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Elektronische Kultur

Keep It Simple and Stupid

telepolis v. 30.01.2003

Auch erschienen in „Medien und Erziehung“ 3/2003

Keep It Simple and Stupid

Die allermeisten Seiten im Netz sind für Behinderte schlecht nutzbar. Die Bundesregierung und das W3C wollen dies ändern. Folgt die Wirtschaft?

Wem ist es noch nicht passiert, dass er beim Navigieren den falschen Verweis geklickt hat, weil die Links zu eng gesetzt waren? Das bunte Gewimmel auf Webseiten irritiert oft schon den Otto-Normal-Surfer mächtig. Für Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung ist die Navigation auf den meisten Seiten dagegen eine verzwickte Angelegenheit, wenn nicht gar eine Zumutung.

Die zahlreichen Initiativen wie „Schulen ans Netz“, aber auch die staatlichen Anstrengungen des elektronisch gestützten Bürgerservice, wie e-voting und Ausweisverlängerung drohen ins Leere zu laufen, wenn behinderte oder alte Bürger vor technischen Barrieren stehen, welche die Wahrnehmung ihrer Bürgerrechte und -pflichten zum virtuellen Abenteuer macht.

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braille tastatur

 

Seit Juni 2002 ist nun eine Verordnung in Kraft, das alle staatlichen Einrichtungen und Behörden dazu verpflichtet bis 2005 ihre alten Internet-Auftritte so zu gestalten, dass sich wirklich jedermann darin zurecht findet. Mehr noch – gänzlich neu erstellte Amtsseiten müssen ab sofort sauber programmiert werden. Das Werk mit dem holprigen Namen „Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung“ ( BITV) legt fest, ab wann sich eine Homepage „barrierefrei“ nennen darf und orientiert sich dabei an den Richtlinien der WAI (Web Accessibility Initiative).

Schnörkelloses HTML

Diese Arbeitsgruppe des World Wide Web Consortiums (W3C) bemüht sich um die technische Funktionalität und Universalität des Internet. Mit den Richtlinien liegen seit geraumer Zeit genaue Spezifikationen vor, wie der html-Code einer Webseite barrierefrei gestaltet werden kann – nur richten tut sich kaum ein Unternehmen danach. Der Bundestag hatte deshalb im ebenfalls im letzten Jahr verabschiedeten Behindertengleichstellungsgesetz ein Schmankerl für die gebeutelte deutsche Internet-Ökonomie parat. Zukünftig wolle man darauf hinwirken, dass auch „gewerbsmäßige Anbieter von Internetseiten“ diese barrierefrei gestalten. Keine schlechte, aber wohl diffuse Idee in Zeiten des Masseneinsatzes von Flash und Java-Skript.

Die konkrete Struktur einer barrierefreien Homepage baut auf schnörkelloses HTML. KISS heisst die Aufforderung: Keep It Simple and Stupid. Mouse-over Aktionen zum Anheben oder Absenken von Buttons sind nach den Regeln der WAI ebenso zu unterlassen wie Imagemaps ohne redundanten Textlink. Zu einem Bild gehört stets ein „alt“-tag in den Code, in welchem der Inhalt des Bildes beschrieben wird. Ein Problem: Software wie Microsofts Frontpage blähen selbst kleine Homepages schon ohne aktive Inhalte zu wahren Code-Monstern auf.

Die WAI hat eine Checkliste herausgegeben, anhand derer man überprüfen kann, wie barrierefreies HTML programmiert sein kann. Tools wie Bobby prüfen, ob die eigenen Webseiten behindertengerecht sind. Das WAI-Regelwerk zielt vor allem auf Surf-Erleichterungen für sehbehinderte und blinde Mitbürger. Diese nutzen zumeist einen Screenreader wie beispielsweise JAWS, der die Informationen der Webseite aus dem HTML-Code extrahiert und über den Lautsprecher ausgibt. Seiten, die vor Java-Script strotzen, sind für Blinde daher wertlos. Aber auch nur Sehbehinderte stehen vor großen Problemen beim Surfen, wie der online verfügbare Sehbehinderungs-Simulator beeindruckend zeigt.

