Christian Rätsch: Pilze und Menschen / Der Fliegenpilz (178)

rätsch_pilze_und_menschen

Ein Buch über Pilze? Zurecht mag sich der eine oder andere Leser fragen, ob eine weitere Publikation unter zahlreichen vorhandenen eine Bereicherung darzustellen vermag. Vor allem unzählige Bestimmungsbücher mit teils widersprüchlichen Angaben sind in Jahrzehnten erschienen, aber auch sinnvoll gestaltete Gesamtüberblicke wie die „Pilzgeschichten“ von Hans und Erika Kothe (Springer-Verlag, Berlin 1996) gibt es bereits:
Zum Fliegenpilz steht abschließend dort geschrieben, man könne „diejenigen, die heute aus Neugierde mit diesen unberechenbaren Pilzen experimentieren, eigentlich nur als so verrückt einstufen, daß sie des Narrenschwamms im Grunde nicht mehr bedürfen.“

Christian Rätsch hingegen rät zur Vorsicht beim Verzehr des Fliegenpilzes und empfiehlt „ein Herantasten“ an die „wirksame Dosis“, die „individuell extrem unterschiedlich“ sei.

Kann also Rätschs „Pilze und Menschen“ Licht ins Dunkel der zumeist unterirdischen Welten bringen? Die Antwort lautet schlicht und klar: Ja!

Dabei steht der Autor nach der Veröffentlichung u. a. des Standardwerkes „Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen“ ohnehin nicht im Verdacht, undifferenzierte Sichtweisen zu verbreiten. Den Fliegenpilz, den „Symbolpilz aller Pilze“ wählt er als „roten (weißgepunkteten) Faden“, der „den geneigten Leser“ durch sein Werk führt, in Reiche, die mitunter nicht von dieser Welt zu sein scheinen.

In einem von Wolfgang Bauer, Edzard Klapp und Alexandra Rosenbohm herausgegebenen „Fliegenpilz-Buch“ ist ein Zitat Ralph Cosacks zu finden: „Der Fliegenpilz ist die Offenbarung der christlichen Unglaubwürdigkeit.“

Diese Sichtweise darf getrost auch Christian Rätsch unterstellt werden, – im insgesamt reich illustrierten Band werden zudem seltene historische Dokumente präsentiert. Zwei kunsthistorische Beiträge von Claudia Müller-Ebeling runden das Werk ab, das auch dem Laien ungeahnte Denkhorizonte zu eröffnen vermag.

So der Fliegenpilz als Leitmotiv gelten darf, bietet die Lektüre jedoch weitaus mehr:
Ausgehend vom im Jahre 1957 publizierten Buch „Mushrooms, Russia and History“ der Eheleute Wasson, das die „Geburtsurkunde der Ethnomykologie“ sei, lassen sich seitdem die verschiedenen Kulturen der Welt in tendenziell „pilzhassend“ und „pilzliebend“ einteilen.

Über Zunderschwämme zum Feuermachen, kulinarische Köstlichkeiten, Hefen, Schimmel- und Heilpilze bis zu Fruchtkörpern, „den Phallen der Erde“, die als Aphrodisiaka Verwendung finden, und Pilzen, die zum Färben eingesetzt werden können, führt Rätsch letztlich durch die Welt des Lesers, in der es von diesen faszinierenden Wesen nur so wimmelt, – auch in Märchen, Mythologie und Malerei.
Mithilfe von Pilzen wurde gemordet und gehext, Pilze ermöglichen den Übertritt zur Anderswelt: ihre kulturhistorische Bedeutung in Religion, Schamanismus und Spiritualität wird eingehend und fundiert geschildert.

Der Fliegenpilz sei, schreibt der Autor in einem der letzten Kapitel, „ein Glückspilz und ein schamanisches Reisemittel, ein Entheogen“ und zitiert Hartwin Rohde: „Dieser Pilz kann dem wissenden Nutzer im schamanischen Kontext das Glück der Hellsichtigkeit, der Gottesnähe, der Einigkeit mit der universellen Natur und die Erkenntnis der Seele eines jeden Gegenstands oder Lebewesens geben.“

„Manche leiten den Begriff «Religion» vom Lateinischen religare her («an- und zurückbinden» an Gott)“ sagte vor Kurzem der Schriftsteller Patrick Roth in einem Interview mit dem Magazin „a tempo“. „Andere von relegere. Das hieße dann: ein «sorgfältiges und gewissenhaftes Beachten» – nämlich dessen,was Rudolf Otto «das Numinose» nannte.Religion im Sinn des «relegere» wäre zum Beispiel die gewissenhafte Sorge, ein «Sich-ernsthaft-Bemühen» beim Entschlüsseln des Sinns eines Bilds, das mir vom Unbewussten zugesandt wurde. Diese Mühe, die Auseinandersetzung mit einer inneren Erfahrung: Das ist für mich religio, eine religiöse Einstellung. […]“

Obwohl das Zitat gänzlich anderem Zusammenhang entstammt: Auch für Letzteres vermag die spannende und inspirierende Lektüre von Christian Rätschs „Pilze und Menschen“ die Sinne zu schärfen und die Augen zu öffnen!

_

Christian Rätsch
Pilze und Menschen
Gebrauch, Wirkung und Bedeutung der Pilze in der Kultur

AT Verlag, 224 Seiten
Gebunden, Schutzumschlag
€ 29,90 (D) / € 30,80 (A) / SFr. 46,90
ISBN 978-3-03800-542-1

Dr. Christian Rätsch, geboren 1957, Ethnologe und Ethnopharmakologe, Referent und Autor, studierte Altamerikanistik, Ethnologie und Volkskunde. Seit über zwanzig Jahren erforscht er weltweit schamanische Kulturen und deren Gebrauch psychoaktiver Pflanzen. […]“ (aus einer Mitteilung des Verlages)

_

Eine Druckversion dieses Beitrages (einseitiges pdf-Dokument)
finden Sie hier!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert