirken, dass auch „gewerbsmäßige Anbieter von Internetseiten“ diese barrierefrei gestalten. Keine schlechte, aber wohl diffuse Idee in Zeiten des Masseneinsatzes von Flash und Java-Skript.
Die konkrete Struktur einer barrierefreien Homepage baut auf schnörkelloses HTML. KISS heisst die Aufforderung: Keep It Simple and Stupid. Mouse-over Aktionen zum Anheben oder Absenken von Buttons sind nach den Regeln der WAI ebenso zu unterlassen wie Imagemaps ohne redundanten Textlink. Zu einem Bild gehört stets ein „alt“-tag in den Code, in welchem der Inhalt des Bildes beschrieben wird. Ein Problem: Software wie Microsofts Frontpage blähen selbst kleine Homepages schon ohne aktive Inhalte zu wahren Code-Monstern auf.
Die WAI hat eine Checkliste herausgegeben, anhand derer man überprüfen kann, wie barrierefreies HTML programmiert sein kann. Tools wie Bobby prüfen, ob die eigenen Webseiten behindertengerecht sind. Das WAI-Regelwerk zielt vor allem auf Surf-Erleichterungen für sehbehinderte und blinde Mitbürger. Diese nutzen zumeist einen Screenreader wie beispielsweise JAWS, der die Informationen der Webseite aus dem HTML-Code extrahiert und über den Lautsprecher ausgibt. Seiten, die vor Java-Script strotzen, sind für Blinde daher wertlos. Aber auch nur Sehbehinderte stehen vor großen Problemen beim Surfen, wie der online verfügbare Sehbehinderungs-Simulator beeindruckend zeigt.
Nur wenige Webseiten sind bislang behindertengerecht gestaltet
Wolfgang Schneider von der Schweizerischen Stiftung zur behindertengerechten Technologienutzung weist darauf hin, dass die meisten Behinderungen mit einer Mobilitätseinschränkung einher gehen. „Das Internet ist daher nicht nur Informationsquelle Nummer Eins, sondern gibt mir auch die Möglichkeit, Einkäufe online zu erledigen. Und alles, was ich von zu Hause tun kann, bedeutet einen Mehrgewinn an Selbstständigkeit.“ Fest steht bislang, dass eine einfach zu handhabende und logisch aufgebaute Navigation nicht nur für Blinde, sondern für alle Besucher einer Webseite ein Gewinn, zudem weniger pflegeintensiv ist.
Rund acht Prozent der Bundesbürger sind bei den Versorgungsämtern als schwerbehindert gemeldet. Das diese nicht nur Bürger mit gleichen Rechten, sondern auch Kunden sind, darauf stößt der e-commerce erst langsam. Nach Ansicht von Detlef Girke vom gemeinnützigen Projekt BIK (Barrierefrei Informieren und Kommunizieren) sind „nur zwischen fünf und zehn Prozent der deutschen Webseiten so programmiert, dass man das Gefühl hat, dass sich dort ein Mensch darüber Gedanken gemacht hat, ob eventuell auch mal ein behinderter Mitbürger vorbei gesurft kommt.“
Selbst in einem für Behinderte sensiblen Bereich wie dem Gesundheitswesen sind über 80 Prozent der Informationsangebote nicht barrierefrei. Weniger Achtlosigkeit als vielmehr technische Probleme hielten die Unternehmen aber von behindertengerechten Design ab. Oft, so Girke, macht die hinter den Seiten liegende Datenbank ein barrierefreien Auftritt unmöglich. Die Lösung liegt oft nur in einem kompletten Umprogrammierung der Seiten und der Datenbank – ein Schritt, den die meisten Unternehmen aus Kostengründen scheuen.
Mittlerweile nimmt sich auch die EU der benachteiligten Menschen im Informationszeitalter an. Sie rief 2003 zum Jahr der Menschen mit Behinderungen aus. Das Thema „Barrierefreiheit“ ist ein Schwerpunkt auf der zugehörigen Agenda.
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