Nur wenige Webseiten sind bislang behindertengerecht gestaltet

Wolfgang Schneider von der Schweizerischen Stiftung zur behindertengerechten Technologienutzung weist darauf hin, dass die meisten Behinderungen mit einer Mobilitätseinschränkung einher gehen. „Das Internet ist daher nicht nur Informationsquelle Nummer Eins, sondern gibt mir auch die Möglichkeit, Einkäufe online zu erledigen. Und alles, was ich von zu Hause tun kann, bedeutet einen Mehrgewinn an Selbstständigkeit.“ Fest steht bislang, dass eine einfach zu handhabende und logisch aufgebaute Navigation nicht nur für Blinde, sondern für alle Besucher einer Webseite ein Gewinn, zudem weniger pflegeintensiv ist.

Rund acht Prozent der Bundesbürger sind bei den Versorgungsämtern als schwerbehindert gemeldet. Das diese nicht nur Bürger mit gleichen Rechten, sondern auch Kunden sind, darauf stößt der e-commerce erst langsam. Nach Ansicht von Detlef Girke vom gemeinnützigen Projekt BIK (Barrierefrei Informieren und Kommunizieren) sind „nur zwischen fünf und zehn Prozent der deutschen Webseiten so programmiert, dass man das Gefühl hat, dass sich dort ein Mensch darüber Gedanken gemacht hat, ob eventuell auch mal ein behinderter Mitbürger vorbei gesurft kommt.“

Selbst in einem für Behinderte sensiblen Bereich wie dem Gesundheitswesen sind über 80 Prozent der Informationsangebote nicht barrierefrei. Weniger Achtlosigkeit als vielmehr technische Probleme hielten die Unternehmen aber von behindertengerechten Design ab. Oft, so Girke, macht die hinter den Seiten liegende Datenbank ein barrierefreien Auftritt unmöglich. Die Lösung liegt oft nur in einem kompletten Umprogrammierung der Seiten und der Datenbank – ein Schritt, den die meisten Unternehmen aus Kostengründen scheuen.

Mittlerweile nimmt sich auch die EU der benachteiligten Menschen im Informationszeitalter an. Sie rief 2003 zum Jahr der Menschen mit Behinderungen aus. Das Thema „Barrierefreiheit“ ist ein Schwerpunkt auf der zugehörigen Agenda.

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Elektronische Kultur Reisen

Die sozialistischen Staaten und das Internet

Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 28.01.2003

Gehemmter Cyber-Sozialismus

Wie passen sozialistische Werte und die elektronische Modernisierung des Staates zusammen? Die sozialistischen Staaten streiten um den Umgang mit dem Internet.

Nha Trang ist keine Schönheit, Hotelbauten verschandeln die Strandpromenade der rund eine viertel Million Einwohner zählenden Stadt an der Ostküste von Zentralvietnam. Durch die breiten Straßen knattern unzählige Mopeds, zunehmend auch Autos und immer weniger Fahrräder. In den gläsernen Hotels begegnen sich junge Unternehmer und Parteifunktionäre, in den Straßen hängen neben Coca Cola-Schildern vergilbte Plakate, die an Volksgesundheit und sozialistische Tugenden erinnern. Auf kaum einen anderen Bereich wirkt sich die Gemengelage aus Marktwirtschaft und Sozialismus aber so offensichtlich aus wie auf die Telekommunikationspolitik des Landes. Das Internet soll den ökonomischen Aufschwung bringen, allerdings nicht die als degeneriert erachteten westlichen Werte. Mit diesem Spagat zwischen Zensur und telekommunikativ angeregten Wirtschaftswachstum steht Vietnam nicht alleine.

Erst seit Ende 1997 ist das Land an das Internet angeschlossen, wobei der gesamte Datenverkehr über zwei Server läuft, die in Hanoi und Ho Chi Minh Stadt, dem ehemaligen Saigon, stehen. Diese Zentralisierung ist kein Zufall, ermöglicht sie doch die effektive Kontrolle des Datenflusses. Nur die Vietnam Data Communications (VDC), eine 100prozentige Tochter der staatlichen Telekommunikationsgesellschaft VNPT (Vietnam Post & Telecommunications Corporation) ist in Besitz einer Lizenz anderen Firmen den Zugang zum Internet zu ermöglichen.

Strassenschild ins Nha Trang
Straßenschild ins Nha Trang

Zur Zeit verfügt das Land über genau vier solcher Internet Service Provider. Diese führen ihre Betriebe unter restriktiven Bedingungen. Sie müssen dafür sorgen, dass bestimmte Adressen im ausländischen Internet aus Vietnam heraus nicht zu erreichen sind. Dies dient zum einen der Sperrung von Websites vietnamesischer Dissidenten, zum anderen soll so der weiteren „Indoktrination der Bevölkerung“ Einhalt geboten werden. Nach Angaben der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ werden rund 2000 Webseiten blockiert.

Eine der Homepages, die ganz oben auf der Liste der VDC steht, ist die der „Allianz Freies Vietnam“. Die Organisation von Exil-Vietnamesen setzt sich für die Demokratisierung des Heimatlandes ein und bemüht sich unter anderem den Informationsfluss aufrecht zu erhalten. „Politische Nachrichten und kritische Stimmen aus Vietnam werden von uns gesammelt und wieder ins Land zurück geschickt, um so Informationssperren und Zensur der Regierung zu umgehen“, erklärt H. Tran, außenpolitischer Sprecher der Organisation in Deutschland. Das Internet biete hierfür ideale Bedingungen, und mit dem anwachsenden Datenaufkommen wird die Kontrolle der Inhalte immer schwieriger. An den zwei Gateways ins Ausland ist seinen Aussagen nach eine Schnüffelsoftware installiert, die einkommende und ausgehende elektronischen Briefe auf verdächtige Inhalte überprüft.

Diktaturen und andere Regierungen ohne demokratische Basis haben seit jeher ein gespaltenes Verhältnis zum freien Informationsfluss. So wird im benachbarten China der Zugang ins Web noch restriktiver gehalten. Wer ins Internet will, muss seinen Anschluss an die weite Welt bei gleich mehreren staatlichen Stellen registrieren lassen. In den Großstädten florieren legale und und vor allem illegale Internet-Cafes. Aber auch dort sind Botschaften aus und in die weite Welt nicht gewährleistet, unterliegt doch das einzige Gateway ins Ausland der Kontrolle des chinesischen Postministeriums. Je nach politischer Großwetterlage und Gutdünken der Parteiführer sind Seiten der britischen BBC oder der Nachrichtenagentur Reuters zuweilen erreichbar, zuweilen gesperrt.

Auch Länder wie der Iran, Yemen und Saudi-Arabien suchen die negativen Aspekte des Internet von seinen Bürgern fernzuhalten. Speziell eingesetzte Gremien legen in Abständen fest, welche Seiten als „unmoralisch“ gelten oder aber die politischen und religiösen Werte des Landes verletzen. Ländern wie Libyen und Irak gähnen gar als schwarze Löcher im Netzraum – in ihnen existiert für die Öffentlichkeit kein Zugang zum Internet.

Die IuK-Politik dieser Länder gleicht sich: Man ist um die Hegemonie seiner Informationspolitik bemüht, weiß aber zugleich, dass die ökonomischen Reformen vom Wachstum des Technologiesektors abhängig sind. Aber: Das Informationsmonopol ist unter den Bedingungen der IuK-unterstützen Marktwirtschaft kaum zu halten. Die Begriffe „nationale Sicherheit“ und „wirtschaftliche Internationalisierung“ stehen für diese Quadratur des Kreises.

Um dennoch Wachstumsschübe durch Datenaustausch zu gewährleisten setzen Alleinherrscher und Parteiführer auf Kontrolle auf drei Ebenen: Zum einen unterliegt der wachsende Telekommunikationsmarkt staatlicher Aufsicht, zum anderen wird der Datenaustausch innerhalb des Landes und vor allem mit dem Ausland überwacht. Als drittes Standbein setzen einige Regimes zudem noch auf die Überwachung der Internet-Nutzer. Alle diese Maßnahmen drohen aber entweder am technischen oder personellen Mangel zu scheitern.

Im Westen hofft man noch immer auf das umfassende Demokratisierungspotential des Internet, einem Medium, welches nicht nur einseitige Kommunikation vom Sender zum Empfänger ermöglicht, sondern in welchem jeder zum Sender werden kann. Aber die Theorie der „Demokratisierung durch die Steckdose“ funktioniert nur, wenn Alphabetisierung und technische Infrastruktur gleichermaßen ausgebaut sind. In China besitzen aber nicht einmal 8 Prozent der Haushalte einen Telefonanschluss, von einem PC mit Internet-Connection ganz zu schweigen. In Vietnam haben rund 170 Tausend Vietnamesen einen eigenen Zugang zum Netz der Netze, das sind 0,2 Prozent der Bevölkerung. Zum Vergleich: In Deutschland sind 43 Prozent der Bevölkerung über 14 Jahren online.

Selbst bei einem weiterhin rasant prosperierenden IuK-Markt wäre es verfehlt allzu hohe Erwartungen in die freiheitsbringende Kraft des Internet zu setzen. Ob Vietnam, China, Saudi-Arabien oder Kuba: Die Idee, dass jeder Bürger uneingeschränkten Zugriff auf ausländische Informationen hat, kommt für die Lenker und Denker im Staat einer Schreckensvision gleich. Und so übt sich die Politik in einer ständigen „Ja-aber Taktik“. Dazu kommt, dass das Potential der Demokratiebewegungen in diesen Länder im Westen oft überschätzt wird. Ein Großteil der Bürger Vietnam und China steht westlichen Demokratievorstellungen gleichgültig oder skeptisch gegenüber.vietnam12

Unzufriedenheit in der Bevölkerung erregt allenfalls die weit verbreitete Korruption und Behördenwillkür. Damit fordern sie wie die ausländischen Investoren, ohne die der Ausbau der Telekommunikationsnetze nicht zu bewältigen ist, den Rechtsstaat. Ohne Rechtssicherheit wagt sich kein Unternehmen ins Land. Die „sozialistische Marktwirtschaft“ bringt einen neuen, selbstbewussten Mittelstand hervor, der sein Augenmerk weniger auf freie Meinungsäußerung als auf berechenbare und nachvollziehbare Entscheidungen des Staates legt. Der Wunsch nach einer Begrenzung der Kreise bestechlicher Beamter und das aufblühende Geschäftsleben werden zukünftig Hand in Hand gehen. Zugleich wird mit dem verschleppten, aber steten Wachstum der virtuellen Netze die Möglichkeiten der Zensur schrumpfen.

Jörg Auf dem Hövel

 

 

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Mixed Reisen

Das Inferno Rennen in Mürren

Snowboarder 11/2003

Zu faul für den Langlauf, zu feige für den Skisprung

Im Inferno-Rennen wird die Geburt des alpinen Abfahrtslauf gefeiert. Der 87-jährige Sohn des Erfinders, Sir Peter Lunn, fährt jedes Jahr mit.

Es war der 29. Januar 1928, ein denkwürdiger Tag, denn er begründete den alpinen Massensport. Ein gemeinsamer Start war geplant, aber einige der 18 Teilnehmer des ersten Inferno-Rennens waren noch beim Wachsen ihrer Skier, als Sir Arnold Lunn rief: „Come on, we´re off.“ Dieses Wochenende (25.01.2003) feiert das Schweizer Bergdorf Mürren das spleenige Rennen zum 60. Mal. Aus der Idee einiger skiverrückter Briten ist der größte Amateurwettkampf des weltweiten Skisports geworden.

Mürren

Annähernd 1800 Wagemutige werden sich auf die über 15 Kilometer lange Abfahrt vom Schilthorn ins Tal begeben. Selbst gute Skifahrer benötigen für den Rutsch eine ¾ Stunde, der Sieger rauscht in weniger als 15 Minuten ins Tal. Der Clou: Es sind nur zehn Tore zu passieren, ansonsten ist die Streckenführung frei. Schon 1928 ging es den Briten in erste Linie darum, das Erreichen des Ziels möglichst individuell zu gestalten. Knochenbrüche, Schürfwunden und Platzwunden waren bei der Abfahrt über verwehte Hänge, vereiste Partien und die bewaldete Talfahrt üblich. Aber nicht nur wegen der unpräparierten Piste waren die Strapazen damals bedeutend höher.

Wer die ersten Jahre am Inferno-Rennen teilnehmen wollte, musste einen fünfstündigen Aufstieg bewältigen, im Rucksack Verpflegung und die Rennausrüstung. Zum fast 3000 Meter hoch gelegenen Schilthorn führte noch keine Seilbahn, Seehundfelle unter den Skiern gaben den nötigen Halt. Nach kurzer Erholung ging es dann los. Bei der nun folgenden Tour mussten die Läufer das Fahren im Tiefschnee ebenso beherrschen wie Langlauftechniken. Der Parcours wartete nämlich mit zwei Gegensteigungen auf – einige Rennen wurden eher durch Armkraft und Schlittschuhschritt entschieden, als durch die tiefe Abfahrtshocke. Auch der Umgang mit öffentlichen Verkehrsmittel wurde geprüft: Die ersten Rennen führten an der Trasse der Bergbahnverbindung zwischen Mürren und Grütschalp entlang. Sodann schlängelte sich ein schmaler Sommerpfad ins Tal nach Lauterbrunnen, die geübtesten Skifahrer aber nahmen den direkten Weg durch den dichten Wald.

Den vierten Platz in dem historischen Rennen von 1928 belegte Doreen Elliott, obwohl sie unterwegs eine verunglückte Kollegin versorgt hatte. Nichts ungewöhnliches in dieser Zeit, wie Sir Peter Lunn, 87, versichert. „Ich stützte in einem Rennen vier Mal und wurde trotzdem noch neunter.“ Der Sohn des Inferno-Schöpfers fährt noch heute jedes Jahr beim skurrilen Rennen mit. Die Holzski der damaligen Zeit, so Lunn, brachen leicht und bargen ein stetes Verletzungspotential. „Da das Auswechseln der Skier daher erlaubt war, hatte ein ganz gewitzter Teilnehmer unterwegs seine langen Abfahrtsski gegen kürzere und frisch gewachste Ski ausgetauscht. Sicherlich ein Vorteil für die harte Abfahrt ins Tal und nicht sehr sportsmännisch.“

Sir Peters Vater, Arnold Lunn, gilt als einer der Pioniere des europäischen Skisports. Er war es, der 1924 in Mürren den noch heute bestehende „Kandahar Skiclub“ gründete, zwei Jahre vorher hatte er im Ort eines der ersten Slalomrennen der Alpen veranstaltet. Lunn war es auch, der sich gegen zahlreiche Widerstände beim Weltskiverband FIS dafür einsetzte, dass der Abfahrtslauf als alpine Disziplin mitaufgenommen wird. Unter Schneesport-Experten galt das schnelle und kontrollierte Abrutschen vom Berg als wertlos, Skifahrer gemeinhin als „zu faul für den Langlauf und zu feige für den Skisprung“, wie Sir Peter sich lächelnd erinnert. Vor allem die Skandinavier wollten den klassischen Langlauf schützen und so beauftragte die FIS erst 1930 denkwürdigerweise den „Ski Club of Great Britain“ und damit Arnold Lunn mit der Durchführung des ersten FIS-Wettbewerbs in den Disziplinen Abfahrt und Slalom. Es entstand der professionelle Skizirkus.

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es vor allem Gebirgssoldaten aus Frankreich und den USA, die das Inferno-Rennen für sich entscheiden konnten. Seit den 60er Jahren sind es aber meist die Einheimischen, die die lange Abfahrt gewinnen. Dank einer gut präparierten Piste erreichen von den 1800 Abfahrern nur rund 15 Personen das Ziel nicht. Auch Sir Peter Lunn wird das Rennen weiterhin bestreiten, und zwar nach eigener Aussage „so lange, wie ich mindestens zehn andere Läufer hinter mir lasse“.

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Rezensionen

Rezension Robert Levine Die grosse Verfuehrung

Financial Times Deutschland, 09. Januar 2003

Willfährigkeit und Widerstand

Robert Levine untersucht in „Die große Verführung“ die Psychologie der Manipulation

Es ist erschreckend und doch gut zu wissen: Die Prinzipien, mit denen Menschen beeinflusst und überredet werden können, gleichen sich für ganz unterschiedliche Bereiche. Ein kluger Lehrer, eine wohlmeinende Mutter, ein guter Freund, ein gewiefter Autoverkäufer, ein Sektenführer; sie alle wenden keine geheimnisvollen esoterischen Methoden der Beeinflussung und Manipulation an. Das Ziel ihrer Bemühungen mag unterschiedlich sein, die Formen gleichen sich in frappanter Weise. Robert Levine, Professor für Psychologie, hat diese Formen in seinem neuen Buch „Die große Verführung“ analysiert.
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Dazu prüften Levine und seine Studenten die Strukturen der Tupperware-Parties, ließen sich zu Autoverkäufern ausbilden und nahmen an Verkaufsschulungen teil. Das Fazit: Zu Kauf oder Beitritt verführt werden wir nicht durch Aufdringlichkeit, sondern durch das, was uns ehrlich und sympathisch erscheint. Der Pädagoge oder Verkäufer kann dabei gewisse Regeln berücksichtigen: Die Illusion von Wahlfreiheit schaffen, geringstmöglichen Druck bei einem schrittweisen Vorgehen ausüben, die Grenze der Privat- und Berufssphäre aufweichen („oh, meine Söhne sind im gleichen Alter wir ihre“) und Fragen vermeiden, die mit einem einfachen „Nein“ beantwortet werden können. Die Möglichkeiten der Willenslenkung sind variabel und Levine bemüht sich sehr Ordnung in die Vielzahl der Methoden zu bringen. Ohne Scham benennt er dabei auch immer wieder Situationen, in denen er (kursiv) sich unter Fremdeinfluss für etwas entschieden hat, dessen Nutzen ihm bis dahin (und auch danach noch) nicht klar war. Diese Selbstironie, gepaart mit der gründlichen Durchleuchtung der erfolgreichen Methoden der Lob- und Anpreisung, liest sich durchgehend gut. Werber, geschulte Verkäufer und Freigeister, die mit dem Gedanken spielen demnächst eine Sekte zu gründen, dürften aus dem Buch nicht viel neues lernen, dafür greift Levine zu oft in die Kiste alter Wissenschaftsliteratur. Die komprimierte Form, der lockere Stil und die alltäglichen Beispiele bilden dagegen für den bis dahin unkundigen Leser ein Quell des Vergnügens und der Aufhellung. Zwei Beispiele. Levine stellt folgende zwei Fragen:

„1. Ist die Bevölkerung der Türkei größer als 30 Millionen
2. Wie groß ist Ihrer Schätzung nach die Bevölkerung der Türkei?“

Die Antwort der meisten Menschen auf die zweite Frage wird stark von der Zahl „30 Millionen“ beeinflusst, die eine rein willkürlich gewählte Zahl ist. Das ist ein Beispiel für die „Ankerfalle“, die gerne genutzt wird, um einen hohen Preis niedrig erscheinen zu lassen. Nicht allein das Niveau eines Ankerpunktes kann Gegenstand einer Manipulation sein, bei der Täuschung über die Basisrate benutzt man von vorneherein den falschen Anker. Levine stellt zur Verdeutlichung diese Frage: „Benjamin Harper läßt sich am besten als fügsamer, bescheidener Mensch charakterisieren. Er ist entweder Verkäufer oder Bibliothekar. Was glauben Sie, was er ist?“ Zumeist wird auf das Klischee des Bibliothekars getippt, aber die Anzahl der Verkäufer in den USA und auch Deutschland übertrifft die Anzahl der Bibliothekare um ungefähr hundert zu eins. Selbst wenn das Klischee der Fügsamkeit und Bescheidenheit stimmt, kommen immer noch zehn fügsame Verkäufer auf nur einen fügsamen Bibliothekar. Dass jeder sich selbst für relativ unbeeinflussbar durch Werbung hält, auch das ist normal – dabei können die meisten wohl mehr Biersorten als Baumgattungen aufzählen. Levine führt vor Augen, wo die Schlüsselreize in unterschiedlichen Kulturen liegen und wie Werbung und Anwerbung auf die jeweilige Gesellschaft abgestimmt werden. Bevor aber Ermuntern und Überreden in einem Topf geschmissen werden, stellt Levine klar, dass fast alle soziale Interaktion in einem gewissen Sinne Beeinflussung und damit letztlich manipulativ ist. Es kommt halt auf den Inhalt der Verlockung an, darauf, wofür geschickt geworben wird. Während der erste Teil von der Verführung zum Kauf oder zur Spende handelt, geht es im zweiten Teil um den Schritt von der rein äußerlichen Willfährigkeit zur dauerhaften inneren Akzeptanz einer Botschaft. Anhand der Methoden der „dunklen Seite der Beeinflussung“ durch Sekten wird verständlich, dass nicht nur psychisch labile Personen für eine geistige Vereinnahmung offen sind. Abwehr dagegen und gegen andere ungewollte Manipulation ist möglich und so benennt Levine die Prinzipien, deren Beachtung vor Fallen schützen und das Widerstehen zur Kunst erheben sollen.

Robert Levine: Die große Verführung
Piper 2003
381 S., gebunden
22,90 Euro
ISBN 3492045391